Mediendienst 17/2013 - Ein Tag für die Migranten – 365 Tage für die Ausschaffung

Page 1

Mediendienst 17 12. Dezember 2013

Internationaler Tag der Migranten vom 18. Dezember

Ein Tag für die Migranten – 365 Tage für die Ausschaffung Rêzan Zehrê

Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung. Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.


-2-

Internationaler Tag der Migranten vom 18. Dezember

Ein Tag für die Migranten – 365 Tage für die Ausschaffung Der 18. Dezember ist der internationale Tag der Migranten. Während sich Europa verbarrikadiert und die Sicherheitsagentur Frontex die Grenzüberwachung koordiniert, bleibt die Migration eine Realität. Sie lässt sich nicht durch Zäune verhindern, die womöglich zu noch mehr Schiffbrüchen vor den Küsten Europas führen. Tesfay stammt aus Eritrea und ist anerkannter Flüchtling in der Schweiz. Mit Hilfe der CaritasRechtsberatungsstelle für Asylsuchende reichte er bei den Schweizer Behörden ein Asylgesuch für seinen Bruder David ein, der sich in Libyen aufhielt. Das Verfahren dauerte monatelang. Dann brach in Libyen der Bürgerkrieg aus. David verliess das Land im Kriegszustand und versuchte, nach Europa und in die Schweiz zu gelangen. Während Monaten hörte das Rechtsberatungsbüro nichts von den beiden Brüdern. Eines Tages begegnete ich Tesfay in der Stadt und fragte ihn: „Wo waren Sie? Ich habe Sie überall gesucht und zwei Monate nichts von Ihnen gehört. Ich habe eine gute Nachricht für Ihren Bruder: Die Schweiz hat beschlossen, einige eritreische Flüchtlinge aufzunehmen, die sich in Libyen aufhalten.“ Tesfay schaute mich an und erzählte dann erschüttert: „Ich wollte David suchen. Er gehörte aber zu den 270 Schiffbrüchigen, die im Juni 2011 vor der Küste von Lampedusa ertranken. Mein Bruder wollte in die Schweiz kommen, um das Asylverfahren abzuwarten. Er konnte nicht in Libyen bleiben, bis der Entscheid der Schweizer Behörden eintraf.“ David hat also sein Leben vor der Küste der kleinen italienischen Insel verloren, an der Aussengrenze der EU, die von der Frontex bewacht wird.

Frontex, eine Agentur der EU Frontex ist die europäische Agentur zur Sicherung der Aussengrenzen der Europäischen Union. Sie koordiniert die operative Zusammenarbeit im Bereich des Grenzschutzes mit den Nichtmitgliedstaaten. Frontex wurde 2004 durch die Verordnung (EG) 2007/2004 des EU-Ministerrats errichtet und am 2011 durch die Verordnung (EG) 1168/2011 geändert. Frontex kann Abkommen mit Drittstaaten unterzeichnen, gemeinsame Rückführungsaktionen organisieren, einen Datenaustausch mit der europäischen Polizeibehörde Europol vornehmen und Grenzschutzoperationen zu Land und Wasser einleiten. Gemäss Artikel 1 der Verordnung (CE) Nr. 1168/2011 vom 25. Oktober 2011 erfüllt Frontex ihre Aufgaben unter umfassender Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, einschliesslich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, des anwendbaren internationalen Rechts – darunter die Genfer Flüchtlingskonvention – , der Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu internationalem Schutz, insbesondere des Non-Refoulement-Prinzips, sowie der Grundrechte.

Frontex und die Schweiz Mit dem Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum und der Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten beteiligt sich die Schweiz seit Anfang 2011 finanziell und auf operativer Ebene an den Aufgaben der Frontex. Im Jahr 2012 absolvierten 40 Schweizer Fachleute über 1000 Diensttage an den EU-Aussengrenzen; sie beteiligten sich an der Begleitung von Rückführungsflügen und an Interventionen auf europäischen Flughäfen, sie unterstützten die Überwachung und Sicherung

Caritas Schweiz, Mediendienst 17, 12. Dezember 2013


-3-

der griechischen, bulgarischen und slowenischen Grenzen und einige Operationen auf dem Mittelmeer.

Frontex und die Menschenrechte Seit rund zehn Jahren wird die europäische und schweizerische Migrationspolitik ausschliesslich von einem Sicherheitsdenken beherrscht. Dies zeigt sich etwa in der restriktiven Erteilung von Reisevisa, im Bau von Mauern und Zäunen, bei der militarisierten Überwachung der Grenzen und der zwangsweisen Rückschaffung in die Ursprungsländer, aber indem Aufgaben der Migrationskontrolle weniger demokratischen Staaten übertragen werden. Nach wie vor fordern die Schiffbrüche an der Mittelmeerküste vor Lampedusa, Malta, Sizilien und den griechischen Inseln den Tod vieler Migrantinnen und Migranten − eine enorme menschliche Tragödie. Der 18. Dezember ist der Tag der Migranten. Für diese Menschen bedeutet aber jeder Tag des Jahres Angst, Unglück, Hunger, Trauma, Verlassenheit und womöglich Tod an der EU-Aussengrenze. Jedes Jahr sterben Hunderte von Bootsflüchtlingen beim Versuch, nach Europa zu gelangen, um Schutz zu erhalten. Es ist deshalb berechtigt, die folgenden Fragen zu stellen: Respektiert die Frontex die Menschenrechte? Schiebt sie Migrantinnen und Migranten zurück oder hilft sie ihnen, wenn diese sich in Todesgefahr befinden? Wer ist bei Menschenrechtsverletzungen verantwortlich: die Frontex, die europäischen Staaten oder, je nach Fall, ein Drittstaat? Im September 2012 reichte der Rechtsdienst von Caritas Schweiz ein Asylgesuch für Abdul ein, einen unbegleiteten Jugendlichen aus Somalia, der sich in einem Lager des UNHCR im Sudan aufhielt. Mehrere Male wurden wir beim Bundesamt für Migration vorstellig, um das Verfahren zu beschleunigen, doch vergebens. Bis heute wurde unserem Asylgesuch nicht stattgegeben. Abduls Bruder, der in der Schweiz als Flüchtling anerkannt ist, hat uns mitgeteilt, dass er von seinem minderjährigen Bruder seit mehr als zwei Monaten nichts gehört hat. Vermutlich habe er das Flüchtlingslager verlassen, um in die Schweiz zu gelangen. Wir hoffen, dass ihm die Einreise in unser Land gestattet wird, bevor er sein Leben auf einem Boot riskiert und ihn das gleiche Schicksal ereilt wie David und bevor es an der Grenze zu Europa einen weiteren Toten zu beklagen gibt. Rêzan Zehrê, Caritas Schweiz, Jurist bei der Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende in Freiburg, E-mail: rzehre@caritas.ch, Tel.: 026 425 81 02.

Caritas Schweiz, Mediendienst 17, 12. Dezember 2013


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.