«Wohn- und Energiekosten sind Fixausgaben. Steigen diese, sind Menschen mit knappem Budget gezwungen, in anderen Lebensbereichen wie zum Beispiel bei der Ernährung, der Gesundheit oder der Freizeit, weitere Abstriche zu machen.»
Caritas-Positionspapier zum Thema Wohnen
Wie die Lage auf dem Wohnungsmarkt die Armut verschärft
Wohnen als Grundbedürfnis
In Kürze: Für Menschen mit knappem Budget ist das Leben schwieriger geworden. Neben der allgemeinen Teuerung, insbesondere bei Grundnahrungsmitteln, und dem sprunghaften Anstieg der Krankenkassenprämien ist dafür vor allem ein Faktor verantwortlich: Das Wohnen ist deutlich teurer geworden. Wohnen ist mit gut einem Drittel des Bruttoeinkommens der grösste Budgetposten für einkommensschwache Haushalte. Die Kosten steigen weiter und drohen für immer mehr Menschen untragbar zu werden.
Die Unterversorgung beim Wohnen geht über die finanzielle Problematik hinaus: Wer über wenig Geld verfügt, hat zunehmend Schwierigkeiten, überhaupt noch etwas Geeignetes zu finden. Oft bleiben nur zu kleine, lärmbelastete, mangelhafte und abgelegene Wohnungen übrig. Wer über Armutspolitik spricht, kann die Wohnproblematik nicht mehr ausser Acht lassen. Sie ist ein immer zentraler werdender Aspekt der Armutssituation, in denen sich unterschiedliche Haushalte befinden. Zusätzlich drängen die Wohnkosten immer mehr auch Menschen in prekäre Lagen, die bis anhin gut über die Runden kamen.
In diesem Positionspapier untersucht Caritas Schweiz die Ursachen der Wohnungskrise und insbesondere deren Auswirkungen auf Menschen mit knappem Budget. Es braucht dringend Lösungen, damit nicht noch mehr Menschen in Armut rutschen. Doch einfache Patentrezepte gibt es keine. Erforderlich ist eine Mischung aus kurzfristigen Unterstützungsmassnahmen wie finanziellen Direkthilfen sowie langfristigen Weichenstellungen.
Wohnen ist ein grundlegendes Bedürfnis jeder Person und ein essenzieller Bestandteil eines Lebens in Würde. Und Wohnen bedeutet weit mehr, als ein Dach über dem Kopf zu haben. Der private Wohnraum bietet Menschen einen Rückzugsort und prägt alle Aspekte des täglichen Lebens mit. Die Wohnsituation ist aber ganz wesentlich von den finanziellen Mitteln einer Person abhängig. Menschen in Armut sind auf dem Wohnungsmarkt stark benachteiligt. Sie müssen einen Grossteil ihres Budgets für die Wohnkosten aufwenden und leben trotzdem häufig unter prekären Bedingungen. Das hat weitreichende Konsequenzen. Eine prekäre Wohnsituation erschwert die wirtschaftliche und soziale Teilhabe und hat negative Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit. In einem ganzheitlichen Armutsverständnis muss die Wohnsituation immer mitberücksichtigt werden. Die aktuelle Wohnungsknappheit trifft Menschen mit knappem Budget besonders stark. Es braucht deshalb mehr denn je eine Wohnpolitik, die der Situation von Menschen in Armut Rechnung trägt.
2
Wohnraum ist teures und beschränktes Gut
Wohnkosten steigen und das Angebot ist knapp
Das Problem steigender Wohnkosten hat in den letzten zwei Jahren eine neue Dimension erreicht. Verschiedene Faktoren führen dazu, dass Mietende spürbar mehr für das Wohnen bezahlen müssen. Einerseits sind die Energiekosten gestiegen, zum Beispiel für Heizöl. Das führt zu deutlich höheren Nebenkosten. Auch beim Strom kam es 2023 und 2024 im Vergleich zu den Vorjahren in vielen Gemeinden zu happigen Preissteigerungen. Andererseits erlaubt das Mietrecht, dass Vermietende einen Teil der allgemeinen Teuerung an die Mietparteien weitergeben dürfen. Parallel dazu stieg im Juni und im Dezember 2023 gleich zwei Mal der hypothekarische Referenzzinssatz an. Das ermöglicht jeweils eine Erhöhung des Mietzinses um 3 Prozent.
Neben diesen Kostensteigerungen treibt auch die generelle Knappheit beim Wohnungsangebot die Preise nach oben: Die schweizweite Leerstandsquote sinkt seit 2020 markant und
liegt aktuell nur noch bei 1,15 Prozent, so tief wie seit Jahren nicht mehr. Dieser Wert täuscht ausserdem darüber hinweg, wie angespannt die Situation in gewissen Regionen bereits ist. In zahlreichen Kantonen fällt die Leerstandsquote gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) bereits weit unter 1 Prozent, zum Beispiel Genf, Zürich, Zug und Obwalden. In der Stadt Zürich lag sie im Juni 2023 bei 0,06 Prozent. Das bedeutet, dass auf 10 000 Wohnungen nur sechs leer stehen. Zu den leerstehenden Wohnungen werden aber auch solche dazugerechnet, die für viele Menschen gar nicht in Frage kommen, wie zum Beispiel Wohnungen mit mehr als sechs Zimmern, besonders teure Wohnungen oder Eigentumswohnungen. Gerade für Menschen mit geringem finanziellem Handlungsspielraum ist es unter diesen Umständen quasi unmöglich, eine neue, tragbare Wohnung zu finden. Momentan ist bei der Wohnungsknappheit keine Trendwende in Sicht. Die Situation droht sich in den kommenden Jahren im Gegenteil noch weiter zu verschärfen. Gemäss Berechnungen des Immobilienberatungsunternehmens Wüest Partner dürften im Jahr 2026 rund 50 000 Wohnungen auf dem Markt fehlen.
3
Entwicklung der Mietpreise Quelle: BFS 2024 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 Mie tpre isind ex (M PI ) % 100 110 120 130 140 La ndesind ex de r Ko nsumen te npreise (LIK )
Steigender Bedarf nach Wohnraum und tiefe Bautätigkeit führen zu knappem Angebot
Die Wohnungsknappheit kommt nicht überraschend, sondern ist das Resultat von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten. Einerseits ist die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz zwischen 1990 und 2022 um 28 Prozent gewachsen, die Anzahl Haushalte sogar um 33 Prozent. 1 Auch die Haushaltszusammensetzung hat sich verändert. So leben immer mehr Personen allein. Die Zahl der Einpersonenhaushalte hat sich seit 1970 fast vervierfacht, während die Zahl der Paarhaushalte mit Kindern unter 25 Jahren stabil blieb. Mehr Singles entscheiden sich dafür allein zu wohnen. Ältere Personen verbleiben auch nach dem Tod eines Partners öfters in der eigenen Wohnung und führen einen Einpersonenhaushalt. Auch die hohe Scheidungsrate führt zu einem höheren Bedarf an Wohnfläche, wenn geschiedene Paare sich die Betreuung der Kinder aufteilen und diese in zwei unterschiedlichen Wohnungen grossziehen. So sinkt die sogenannte Belegungsdichte pro Wohnung kontinuierlich.
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen treffen zusammen mit der generellen Wohlstandsentwicklung: Im Durchschnitt beanspruchen Personen in der Schweiz immer mehr Wohnfläche pro Kopf. Im Jahr 1990 lag der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch gemäss BFS noch bei 39 Quadratmeter pro Person. Heute sind es bereits über 46,5 Quadratmeter pro Person. Die Kombination all dieser Faktoren führt dazu, dass der Bedarf an Wohnfläche im Durchschnitt steigt. Dazu kommt auf der Angebotsseite eine rückläufige Bautätigkeit in den letzten Jahren. Steigende Zinsen und höhere Baukosten haben Bauprojekte für Investoren weniger attraktiv gemacht. Und auch die langen Planungs- und Bewilligungsprozesse und die hohe Regulierungsdichte im Baubereich wirken hemmend. Sie erschweren besonders das Bauen in bestehenden Siedlungsstrukturen.
Im Spannungsfeld von günstigem Wohnraum, Verdichtung und Klima strategie
Die Schweiz ist ein flächenmässig kleines Land, das zu grossen Teilen von Landwirtschaftszonen, Bergen, Wäldern und Gewässern bedeckt ist. Nur gerade acht Prozent der Schweiz steht gemäss BFS als Siedlungsfläche zur Verfügung. Die Siedlungsgebiete haben sich deshalb in den letzten Jahren stark entwickelt. Die Schweizer Stimmbevölkerung hat sich 2013 dafür ausgesprochen, Bauzonenflächen einzuschränken und eine Zersiedelung zu verhindern. Das Raumplanungsgesetz hat deshalb eine Verdichtung von bestehenden Siedlungen zum Ziel. Diese Verdichtung (auch «Innenentwicklung») geht bisher nur schleppend voran. Innenverdichtungsprojekte zu planen und durchzuführen ist deutlich komplexer, als auf der grünen Wiese zu bauen, denn Verdichtungsprojekte müssen hohe Anforderungen erfüllen. Sie stossen häufig auf lokalen Widerstand und können durch Einsprachen blockiert werden, da der Kreis der potenziell betroffenen Anwohnenden und Eigentümern gross ist. Verdichtung bedeutet heute oftmals das Abreissen von alten Wohngebäuden und das Erstellen von moderneren Ersatzneubauten mit höherer Ausnutzung. Dadurch können zwar mehr Personen auf der gleichen Bodenfläche wohnen. Es zeigt sich aber auch, dass dadurch besonders günstiger Wohnraum verschwindet und die ansässigen Menschen verdrängt werden. An ihre Stelle rücken dann Haushalte mit höherem Budget, die sich die Mietpreise leisten können. 2
Auch die Klimastrategie hat einen Einfluss auf den Wohnungsbau. Denn ein wesentlicher Teil der Treibhausgasemissionen wird im Gebäudesektor ausgestossen. Ein zentrales Ziel der schweizerischen Klimapolitik ist deshalb, Gebäude energetisch zu sanieren, um den Energieverbrauch pro Kopf zu senken. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Erreichung der Klimaziele. Im Rahmen dieser energetischen Sanierungen werden Gebäude allerdings häufig totalsaniert. Werden die Wohnungen leergekündigt und nach der Sanierung neu vermietet, dann unterliegen sie nicht mehr der Regulierung der Bestandsmieten. Der neue Mietpreis kann dann marktorientiert festgelegt werden, was oft einer deutlichen Erhöhung gleichkommt. Sowohl die Innenverdichtung (in Form von Ersatzneubauten) wie auch energetische Sanierungen führen also in einem ersten Schritt dazu, dass ältere und damit auch günstigere Wohnungen für Mietende verschwinden. 3
4
Benachteiligt
ist vor allem, wer eine neue Wohnung sucht
Durch das knappe Angebot steigen die Marktmieten, also Mieten von neu abgeschlossenen Mietverträgen, stark an. Dagegen sind die Bestandsmieten, also bestehende Mietverträge, mietrechtlich besser geschützt. Das Resultat ist, dass die Schere zwischen bestehenden und neuen Mietzinsen immer weiter auseinandergeht. Benachteiligt sind all diejenigen Personen, die in der aktuellen Situation ihre Wohnung wechseln möchten oder müssen. Dies sind also Neuzuziehende, Personen, deren Wohnung gekündigt wurde oder die zum Beispiel aufgrund der Familiengründung mehr Wohnraum benötigen. 4 Durch die hohen Marktmieten entstehen auch negative Anreize umzuziehen («Lock-In Effekt»). Menschen verbleiben deshalb in unpassenden Wohnverhältnissen, zum Beispiel in zu kleinen Wohnungen («Überbelegung»). Dieser Effekt ist erwiesenermassen einkommensabhängig: Menschen mit tieferen Einkommen nehmen gezwungenermassen eher unpassende Wohnverhältnisse in Kauf als Menschen mit hohen Einkommen. 5 Ältere Menschen wiederum bleiben tendenziell in zu grossen Wohnungen, da sie für eine kleinere Wohnung gleich viel bezahlen müssten oder gar keine kleinere Wohnung in der gewohnten Umgebung finden. Das entzieht dem Markt grosse Wohnungen, auf die besonders Familien angewiesen wären. 6
Generelle Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt
Auf dem Wohnungsmarkt wirken spezifische Mechanismen. Der Boden ist ein knappes Gut und kann nicht beliebig erweitert werden. Gleichzeitig sind Menschen auf ein Dach über dem Kopf angewiesen. Rund zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung besitzt kein Wohneigentum, sondern wohnt zur Miete. In Mietverhältnissen gibt es eine Machtasymmetrie zwischen Vermietenden und Mietenden. Gerade in einer Situation der Wohnungsknappheit sind Personen besonders darauf angewiesen, eine für sie bezahlbare Wohnung zu finden beziehungsweise behalten zu können. Diese Abhängigkeit schreckt davon ab, mietrechtliche Ansprüche konsequent durchzusetzen und mögliche Auseinandersetzungen mit dem Vermieter zu riskieren. In einer langfristigen Perspektive führen die steigenden Immobilienpreise auch zu einer verstärkten gesellschaftlichen Segmentierung: Eigenes Wohneigentum erwerben zu können wird für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen immer unrealistischer, womit sie zukünftig noch stärker den Zwängen auf dem Mietmarkt ausgesetzt sind.
5
Ungenügende Wohnraumversorgung von Haushalten in prekären finanziellen Situationen
Wohnkosten belasten knappe
Budgets übermässig
Nicht alle Haushalte sind gleich stark belastet durch die steigenden Wohnkosten. Menschen mit tieferen Einkommen müssen proportional einen viel höheren Anteil ihres Budgets für Wohnkosten aufwenden. Gemäss Haushaltsbudgeterhebung verbrauchen Personen im untersten Einkommensfünftel über 30 Prozent ihres Budgets für Wohn- und Energiekosten. Im Vergleich: Haushalte mit mittleren Einkommen wenden gut 15 Prozent auf für Wohnen und Energie, beim höchsten Einkommensquintil sind es gerade noch 10 Prozent des Haushaltsbudgets. Bei den Energiekosten wird diese Ungleichheit ebenfalls deutlich. Haushalte mit tiefen Einkommen wohnen häufiger in energetisch ineffizienten Wohnungen, die beispielsweise schlechter isoliert sind. Sie müssen deshalb mehr Energie beziehen, um ihre Wohnung ausreichend heizen zu können. Wohn- und Energiekosten sind Fixausgaben. Steigen diese, sind Menschen mit knappem Budget gezwungen, in anderen Lebensbereichen wie zum Beispiel bei der Ernährung, der Gesundheit oder der Freizeit weitere Abstriche zu machen. Steigende Wohn- und Energiekosten sind deshalb ein Risikofaktor für das Abrutschen in die Armut. Im schlimmsten Fall können prekäre Wohnsituationen auch in der Wohnungslosigkeit enden. Mit dem Verlust der Wohnung wiederum dreht die Negativspirale weiter: Es droht der Verlust der Arbeit und der ökonomischen Selbstständigkeit, eine gesundheitliche Verschlechterung und eine fortschreitende soziale Isolation.
Prekäre Wohnsituation
Rund fünf Prozent aller Personen in der Schweiz leben in einer überbelegten Wohnung. Eine Wohnung gilt dann als überbelegt, wenn die Wohnfläche kleiner als 40 Quadratmeter für eine Person plus 10 Quadratmeter für jede weitere Person des Haushaltes ist oder die Wohnung nicht mindestens einen Raum für den Haushalt und einen Raum pro Person aufweist. Familien leben gemäss BFS überdurchschnittlich häufig in einer überbelegten Wohnung. Dasselbe gilt für Personen aus dem einkommensschwächsten Fünftel der Bevölkerung, Personen ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss und auch für erwerbslose Personen und ausländische Staatsangehörige. Zur Überbelegung kommen weitere Einschränkungen der Wohnqualität wie eine erhöhte Lärmbelastung oder ein mangelhafter Zustand der Wohnung (Undichte, Kälte, Schimmel) hinzu. Die Wohnqualität kann deshalb direkte Auswirkungen haben auf den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand. Eine günstigere Miete kann auch bedeuten, dass man eine schlechtere Infrastruktur in Kauf nehmen muss. Konkret heisst das, dass soziale Infrastruktur (Schulen oder Spielplätze), der öffentliche Verkehr oder Einkaufsmöglichkeiten schwieriger zu erreichen sind. Das wiederum wirkt sich negativ aus auf die individuellen Leistungen bei der Arbeit oder in der Schule.7 Armutsbetroffene Menschen haben insgesamt ein massiv höheres Risiko, ungenügend wohnversorgt zu sein. Das bedeutet, dass sie in prekären Verhältnissen leben bezüglich Wohnungsgrösse, Wohnkosten, der Wohnqualität oder der Wohnlage. 8
Haushaltseinkommen in Franken pro Monat übrige Ausgaben
Wohnen und Energie
6
Haushaltsausgaben nach Einkommen Quelle: Eigene Darstellung basierend auf BFS Haushaltsbudgeterhebung 2015–2017 100 75 50 25 % 21,3 % 4530 – 6717 33,7 % unter 4530
17,3 % 6718 – 9288 14,1 % 9289 –12 855 10,0 % ab 12 856
Niedriges Haushaltseinkommen
Mittleres Haushaltseinkommen
Hohes
Haushaltseinkommen
Haushalte mit niedrigen Einkommen geben einen deutlich höheren Anteil davon für die Miete aus. Die Hälfte aller Haushalte mit niedrigen Einkommen wendet mehr als 29 Prozent für die Miete auf. Ein Viertel benötigt sogar weit über 40 Prozent für die Miete. Nur jeder zehnte Haushalt mit niedrigem Einkommen hat eine Mietbelastung von unter 18 Prozent. Bei Haushalten mit mittleren und hohen Einkommen ist die
Mietbelastung (%) nach Einkommensklasse
Mietbelastung auf einem deutlich tieferen Niveau und die Spannbreite ist geringer. Von den Haushalten mit mittleren Einkommen geben 90 Prozent der Mietenden weniger als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete aus. Bei 9 von 10 Mietenden mit hohen Einkommen liegt die Mietbelastung unter 20 Prozent.
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Berechnungen von Nachfragemonitor (www.nachfragemonitor.ch), Stand April 2024
Alleinerziehende
Familie
Die Wohnkosten belasten Haushalte unterschiedlich stark. Die Hälfte aller Alleinerziehenden hat eine Mietbelastung von über 30 Prozent des Haushaltsbudgets. Bei 10 Prozent der Haushalte von Alleinerziehenden
Mietbelastung (%) nach Haushalttyp
liegt die Mietbelastung sogar bei über 60 Prozent des Haushaltsbudgets. Haushalte von Alleinerziehenden und Alleinstehenden haben eine höhere Mietbelastung als der Durchschnittt.
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Berechnungen von Nachfragemonitor (www.nachfragemonitor.ch), Stand April 2024
Die gestrichelte Linie ist der Median. Der Median markiert den Punkt in der Verteilung, an dem genau jeweils die Hälfte aller Werte darunter beziehungsweise darüber liegen.
Die Linien markieren die Spannbreite der Verteilung. Die Linie beginnt an dem Punkt, an welchem genau 10 % der Werte darunter und 90 % der Werte darüber liegen. Das Ende der Linie zeigt den Punkt, an dem 90 % aller Werte darunter und 10 % darüber liegen.
Die Box umfasst die mittleren 50 % aller Werte. Am unteren Ende wird die Box vom ersten Quartil beschränkt. Das bedeutet, dass 25 % der Werte links ausserhalb der Box sind. Am rechten Ende wird die Box vom dritten Quartil beschränkt. Die oberen 25 % der Werte befindet sich also rechts dieser Schranke.
7
Gesamt 10 % 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Paar Single Gesamt 10 % 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Hohe Hürden bei der Wohnungs suche
Menschen in einer finanziell prekären Situation haben wenig finanziellen Handlungsspielraum und sind darauf angewiesen, eine Wohnung im unteren Preissegment zu finden, die das knappe Budget nicht überschreitet. Dies schränkt die Auswahl an möglichen Wohnungen je nach Gemeinde stark ein. Ein Wohnungswechsel bringt weitere finanzielle Hindernisse mit sich. So zum Beispiel das obligatorische Hinterlegen einer Kaution vor dem Mietbeginn in der Höhe von maximal drei Monatsmieten. Dafür ist ein finanzielles Polster nötig, das viele Menschen nicht ohne weiteres zur Verfügung haben. Jede fünfte Person in der Schweiz ist gemäss BFS nicht in der Lage, eine unvorhergesehene Ausgabe in der Höhe von 2500 Franken zu stemmen.
Es gibt weitere strukturelle Gründe, wieso sich die Wohnungssuche für Menschen mit tiefen Einkommen auch sonst besonders schwierig gestaltet. Denn eine Wohnungssuche erfordert immer auch individuelle Ressourcen: Es braucht Zeit und Flexibilität für (kurzfristige) Wohnungsbesichtigungen. Das Erstellen von Bewerbungsunterlagen benötigt IT-Kenntnisse und auch sprachliche Barrieren können ein Hindernis sein. Bei der Wohnungsbewerbung müssen zudem zahlreiche persönliche Details offengelegt werden. Im Zuge dessen kommt es immer wieder zu Diskriminierung aufgrund der Herkunft, aufgrund des Sozialhilfebezugs, von Schulden, Betreibungen oder wegen schlechter Referenzen. Und nicht zuletzt werden Wohnungen informell weitergegeben in Netzwerken von Freunden und Bekannten. Davon ausgeschlossen sind Neuzugezogene und Personen ohne das entsprechende soziale Netzwerk.
Ärmere Haushalte werden verdrängt
Um die Innenverdichtung umzusetzen, werden deutlich öfters (Ersatz-)Neubauten durchgeführt statt Aufstockungen oder Anbauten. Eine neue Studie der ETH Zürich zeigt, dass dies zu erheblichen Verdrängungseffekten führt. Findet eine Totalsanierung statt, so wird im Durchschnitt zwar auch mehr Wohnfläche geschaffen. Pro Person sind die Mietpreise jedoch trotzdem deutlich höher angesetzt als zuvor. Das jährliche Haushaltseinkommen der Personen, die nach der Renovation einziehen, liegt im Durchschnitt über 3600 Franken höher als dasjenige der Vormieter. Durch Ersatzneubauten verschwindet vor allem besonders günstiger Wohnraum (unter 1200 Franken pro Monat). Einkommensschwache Menschen sind deshalb überproportional betroffen von diesen Verdrängungseffekten. Ausländerinnen und Ausländer haben gar eine 30 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, verdrängt zu werden. Für einkommensschwache Haushalte, die aufgrund von Ersatzneubauten oder Totalsanierungen ihre Wohnung verlieren, ist es sehr schwierig, im gleichen Quartier eine bezahlbare Wohnung zu finden. Über 80 Prozent der verdrängten Personen in der Stadt Zürich beispielsweise können nicht im gleichen Stadtquartier bleiben, sondern müssen in Aussenbezirke ausweichen. 9
Fazit
Eine ganzheitliche Armutsbekämpfung muss die Wohnsituation zwingend mitberücksichtigen. Denn die aktuell steigenden Wohnkosten und die Wohnungsknappheit treffen Menschen in prekären finanziellen Situationen besonders empfindlich und bergen das Risiko, dass Haushalte in Armut geraten, die bisher aus eigener Kraft über die Runden gekommen sind. Armutsbetroffene Menschen leben überdurchschnittlich oft in prekären Wohnsituationen und sind überproportional stark betroffen von räumlicher Verdrängung. Gleichzeitig stehen sie bei der Wohnungssuche vor den grössten Herausforderungen.
8
Welche Massnahmen führen zu mehr und bezahlbarem Wohnraum?
Es braucht Antworten auf verschiedenen Ebenen
Um allen Menschen in der Schweiz ein selbstbestimmtes und würdiges Leben zu ermöglichen, braucht es genügend bezahlbaren Wohnraum in der ganzen Schweiz. Menschen mit tiefen Einkommen sind auf dem Wohnungsmarkt besonders vulnerabel. Die Politik muss ihre Situation deshalb besonders berücksichtigen. Diese Verantwortung ist auch in der Bundesverfassung verankert. Gemäss Art. 41 müssen sich Bund und Kantone dafür einsetzen, dass Wohnungssuchende für sich und ihre Familien zu tragbaren Bedingungen eine Wohnung finden können. Art. 108 BV hält zudem fest: Der Bund fördert «(…) die Verbilligung des Wohnungsbaus sowie die Verbilligung der Wohnkosten» und «berücksichtigt dabei namentlich die Interessen von Familien, Betagten, Bedürftigen und Behinderten» . Erschwert wird das in der Praxis dadurch, dass ein Grossteil der staatlichen Kompetenzen im Bereich Wohnen nicht beim Bund liegt, sondern bei den Kantonen und Gemeinden angesiedelt ist. Diese erlassen Richt- und Nutzungspläne und erteilen Baubewilligungen. Und nicht zuletzt prägen private Akteure den Wohnungsmarkt massgeblich. Gemäss dem BFS gehören rund 80 Prozent aller Mietwohnungen in der Schweiz Privatpersonen und sogenannten institutionellen Anlegern wie zum Beispiel Versicherungen, Pensionskassen oder Banken. Der Wohnungsmarkt unterliegt also marktwirtschaftlichen Prinzipien und wird in der Schweiz nur begrenzt beeinflusst durch den Staat.
Es gibt einen breiten Konsens, dass es in vielen urbanen Ballungsräumen zunehmend an (bezahlbarem) Wohnraum fehlt und die Innenverdichtung deutlich zu langsam fortschreitet. Bei der Frage, wie auf diese Herausforderungen reagiert werden soll, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Die möglichen Handlungsansätze sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und betreffen unterschiedliche Problemstellungen. In der Folge werden die Handlungsansätze gruppiert und aus Armutsperspektive eingeordnet.
Subjektförderung
Verschiedene Forderungen zielen auf die direkte Unterstützung der Mieterinnen und Mieter.
Mietzinsbeiträge
Haushalte können direkt finanziell unterstützt werden, damit sie die steigenden Wohnkosten bezahlen können. Eine Möglichkeit, Haushalte rasch finanziell zu entlasten, sind Direktbeiträge. Die Entlastung geschieht beispielsweise in der Form von Mietzinsbeiträgen , um Familien wirksam zu entlasten. Die Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Genf sowie Gemeinden in den Kantonen Waadt und Tessin kennen dieses Instrument. Ein weiteres Mittel der individuellen finanziellen Unterstützung ist die Energiekostenzulage , wie sie 2023 in der Stadt Zürich eingeführt wurde. Dabei werden alle Haushalte in bescheidenen finanziellen Verhältnissen gezielt unterstützt, die sich mit besonders stark gestiegenen Energiekosten konfrontiert sehen.
Die Subjektbeiträge funktionieren in einer ähnlichen Logik wie die individuelle Prämienverbilligung auf Krankenkassenprämien. Aus Armutsperspektive sind Subjektbeiträge eine wichtige Massnahme, da sie Haushalte direkt und rasch entlasten. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch Subjektbeiträge auch gezielt und temporär Haushalte unterstützt werden können, die aufgrund der Wohnkosten in die Armut abzurutschen drohen, ansonsten aber über einen geringen (sozialen) Unterstützungsbedarf verfügen. Ein gewichtiger Nachteil von Direktbeiträgen ist, dass sie nur die Symptome der hohen Wohnkosten bekämpfen, aber zu keiner strukturellen Veränderung führen.
Garantien für Mietkautionen und Anteilsscheine
In der Wohnungsknappheit ist die Situation besonders für diejenigen Personen prekär, die mit knappem Budget eine neue Wohnung finden und innerhalb kurzer Frist eine Mietkaution in der Höhe von bis zu maximal drei Monatsmieten aufbringen müssen. Eine weitere Form der individuellen Direkthilfe besteht deshalb darin, dass die öffentliche Hand oder Stiftungen Garantien für Privatpersonen übernehmen, indem sie die Mietkaution bereitstellen. Damit wird ein erfolgreicher Mietvertragsabschluss auch denjenigen Personen ermöglicht, die aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht die volle Mietkaution deponieren können. Diese Massnahme beschränkt sich auf neue Vertragsabschlüsse. Sie kann für armutsbetroffene und -gefährdete Menschen auf Wohnungssuche eine wichtige Unterstützung bieten. Der gleiche Mechanismus ist auch denkbar bei Anteilsscheinen für Wohnbaugenossenschaften, die ebenfalls durch einen staatlichen Fonds garantiert werden könnten.
9
Aus Armutsperspektive schaffen solche Angebote mehr Chancengleichheit auf dem angespannten Wohnungsmarkt. Eine erfolgreiche Umsetzung bedingt allerdings, dass die Unterstützung rasch und unbürokratisch funktioniert. Das Bezahlen der Mietkaution oder von Anteilsscheinen bildet eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Vertragsabschluss und das Zeitfenster dafür fällt üblicherweise eher kurz aus. Ähnliche Unterstützung leisten auch Stiftungen, die mittels Solidarhaftung für die Mietverhältnisse bürgen oder den Mietvertrag ganz übernehmen (zum Beispiel die Stiftung Domicil in Zürich oder die Fondation Le Relais in der Waadt).
Zugang zu Beratungsangeboten und Rechtsverfahren
Beratung und Begleitung
Gerade für armutsbetroffene Menschen kann die Wohnungssuche aufgrund mangelnder Ressourcen besonders schwierig sein. Hier können individuelle Unterstützungsangebote ansetzen, welche beim Prozess der Wohnungssuche begleiten. Dazu gehört ein Coaching spezifisch für die Wohnungssuche, zum Beispiel im Umgang mit Inserat-Plattformen und Online-Formularen, sowie beim ganzen Besichtigungs- und Bewerbungsprozess. Ein entsprechendes Angebot bietet beispielsweise Caritas Zürich mit dem Projekt «WohnFit». Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind und Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden, werden dort durch Freiwillige und Fachpersonen begleitet oder in Gruppenkursen oder Einzelberatungen gecoacht. Auch die Wohnkompetenzen können so gezielt gestärkt werden, beispielsweise beim Bezug einer neuen Wohnung.
Zugang zu Rechtsberatung und -verfahren
Die Angst, die Mietwohnung verlieren zu können, kann eine grosse Hemmschwelle sein bei der Durchsetzung von rechtlichen Ansprüchen. Gleichzeitig setzt das Einfordern von rechtlichen Ansprüchen auch Wissen und Kompetenzen voraus, die viele Mietende nicht haben. Für Einzelpersonen ist es schwierig zu prüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Mietrechtliche Abklärungen sind für Mietende auch immer ein administrativer und finanzieller Mehraufwand. Dazu gehört beispielsweise das Abschliessen einer Rechtsschutzversicherung. Diese Dienstleistungen sind gerade für armutsbetroffene Menschen – die aber überdurchschnittlich oft von prekären Wohnbedingungen betroffen sind – weniger gut zugänglich. Hier können niederschwellige und kostenlose Beratungsstellen wie beispielsweise die «Association vaudoise pour la sauvegarde du logement des personnes précarisées» (AVSL) im Kanton Waadt Abhilfe schaffen. Sie beraten zum Beispiel bei der Durchsetzung von angemesse -
nen Mietzinsen. Menschen mit wenig Geld schrecken häufig auch davor zurück, einen überrissenen Mietzins anzufechten oder ihr Recht bei anderen mietrechtlichen Ansprüchen gerichtlich durchzusetzen. Denn Gerichtsverfahren kosten. Hier können Fonds unterstützen, die im Falle eines Gerichtsverfahrens subsidiär die Kosten decken. Dies ist in verschiedenen Sektionen des Mieterinnen- und Mieterverbands der Fall.
Gemeindeeigenes Wohnangebot schaffen
Auf die Angebotsseite von bezahlbarem Wohnraum zielt die Forderung, dass Gemeinden selbst mehr günstigen Wohnraum für Menschen mit tiefen Einkommen zur Verfügung stellen. Sie können dies beispielsweise durch den Erwerb von Bauland, die Nutzung von Leerständen oder durch den Zukauf oder die Miete von geeigneten Wohnungen umsetzen. Das hat den Vorteil, dass die öffentliche Hand die Anspruchskriterien selbst festlegen und so auch eine soziale Durchmischung ermöglichen kann. Dies beispielsweise, indem vereinzelte Wohnungen gezielt subventioniert werden für Personen mit sehr tiefen Einkommen. Der Nachteil besteht darin, dass es sich bei wenig verfügbarem Bauland, hohen Bodenpreisen und hohen Marktmieten um eine kostenintensive Massnahme handelt. Gerade in dicht besiedelten Gebieten, in denen es bereits heute an bezahlbarem Wohnraum fehlt, kann immer weniger Bauland mobilisiert werden. Die Umsetzung einer solchen Massnahme ist deshalb nicht in allen Gemeinden gleich gut möglich. Unterstützend wirken könnte ein sogenanntes staatliches Vorkaufsrecht. Dies würde es Gemeinden erleichtern, geeignetes Bauland oder Wohnungen zu erwerben.
Förderung von gemeinnützigem Wohnraum
Es braucht dringend mehr bezahlbare Wohnungen auf dem Markt. Um dieses Ziel zu erreichen, kann die öffentliche Hand den Anteil gemeinnütziger Wohnbauträger fördern. Diese orientieren sich an der Kostenmiete und verzichten auf Gewinnstreben auf Kosten der Mietenden. Dadurch sind die Mietzinsen von gemeinnützigen Wohnungen – in langfristiger Perspektive – deutlich tiefer als Marktmieten. Ausserdem belegen Bewohnende von Genossenschaften gemäss Wohnbaugenossenschaften Schweiz im schweizweiten Vergleich unterdurchschnittlich wenig Wohnfläche pro Person, was insgesamt nachhaltiger ist. Wohnbaugenossenschaften können beispielsweise gefördert werden, indem sie zu günstigen Konditionen Darlehen erhalten, um Bauprojekte zu realisieren. Dies ist ein etabliertes Instrument und geschieht bereits heute
10
über den sogenannten «Fonds de roulement» des Bundes und kantonale Förderprogramme. Aus Armutsperspektive ist wichtig, dass der gemeinnützige Wohnraum auch tatsächlich Menschen in finanziell prekären Situationen offensteht. Hier können andere Massnahmen, wie die Übernahme von Anteilsscheinen, ergänzend wirken.
Raumplanerische und baurechtliche Massnahmen
Lockerung der gesetzlichen Bestimmungen
Verschiedene Forderungen zielen auf eine Ausweitung des Angebots ab und setzen namentlich in den Bereichen Raumplanung und Baurecht an. Beispiele dafür sind Lockerungen bei bestehenden gesetzlichen Bestimmungen wie dem Lärmschutz, den Mindestabständen oder der Ausnutzungsziffer. Auch Vorschläge zur Eindämmung von Einsprachen, die Bauprojekte verzögern, liegen auf dem Tisch. Dadurch soll das verdichtete Bauen in bestehenden Siedlungsgebieten erleichtert werden. Aus Armutsperspektive gibt es auch hier Ansätze mit Potenzial. So können beispielsweise einfachere und günstigere Ausbaustandards gefördert werden, die trotzdem qualitätsvollem Wohnraum entsprechen.
Mehrwertabgabe
Bauland ist in der Schweiz ein knappes und teures Gut. Wird ein Grundstück von einer Landwirtschaftszone zu einer Bauzone umgewandelt (sog. «Umzonung»), so gewinnt es markant an Wert, ohne dass der Eigentümer etwas dafür geleistet hat. Der Kanton kann einen Teil dieses Mehrwerts abschöpfen. Die Mittel werden primär für Entschädigungszahlungen für Auszonungen verwendet. Die Kantone können den Ertrag verwenden, um eine qualitätsvolle Innenentwicklung voranzutreiben. Konkret sind das zum Beispiel Investitionen in die öffentliche und soziale Infrastruktur (Parks, Quartiertreffs), die Förderung von Fuss- und Veloverkehr oder Massnahmen zum Lärmschutz. Durch die Abschöpfung der Mehrwertabgabe können aber auch gezielt Massnahmen zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum finanziert werden.
Sozialverträgliche Klimasanierungen
In der Klima-, Raumplanungs- und Wohnpolitik gibt es auf den ersten Blick zahlreiche Interessenskonflikte. So sind energetische Sanierungen wichtig für das Erreichen der Klimaziele und für eine nachhaltige Raumentwicklung. Gleichzeitig ist es besonders oft älterer Wohnraum im günstigsten Preissegment, der durch diese Projekte verschwindet. Die Mietzinserhöhung nach einer energetischen Sanierung fällt dann besonders hoch aus, wenn es zu einem Mieterwechsel kommt.10 Dem muss durch gesetzliche Vorgaben entgegengewirkt
werden, um Verdrängung zu verhindern. Bei Ersatzneubauten oder Sanierungen mit Leerkündigung kann beispielsweise ein Pflichtanteil an preisgünstigem Wohnraum für Haushalte mit tiefen Einkommen festgeschrieben werden.
Bezahlbarer Wohnraum bei Verdichtungsprojekten Aus Umweltperspektive ist es sinnvoll, in bestehenden Siedlungen mehr Wohnraum zu schaffen. Das geschieht heute häufig über Ersatzneubauten. Dadurch entstehen zwar mehr Wohnungen auf der gleichen Grundfläche. Gleichzeitig sind diese oft deutlich teurer, so dass eine Rückkehr für die Mieterschaft unmöglich ist. Im Rahmen der Innenverdichtung wird oft Wohnraum im günstigsten Preissegment abgerissen. Dem kann entgegengewirkt werden, indem bei Verdichtungsprojekten ein Mindestanteil an bezahlbarem Wohnraum für Menschen mit tiefen Einkommen festgeschrieben wird. Die Gemeinden können dies beispielsweise über die Nutzungspläne steuern. Das gleiche gilt auch bei Mehrausnützung, zum Beispiel der Aufstockung und Anbauten von bestehenden Gebäuden. Mit dieser Massnahme kann der Verdrängung von Menschen mit tiefen Einkommen aus Stadtteilen und aufgewerteten Quartieren entgegengewirkt werden. Das steigert nachweislich auch die lokale Akzeptanz eines Projekts, was wiederum die Wahrscheinlichkeit von Einsprachen reduziert und sich positiv auswirkt auf die Umsetzung und die soziale Nachhaltigkeit von Verdichtungsprojekten.
Anpassung des Mietrechts
Auch eine Anpassung des Mietrechts steht im Raum, beispielsweise die Offenlegung des Anfangsmietzinses oder die periodische Kontrolle der Mietrendite. Diese Forderungen zielen darauf ab, den Anstieg der Mietpreise generell zu bremsen, haben aber keine armutsspezifische Wirkung.
Pflicht zur Bekanntgabe des Vormietzinses
Bei Wohnungsknappheit sind viele Menschen froh, überhaupt eine Wohnung zu finden. Dabei sind sie auch bereit, einen für ihr Budget hohen Mietzins zu zahlen und trauen sich nicht, diesen zu hinterfragen oder wissen nicht, wie sie an die entsprechenden Informationen gelangen. Gegen missbräuchliche Anfangsmietzinse wird dementsprechend in den wenigsten Fällen vorgegangen. Deshalb wäre es wichtig, dass der Mietzins des Vormieters bei Abschluss eines Mietvertrages von Gesetzes wegen bekannt gegeben werden muss (sog. Formularpflicht). Diese Massnahme schafft Transparenz und erleichtert das Anfechten von missbräuchlichen Mietzinsen. Zudem könnte es eine präventive Wirkung geben, so dass Vermietende davon absehen, Mietzinsen bei einem Wechsel der Mieterschaft beliebig zu erhöhen. In einigen Kantonen
11
existiert diese Pflicht bereits flächendeckend, darunter Basel-Stadt, Freiburg, Genf, Luzern, Zug und Zürich.
Periodische Kontrolle der Mietzinsrendite
Das Mietrecht erlaubt Vermietern, mit der Miete eine beschränkte Rendite zu erzielen. Die Berechnung ist komplex und für die mietende Person schwierig zu überprüfen. In der Realität ist die Rendite oft höher angesetzt als erlaubt. Das ist möglich, weil es keinen Kontrollmechanismus gibt für die Einhaltung dieser Renditegrenze. Eine periodische Überprüfung der Renditen bei grösseren Vermietern hätte also möglicherweise eine dämpfende Wirkung auf den generellen Anstieg der Mietzinsen.
Weitere Massnahmen
Wohnungstausch erleichtern
Der «Lock-In»-Effekt führt dazu, dass Menschen in unpassenden Wohnungsverhältnissen wohnen bleiben. Besonders häufig trifft dies auf ältere Menschen zu, die in unterbelegten Wohnungen leben, jedoch keine kleinere und günstigere Wohnung in vergleichbarer Umgebung finden können. Das entzieht dem Markt grössere Wohnungen, auf die besonders Familien dringend angewiesen wären. Hier setzt die Idee des Wohnungstausches an. Sie ermöglicht es zwei Mietparteien, ihre Wohnungen zu tauschen, wobei beide weiterhin von den tieferen Bestandsmieten profitieren können. Für eine erfolgreiche Umsetzung braucht es insbesondere die Bereitschaft der Vermietenden sowie geeignete Plattformen, um den Wohnungstausch zu koordinieren.
Fazit
Die Antworten auf die hohen Wohnkosten und die fehlende Chancengleichheit für Menschen mit tiefem Budget auf dem Wohnungsmarkt sind also vielfältig. Es ist klar, dass eine Massnahme allein das Problem nicht lösen kann. Deshalb braucht es eine Kombination aus Instrumenten, die kurz-, mittel- und langfristig wirken und die spezifischen Vulnerabilitäten von armutsbetroffenen und armutsgefährdeten Personen berücksichtigen.
Was sind die spezifischen Herausforderungen in der Sozialhilfe?
Sozialhilfebeziehende stehen bei der Wohnungssuche unter speziellem Druck. Denn die Sozialdienste legen mit sogenannten Mietzinslimiten den Betrag fest, der an die Wohnkosten bezahlt wird. Überschreitet die Miete diesen Betrag, dann müssen Betroffene eine günstigere Wohnung suchen – oft praktisch ein Ding der Unmöglichkeit – oder den Restbetrag aus ihrem Grundbedarf bezahlen. Das bedeutet Abstriche zu machen bei einem Budget, das ohnehin kaum für ein Leben in Würde ausreicht. Durch die steigenden Mietzinsen und Nebenkosten gelangen immer mehr Sozialhilfebeziehende in diese prekäre Lage. Kurzfristig können diese Konsequenzen abgefedert werden, in dem die Sozialdienste auch diejenigen Mietkosten übernehmen, die aufgrund einer rechtmässigen Erhöhung über der Mietzinslimite liegen. Das entspricht auch den Empfehlungen der SKOS. Mittelfristig braucht es flächendeckend eine realistische und fachlich abgestützte Festlegung der Mietzinslimiten. Diese müssen regelmässig überprüft und an die Marktgegebenheiten angepasst werden. Denn angesichts der rasch ansteigenden Mietpreise ist es vielerorts fast unmöglich, Wohnungen im vorgegebenen Preissegment zu finden.
12
Kernforderungen aus Sicht von Caritas Schweiz
Armut in der Schweiz geht oft einher mit einer prekären Wohnsituation. Das Hauptproblem sind die hohen Wohnkosten. Wer wenig Geld hat, findet besonders in urbanen Ballungsräumen und Tourismusregionen kaum mehr eine bezahlbare Wohnung. Wenn, dann ist sie häufig zu klein und in schlechtem Zustand. Und wer eine angemessene Wohnung gefunden hat, hat Mühe, diese auch zu behalten. Die Miete ist für viele eine dauernde Sorge, was sich auch in den Beratungen der Caritas zeigt. Wohnen ist mit gut einem Drittel des Bruttoeinkommens der grösste Budgetposten für einkommensschwache Haushalte. Das ist mehr als doppelt so viel, wie ein Durchschnittshaushalt anteilsmässig ausgibt. Für die über eine Million Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind, ist bezahlbarer Wohnraum ein existenzielles Gut. Aufgrund der aktuell stark steigenden Mieten gilt das zunehmend auch für den Mittelstand.
Alle staatlichen Ebenen sind in der Verantwortung dafür zu sorgen, dass auch Haushalte mit schmalem Budget bezahlbaren und qualitativ guten Wohnraum finden. Der Bund muss seine strategische Rolle wahrnehmen und den verfassungsmässigen Auftrag erfüllen: Es braucht angemessene Wohnungen zu tragbaren Bedingungen für alle Bevölkerungsgruppen. Auch die Kantone und Gemeinden müssen ihren Handlungsspielraum endlich ausschöpfen und gezielte Strategien zur Wohnraumförderung für Haushalte mit tiefen Einkommen entwickeln.
Besserer Zugang zu Wohnraum für Haushalte in prekären finanziellen Situationen
Genügend bezahlbarer Wohnraum lässt sich nicht von heute auf morgen schaffen. Deshalb braucht es dringend kurzfristige Massnahmen, die rasch greifen und die steigenden Wohnkosten für Menschen in finanziell prekären Situationen abfedern. Es muss verhindert werden, dass Menschen aufgrund der Wohnkosten in die Armut abrutschen.
• Finanzielle Direkthilfen
Um die hohen Wohnkosten für Haushalte mit tiefen Einkommen rasch und wirksam abzufedern, braucht es einkommensabhängige finanzielle Direkthilfen der öffentlichen Hand, beispielsweise über Mietzinsbeiträge oder Energiekostenz lagen. In der Sozialhilfe müssen die Mietzinslimiten jährlich den Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt angepasst werden.
• Bürgschaften und Übernahme von Mietzinskautionen Wer wenig Geld hat, kann kein Mietzinsdepot von bis zu drei Monatsmieten bezahlen. Viele Haushalte in prekären finanziellen Situationen bekunden zudem Mühe, die geschuldete Miete jeden Monat pünktlich zu zahlen. Stiftungen, die Mietzinskautionen und Bürgschaften für vulnerable Haushalte übernehmen, müssen vom Staat stärker gefördert werden.
• Niederschwellige Begleitungs- und Beratungsangebote
Eine Wohnung zu finden darf nicht einem Lottosechser gleichkommen. Deshalb braucht es kostenlose Angebote, die der Chancenungleichheit auf dem Wohnungsmarkt entgegenwirken, die individuellen Kompetenzen von Personen spezifisch für die Wohnungssuche stärken (zum Beispiel IT-Kenntnisse) und in rechtlichen Fragen beraten. Diese Angebote müssen von staatlicher Seite gefördert werden, da sie eine wichtige Lücke im Zugang zum Wohnungsmarkt schliessen und niederschwelligen Zugang bieten.
13
Gezielte Förderung von bezahlbarem Wohnraum
Finanzielle Direkthilfen sind aufgrund der aktuellen Entwicklung im Wohnbereich unerlässlich. Ohne weitere begleitende Massnahmen sind sie aber keine nachhaltige Lösung. Sie verlieren ihre Wirkung, sobald die Finanzierung eingestellt wird. An den zugrundeliegenden Missständen ändert sich nichts: Das Wohnungsangebot bleibt knapp und die Mieten bleiben unbezahlbar. Auch die Massnahmen im Bereich der Beratung und Begleitung haben ihre Grenzen. Sie unterstützen zwar beim Zugang zu Wohnraum oder bei der Durchsetzung von bestehendem Recht von Mietenden. Wenn aber schlicht keine bezahlbaren Wohnungen zur Verfügung stehen, hilft auch die beste Beratung nicht. Deshalb braucht es als Ergänzung zu Subjektbeiträgen zwingend langfristige Massnahmen, um bezahlbaren Wohnraum zu fördern und eine sozial- und klimaverträgliche Innenverdichtung voranzutreiben.
• Sozialverträglichkeit bei Innenverdichtung und Sanierungen
Energetische Sanierungen und Innenverdichtung können und müssen sozial verträglich erfolgen. Bei Ersatzneubauten oder Aufstockungen zwecks Verdichtung muss der zusätzlich geschaffene Wohnraum bezahlbar sein. Bei energetischen Sanierungen (mit und ohne Leerkündigung) braucht es ebenfalls Massnahmen, um der Verdrängung von Haushalten mit tiefen Einkommen entgegenzuwirken.
• Wohnbaupolitik von Kantonen und Gemeinden Kantone und Gemeinden müssen genügend bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Sie verfügen bereits heute über umfassende Kompetenzen, um eine aktive Wohnbaupolitik verfolgen zu können. Diesen Handlungsspielraum müssen sie auch tatsächlich nutzen. Sie können selbst bezahlbare Wohnungen für Menschen mit tiefen Einkommen bereitstellen oder entsprechende Projekte fördern, beispielsweise mittels staatlichen Vorkaufsrechts, der Abgabe von Wohnungen zur Kostenmiete oder mittels planerischer Vorgaben. Diese aktive Wohnpolitik kann unter anderem finanziert werden durch das Abschöpfen der Mehrwertabgabe bei Umzonungen.
• Förderung gemeinnütziger Wohnbauträger Gemeinnützige Wohnbauträger spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum im tiefen und mittleren Preissegment. Durch die konsequente Anwendung der Kostenmiete bleibt der Wohnraum günstig. Nach wie vor verfügen Wohnbaugenossenschaften schweizweit aber nur über einen sehr kleinen Marktanteil. Mit geeigneten Instrumenten kann und muss dieser erhöht werden. Dazu gehören zinsgünstige staatliche Darlehen, die die Umsetzung von Bauprojekten ermöglichen. Gemeinden und Kantone können ihre verfügbare Landreserven im Baurecht an gemeinnützige Wohnbauträger abgeben.
Solange solche langfristigen Massnahmen nicht wirksam umgesetzt sind, wird es kurzfristige Unterstützungsmassnahmen für die betroffenen Haushalte brauchen.
14
1 Büchler, Simon et al (2023). Ursachen für steigende Wohnkosten in der Schweiz mit Fokus auf die Raumplanung. Studie im Auftrag des Bundesamts für Wohnungswesen BWO, Bern.
2 https://baug.ethz.ch/news-und-veranstaltungen/news/2023/03/neubauten-verdraengen-vulnerable-personen.html
3 ZHAW Soziale Arbeit (2019). Zusammenhang zwischen Einkommens- und Energiearmut sowie die Folgen energetischer Sanierungen für vulnerable Gruppen. Eine qualitative Analyse. Bundesamt für Wohnungswesen BWO, Grenchen.
4 Schärrer, Markus et al (2022). Entwicklung und Renditen auf dem Mietwohnungsmarkt 2006–2021. Studie im Auftrag des Mieterinnen- und Mieterverbandes Schweiz. S.VII.
5 Sager, Daniel et al (2018). Auswirkungen des Schweizer Mietrechts im Umfeld stark steigender Angebotsmieten – eine empirische Untersuchung. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO und des Bundesamts für Wohnungswesen BWO. S. 3.
6 ZKB Immobilien Aktuell, Ausgabe November 2023. Zuletzt abgerufen 01.05.2024 https://www.zkb.ch/media/zkb/dokumente/publikationen/ zkb-immobilien-aktuell-nov23.pdf
7 SKOS (2023). Grundlagenpapier Wohnen – Aktuelle Herausforderungen und Handlungsansätze. Aktualisierte Version vom Februar 2024. Zuletzt abgerufen 01.05.2024, https://skos.ch/fileadmin/user_upload/ skos_main/public/pdf/Publikationen/Grundlagenpapiere/2024_02_SKOS_ Grundlagendokument_Wohnen_aktualisiert.pdf.
8 Bochsler, Yann et al (2015). Wohnversorgung in der Schweiz. Bestandsaufnahme über Haushalte von Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen. Ein Forschungsprojekt im Rahmen des Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut in der Schweiz. S. 59.
9 Kaufmann, David et al (2023). Erkenntnisse zum aktuellen Wohnungsnotstand. Bautätigkeit, Verdrängung und Akzeptanz. ETH Zürich, SPUR – Raumentwicklung und Stadtpolitik.
10 B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung AG in Zusammenarbeit mit Basler & Hofmann AG (2015). Energetische Sanierungen. Auswirkungen auf Mietzinsen. Schlussbericht. Studie im Auftrag vom Bundesamt für Energie BFE und Bundesamt für Wohnungswesen BWO. S. 44.
Juni 2024
Verfasst von: Miriam Häfliger, Fachstelle Sozialpolitik
Online-Version dieses Positionspapiers: www.caritas.ch/sozialpolitik
15
Für eine Schweiz ohne Armut
Das Richtige tun Agir, tout simplement Fare la cosa giusta
Internet: www.caritas.ch IBAN: CH69 0900 0000 6000 7000 4 Qualitätsmanagementsystem ISO 9001, Reg.-Nr.14075 Telefon: +41 41 419 22 22 E-Mail: info@caritas.ch Caritas Schweiz Adligenswilerstrasse 15 Postfach CH-6002 Luzern
Bildungschancen WürdigeArbeit
Gleich e Mögl i ch k e i t e n f ü r a l el neilimaF BarrierefreiesGesundheitssystem Bhaze l b a r e r Wo hnraum
Gleiche
Existenzsicherung