Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Staaten

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Mediendienst 8 13. Juni 2013

Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Staaten

Wenn Staatsstrukturen schwach sind oder fehlen Christian Varga

Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung. F端r R端ckfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verf端gung.


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Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Staaten

Wenn Staatsstrukturen schwach sind oder fehlen Rund 1,5 Milliarden Menschen leben in fragilen Staaten. In Gebieten also, in denen staatliche Institutionen und Infrastrukturen fehlen oder so schwach sind, dass staatliche Grundaufgaben wie etwa Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit oder die Basisversorgung mit Nahrung, Wasser, medizinischer Hilfe oder Bildung nicht wahrgenommen werden. Die Menschen leiden unter Armut, Willkür und Gewalt, in einigen Gebieten übernehmen Kriminelle oder Warlords das Zepter. Für Caritas Schweiz hat die Arbeit in fragilen Gebieten eine lange Tradition. Mit ihrer starken Verankerung in der humanitären Hilfe und ihrem Fokus auf besonders verletzliche Gruppen ist Caritas Schweiz in einer Vielzahl von fragilen Ländern tätig. Beispiele sind Haiti, Irak, Südsudan, Tschad, Kosovo, Bosnien, Ruanda, Kenia, Äthiopien, Somalia/Somaliland, Pakistan, Sri Lanka, Bangladesch oder Myanmar. Diese und andere fragile Staaten stehen immer mehr im Fokus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Gerade sie liegen weit zurück auf dem Weg zu den Millennium-Entwicklungszielen und werden vermehrt als regionale oder globale Risikoherde wahrgenommen. Dabei rückt deren Fragilität an sich immer stärker in den Vordergrund. Intensive Debatten finden statt: Wie sollten Entwicklungsakteure unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit arbeiten? Wie können legitime und funktionierende Staatsstrukturen aufgebaut und gestärkt werden?

„New Deal“ für fragile Staaten Hintergrund ist der „New Deal“, ein Grundsatzpapier über das Engagement von Entwicklungsakteuren in fragilen Kontexten, vorgestellt an der Internationalen Entwicklungskonferenz von Busan 2011. Erarbeitet wurde das Papier von 7 Staaten (Afghanistan, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Demokratische Republik Kongo, Haiti, Sierra Leone und Osttimor), die sich selbst als fragil bezeichnen und sich der Überwindung ihrer Fragilität verschrieben haben. Neben anderen Geberländern hat sich auch die Schweiz zu den Grundsätzen des New Deal bekannt und gleichzeitig angekündigt, ihr Engagement in fragilen Ländern um 15 bis 20 Prozent zu erhöhen. Die New-Deal-Grundsätze umfassen unter anderem eine Selbstverpflichtung fragiler Staaten, die Sicherheit ihrer Bürger zu erhöhen, politische Lösungen unter Einbezug aller Gruppen zu finden und rechtsstaatliche Prinzipien zu respektieren. Auf der anderen Seite verpflichten sich Geberländer, die lokalen staatlichen Strukturen einzubinden und ihre Entwicklungsinterventionen auf das Ziel des State Buildings, der Stärkung funktionierender Staatsstrukturen, auszurichten. Nicht-staatlichen Entwicklungsakteuren wie Caritas Schweiz und ihren Partnerorganisationen kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Staatliche Strukturen bedürfen einer lebendigen Zivilgesellschaft, die sie trägt, hinterfragt und legitimiert. Caritas Schweiz unterstützt mit ihren Projekten lokale zivilgesellschaftliche Organisationen, die genau dies tun – staatliches Handeln einfordern und ergänzen, hinterfragen und unterstützen, kritisieren und legitimieren.

Caritas Schweiz, Mediendienst 8, 13. Mai 2013


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Dabei stellen fragile Kontexte für Entwicklungsakteure wie Caritas eine besondere Herausforderung dar – nicht immer ist den Machthabern eine unabhängige, kritische Öffentlichkeit genehm, nicht immer ist die Sicherheit von Helfern gewährleistet. Mitunter sind staatliche Organe überhaupt nicht an einer echten Verbesserung der Lebensumstände ihrer Bevölkerung interessiert, ein Engagement von Hilfswerken wird dadurch massiv erschwert. Das Risiko eines Scheiterns von Projekten ist massiv erhöht, Korruption lässt sich nur schwer unterbinden. Zudem existieren in einigen Gebieten überhaupt keine staatlichen Strukturen, das Machtvakuum wird von Milizen oder kriminellen Banden ausgefüllt, die für internationale Akteure kaum zu erreichen und einzubinden sind.

Konkrete Lösungsansätze Das Engagement in fragilen Kontexten bedarf also bei allen Beteiligten einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis und den Erwartungen an die anderen Stakeholder: -

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Seitens fragiler Staaten braucht es ein aufrichtiges, anhaltendes Engagement zur Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien, zum Schutz ihrer Bürger, zum Respekt der Menschenrechte – auch wenn dies bedeutet, die eigene Macht einzuschränken, sich einer kritischen Öffentlichkeit zu stellen und auf Privilegien zu verzichten. Seitens der Geberländer braucht es ein Bekenntnis zur kritischen Zusammenarbeit mit lokalen staatlichen Organen. Dies heisst unter anderem, dass rechtsstaatliche Prinzipien und die Achtung der Menschenrechte immer wieder eingefordert, lokale zivilgesellschaftliche Organisationen gefördert und als wichtige Akteure in die Verhandlungen auf Regierungsebene eingebunden werden. Zudem bedarf es seitens staatlicher Entwicklungsagenturen des Muts, wichtige, aber unspektakuläre Aktivitäten – etwa die Reform des Sicherheitssektors – zu finanzieren, statt auf publikumswirksame Hilfsaktionen zu fokussieren. Brunnen zu bohren reicht nicht. Seitens westlicher Nichtregierungsorganisationen wie Caritas Schweiz braucht es den Willen, zur Funktionsfähigkeit und Legitimität lokaler staatlicher Strukturen beizutragen. Am besten passiert dies durch eine kooperative, doch prinzipiengeleitete Auseinandersetzung, bei der die verantwortlichen Staatsstellen einerseits in die Pflicht genommen, andererseits unterstützt werden: Ersteres passiert etwa durch die Unterstützung lokaler Organisationen, die marginalisierten Gruppen eine Stimme geben; letzteres geschieht beispielsweise in Pilotprojekten, in denen neue, effektivere Möglichkeiten zur Erfüllung staatlicher Grundaufgaben aufgezeigt werden. Seitens aller Entwicklungsakteure braucht es der intensiven Denkarbeit, wie nicht-staatliche Machthaber – Kriminellen, Warlords, irreguläre Armeen, Clanführer – in Entwicklungsbestrebungen eingebunden werden können. Hier fehlen griffige Rezepte, die Erfahrungen mit den bisherigen Ansätzen sind durchzogen. Seitens der Spenderinnen und Spender wie auch der institutionellen Geldgeber schliesslich braucht Verständnis dafür, dass Entwicklungsarbeit in fragilen Staaten ein langwieriges Unterfangen ist, das mit Rückschlägen verbunden ist. In Kriegs- und Krisenländern ist das Risiko von Misserfolgen und Korruption höher als in anderen Entwicklungs- und Schwellenländern. Trotz Schwierigkeiten ist ein Engagement in fragilen Staaten nötig, gefährdet ihre fragile Staatlichkeit doch nicht nur das Wohl ihrer Bevölkerungen, sondern auch die Entwicklungserfolge anderer, stabilerer Länder in ihrer Umgebung.

Christian Varga, Leiter Fachdienste Internationale Zusammenarbeit, Caritas Schweiz, E-Mail cvarga@caritas.ch, Tel. 41 419 23 18

Caritas Schweiz, Mediendienst 8, 13. Mai 2013


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