Leseprobe Leonie Sander - Fluch der Vergangenheit von Maria Werner

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Maria Werner

Leonie Sander Fluch der Vergangenheit ROMAN LESEPROBE

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Mondschein Der Silbermond am Himmel glitzert. Ein heller Schein ihn stets umgibt. Das Moor in jener Vollmondnacht, zum Leben kommt und bald erwacht.

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Gruseliger Schulweg Das leise Geräusch des prasselnden Regens gegen ihr Zimmerfenster wurde von dem bedrohlichen Knarren des Dielenbodens vor ihrem Zimmer durchbrochen. Leonie lugte zitternd unter der Bettdecke hervor. Die Tür öffnete sich quietschend und ein dunkler Schatten hob sich von den etwas helleren Konturen ihrer Zimmermöbel ab. Dann betrat ihre Tante Margret das Zimmer. „Leonie?“, fragte sie in die Dunkelheit hinein. Mit einem Seufzer knipste Leonie ihre Nachttischlampe an. „Margret, musst du mich eigentlich immer so erschrecken?“, zischte sie ihre Tante an. Doch Margret überhörte die Frage unbeeindruckt und setzte sich an den Bettrand. „Kannst du wieder nicht einschlafen?“, fragte sie besorgt. Leonie seufzte erneut und nickte. „Versuch es noch mal. Morgen ist Schule. Deine Eltern können es bestimmt sehen.“ Margret stand wieder auf und ihre Augen blitzten kurz traurig auf, ehe sie ihre Gefühle wieder im Griff hatte. „Und sie sind sicher nicht erfreut, dich so spät noch wach zu sehen.“ Sie wandte sich der Tür zu. „Licht aus jetzt!“ Damit verließ sie das Zimmer. Die Tür quietschte, der Dielenboden knarrte, der Regen prasselte gegen das Fenster. Leonie starrte auf die wieder geschlossene Tür. Im fahlen Licht der Nachttischlampe warfen die Zimmermöbel dunkle 4


Schatten. Beunruhigt knipste Leonie das Licht wieder aus und eine unbestimmte Wut kam in ihr auf. Margret versteckte sich hinter einem Schleier aus Trauer und Distanz, aber hatte Leonie als Tochter ihrer toten Eltern nicht ein Recht darauf zu erfahren, was nun wirklich geschehen war? Was überhaupt geschehen war? Ein Schauder durchfuhr ihren Körper und Leonie schnappte überrascht nach Luft. Da war dieses Gefühl wieder. Ein Gefühl, über das sie unmöglich sprechen konnte. Je öfter sie daran dachte, desto intensiver wurde es. Ihre Eltern schienen gar nicht wirklich weg zu sein. Ihr Tod schien falsch, sie spürte, dass ihre Eltern auf eine seltsame Art um sie herum waren, wie Geister, die sie umkreisten. Dieser Gedanke, diese Eingebung war neu und verbesserten ihre Beziehung zu Margret nicht gerade, denn Dinge, die Leonie längst akzeptiert hatte, mussten nun wieder in Frage gestellt werden. Aber heute war der Todestag ihrer Eltern. Heute würde sie nichts dergleichen mehr fragen. Leonie blinzelte in das Sonnenlicht, das durch den dünn gewebten roten Vorhang in ihr Zimmer schien. Verschlafen tastete sie nach ihrem Wecker und erschrak. Es war halb acht! Schulbeginn! „Nicht schon wieder!“, stöhnte sie und sprang aus ihrem Bett. Viel zu oft vergaß sie ihren Wecker zu stellen oder sie stellte ihn, schlief dann aber doch wieder ein. Und ihre Tante weckte sie nie. Margret wollte jeden Morgen ausschlafen und da 5


war es ihr egal, ob und wann Leonie in die Schule kam. Leonie stürzte ins Bad und zwang sich in Jeans und Shirt. Eilig lief sie die Treppe hinunter zur Küche, stopfte sich einen Apfel in ihren Schulrucksack, schlüpfte in ein Paar Schuhe und rannte aus dem Haus. Hinter ihr fiel mit einem lauten Knall die Tür ins Schloss. Für einen kurzen Moment hielt Leonie vor der Haustür inne, um die kühle Morgenluft einzuatmen. Eine orange Morgensonne verzierte den rosablass-blauen Himmel. Sie rannte eilig zum Schuppen hinter dem Haus und zerrte ihr rot lackiertes Fahrrad heraus. Ihren olivfarbenen Rucksack, der mit vielen Flicken benäht war, klemmte sie auf den Gepäckträger. Der Wind streifte durch ihr dunkelblondes, halblanges Haar. Fröstelnd schlang sie die Arme um sich. Das Haus ihrer Tante lag etwas abseits der Stadt Lichtenberg und mitten in der Natur. Hinter dem Haus konnte man über die Wiesen und Wälder hinweg sehen, da das Haus auf einer leichten Anhöhe gebaut war. im Süden grenzte ein Wäldchen aus Kiefern und Tannen an ein kleines Stück Wildwiese, was durch seine Position für jede Menge Schatten um das Haus herum sorgte. Und es war ihr Schulweg. Sie bog auf einen schmalen Schotterweg ab, der sie ordentlich durchschüttelte und schließlich in das Wäldchen von Kiefern und Tannen führte. In der Stadt erzählte man sich, dass dort schon einige Unfälle passiert sein sollten. Die Art von Unfällen, 6


für die man keine Erklärung hatte. Die neueste Geschichte handelte von einem Mann, der mit seinen zwei acht- und fünfjährigen Enkelkindern dort spazieren ging. Die Kinder waren angeblich dabei vom Weg abgekommen und spurlos verschwunden. Aber wer wusste schon, wie lange man sich es bereits erzählte? Trotzdem holte dieses beunruhigende Schaudern Leonie auch diesmal ein bei dem Gedanken. Ihre Tante hatte ihr schon oft genug gesagt, dass sie auf dem Schotterweg bleiben sollte. Wenn man sich nämlich nicht daran hielt, kam man zu den Moortümpeln... Dort sollten die zwei Enkel des alten Mannes ertrunken sein, wie vor ihnen schon viele andere... Auch wenn diese Geschichten mehr wie Rotkäppchen und dadurch nur wie Märchenerzählungen klangen, trat Leonie nun doch etwas kräftiger in die Pedale. Sie wollte so schnell wie möglich aus diesem Wald heraus. Verschwitzt kam sie schließlich an der Gesamtschule in Lichtenberg an. Sie zerrte ihr Rad in einen der vielen Fahrradständer, schnappte sich ihren Rucksack vom Gepäckträger und rannte zum Schulgebäude. Gerade als sie die Eingangstür der Schule aufriss, gongte es zur zweiten Schulstunde. Leonie hechtete zu ihrer Klasse und riss die Tür der 7a auf. „'tschuldigung“, murmelte sie, ließ sich auf ihren Stuhl gleiten und den Rucksack neben sich fallen. „Leonie, du kommst zur Zeit sehr oft zu spät!“, bemerkte Leonies Lehrerin, Frau Landsteg, in 7


strengem Tonfall. „Nämlich genau genommen jeden Tag! Wohl kein Geld für einen Wecker, was?“, erhob Valeria, die in der letzten Reihe saß, die Stimme. Sie hatte lange, braune Locken, die sie straff nach hinten zu einem dicken Zopf geflochten trug. Um ihr rechtes Handgelenk glitzerten viele Armbänder und auch ihre Kleidung war nicht gerade unauffällig: Quitschgelbe Sneakers, froschgrüne Hose und dazu ein knallpinkes Top. Es war mutig, so herumzulaufen, aber genau das war Valeria. Sie brauchte die Aufmerksamkeit. Ein paar Klassenkameraden lachten über ihre höhnische Bemerkung, doch Leonie überhörte ihre Mitschüler und schüttelte ärgerlich den Kopf. Valeria musste auch wirklich zu allem ihren Senf dazugeben… Immerhin sah Frau Landsteg Valeria mahnend an, richtete dann aber ihren Blick wieder auf Leonie. Fragend sah sie ihr in Augen. Das war einfach, denn Leonie saß nicht ohne Grund in der ersten Reihe. Zu oft beobachtete Frau Landsteg, dass Leonie während dem Unterricht mit ihren Gedanken weit weg war. „Tut mir leid, ich habe verschlafen…“, sagte Leonie und wich Frau Landstegs eindringlichem Blick aus. „So langsam solltest du dir eine neue Ausrede einfallen lassen, Leonie Sander!“, sagte sie vorwurfsvoll. Leonie wollte schon widersprechen: das war keine Ausrede, sondern die pure Wahrheit! Aber das machte die Sache auch nicht besser. 8


In der Pause saß Leonie allein auf der Pausenhofbank unter einer alten Eiche. Herzhaft biss sie in ihren Apfel, als gerade eine Klassenkameradin, Clara, auf sie zu gelaufen kam. „Hi Leonie!“, sagte sie und setzte sich zu ihr. „Kennst du schon die neueste Geschichte aus dem Gruselmoor?“, fragte sie und lächelte geheimnisvoll. Gruselmoor nannten alle das Wäldchen zwischen Lichtenberg und Margrets Haus. „Ja, ich denke schon“, sagte Leonie abweisend und biss noch ein Stück von ihrem Apfel ab. Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch mit Clara, erst recht nicht, wenn es sich um das Gruselmoor handelte. „Na, dann ist ja gut.“ Clara sprang auf und schloss sich einer Mädchengruppe aus der Klasse an. Ihre Mitschülerinnen mochten Leonie nicht besonders. Und Leonie mochte sie ehrlich gesagt auch nicht. Außer Clara, sie war früher ihre beste Freundin gewesen. Aber die Zeiten waren vorbei… Nur noch hin und wieder sprach sie mit Leonie, und das meistens nur kurz. Manche, wahrscheinlich fast alle aus der Klasse, glaubten, Leonies Tante wäre eine Hexe. Womöglich war das der Grund, dass sie Leonie nicht mochten. Oder zumindest einer der Gründe. Wenn Leonie nicht wüsste, dass Margret ihre Tante wäre, würde sie das wahrscheinlich auch denken. Denn Margret ließ sich nicht oft in der Stadt blicken. Eigentlich nie, außer manchmal zum Einkaufen. Aber die meisten Lebensmittel, 9


wie Salat, Karotten, Erdbeeren und allerlei Kräuter, pflanzte und pflegte Margret selbst. Die leicht gekrümmte Haltung und wuscheligen Locken taten ihr Übriges. Aber in Leonies Familie war sowieso so einiges anders als in anderen. Oder hatte man normalerweise das Gefühl, dass die toten Eltern gar nicht tot waren? Die Mittagssonne warf ihre Strahlen durch das Dickicht der Tannen. Ein paar Vögel zwitscherten zwischen den Kiefern und alles wirkte so friedlich, dass Leonie sich nur schwer vorstellen konnte, was im Gruselmoor schon alles passiert sein sollte. Doch all das sanfte Rauschen der Wipfel konnte nichts an dem beklemmenden Gefühl ändern, das Leonie plötzlich überkam, kaum hatte sie das Gruselmoor passiert. „Fahr immer schnell durch, dann kommt dir das Unglück nicht so schnell hinterher!“ Das sagte ihre Tante manchmal zu ihr. Aber dieses geisterhafte Zittern und Beben in ihrem Innern würde sie überall einholen. Es versuchte mit ihr zu reden. Als Leonie zu Hause ankam schob sie ihr Fahrrad in den Schuppen hinter dem Haus. Es war ein kleiner Holzschuppen, gerade so groß, dass das Fahrrad darin Platz fand. Die Tür hing schräg in den Angeln und das schräge Dach hatte ein paar Ritzen, durch die das Sonnenlicht strahlte und schmale Striche auf die Holzwand im Innern malte. Leonie begutachtete das halb zerfallene Dach. Dass die ganze Hütte überhaupt noch zusammen 10


hielt, war kaum zu glauben. Eine Seite des Schuppens grenzte an das Haus. Durch eine schmale Holztür, die im Gegensatz zu dem Rest der Hütte ziemlich gut erhalten war, konnte man ins Haus gelangen. Es war eine hellbraune Tür aus glattem Eichenholz, an den Rändern war sie mit kunstvollen Mustern versehen, die sich ineinander verschlangen und an manchen Stellen zu kunstvollen Buchstaben formten, die Leonie nicht entziffern konnte. Dieses Kunstwerk nahm Leonie oft als Abkürzung. in die Besenkammer. Hier bröckelte an manchen Stellen bereits der Putz ab und auch sonst schien das Chaos hier zuhause zu sein. Alte Erinnerungen teilten sich hier den Platz mit niemals wieder brauchbaren Putzmitteln und Vorräten, die sich noch aus Kriegszeiten hier lagerten. Als Leonie die Tür mit gleichmäßig kräftigem Druck aufstieß, hörte sie, wie sie wieder einmal kratzend einen Karton über den Boden schob. Wer stapelte eigentlich Kartons vor einer nutzbaren Tür? Als Leonie aus der Besenkammer trat, zog ihr ein Duft von Bratkartoffeln und Kräutern in die Nase. Sie schlich in den Flur und tat, als würde sie von der Haustür her kommen. Margret mochte es nicht, wenn Leonie mit Schuhen durchs Haus lief. Schnell stellte sie sie in das Schuhregal und ging in die altmodische Küche ihrer Tante. Es gab keinen gemütlicheren Ort als diesen Raum. An den Fenstern hingen orangene Vorhänge, wodurch die Strahlen der Mittagssonne hindurchsickerten und 11


die Küche in ein warmes Licht tauchten. Neben einem alten Holzofen, der in einer Ecke stand, war ein weinroter Ledersessel, mit vielen von Margrets handgefertigten, gestrickten Sofakissen darauf. „Hallo Margret!“ Leonie setzte sich auf einen der Holzstühle, die um einen kleinen Holztisch standen. „Ah, da bist du ja, Leonie.“ Margret stellte eine dampfende Pfanne Bratkartoffeln auf den Tisch. Leonie schöpfte sich reichlich auf und stopfte sich eine Kartoffel nach der anderen in den Mund. „Sag mal, wieso stapelst du eigentlich andauernd Kartons vor der Tür im Schuppen?“, fragte sie, nachdem sie den ersten großen Hunger gestillt hatte. Margret war gerade dabei, sich ebenfalls zu nehmen, und hielt nun mitten in der Bewegung inne. „Was für eine Tür?“ Sie sah ihre Nichte aufmerksam an. „Na, die im Schuppen. Du stapelst immer Kartons davor.“ Leonie schob sich die nächste Bratkartoffel in den Mund und schaute ihre Tante dabei schmunzelnd an. Margret blieb jedoch ernst. „Leonie, erstens weiß ich nicht, was du immer in der Besenkammer machst und zweitens habe ich keine Ahnung, wie du darauf kommst, dass mitten in der Kammer eine Tür ist, die hinaus zum Schuppen führt. Leonie, da ist keine Tür.“ Leonie schaute sie mit gerunzelter Stirn an und wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. Hatte sie vorher etwas davon gesagt, dass die Tür in die Besenkammer führte? 12


„Du hast mal wieder zu wenig Schlaf gehabt, geh heute früh ins Bett“, sagte Margret schließlich, als von Leonie keine Antwort kam. „Ja, du hast wohl recht“, murmelte Leonie ohne ihre Tante aus den Augen zu lassen. Doch die ignorierte sie. Ein ungutes Gefühl hielt Leonie zurück zu widersprechen.

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Ab Dezember 2019 im Casimir-Verlag ISBN 978-3-940877-50-5 www.casimir-verlag.com

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