Tameha - Gene tanzen nicht von Marie Menke

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Marie Menke

Tameha

Gene tanzen nicht ROMAN

LESEPROBE

Casimir-Verlag 2


Marie Menke wurde 1997 geboren und wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester in einer Kleinstadt in NRW. Sie liebt Tanzen von Ballett bis Jazz sowie gute Bücher und verblüffende Fantasiewelten. Auf ihrem Blog, mariemenke.wordpress.com, versorgt sie Schreib- und Lesesüchtige mit Tipps für ihre eigenen Geschichten und Rezensionen zu ihren Lieblinsbüchern. Mit ihrem Debütroman ,,Tameha – Gene tanzen nicht“ führt sie sie au ßerdem in die düstere Zukunft ihrer eigenen Fantasiewelt.

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Marie Menke

Tameha Gene tanzen nicht Erstes Kapitel „Du musst dir vorstellen, dass du auch ein­ mal in einem solchen Reagenzglas warst“, er­ klärte er mit einem breiten Grinsen. Tameha drückte ihre Zehen fest in den Bo­ den und streckte ihren Körper, während sie ihre Schultern zurückdrückte und ihren Kopf gera­ de auf ihrer Wirbelsäule balancierte. Unbe­ merkt strich ihr Fuß über den Boden und ihre Zehen schlossen sich um einen Stift, den je­ mand achtlos auf dem dunkelroten Teppich lie­ gengelassen hatte. Vorsichtig hob sie ihr Bein an und legte den Stift wieder auf dem Teppich­ boden ab, bevor sie ihn erneut aufhob. Selbst­ 5


ständig korrigierte sie ihr Becken, das während der Bewegung zur Seite gerutscht war. Er betrachtete fassungslos das durchsichtige Glas mit dem blubberndem Inhalt. „Kannst du dir das vorstellen?“ Sie wurde aus ihren Gedanken gezogen, so­ dass ihre Zehen den Stift fallen ließen. Für nur einen Moment sackte ihr Körper in sich zusam­ men, nur um sich selbst zu beweisen, dass sie auch normal stehen konnte. Etwas in ihrer Wir­ belsäule aber schien sich zu beschweren, sodass sie sich wieder aufrichtete. „Sorry“, sagte Ta­ meha. „Was sagtest du?“ „Dass wir alle einmal nicht mehr als so ein Reagenzglas waren!“ Sein Gesicht war so voller Begeisterung, dass kein Platz mehr für Miss­ trauen blieb. Vielleicht hielt er es auch schlicht­ weg nicht für möglich, von so einer Vorstellung nicht begeistert zu sein. Tameha blickte sich in dem geräumigen Raum um. Er war mit Regalen so zugestellt, dass sie sich beengt fühlte. Der Raum sah ganz anders aus als ihr Zimmer: Hier war keine Vi­ trine mit ihrem Lieblingskleid, keine Bilder von ihren Idolen und kein riesiger Kleiderschrank. Die Wände waren schneeweiß gestrichen und die Regale dafür pechschwarz. Reagenzgläser, 6


Computer und mehr wurden von Stromleitungen verbunden, die freilagen, sich quer durch das Zimmer zogen und ein ständiges Surren erzeugten, bei dem sie nicht hätte schlafen können. Er mit Sicherheit auch nicht, denn hinter einer milchigen Schiebetür konnte sie ein ebenso großes Zimmer mit einem Bett erkennen. Ihr Blick blieb an dem blubbernden Reagenzglas vor ihr hängen. „Was meinst du damit?“, fragte sie. Er zog eine Augenbraue hoch. „Hast du dich nie gefragt, wie wir gemacht werden?“, fragte er. Aus irgendeinem Grund hätte Tameha er­ wartet, dass er wie ein kleiner Junge grinsen würde, aber zu ihrer Überraschung tat er das nicht. Natürlich hatte sie sich das schon gefragt. Vor zehn Jahren, als sie sechs gewesen war und die zahlreichen Zeitschriften, die die Jugend von heute aufklärten, noch nicht gekannt hatte, bis das Bild immer klarer geworden war. Irgen­ detwas hielt sie an der Frage fest. So ganz ge­ nau wusste sie es ja dann eben doch nicht, wenn sie ehrlich war. Jedenfalls nicht aus eigener Erfahrung. Er drehte das Reagenzglas zwischen seinen Fingern. 7


„Hier wurden schließlich auch deine Gene zusammengemixt“, erklärte er. Die Zeitschriften, die in den Armenvierteln verkauft wurden, waren verpönt und doch hat­ te jeder Jugendliche sie schon gelesen. Sie hatte sich nie darum gekümmert, obwohl die Zeit­ schriften regelrecht davon auszugehen schie­ nen, dass die Jugendlichen darauf brannten, mehr über solche Themen zu erfahren. Letzt­ endlich waren sie ja auch für die Kinder vom Land und nicht für die Städter gedacht. „Darin?“ Tameha zog eine Augenbraue hoch und betrachtete das Reagenzglas misstrauisch. „Das glaube ich kaum.“ Sie stoppte. „Du weißt, wie das funktioniert“, erinnerte sie ihn vorsich­ tig. Zu ihrer Überraschung lachte er auf. „Du musst doch wissen, dass das nicht alles ist!“ Selbst sein Lachen wirkte so schräg wie die Bril­ le, die auf seiner Nase thronte. Sie hatte sich ihre Augen schon vor Jahren lasern lassen und als sie ihn so anschaute, war sie ehrlich gesagt auch froh darüber. „Ach, das meinst du.“ Nun war Tameha an der Reihe, sich dumm zu fühlen. „Ich wusste nur nicht, dass sie dafür Reagenzgläser benut­ zen.“ 8


Wenn sie ehrlich war, hatte sie noch nie darüber nachgedacht, wie sie es machten. „Irgendwie muss es ja gemacht werden.“ Er schob die Kappe von dem länglichen Reagenz­ glas. Der Geruch, der die Luft füllte, machte Ta­ meha Angst, als ob sie fürchtete, dass jeden Mo­ ment etwas in die Luft gehen könnte, aber nichts passierte. Sie rümpfte die Nase, aber er schien es nicht zu bemerken. Ihre Hände zitter­ ten. Sie mochte das Zimmer nicht sonderlich: Das offene Reagenzglas war nicht das einzige, von dem ein beißender Geruch ausging, und das Surren der Geräte machte sie nur nervös. Noch nie hatte sie solche Zimmer gemocht. Sie konnten noch so sauber geputzt sein, sie wirk­ ten immer dreckig, weil sie so vollgestellt wa­ ren, und es gab keinerlei Fenster, die Tageslicht hereingelassen hätten. Es war kein schönes Zimmer. „Zuerst suchen sie die besten Eigenschaften deiner Mutter heraus“, erklärte er. „Es ist sogar möglich, dass die mit denen von allen Männern in der Datenbank abgeglichen werden, um den Besten zu finden, falls sie keinen Mann hat.“ Tameha beobachtete, wie er fast schon fana­ tisch auflachte, und zwang sich, Interesse zu 9


heucheln, während sie das Reagenzglas mit im­ mer größer werdenden Augen beobachtete. Sie wusste, was es bedeutete, Leidenschaft für et­ was zu empfinden, aber ihr fiel es zugegebener­ maßen schwer, die Leidenschaft, die er für die Wissenschaft empfand, nachzuvollziehen. Ir­ gendetwas in seinen Augen ließ ihn so fanatisch wirken. Fast schon unmenschlich. Wahrschein­ lich ebenso unmenschlich wie ihre Füße. „Die besten Eigenschaften deines Vaters wer­ den hinzugegeben“, fügte er hinzu und strich über das Reagenzglas, das unter der warmen Lampe, die er anschaltete, beschlug. „Dann können deine Eltern Wünsche äußern.“ Tameha legte ihre Hand auf den Tisch, nur um sie unter der Lampe zu wärmen, da sie langsam fror. Sie erwischte sich dabei, wie sie den Jungen anstarrte, aber sie empfand nichts. Er war ein Junge. Sollte sie nicht irgendetwas empfinden? Sie war sich nicht sicher. Für einen Moment fragte sie sich, was sie hier überhaupt tat. In den Zeitschriften wurde ein Date anders beschrieben, aber für so ein Date müsste sie sich wahrscheinlich außerhalb der Stadt befinden. Mochte sie ihn? Natürlich. So wie sie die meisten Jungen aus der Nachbarschaft eben mochte. 10


„Du glaubst gar nicht, was mit der Gentech­ nik alles möglich wäre.“ Er machte eine drama­ tische Handbewegung. „Vielleicht wird es uns eines Tages möglich sein, die Gene eines Men­ schen vor seiner Geburt in Tiergene zu verwan­ deln.“ Er setzte das Reagenzglas zurück in den Ständer, während er sich auf die Lippe biss. „Die Chancen, das ausprobieren zu können, sind jedoch gering, da sich keine Eltern das wünschen werden, aber vielleicht findet sich ja jemand…“ Er schien zu bemerken, dass er den Faden verloren hatte. „Und zuletzt kommt die reguläre Behand­ lung.“ Tameha betrachtete ihre Füße. Vor allem sie hatte man in dem Reagenzglas verändert. Für sie war das niemals etwas Neues gewesen, aber plötzlich wirkte es seltsam auf sie. Jemand hatte bereits gewusst, wie sie werden würde. Eigent­ lich stimmte das nicht ganz. Genaugenommen hatte jemand sie so gemacht, wie sie jetzt war. Sie schaute auf. „Ross?“, fragte sie. Ihre Stimme klang zu laut, als sie endlich sprach, und er wirkte überrascht. Sie fragte sich, ob es ihm un­ angenehm war, wie still sie war. „Was meinst du mit der ,regulären Behand­ lung‘?“ 11


Er zuckte mit den Schultern, bevor er sich wieder seinem Reagenzglas zuwandte. „Die re­ guläre Behandlung eben“, antwortete er. „Dei­ ne Eltern können dich zwar formen, aber die Ärzte haben da auch noch ein Wort mitzure­ den: leistungsstärkere Organe, auf Krankheiten überprüfen… so etwas.“ Tameha nickte langsam, bevor sie die Stirn runzelte. „Macht es dir nicht manchmal Angst, dass es das irgendwann mal nicht gab – dass die Medizin früher noch nicht so fortgeschritten war wie heute?“, fragte sie und er blickte auf, als würde er darüber nachdenken, aber aus ihr sprudelte es schon heraus. Manchmal konnte sie nicht glauben, wie viel Glück sie gehabt hat­ te, dass sie jetzt und hier lebte. „Ich jedenfalls bin heilfroh, dass ich heute unter diesen Bedin­ gungen leben darf.“ Die Bewegung, mit der ihr Fuß über den Bo­ den strich, war schnell, aber der Akzent lag auf dem Schließen und nicht auf dem Öffnen. Sie hatte sich in dem mit Holzwänden versehenem Studio einen kleinen Riss in dem Holz gesucht, an dem ihre Augen sich festhielten. Als sie ihre Zehen in den Boden drückte und ihr Körper sich hob, stand er nicht mehr auf den Füßen. Er 12


hing von ihrem Kopf herunter und als sie sich von der Stange wegdrehte, drehte sie sich mit leichtfüßigen Bewegungen in Richtung Spiegel. Als sie sich neben Bea auf den Boden gleiten ließ, konnte sie noch immer Ross’ Gesicht vor sich sehen, aber sie wusste gar nicht genau, warum. „Manchmal kann ich gar nicht glauben, wie froh ich bin, dass ich hier sein darf“, flüs­ terte sie. Das Gefühl, dass ihre eigenen Worte sich bescheuert anhörten, ließ sie nicht los, aber es stimmte: Sie war froh, hier sein zu dürfen. „Ich glaube nicht, dass du sonst unglücklich wärst.“ Bea hatte sich noch nicht aufgewärmt. Sie zog die rosa Schläppchen an ihre Füße und schnürrte die Bänder eng um ihre Knöchel. „Wärst du jemand anders, würdest du deine Aufgabe auch mögen.“ Aufgabe. Das hörte sich so gezwungen an, aber es war nicht das Einzige, das Tameha zum Stoppen brachte. „Meinst du wirklich?“, fragte sie zö­ gerlich, aber das braunhaarige Mädchen be­ merkte es nicht. „Klar“, antwortete Bea und widmete sich ih­ rem zweiten, von einer weißen Strumpfhose umhüllten Fuß. „Das ist doch Sinn der Sache.“ Wenn sie ehrlich war, hatte Tameha noch nie 13


nach dem Sinn der Sache gefragt. Sie biss sich auf die Lippe und starrte das Mädchen an, das aber noch immer mit ihren Füßen beschäftigt war. Bea drückte ihre Zehen nach unten, aber sie ließen sich nicht richtig biegen. Warum hatte sie nicht so perfekte Füße wie Tameha? Sie wusste nicht, warum ihr die Ärzte das angetan hatten, aber vielleicht hatten ihre Eltern auch nur vergessen, darum zu bitten. „Meinst du, das gehört auch dazu?“, fragte sie. Bea schaute auf. „Was meinst du?“ „Dieses Gefühl…“ Tameha blickte auf ihre Hände, als sie versuchte, es zu erklären, aber als die Trainerin ihr ein Zeichen gab, stand sie auf. Es war schon spät und trotz der zahlrei­ chen schwitzenden und hitzigen Körper in dem Studio froren ihre nackten Schulterblätter, die das Trikot nicht bedeckte. Sie griff nach einer schwarzen Wickeljacke und zog sie sich über. „Diese Leidenschaft.“ Bea zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Als ihre Hände die Stange losließen, konnte sie spüren, wie schnell ihr Herz in ihrer Brust schlug. Nicht zu schnell. Ihr Herz würde nie­ mals zu schnell schlagen; es war extra für 14


diesen Sport gemacht. Sie brannte darauf, es wieder zu fühlen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Musik, die Schritte und die Schön­ heit mit ihrem eigenen Körper verschmolzen. Die Aufregung wütete in ihr, obwohl sie dafür gemacht worden war, mit solchen Situation umgehen zu können. Vielleicht hatten ihre El­ tern auch vergessen, um die Fähigkeit, mit Druck umgehen zu können, zu bitten. Sie hätte nicht gedacht, dass sie einem bescheuerten Rea­ genzglas einmal dankbar sein würde, dass es ihr diesen Körper gegeben hatte. Schnelle Klaviermusik setzte ein. Immer wieder spürte Tameha diese kurzweilige Angst, dass die Musik ihren Körper vielleicht dieses Mal nicht mitnehmen würde oder dass ihr Kör­ per nicht schnell genug sein würde, um ihr zu folgen, aber dann passierte es von ganz allein: Ihre Arme formten einen Kreis vor ihrem Kör­ per, während sie auf ihre Zehen anstieg, die ihr gesamtes, wenn auch geringes Gewicht balan­ cierten. Ihre Augen hielten sich an einem un­ sichtbaren Punkt an der ihr gegenüberliegen­ den Wand fest, als sie sich hochdrückte und ihr freies Bein unterhalb ihres Knies anlegte. „Sehr gut, Bea!“

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Die ersten zwei Wörter brachten sie dazu, dass ihr Kopf sich noch höher in die Luft streck­ te, aber dann sackte sie für nur einen Moment zusammen, ihre Schulterblätter kippten nach vorne und ihr Fuß wackelte unter ihrem Ge­ wicht. Schon jetzt konnte sie sich schon vorstellen, wie sie sich später daran erinnern würde, dass sie gewusst hatte, dass es passieren würde. Ei­ gentlich aber hatte sie es schon oft gedacht, aber es war nie wirklich eingetreten. Dann aber hatte sie das Gefühl, dass die Musik so schnell wur­ de, dass ihr Körper der rasenden Geschwindig­ keit nicht mehr folgen konnte. Sie blickte in den Spiegel, um sich an ihren eigenen Augen festhalten zu können, aber das Mädchen, das an ihrer Stelle in den hellen Strumpfhosen und dem schwarzen Obertrikot über das Parkett wirbelte, schien nicht in der Lage zu sein, Blickkontakt mit ihr aufzuneh­ men. Sie konnte fühlen, wie die Knochen in ih­ rem Fuß unter ihrem Gewicht, das plötzlich viel zu schwer für sie zu sein schien, bebten, aber als er nachgab, war der Schmerz urplötzlich verschwunden, nur um dann in ihrem Knie ein­ zusetzen, auf dem sie unsanft landete. „Alles okay?“ Bea kniete neben ihr. 16


Als Tameha aufschaute, musste sie ihre Hand gegen ihr Knie drücken. „Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist.“ Bea zwang sich zu lächeln. „Jeder hat mal einen schlechten Tag“, sagte sie, aber Tameha konnte in ihren Augen lesen, dass das nicht stimmte. Wer den Körper dazu hatte, durfte sich von schlechten Tagen nicht ablenken las­ sen. In der Umkleide streifte Tameha die schwar­ ze Wickeljacke ab, zog sich eine Jeans über die weiße Strumpfhose und schlüpfte in ihre Jacke, aber während sie noch die Schnürsenkel ihrer Schuhe entknotete, gingen die anderen Mäd­ chen, und als sie allein in der Umkleide stand, blieb ihr Blick an ihrem Spiegelbild hängen. Sie wusste gar nicht, bei wem sie sich für diesen Körper bedanken sollte. Warum aber hatte er eben nicht gereicht? Irgendetwas an ihren Beinen sah so dünn aus. So leicht. Sollten da nicht mehr Muskeln sein? Sie war sich nicht sicher. Sah sie eigentlich aus wie ein Mädchen? Sie hatte keinerlei Ober­ weite. Wahrscheinlich würde sie die auch nie bekommen, weil eine Ballerina keine Oberweite hatte. Weil ihre Gene so gemacht worden wa­ ren. Auch Kurven hatte sie keinerlei. Hatte Bea 17


einen weiblicheren Körper? Sie sah weniger aus wie eine Ballerina, obwohl Tameha sich nicht erklären konnte warum. Im Foyer herrschte Lärm und Menschen standen eng zusammengedrängt in dem hellen Licht. „Du kannst dir mit ihren Genen deinen Kindheitstraum nicht erfüllen!“ Tameha bemerkte nicht, wie verärgert ihr Va­ ter ihre Mutter anstarrte, als sie ihre Trinkfla­ sche zurück in ihre Tasche schob. „Das war nicht mein bester Tag“, gab sie gedehnt zu, aber dann stockte sie. Sie hatte das Gefühl, sich für das verpatzte Vortanzen bei ihren Eltern ent­ schuldigen zu müssen, aber gleichzeitig wusste sie, dass sie ein Recht darauf hatte, von ihnen getröstet zu werden. Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht bemerkte, dass den Gesichtern ih­ rer Eltern abzulesen war, dass ihre Tochter sie aus einem wichtigen Gespräch gerissen hatte. Die Blicke, die sie austauschten, sagten klar, dass sie trotzdem wieder darüber reden wür­ den. „Dann trainierst du jetzt eben mehr“, munterte ihre Mutter sie auf. „Als meine Mut­ ter noch Ballettunterricht gab, hatten wir eure 18


Körper noch nicht, da mussten wir alles durch reines Training erreichen.“ Tameha hatte das Gefühl, dass ihre Brust bebte, als sie sich in das Auto setzte. Früher. Jetzt war aber nicht früher und wenn sie ehrlich war, hasste sie, dass ihre Eltern sie ständig dar­ auf ansprachen, dass sie zu der neuen Generati­ on gehörte. Als ihre Eltern aufgewachsen wa­ ren, war die Gentechnik noch nicht weit fortge­ schritten gewesen. Sie mochte das Gefühl, et­ was Besonderes zu sein, aber die Worte ihrer Mutter gaben ihr das schmerzende Gefühl, ge­ rade deshalb ihren Erfolg nicht verdient zu ha­ ben. Ihr Vater parkte das Auto auf dem Parkplatz vor dem Haus, von dem aus Tameha den Wald dahinter nur erahnen konnte. Eigentlich hasste sie das Grüne, die ganzen Insekten, die surrten wie Ross’ Geräte, und das nasse Gras. Nur manchmal gab der Wald ihr das Gefühl, aus ihrem Leben einfach aussteigen zu können. Als sie mit nackten Füßen durch das Gras streifte, sagte sie sich, dass es nicht an ihr war, das zu erreichen, was man ihr als Ziel gegeben hatte. Es lag an den Genen, die man ihr gege­ ben hatte, dem Körper, mit dem sie geboren 19


worden war und dem Charakter, den sie hatte. Manchmal lag sie nachts wach und überlegte, wie ihre Kinder eines Tages aussehen würden. Sie sah es schon vor sich, wie sie im Krankenhaus an einem Tisch saß und ein Formular ausfüllte, um zu bestimmen, welche Gene die Ärzte ihrem Kind mitgeben würden. Sie konnte den Stuhl, der neben ihrem stand, sehen, aber sie konnte nicht erkennen, wer auf ihm saß. Es war einer der Momente, in denen ihr Großvater „Wenn man vom Teufel spricht“ sa­ gen würde, dabei mochten es ihre Eltern gar nicht, wenn er ständig diese alten Sprichwörter benutzte. Vielleicht hatte sie schon vorher heimlich an Ross gedacht. Vielleicht fiel ihr die Verbindung auch erst auf, als sein Gesicht auf ihrer Armbanduhr erschien. „Wie geht’s?“, schrieb er. Sie hielt ihr Handgelenk an ihren Mund. „Gut“, antwortete sie. Diese Standardant­ wort. Sollte es in ihrem Bauch kribbeln? Sollte sie nervös sein? Sie wusste es nicht, aber schon allein das reichte aus, um sie zweifeln zu lassen, ob Ross der war, für den sie ihn manchmal hielt. „Und dir?“ Der kleine Computer tippte ihre gesprochene Antwort automatisch ein. 20


Sie griff nach einem Ast, um sich festzuhal­ ten, als sie stolperte, und fluchte ärgerlich. Ger­ ne war sie nicht hier draußen. Die Natur hatte etwas Bedrohliches an sich, etwas, das sie nicht kontrollieren konnte. Nur manchmal, wenn ihre Füße von dem stundenlangen Training schmerzten und das nasse Gras ihnen guttat und sie das Gefühl hatte, dass ihr Kopf platzte, ging sie in den Wald hinter ihrem Haus und versuchte zu vergessen, wie eklig diese Natur war. Ihre Armbanduhr blinkte auf, aber es war nicht Ross’ Antwort, die erschien. Stattdessen blinkte Beas Gesicht auf. Tameha fiel auf, dass sie sich noch nie selbst auf einer der Armband­ uhren gesehen hatte. Was für ein Foto von ihr man wohl benutzte? Es machte sie neugierig. „Hey“, schrieb Bea. „Weißt du, wann wir morgen Training haben?“ Ross’ Gesicht blinkte auf, aber plötzlich wa­ ren Tamehas Gedanken woanders. Manchmal konnte sie es spüren, wie sie von etwas Fremdem geleitet wurde. Von einer Leidenschaft, die sie nicht kontrollieren konnte. Vielleicht auch nur von einer Leidenschaft, die man in ihre Gene gesetzt hatte. 21


„Warte“, antwortete sie ihm, ohne seine Nachricht gelesen zu haben. „Ich muss kurz mit einer…“ Wollte sie „Freundin“ schreiben? War Bea eine Freundin für sie? Das Wort „Konkurrentin“ tauchte in ihrem Kopf auf. Früher war Bea einmal verdammt gut gewesen, aber Tameha war immer das Ausnahmetalent gewesen, und wenn sie ehrlich war, dann ging Beas Karriere eher bergab als bergauf. Sie selbst hatte ein so großes Vertrauen darin, dass ihre Gene ihr ihren Traum ermöglichen würden, dass der Gedanke, dass jemand wie Bea, die jahrelang mit ihr trainiert hatte, für immer von den Bühnen verschwinden könnte, ihr Angst machte. „Normal, oder?“, schrieb sie. Hatten Beas El­ tern wirklich vergessen, nach besseren Füßen zu fragen? Ihr war früher schon aufgefallen, dass Beas Füße mit ihren nicht mithalten konn­ ten, aber Bea hatte immer etwas Anderes ge­ habt… Eine ganz andere Art von Leidenschaft, die nicht so selbstverständlich kam wie alles, das Tameha so selbstverständlich mit dem Tan­ zen verband. Erst als das Gesicht des braunhaarigen Mäd­ chens wieder aufblinkte, fiel Tameha auf, wie 22


wenig sie über Bea wusste. Sie war praktisch mit dem Mädchen aufgewachsen, das so lange wie sie sich erinnern konnte in demselben Tanzstudio wie sie getanzt hatte. Aber wo sie wohnte? Tameha war sich nicht sicher. „Irgendwer meinte, Proben für das Vortanzen wären später noch.“ Tameha blickte auf den blinkenden Bild­ schirm ihrer Armbanduhr hinunter, aber dann zog etwas Anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich: Nur wenige Meter entfernt lief ein Mäd­ chen, nicht älter als fünf oder sechs Jahre, durch den Wald, ohne sie zu entdecken. Ihre Füße wa­ ren nackt und von Schmutz bedeckt und sie trug ein schwarzes Kleid, das keine Taille und keine Ärmel hatte. In ihrer winzigen Hand trug sie eine kleine Puppe, der ein Auge fehlte. Sie hielt sie vor sich und sprach in einer Sprache mit ihr, die Tameha nicht verstand. Erschrocken machte sie einen Schritt zurück, aber dann spürte sie, wie ihre Neugier in ihr aufschäumte. Sie blickte auf ihre eigenen, eben­ so nackten Füße herunter, aber die sahen plötz­ lich nicht mehr so seltsam weiß aus wie zuvor. Warum trug das Mädchen keine Schuhe? Tame­ ha griff nach einem Ast, schob ihn zur Seite und kletterte auf einen gefallenen Baumstamm. Das 23


Holz fühlte sich seltsam unter ihren nackten Füßen an, die nicht daran gewöhnt waren, nicht von Strümpfen und Schuhen geschützt zu werden. Wohnwagen standen auf der Lichtung, in de­ ren Richtung das Mädchen lief. Sie waren in bunten Farben angemalt, teilweise mit Schrif­ ten, teilweise mit Bildern und Graffiti versehen, aber es war deutlich zu erkennen, dass die Bil­ der von Hand gemalt waren. Einige Eingänge waren von Türen verschlossen, während mit Perlen besetzte Kordeln vor anderen hingen, und in ihrer Mitte hatte man Holz und Asche zu einer Feuerstelle angerichtet. Obwohl der Platz so bunt in der Mitte der dunkelbraunen Natur aussah, wirkte er nicht seltsam. Tameha blickte kurz auf ihre Armbanduhr, die erneut aufblinkte. „Tanzt du da auch mit?“, fragte Bea, aber Tameha ignorierte sie und blickte wieder auf. Sie hatte bereits von den Sil­ varn, die regelmäßig umzogen, gehört, aber sie hatte nie damit gerechnet, welche in dem Wald hinter ihrem Haus zu finden. Nie hätte sie wie eine Silvarin leben können. Auf der einen Seite, weil der Schmutz hier in der Mitte der Natur unvermeidbar war und auf der anderen Seite, weil die Menschen hier so weit von der Stadt 24


entfernt waren. Selbst die Armen, die außerhalb der Stadt auf dem Land lebten, hatten selbstver­ ständlich Zugang zu Ärzten, aber hier gab es mit Sicherheit keinen zuständigen Arzt. Hier war es nicht sicher. Als sie darüber nachdachte, wusste sie aber nicht, wer den Silvarn etwas hätte antun sollen. Plötzlich öffnete sich eine Tür und Tameha wich erschrocken hinter einen Baum zurück. Seine Rinde fühlte sich rau unter ihrer Handflä­ che an, als sie sich daran festhalten musste, um nicht in eine Schlammpfütze zu treten. Die blonden Haare des Silvarmädchens waren zu drei langen Zöpfen geflochten und Sommer­ sprossen bedeckten ihre braungebrannten Wan­ gen. Sie trug ein buntes Kleid mit aufgedruck­ ten Blüten, an den Füßen hatte sie nur geringel­ te Socken, die ihr fast bis zu den Knien reichten, und sie hielt eine kleine Tonschüssel in der Hand, die sie zu der Feuerstelle trug und dane­ ben absetzte. Erschrocken kauerte Tameha sich hinter den Baum, als das Mädchen sich umdrehte, aber sie ging nur zurück zu dem Wohnwagen, ohne sie zu entdecken. Das bunt gemusterte Kleid und die geflochtenen Haare erinnerten sie an ein an­ deres Jahrhundert und an Fotos, die ihr Groß­ 25


vater von seiner toten Frau behalten hatte. Warum starrte sie dort so hin? Wenn sie Arme, die auf dem Land lebten, in der Stadt sah, musste sie sich auch immer zusammenreißen, um nicht hinzustarren, aber natürlich wusste sie von den Silvarn. Alle wussten von ihnen, aber niemand sprach über sie und Tameha fragte sich auch nicht, warum. Als sie auf ihre Armbanduhr hinabblickte, konnte sie sich noch immer nicht erklären, wie Menschen hier leben konnten. Sie dachte an all die Dinge, die ihnen passieren könnten. Wenn sie ehrlich war, fiel ihr nicht direkt etwas ein, aber es blieb noch immer eins: Hier waren sie fernab von der Stadt. Tamehas Finger lief über den Display der Armbanduhr, bis sie Beas Gesicht wiederfand. Sie hielt ihr Handgelenk an ihren Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, schrak sie zusam­ men und wich zurück hinter den Baum. Ihre Füßen schienen eingefroren zu sein und ihre eiskalten Zehen konnten sich nicht auf dem ge­ fallenen Baumstamm halten. Als sie aber nun in eine Schlammpfütze fiel, hatte sie zwar das Ge­ fühl, sich vor Ekel übergeben zu müssen, aber trotzdem machte es kaum ein Geräusch. Ir­ gendwo flüsterte jemand in einer Sprache, die 26


sie nicht verstand, aber obwohl die Stimme weiblich klang, ließ die Sprache sie tiefer wir­ ken. Tameha drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Zwischen den Bäumen stand ein Mädchen. Eine schwarze Klammer hielt ihren Pony an ih­ rem Hinterkopf fest, während ihre langen, dun­ kelblonden Haare in krausen Locken über ihren Rücken fielen. Sie trug eine kurze, schwarze Stoffhose und ein wehendes Oberteil in bunten Farben, unter das der Wind blies. Als sie sich drehte, hatte sie Ähnlichkeiten mit dem jünge­ ren Silvarmädchen, aber auf ihrem Gesicht wa­ ren keine Sommersprossen zu sehen. Ihre Haut war außerdem blasser und sie hatte hohe, her­ vorstehende Wangenknochen. Selbst aus der Ferne waren ihre schwarzen Wimpern erkenn­ bar und über dem rechten Auge hatte sie eine längliche Narbe. Warum hatte sie die nicht vom Arzt entfernen lassen? Wie hässlich das aussah. Plötzlich drückte sie ihre Zehen in den Bo­ den, bis sie auf Zehenspitzen stand. Sie sprach leise und dunkel, während sie ihr Bein neben ihrem Körper anwinkelte, bevor sie es plötzlich parallel zu ihrem Oberkörper in die Luft steck­ te. Sie hielt ihre Hände über ihrem Kopf, als sie hochsprang und ihren Fuß streckte, bevor sie 27


auf Knien landete. Nur für einen Moment lag sie auf dem Rücken und rollte dann über ihre rechte Schulter rückwärts, indem sie ihren Kopf während der Rolle zur Seite neigte und sich mit einer Hand von dem Boden wegdrückte. Tameha konnte nicht wegschauen. Die Bewe­ gungen des Mädchens waren so raumgreifend und elegant, dass sie nicht einmal zwischen ih­ ren Bewegungen anhalten musste. Auf ihren nackten Beinen waren ihre Muskeln erkennbar und ihre Dehnbarkeit war bemerkenswert. Ta­ meha hatte bereits andere tanzen gesehen, die kein Ballett kannten. Außerhalb der Stadt, auf dem Land, wo sich die Jugendlichen mit ihren CD-Playern trafen und zu ihrer eigenen Musik tanzten. Ohne aufgerichtete Oberkörper. Ohne gestreckte Füße. Auch die Zehen des Mädchens zeigten zum Himmel und nicht zum Boden, als sie ihr Bein wieder hob. Wie sehr Tameha diese Jugendlichen hassten, die das Tanzen so miss­ brauchten. Die Bewegungen des Mädchens aber waren wunderschön. Plötzlich verband das Mädchen ihre Zehen mit ihrem Knie, wand sich auf ihre Zehenspit­ zen hoch und drehte sich um, bis sie plötzlich Tameha in die Augen sah. Tameha hatte das Ge­ 28


fühl, die eine Sekunde wie tausende zu erleben. Die Augen des Mädchens weiteten sich, aber et­ was an ihr sah falsch aus. Anders als die Mäd­ chen, an die Tameha gewöhnt war. „Wer bist du?“, flüsterte die Silvarin und starrte sie an, die das Gefühl hatte, sehen zu können, was das Mädchen sah. Für sie musste sie ebenso seltsam aussehen. Wieso konnte ein Silvarmädchen tanzen? Sie konnte es sich nicht erklären. Das Mädchen konnte weder den Körper einer Tänzerin noch einen Ort zum Üben haben, dabei… Erst da be­ merkte sie, warum ihr nicht sofort aufgefallen war, dass das Mädchen der jüngeren Silvarin ähnlich sah: Sie hatten nicht denselben Körper. Die Dunkelblonde hatte lange Beine, einen lan­ gen Hals und eine graziöse Art, ihren Kopf auf ihrer Wirbelsäule zu balancieren. Sie hatte tolle Füße und hätte Tamehas Spiegelbild sein kön­ nen, wenn sie ihren Arm nicht seltsam ange­ winkelt an ihrer Hüfte getragen hätte. Das Mädchen schien nicht in der Lage zu sein, ihren Arm zu bewegen. „Ich bin aus der Stadt“, zischte Tameha ange­ ekelt. Schmutz bedeckte die nackten Beine des Mädchens und Blätter steckten in ihren Haaren. 29


Ihre Zähne waren gelblich, als hätte sie sie län­ ger nicht bleichen lassen, und die Spitzen ihrer Haare sahen kaputt aus. Es waren aber ihre Füße, von denen Tameha ihren Blick nicht abwenden konnte. Es waren die Füße einer Tänzerin.

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Auszüge aus:

Marie Menke

Tameha Gene tanzen nicht ROMAN

Copyright: © 2014 by Marie Menke 1. Auflage: August 2014 Verlag: Casimir-Verlag, Carsten Krause, 34388 Trendelburg Alle Rechte, auch die des auszugsweisen und fotomechanischen Nachdrucks, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsge­ staltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: © Sarah M. Schemske Lektorat: Anne Stolpe & Carsten Krause Satz & Layout: Carsten Krause Printed in Germany 2014

ISBN 978-3-940877-24-6

www.casimir-verlag.de 31


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