Thornado II: Das Auge der Macht" von Marie Eichenberg

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Marie Eichenberg

Thornado Das Auge der Macht Band 2

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Karte von TOWENIA:

„Liebe kleine und große Fantasy-Fans, ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen!“ Eure Marie

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Ab Dezember 2016 erhältlich!

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Drachenauge […] Die Vögel zwitscherten leise, etwas zu leise vielleicht, aber sie nahmen diese hohle Stille aus dem Wald. Es rauschte kein Wind durch die Bäume, sie schwiegen, eisern und kühl, wie sie es immer taten, wenn da nichts war, was sie bewegte. Das gleichmäßige Stampfen von Hufen hallte von den Bäumen wider. Da war kein Weg, der sie leitete, kein Pfad, der ihnen Sicherheit gab. Da waren nur die endlose Weite des Waldes und das nüchterne Schweigen der ewigen Bäume. Das Pferd wurde nicht schneller, nur der Reiter, der wurde stets unruhiger, stets angespannter. Er erwartete etwas. Es war eigenartig. In diesem Teil des Waldes schien er noch nie gewesen zu sein. Die Vögel wurden leiser. Immer leiser. Ein Spatz wurde vom steten Trommeln der Hufe aufgeschreckt und flatterte erregt auf. Ihm folgten noch viele weitere. Spatzen traf man selten allein. Doch das Pferd kümmerte sich nicht darum. Es kannte den Wald. Spatzen waren ungefährlich. Also setzte es seinen Weg unbekümmert fort. Den Reiter schien es nicht zu kümmern. Etwas anderes beschäftigte ihn. Unruhig sah er sich immer wieder nach allen Seiten um. Die Vögel 5


waren verstummt. Der Wald war verstummt. Das Pferd lief immer weiter. Manchmal knackte ein Ast. Danach herrschte wieder Stille. Die Unruhe wuchs. Es musste doch endlich etwas passieren! Wartete da jemand auf ihn? Sollte er umkehren? Je weiter er ritt, desto mehr schien es ihm, dass der Wald endlos war. Endlos und still. Unheimlich still. Wo war der Wind? Wo waren die Vögel? Wie zur Antwort flatterte unsichtbar über den Wipfeln der Bäume eine Krähe und schrie laut ihren Ruf. Gespenstisch hallte er wider. Plötzlich hielt das Pferd abrupt vor einem besonders dichten Gebüsch. Es blieb einfach stehen, ohne sich zu rühren, ohne noch einen weiteren Laut von sich zu geben. Der Reiter wusste: Nun würde das kommen, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte. Es war jetzt da. Bloß wo? Die Bäume, jedes Blatt, jeder Busch, sie schienen plötzlich bedrohlich, nicht mehr schützend. Es schien alles viel dunkler zu sein, alles war fremder, erfüllt von dieser unendlichen Tiefe der Stille. Doch dann sprang das Pferd überraschend zur Seite, seine Hufe wirbelten durch die Luft. Der Reiter schnappte erschrocken nach Luft und klammerte sich in die Mähne des Tieres. Wind brauste durch die Äste der Bäume, dunkle Wolken, die von nirgends zu kommen schienen, hüllten den Wald in ein dämmriges Licht. Der Wind wirbelte dem Pferd immer kräftiger 6


durch die Mähne, die Bäume bogen sich tief, die Wolken zogen über den Himmel, Blätter wirbelten durch die Luft. Und dann verstummte er wieder. Der Wald wurde schlagartig wieder ruhig. Sofort hörten die Bäume auf zu rauschen und zu ächzen. Vollkommen verstört richtete der Reiter sich wieder auf. Der Wald war immer noch dunkel. Nur in dem Gebüsch vor ihm leuchtete etwas. Er neigte sich nach vorn, um es genauer zu betrachten. Sein Herz schlug heftig, Angst stieg in ihm auf, doch jetzt war die Neugierde stärker. Er erkannte ein Auge. Es strahlte bis in die Baumkronen. Das Orange des Auges färbte den Wald feuerfarben, als würde alles brennen, alles verbrennen. Ein Drachenauge. Doch ehe der Reiter es tatsächlich hatte verstehen können, wandte sich das Pferd um, wieherte laut und preschte davon. Das Trommeln der Hufe vermischte sich mit dem Hall des Wieherns. Erst peitschte dem Reiter der Wind ins Gesicht, dann verlor er jedoch den Halt und stürzte. Das Pferd lief dennoch unbeirrt weiter. Mona schlug die Augen auf. Dunkelheit umhüllte sie. Es war noch mitten in der Nacht, der Himmel war mit dichten Wolken behangen, die jedoch keinerlei Anstalten machten abzuregnen. Es standen kein Mond und keine Sterne am Himmel, die die Nacht hätten erhellen können. Ohne sich zu rühren blieb Mona liegen, ihre Gedanken kreisten und sie zitterte am ganzen Körper. Sie hatte noch niemals zuvor von 7


einem Drachenauge geträumt... […] „Ben, jetzt komm endlich oder ich reite allein aus!“, rief Mona quer über den ganzen Hof hinweg. Neben ihr tänzelte Butterfly unruhig. Die Wolken hingen immer noch schwer und undurchdringlich am Himmel, aber sie schienen nicht mehr regnen zu wollen. Der Traum aus der Nacht war so gut wie vergessen und Mona wollte auch überhaupt nicht mehr darüber nachdenken. Sie wusste niemals, ob es richtig war, was sie dachte; sie wusste niemals, ob sie dem trauen konnte, was sie glaubte. Und obwohl so viel Zeit vergangen war, in der nichts geschehen war außer vielen Träumen, fühlte sie sich jedes Mal wieder verunsichert. Seelenruhig und mit provokanter Langsamkeit kam Ben schließlich aus dem Haus geschlendert. Seine braun karierte Reithose lag ihm eng an den Beinen und über einen schwarzen Wollpulli hatte er eine rote Weste gezogen. Diese Weste trug er eigentlich immer. Auch wenn sie zu dem, was er sonst noch trug, überhaupt nicht passte. Als Ben bei ihr angekommen war, hielt er kurz inne. „Hast du auch ein Pferd für mich fertig?“, fragte er ärgerlich und plötzlich war sein Gesicht überhaupt nicht mehr neckisch, sondern zu einer wütenden 8


Grimasse verzogen. „Nein, wieso hätte ich das machen sollen? Hast du mich gefragt, ob ich mitkomme oder ich dich?“ Mona warf ihre braunen Haare schwungvoll nach hinten, ihre grünen Augen blitzten ebenso wütend wie die ihres Bruders. „Dann reite eben allein aus!“, rief der und Mona sah, wie Tränen in seine Augen schossen. Sie verdrehte die Augen. „Mach ich auch!“ Sie schwang sich heftig in den Sattel und trieb Butterfly im Trab vom Hof. Die Hufe klapperten laut auf dem feuchten Pflaster. Butterfly schnaubte. „Du findest mich dann beim Schmielensee, verstanden?“, rief sie über die Schulter hinweg, aber Ben erwiderte nichts. Wenn Mona an seiner Stelle gewesen wäre, hätte sie auch nichts gesagt. Im ruhigen Trab verließ sie also den Hof durch das Feldtor, einem Durchgang zwischen der Scheune und den Stallungen. Hinter der Scheune war ein Reitplatz, hinter den Stallungen eine große Wiese, die wiederum in kleine Koppeln eingeteilt war. Doch heute waren da keine Pferde, der Boden war zu matschig. Als Mona den Waldrand erreichte, parierte sie durch zum Schritt. Sie wollte ihrem Bruder ja schließlich doch noch eine Chance lassen, sie einzuholen. Butterfly streckte sich unter ihr ganz lang, ihre Schritte waren weit ausholend und entspannt. Leise zwitscherte ein Rotkehlchen irgendwo in den rauschenden Wipfeln der Bäume, die sich allmählich rot 9


und gelb färbten und ihre grüne, gesunde Farbe verloren. Der Wind blies die Wolken über ihrem Kopf stetig voran und Blätter wirbelten und tanzten durch die Luft. Mona trabte wieder an und bog auf einen Grasweg ab. Butterfly begann zu kauen, ihre Schritte wurden größer und schließlich galoppierte Mona sie an. Butterfly schnaubte, warf den Kopf zur Seite. Mona lehnte sich vergnügt aus dem Sattel, der Wind peitschte ihre langen Haare nach hinten und trieb ihr die Tränen in die Augen. Die Bäume und die im Wind tanzenden Blätter flogen vorüber, aber es schien eher Butterfly zu sein, die flog, und nicht andersherum. Die Sonne jedoch erhellte den Wald nicht, fast so als würde sie Mona das Gefühl des Fliegens nicht gönnen. Nach einer Weile wurde der Boden unter Butterflys Hufen feuchter, immer feuchter, bis sie schließlich durch flaches Wasser galoppierten. Unerwartet kalt spritzte es nach allen Seiten davon, durchnässte Monas schwarze Reithose und stach wie winzige Nadeln in ihre Beine, ihr Gesicht. Erschrocken zog Mona Butterfly herum. Butterfly schnaubte. Verdutzt sah Mona sich um. Es gab keinen ihr bekannten Grasweg, der durch einen der sechs Seen rund um Falkenhagen führte. Wo war sie? Das Wasser war seicht, aber durch das Tempo und die schweren Hufe, die auf den Grund gedonnert waren, war es nun braun und aufgewühlt. Der Wind blies ihr durch die Haare und eine 10


unangenehme Kälte durchfuhr ihren gesamten Körper bei dem kühlen Luftzug. Die Kleidung klebte ihr feucht am Körper. Butterfly tänzelte einige Schritte nervös umher. Mona blickte auf. Links von ihr war der Wald, dunkel und fast fremd. Sie dachte an ihren Traum und hielt sich unwillkürlich am Sattel fest. Also in diese Matsche hier wollte sie nicht auch noch reinfallen. Sie wandte den Blick auf die Wasserfläche und überlegte fieberhaft, wo sie war. Welcher See sollte so viel Hochwasser führen? Ein Gefühl tief im Innern, sagte ihr, dass es nicht gut wäre weiterzureiten. Aber zurückreiten? Das wäre etwa so, als würde man einem Monster den Rücken zukehren und wegrennen, um dann verfolgt zu werden. Sie musste jetzt weiter. Aber sie wollte nicht, auch wenn sie nicht immer gleich glauben sollte, dass Bosinius daran schuld war, wenn etwas nicht so war, wie sie es erwartet hatte. Sie musste wieder wie früher werden! Vorsichtig trieb sie Butterfly vorwärts. Die Stute tänzelte unwillkürlich los. Ihr gefiel die Idee vom Weitergehen auch nicht. Mona lenkte sie ins flachere Wasser Richtung Wald. Steine knirschten unter den Hufen des Pferdes, als es das Ufer erreicht hatte. Der Wind wurde stärker. Plötzlich wünschte sich Mona, niemals allein ausgeritten zu sein. Sie hätte auf ihren Bruder warten müssen. Sie wandte sich noch einmal kurz zum Wasser um. Gab es denn keine andere Möglichkeit? Sie hatte den 11


Gedanken kaum fertig gedacht, als ihr mit einer unheimlichen Wucht endlich klar wurde, wo sie war. Etwa fünfzig Meter von ihr entfernt sah sie die kleinen, krüppeligen Bäume, die auf einer länglichen Insel wuchsen. Sie war am Galgsee. Eigentlich hätte sie augenblicklich beruhigter sein sollen, nun da sie wieder wusste, wo sie war. Die Unsicherheit angesichts der Tatsache, dass sie durchs Wasser reiten musste, erschien ihr einfach nur noch unnötig. Es war bloß Hochwasser. Sie sollte sich nicht so aufregen und schon gar nicht panisch werden. Doch statt sich zu beruhigen, begann ihr Herz nur noch heftiger zu schlagen. Die Unruhe wurde stärker, dagegen konnten all ihre beschwichtigenden Gedanken nichts tun. Butterfly tänzelte weiterhin ebenso unruhig, wie Mona es war, während der Wind durch die Bäume brauste und alles zum Knarzen und Ächzen und Stöhnen brachte. Die kleine Insel auf dem Galgsee ist Heim vieler Toten. Sie leben dort in Frieden, denn auch wenn ihr Tod gewaltsam war, so haben sie's nun gut. Doch wehe dem, der sie stört, sei's Mensch, Tier oder Regenfall, denn sie werden zornig und holen ihn zu den ihren! Monas Blick fiel erneut auf den See und zur Insel hinüber. Sie lag nun in einem dunklen Schatten einer besonders grauen Wolke, die vom Wind voller Eile davongetrieben wurde. Blitzschnell wandte Mona den Blick ab. Der Gedanke an die Geschichte, die als eine von vielen bei Lagerfeuern erzählt wurde, ließ sie 12


erschaudern. Sie wollte jetzt hier weg. Doch immer noch widerstrebte es ihr zurückzureiten. Also vorwärts. Ein Weg zwischen einer dichten Dornenhecke, und dem düsteren Wald lag vor ihr. Butterfly schnellte voran. Wasser spritzte. Das leise Tröpfeln und Knistern der Bäume machte sie darauf aufmerksam, dass Regen zu fallen begann. Sei's Mensch, Tier oder Regenfall… Es war nur ein Märchen, doch nun war es mehr als nur ein Gefühl in Mona, das ihr sagte, dass es nicht gut war, immer noch allein hier draußen zu sein. Die Dornenhecke wollte kein Ende mehr nehmen und der Regen wurde stärker. Mit gesenktem Kopf folgte Mona dem Weg, der mal matschig, mal überschwemmt oder größtenteils voller Gras war. Butterfly begann zu schnaufen. Doch sie musste jetzt laufen, Mona wollte endlich aus diesem Waldlabyrinth hinaus. Ihre Angst war viel stärker als zuvor. Der Wind blies ihr entgegen, bildete einen Widerstand, als wollte er nicht, dass sie den Weg zu Ende ritt. Plötzlich flatterte ein aufgeregter Vogel durch die Hecke, die Flügel blieben in den Zweigen hängen, laut knackte und knisterte es neben Mona. Erschrocken fuhr sie herum, ihre Augen waren weit aufgerissen, doch Butterfly, die schon die ganze Zeit unheimlich nervös war, floh ohne erst darüber nachzudenken. Entsetzt krallte sich Mona in die Mähne des Tieres, das im vollen Galopp den Weg entlang zu fliegen schien. Bloß die unangenehmen Sprünge über große Pfützen erinnerten Mona daran, dass sie noch 13


am Boden waren. Und sie würde ihm mit etwas Pech gleich noch viel näher sein, als ihr lieb war. Butterfly machte keine Anstalten langsamer zu werden. Wieso nahm dieser Weg kein Ende? Der letzte Teil ihrer Vernunft schrie ihr zu, sie solle sich wieder sammeln und das Pferd zügeln. Hier ging etwas vor sich; sie wusste es. Doch es blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich hielt die weiße Stute abrupt und ging in die Luft. Wieso Mona sich überhaupt noch hielt, konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie krallte sich in die Mähne, warf sich mit aller Kraft nach vorn, starrte in den Regen. Da leuchtete etwas in den dämmrigen Wald hinein. Dort, direkt vor ihr. Sie starrte in dieses Leuchten, verwirrt und verstand es nicht. Erinnerungen an ihren Traum durchströmten sie, tausend Gedanken, die zwischen Realität und Einbildung zu unterscheiden versuchten, wirbelten ihr durch den Kopf. Das Schimmern und Leuchten ging von einem Auge aus. Wäre es nicht so tief orange gewesen, hätte es nicht solches Feuer ausgestrahlt, hätte Mona geglaubt, dass Tonio mit ihr kommunizieren wollte. Doch dieses Auge war ganz und gar anders. Ein Feuer loderte darin, stark und echt, aber auch… auch ängstlich. Ein Drachenauge. Ein Drachenauge. Es war nicht echt, das konnte es nicht sein, aber es musste eine Bedeutung haben. Mona starrte in dieses Auge, ohne es tatsächlich zu begreifen. Butterflys Hufe kamen 14


wieder auf. Nervös warf die Stute den Kopf hin und her. Monas Atem ging heftig, ihr Herz schlug scheinbar so laut, dass es die Vögel in der Umgebung erschrecken musste. Vor ihr lag die Kreuzung, die sie wieder nach Hause bringen würde.

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Begegnungen […] Normalerweise würde nun die Sonne aufgehen, doch stattdessen war da nur dieses ewige Grau, das immer den gleichen Dunst beibehielt, Tag und Nacht. Er befand sich auf seinem Zimmer, dem Zimmer, in dem Meister Nino ihn gestern auch aufgesucht hatte. Eine ganze Weile lang lief Tonio bloß ungeduldig auf und ab. Bei jedem Schritt hallte das laute Klackern der Hufe wider. Schließlich blieb er stehen. Plötzlich war er sich überhaupt nicht mehr sicher, worauf er eigentlich gewartet hatte. Dieses Gefühl war unheimlich. Er wandte sich der Tür zu, klopfte unbeholfen mit dem Huf dagegen und ein Wächter mit hellblauem Frack, schwarzer Hose und hellen Stiefeln öffnete ihm. Er war nicht so breit gebaut wie der gestrige und sein schwarzes Haar lugte unter der Kappe hervor. Als der Prinz heraustrat, verneigte sich der Wächter tief. Tonio nickte ihm zu, dann lief er langsam den Korridor entlang, welcher mit bunten Bildern geschmückt war. Die Bilder erzählten Geschichten über vergangene Könige in diesem Land. Es gab auch einen Korridor über König Tonio – doch dorthin wollte Tonio jetzt nicht. 16


Er folgte einer Treppe nach unten, hinter sich die leisen Fußtritte des Wächters. Der neue Gang war höher und überfüllt. Viele Menschen mit aschfahler Haut und wehenden Umhängen eilten hindurch, unterhielten sich miteinander oder riefen laut irgendwelche Namen. Tonio sah dem Treiben eine Weile von den letzten Stufen aus zu. Viele Blicke fielen auf ihn, Blicke mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Überraschung und Unsicherheit. Die Menschen hielten nicht inne; beinahe schien es, als würden sie versuchen, die Anwesenheit Tonios zu überspielen. Er trabte vorsichtig eine lange Treppe hinunter, einen langen Korridor entlang und eine letzte, breite Freitreppe hinab. Hin und wieder kam ihm jemand entgegen, der ihm zunickte. Dann erreichte er einen Gang, dessen weiße Wände von bunten Lichtflecken übersät waren. Tonio wurde langsamer. Mehr Menschen kamen ihm entgegen oder überholten ihn. Schließlich erreichte er die hohe Eingangshalle. Große Pfeiler aus reinem Diamant hielten die Decke. Sie funkelten in den Farben des Regenbogens und warfen diese an die Wände, welche strahlend weiß und von goldenen Ranken überwuchert waren. Die Halle war gefüllt mit Menschen. Hier sah man auch im Schloss die graue Luft. Sie dämpfte das Lichtspiel der Diamanten und lag wie ein Schleier über den 17


Menschen. Irgendwie unecht und unheimlich. Tonio durchquerte die Halle, doch hier schien ihn niemand zu beachten. Er dachte kurz an seine bevorstehende Reise. War das eine Reise oder eine Flucht? Er trabte auf das Plateau hinaus, das unter einer großen, von acht Pfeilern gehaltenen Decke lag und an einer Freitreppe endete. Er hatte im Moment das Bedürfnis, weit und lange zu rennen, einfach fort von hier, in eine andere Welt, in eine andere Zeit. Er atmete schwer aus. Plötzlich erregte enormer Tumult Tonios Aufmerksamkeit; laute Rufe, dessen Worte Tonio nicht verstand, und wildes Hufgeklapper. Die Menschen, die geschäftig über den Hof geeilt waren, wurden unruhig. Panische Schreie drangen bis zum Schlosshof. „Ein Drache! Ein Drache über Regis! Ein Drache über Regis! Ein Drache über Regis!“ Es waren mehrere Reiter, die auf den Hof galoppiert kamen und ihre Pferde dort im Kreis trieben. Die Menge strömte wild auseinander. Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit, Zweifel. Angst. Da war sie. Angst, Panik, Entsetzen und Verzweiflung. Ein Drache über der Hauptstadt. Überall tönte es: „Ein Drache über Regis! Ein Drache!“ Nach einigen Sekunden wilden Entsetzens und planlosen Umherlaufens richteten sich die Menschen jetzt zum Schloss, Massen strömten die Freitreppe hinauf, das Plateau entlang hinein in den Palast. 18


Tonio wurde grob beiseite geschoben, Ellenbogen und Knie stießen ihn an, keiner achtete mehr darauf, dass er der Prinz war. Tonios Atem ging heftiger. Für einen Moment beobachtete er mit weit aufgerissenen Augen fassungslos und ungläubig das Schauspiel, das sich ihm bot. Laute Befehle und Angstschreie erfüllten die Luft durchmischt von Hufgetrappel und schrillem Pferdewiehern. Nach einem kurzen Augenblick wandte Tonio sich um und ließ sich von den Menschenmassen ins Schloss leiten. Er war sich nicht sicher, was er nun tun sollte. Als er die große Halle erreichte, bog er so schnell, wie es ihm zwischen den vielen Menschen nur möglich war, in einen der Gänge. Dort galoppierte er an. Seine Hufe klapperten laut und scheppernd auf dem kalten Marmorboden. Schneller und schneller trugen ihn seine Beine die Korridore entlang, Treppen hinauf und hinab, während er immer wieder seinen Befehl wiederholte: „Magier und Wachen sofort in die Diamantenhalle!“ Nachdem er die Gänge mit den meisten Menschen durchkämmt hatte, stürmte er in die Versammlungsabteilung. Wild pochte er mit den Hufen an die Türen. Doch bloß zwei wurden geöffnet. „Sofort in die Diamantenhalle! Magier und Wachen müssen augenblicklich in die Diamantenhalle! Wir haben einen Drachen über Regis, der gerade die ganze Stadt in Panik versetzt!“ Dann verschwand er wieder, 19


um, zurück in die Diamanthalle zu stürmen, in die er alle einberufen hatte. Dort warteten bereits zehn Magierund sämtliche Wachen des Schlosses. Tonio fiel auf, dass Meister Peleris nicht anwesend war und auch sonst keiner der Magier, die er vorhin in einem der Räume gesehen hatte. Vielleicht waren auch einige bereits vor der Ankunft des Drachen im Schloss abgereist. Erst jetzt wurde Tonio klar, was eigentlich passiert war. Sämtliche Wachen des Schlosses standen in ordentlichen Reihen hintereinander. Es hatte seit etlichen Wetterjahren, seit etlichen Königsgenerationen keine Drachen mehr in Towenia gegeben. Man hatte sie einst vertrieben, aber es war nie klar gewesen, wohin. Ihm wurde nun gerade bewusst, dass er sich jetzt sofort zwischen Vertreiben oder Töten entscheiden musste und von beidem nicht wusste, wie er handeln sollte. Wie tötete man einen feuerspeienden, vermutlich mit Panzerhaut ausgestatteten Drachen oder wie vertrieb man ihn, ohne ihm zu schaden oder alles nur noch schlimmer zu machen? Alles, was er jetzt tat, konnte schlimme Folgen haben. „Wenn ich meiner aus Legenden versprochenen Fähigkeiten mächtig wäre, wäre es vermutlich ein Leichtes, diesen Drachen zu eliminieren“, begann Tonio. „So aber müssen wir auf die Kräfte der Magier und der Soldaten zurückgreifen, die aufgrund mangelnder Vorbereitung wohl kaum zum Töten dieses 20


machtvollen Wesens ausreichen. Darum sollten wir versuchen ihn zu vertreiben. Ich habe jedoch keinerlei Erfahrung mit der Vertreibung von Drachen, weshalb ich Meister Nino bitte, mich bei der Befehlserteilung zu unterstützen.“ Meister Nino war soeben aus einem der Gänge geeilt und neigte vor Tonio nun den Kopf. „Wie Ihr wünscht.“ Tonio nickte ihm zu und wieherte schrill, den Kopf hoch erhoben. „Ausgestattet mit Pferd, Pfeil und Bogen werden wir nach Regis reiten und uns den Drachen aus der Nähe ansehen!“ Mit diesen Worten stieg der Prinz in die Luft, wirbelte herum und preschte aus der Halle. Seine Hufe krachten scheppernd auf den harten Boden und das Geräusch hallte laut von den nackten, kalten Wänden wider. Auf dem Schlosshof war es sehr still geworden, bloß das Wiehern von angebundenen Pferden war zu hören. Es war zu ruhig. Tonio galoppierte über das Plateau, die Stufen hinab und wirbelte erneut herum, als er das breite Tor erreicht hatte, das den Schlosshof von allem anderen abgrenzte. Er hielt er einen kurzen Moment inne, um den Soldaten die Möglichkeit zu geben, ihm zu folgen. Dann galoppierte er weiter auf den Wald zu. Er musste sich beeilen. Sein Land trocknete aus und jeder Funke würde für Zerstörung sorgen. Dieser Drache musste aus seinem Königreich verschwinden, bevor er etwas anrichten konnte. Die Pferde waren bereits gesattelt, als die Soldaten in die Stallanlage stürmten. Weit über die Hälse der 21


Tiere gebeugt, trieben sie die Pferde vom Hof. Tonio sah ihnen entgegen und als er glaubte, dass sie nahe genug waren, wandte er sich um und begann den Berg hinab zu galoppieren. Gerade schnell genug, dass sie in den scharfen Kurven nicht stürzten, brauste die Reitergruppe den Weg entlang, der sich in ungleichmäßigen Schlangenlinien den Hügel nach unten wand. Der sonst so stille Wald war nun erfüllt vom Klappern und Klackern der Hufe und der Ausrüstung, die viel zu dürftig war, um einen Drachen zu bekämpfen. Aber sie hatten nichts anderes. Sie hatten nichts Besseres. Als der Wald plötzlich dunkler wurde, wurde Tonio langsamer. Viel langsamer. Ein Brausen ging durch die Reihen, als die Soldaten versuchten ihre Pferde zu bändigen. Tonio wandte sich zu ihnen um und blieb stehen. Unruhig tänzelten die Pferde vor ihm, die Reiter zogen ungeduldig an den Zügeln, ritten ihre Tiere im Kreis. „Reitet nun langsamer und leiser! Nutzt die weichen Grasränder! Ich will ihn hören, unseren Drachen!“, rief Tonio und warf seinen Kopf in die Höhe. Ein befremdlicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf, als er weiterlief. Was, wenn da gar kein Drache war? Wenn es überhaupt nicht stimmte, was die Reiter erzählt hatten? Es könnte ein Hinterhalt sein, eine Falle... Meister Nino war doch bereits der festen Überzeugung, dass es Verräter unter den Magiern gab, wieso sollten sie nicht gerade heute einen 22


Anschlag ausüben wollen…? Sein Herz begann sich zu überschlagen und seine Gedanken rasten. Wie sollte ein solcher Anschlag aussehen? Man durfte ihn nicht töten, denn die Wetterlosigkeit würde dann für immer bleiben. Aber vielleicht war das manchen Menschen egal... Es blieb still. Vor Tonio tauchte das erste Haus auf. Es war vollkommen ruhig dort, alles wirkte verlassen, einsam. Vielleicht hatten die Reiter recht gehabt. Vielleicht gab es tatsächlich einen Drachen. Tonio war sich nicht sicher, was besser wäre: ein Drache oder ein Hinterhalt? Es war nicht gut, dass er seinem Volk nicht mehr trauen konnte. Es war nicht gut und nicht normal. Er wollte sich nicht vor seinen Magiern fürchten müssen. Sie waren mächtiger als er, Thornado hin oder her. Er hatte keine Macht mehr über die Magie, oder zumindest fühlte er sie nicht. Er musste seinen Magiern vertrauen können, sonst war er verloren. Immer noch kam ihm kein Reiter entgegen und zwischen den Bäumen tauchten immer mehr Häuser auf. Die Höfe und Gärten wurden immer kleiner und waren von immer höheren Palisaden umringt. Obwohl Tonio das alles bereits kannte und schon so oft gesehen hatte, schien es ihm so bedrohlich, so fremd. Es schien, dass er, Prinz Tonio, nicht mehr alles unter Kontrolle hatte. Sein Trab wurde schneller. Der ewige, graue Nebel nahm ihm die Sicht auf die Straße, die Sicht in den 23


Himmel. Wie sollte er denn hier einen Drachen finden? Doch wie zur Antwort schallte ein Geräusch durch die Luft: der Schrei eines Drachen. Tonio hörte das Schwingen der Flügel und warf seinen Kopf zurück. „Zügelt die Pferde!“, rief er und blickte ängstlich nach oben. „Spannt die Bögen! Achtet auf die Geräusche! Zielt und schießt!“ Mit gespitzten Ohren lauschte er über den enormen Lärm der Pferde hinweg. Wieder schrie der Drache. Es war kein Hinterhalt, keine Falle und auch kam er nicht zu spät. Wenigstens etwas. Das bekannte Geräusch von surrenden Sehnen drang an Tonios Ohren. „Wir dürfen uns nicht treiben lassen!“, rief Meister Nino aus der Menge und trabte zu Tonio vor. „Tonio, wir dürfen uns nicht treiben lassen! Drachen handeln nach ihren Instinkten. Wenn wir ihm Angst machen, wird er sich wehren.“ „Und wenn er uns Angst macht, wehren wir uns auch“, sagte Tonio ohne den Blick vom Himmel abzuwenden. „Hier geht es nicht darum, wer Recht hat, sondern wer mehr Kraft hat, Tonio. Eigentlich hättest du sie, die Kraft. Eigentlich müsstest du der Mächtigere sein, aber du hast deine Kraft noch nicht gefunden. Wir dürfen den Drachen nicht herausfordern, denn wir können nur verlieren, aber wir dürfen auch nicht mit uns spielen lassen. Du bist der Prinz, du musst entscheiden.“ 24


Tonio sah zu Meister Nino auf. „Er wird uns durch die ganze Stadt treiben. Also teilen wir uns auf, schießen von mehreren Ecken. Die ganze Stadt sollte besetzt werden.“ „Dafür bräuchtest du mehr Männer.“ „Es muss auch so gehen.“ Tonio sah wieder gen Himmel in das endlose Grau und zuckte unwillkürlich zusammen. Erst war es nur schemenhaft. Dann wurde es dunkler und dunkler und kam näher, bis in der trüben Luft plötzlich der rot glänzende, von Schuppen übersäte Körper auftauchte. Der lange Schwanz des Drachen, dessen Spitze golden schimmerte, peitschte die Luft, während sich die gigantischen Flügel ruhig und gleichmäßig auf und ab bewegten. Der Drache schien nicht im Mindesten von der Schar Towenier beeindruckt, die sich um seine Vertreibung bemühte. Es schien geradezu, als hätte er sie überhaupt noch nicht bemerkt. Sein riesiger Körper flog so mühelos, als wäre er ein Vogel. Irgendwie wirkte sein Fliegen so harmonisch, so leicht, so frei. Tonio starrte das Wesen an: seine unglaublichen Flügel, den mächtigen Kopf mit den Zacken, die sich bis über den Rücken und den Schwanz zogen. Mit einem heftigen Ruck wurde der gesamte, massige Körper dieses Ungeheuers herumgerissen und flog nun in einer senkrechten, gewagten Rechtskurve über den Köpfen der Krieger. Tonio sah nicht zu ihnen zurück, sondern starrte 25


bloß hinauf in das Grau und auf den Drachen. Sein Herz überschlug sich und erst jetzt erinnerte er sich daran, dass er einen Befehl geben musste und er spürte, wie die Angst ihn durchfuhr und packte. Das da oben war eine Bestie, die sein Land in Frieden lassen sollte. Dieses Wesen war gefährlich, unberechenbar, unkontrollierbar. Tonio spürte, wie der Drache seine Augen fest auf ihn richtete; sie schimmerten orange, tief orange wie das Feuer in seinem Innern. Tonio stolperte einige Schritte zurück, ohne seine Augen abzuwenden. Er sah, wie der Drache seine gewaltigen Nüstern blähte, tief Luft zu holen schien und eine riesige Wolke aus Feuer in die Luft spie. Im nächsten Moment war die Feuerwolke wieder verschwunden und mit ihr der Drache.

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Auszug aus:

„Thornado – Das Auge der Macht“ von Marie Eichenberg

© 2016 Casimir-Verlag, Carsten Krause, 34388 Trendelburg

Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: © Martin Gräbe & © Sarah Schemske von Flyerflirt.de unter Verwendung von Bildern für: Pferde: © Tamara Didenko/shutterstock.com; Feld: © Christophe Libert/ freeimages.com und © Alfred Borchard/freeimages.com; Gewitter:© James Thew/fotolia.com Printed in Poland ISBN 978-3-940877-31-4

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