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SCHWERPUNKT BIODIVERSITÄT

Zehn (fast) verlorene Jahre für den Artenschutz

Halbherzige Umsetzung der Berliner Biodiversitätsstrategie

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Die UN-Dekade der biologischen Vielfalt Die Strategie umfasst also ein (2011 – 2020) liegt hinter uns. Was hat ziemlich weites Feld, und oftdieses Jahrzehnt für die Artenvielfalt in mals klingen die Zielvorgaben Berlin gebracht? Im März 2012 beschloss erstaunlich unkonkret. Jetzt, der Senat die „Berliner Strategie zur biologischen Vielfalt“. Er bekannte sich daEnde 2020, bietet es sich an, Bilanz zu ziehen und zu über- Rotbauchunke Kahnpartie: Pechsee um 1930 bei „im Bewusstsein der lebenswichtigen Funktionen und Leistungen biologischer prüfen, was der Senat erreicht hat. Das allerdings ist nicht Bombina bombina Vielfalt (…) sowie im Bewusstsein des immer einfach – einerseits weEigenwerts ihrer Bestandteile“ und „in gen der schwammigen Formu- Wie alle Berliner Amphibien hat auch dieser nur fünf Zentimeter Sorge darüber, dass biologische Vielfalt lierung einiger Ziele, anderer- große Froschlurch unter der Trockenheit der vergangenen Jahre gedurch zahlreiche Faktoren weltweit rück- seits, weil es bei vielen Themen litten. Rotbauchunken mögen sonnige Gewässer mit reicher Vegeläufig und auch in Berlin stark beein- an Informationen mangelt, tation, vor allem überschwemmte Talauen und Tümpel auf Äckern trächtigt ist“ zu den Zielen der Strategie um etwaige Fortschritte beur- und Wiesen. Diese Lebensräume werden wegen des Klimawandels und versprach, „nachdrücklich deren Er- teilen zu können. Viele Daten und der intensiven Landwirtschaft immer knapper. Zudem kosten reichung“ zu verfolgen. liegen nicht in auswertbarer Umweltgifte und Straßenverkehr viele Unken das Leben. Vor allem Form vor oder sind schlicht während der Wanderung vom Winterquartier zum Laichgewässer Insgesamt 38 Ziele noch nicht erhoben worden. werden die Tiere, wie auch andere Amphibien, oft überfahren. Diese Ziele verteilen sich auf vier „Arbeitsfelder“ ( „Arten und Lebensräume“, „Ge- Ernüchternde Bilanz netische Vielfalt“, „Urbane Vielfalt“ und Naturschutzfachlich besonders interes- wie es beispielsweise um Fische und vie„Gesellschaft“), die wiederum in insge- sant und auch quantitativ zu bewerten le Insektengruppen wie Wildbienen oder samt 38 Unterpunkte („Ziele“) gegliedert ist Ziel 1: „Artenvielfalt und Verantwor- Käfer steht. Dennoch kristallisieren sich sind. Dazu zählen Punkte wie „Durchgän- tung für besondere Arten“ sowie Ziel 18: erste Trends heraus. So sind bei allen in gigkeit von Gewässern“, „Röhricht“ und „Typisch urbane Arten“. Hier stellt sich Berlin vorkommenden Amphibienarten „Moore“, „Erhaltung durch Nutzung“ Berlin die Aufgabe, „die hohe Anzahl von Bestandsrückgänge zu verzeichnen. Der (traditioneller Nutztier- und Pflanzenras- Tier- und Pflanzenarten auf seinem Ge- letzten Berliner Kreuzkröten-Population sen), „Biologische Vielfalt auf Firmenge- biet zu erhalten und dabei insbesondere droht sogar das Aus, da ihr Lebensraum länden“ oder „Umweltbildung: Biologi- die Bestände seltener und gefährdeter (…) in Pankow bebaut werden soll. sche Vielfalt in Schulen und Kitas“. Arten zu sichern. Für ausgewählte Arten soll zudem eine Verbesserung der Be- Kaum Daten zu Reptilien standssituation herbeigeführt werden.“ Ähnlich sieht es bei den Reptilien aus, woDas klingt gut, doch fällt die Bilanz lei- bei hier eine teilweise sehr dünne Datender ernüchternd aus. Sofern überhaupt lage zu berücksichtigen ist. Über äußerst vergleichsfähige seltene Arten wie die Schlingnatter lässt Daten vorlie- sich nichts Valides sagen. Trotzdem kann Gemeine Kahnschnecke gen, lassen sich zumindest bei man nur für die Ringelnatter von einem vergleichsweise hohen und zumindest Theodoxus fluviatilis Tieren kaum konkrete Verbesstabilen Bestand ausgehen. Wirbellose Tiere sind deutlich schlechter serungen fest- erforscht, häufig erlaubt die Datenlage Diese schön gezeichnete Süßwasserschnecke war einst über ganz Europa stellen. kaum belastbare Aussagen zu Bestandsverbreitet. Inzwischen ist sie vielererorts ausgestorben. In Berlin kommt sie Zwar liegen viele situation und -entwicklung. Generell ist noch vereinzelt in der Müggelspree vor, gilt aber auch hier als vom Aussterben Rote Listen für aber auch hier von einem kritischen Zubedroht. Hauptursache ihres Rückgangs sind eingewanderte Fressfeinde wie die betrachte- stand auszugehen. Von einer umfassender Große Höckerflohkrebs. Die Schnecke lebt in Süß- und Brackwasser und te Dekade noch den Sicherung der Bestände, wie in der ernährt sich hauptsächlich von Kieselalgen, die sie mit ihrer Reibezunge von nicht vor. Des- Zielvorgabe formuliert, kann keine Rede Steinen und Pflanzen abweidet. halb wissen wir sein. Bei den Weichtieren (Schnecken und wenig darüber, Muscheln) gilt ein Fünftel aller Arten als

ehn (fast) verlorene Jahre für den Artenschutz

Halbherzige Umsetzung der Berliner Biodiversitätsstrategie

bedroht, weniger als fünf Prozent nehmen in ihrem Bestand zu. Auch wenn sich die Wasserqualität innerhalb der letzten Jahrzehnte verbessert hat, sind weiterhin über 40 Prozent der ans Wasser gebundenen Tierarten gefährdet, darunter Libellen, Köcherfliegen, Eintagsfliegen und Wasserkäfer. Erfreulicherweise sind aber bei vergleichsweise gut untersuchten Gruppen wie den Libellen auch positive Trends zu verzeichnen, die wohl auf die verbesserte Wasserqualität zurückgehen. Auch haben sich vermehrt Insektenarten neu in Berlin angesiedelt, was vermutlich an den im Zuge des Klimawandels steigenden Temperaturen liegt.

Turmfalken in Aufwind

Als typisch urbane Arten gelten vor allem die gebäudebewohnenden Vögel und Fledermäuse. Sie sind einerseits durch zunehmende Sanierung und Dämmung älterer Bauwerke und Mauern gefährdet, andererseits lässt sich gerade ihnen durch künstliche Nisthilfen leicht und erfolgreich helfen. Auf diese Weise gelang es, den Rückgang der Turmfalken zu stoppen. Heute brütet ein Großteil der Berliner Turmfalken in künstlichen Nistkästen. Auch die Bestände anderer gebäudebrütender Arten wie Mauersegler und Haussperling sind zumindest konstant. Der NABU Berlin versucht derzeit, durch das vom Senat geförderte Projekt „Artenschutz am Gebäude“ wichtige Akteure wie Bauherren, Architekten und Handwerker für den Artenschutz zu sensibilisieren. Ziel ist, dass ein Gebäude bei Bau oder Sanierung immer auch als Lebensraum nichtmenschlicher Bewohner betrachtet wird. Bei diesem Thema, dem Schutz typisch urbaner Arten, ist Berlin im Großen und Ganzen auf dem richtigen Weg.

Gottesanbeterin Mantis religiosa

Die Gottesanbeterin steht stellvertretend für eine ganze Reihe wärmeliebender Insekten, die ihr Verbreitungsgebiet im Zuge des Klimawandels nach Norden ausgedehnt haben. War die auffällige Fangschreckenart bis vor wenigen Jahren in Berlin nicht zu finden, hat sie sich mittlerweile in trockenen, warmen Gebieten, etwa auf dem Schöneberger Südgelände, fest etabliert. Für die Zukunft der Neubürgerin dürfte es entscheidend sein, offene Flächen wie Brachgrundstücke und Trockenrasen zu erhalten.

Verschollene Pflanzen

Einzelne Erfolge erzielte der Senat auch bei der Erhaltung der Pflanzenvielfalt, für die er das „Berliner FlorenschutzKonzept“ entwickeln ließ. Durch gezieltes Heranziehen und Auspflanzen gelang es, die Bestände einzelner Zielarten des Konzepts, etwa der WiesenKuhschelle oder des Grünblütige Leimkrauts, zu stabilisieren oder sogar zu vergrößern. Einzelne Areale im Stadtgebiet, beispielsweise Flächen in der Wuhlheide und die Düne im Wedding, werden teilweise in Kooperation mit dem NABU als sogenannte Archeflächen erhalten und zu artenreichen Offenland-

Europäischer Biber

Castor fiber

Anfang der 1990er Jahre kehrte das größte einheimische Nagetier nach Berlin zurück. Inzwischen gibt es hier mehr als 100 Tiere, vor allem an Dahme und Müggelspree sowie den Havelseen. Auch an den Berliner Kanälen, an Wuhle und Tegeler Fließ, sogar bisweilen in der Spree im Zentrum lassen sich Biber oder zumindest ihre Fraßspuren beobachten. Problematisch für die nacht- und dämmerungsaktiven Pflanzenfresser sind die Schleusen im Stadtbereich, die sie nicht überwinden können. Deshalb verläuft die Grenze zwischen den beiden Biberpopulationen im Bereich von Oder und Elbe mitten durch Berlin. Ziel 6 der Berliner Biodiversitätsstrategie, die „Durchgängigkeit von Gewässern“, ist bislang Makulatur.

Mauersegler

Apus apus

Im Gegensatz zu anderen Großstädten beherbergt Berlin immer noch viele Mauersegler. Bei der diesjährigen NABUAktion „Stunde der Gartenvögel“ lag der elegante Segelflieger hier sogar auf Platz 3. Durch Sanierungen alter Häuser droht der Mauersegler aber mittelfristig Nistplätze zu verlieren. Deshalb setzt sich das Projekt „Artenschutz am Gebäude“ des NABU Berlin dafür ein, Architekten und Bauherren für das Problem zu sensibilisieren.

ten aber entpuppen sich die einer solchen, quantitativ gut überprüfdringend benötigten Neu- baren und vergleichsweise einfach zu bebauten dann als Büroflächen einflussenden ökologischen Größe zeigt (wie auf Stralau) oder als sich, dass diese „Strategie“ im wesentliweiterer Möbelmarkt (wie chen aus schönen Worten besteht und es am Pankower Tor geplant). am Willen zur Umsetzung mangelt.

Schlingnatter Ähnlich verhält es sich mit dem Ziel 21: „Grünflächen“, Moore trocknen weiter aus

Coronella austriaca das explizit Friedhöfe als wichtigen Lebensraum städAuch von Ziel 9, der nachhaltigen Bewirtschaftung des Grundwassers, und damit tischer Tier- und Pflanzen- einhergehend Ziel 10, der Erhaltung der

Die zweithäufigste Schlange Deutschlands ist in Berlin extrem arten erwähnt, während Berliner Moore „als Feuchtgebiete und selten. Genaue Bestandsdaten gibt es nicht. Sie wird nur etwa gleichzeitig Friedhofsflä- damit als Lebensraum moor- und feuchthalb so lang wie die Ringelnatter und fällt wegen ihrer perfekten chen, die wegen der sich än- gebietstypischer Arten“, ist die Stadt noch

Tarnung kaum auf. Ihr Name bezieht sich auf die Gewohnheit, dernden Bestattungskultur weit entfernt. Fördert Berlin doch weiterihre Beutetiere, hauptsächlich Mäuse und Eidechsen, durch brach liegen, häufig entwid- hin, als Relikt seiner Isolation während

Umschlingen zu ersticken. Die lebend gebärende Schlange liebt met, umgenutzt und bebaut des kalten Krieges, sein ganzes Trink-

Wärme und kommt auf offenen, sonnigen Flächen vor. werden. wasser auf Stadtgebiet, obwohl mehrere Das Ziel 7: „Naturnahe Ge- Wasserwerke noch immer keine offizielle wässer“, das für Berlins Genehmigung haben. Als Folge der Missstandorten entwickelt. Gleichwohl ist Still- und Fließgewässer wirtschaft sinkt der Grundwasserspiegel fast die Hälfte der gut 1.200 in Berlin mindestens beständig, einzelne Moore im Grunewald vorkommenden Pflanzensippen in ih- die Gewäs- sind bereits irreversibel geschädigt. rem Bestand gefährdet. 20 Prozent der Fazit: In einigen BereiZielarten des Berliner Florenschutzes chen hat Berlin zwar gelten sogar als verschollen. durchaus Fortschritte Eklatanter Personalmangel Großer Odermennig beim Artenschutz gemacht, mit der UmsetAuch die Ziele Nr. 3: „FFH Lebensräume“, 4: „Besonders geschützte Biotope“ und 5: Agrimonia procera zung der „Berliner Strategie zur Biologischen „Biotopverbund“ lassen sich quantitativ Vielfalt“ insgesamt jewie qualitativ überprüfen. Berlin hat in Die stark im Bestand gefährdete alte Heilpflanze mag mäßig feuch- doch enttäuscht. Eine den vergangenen Jahren viele Schutzge- te Böden. Sie kommt auf Waldlichtungen und am Rand von Wald- wohlklingende „Stratebiete neu ausgewiesen, darunter sämtli- und Heckenstrukturen vor, bisweilen auch auf Ruderalstandorten, gie“ zu entwerfen und che vertraglich festgelegte FFH-Gebiete, am Wegesrand oder an Bahndämmen. In Berlin ist nur noch ein dazu eine hübsche Brohinkt aber weiterhin seinen selbst ge- ursprüngliches Vorkommen in einem Waldgebiet bekannt. Andere schüre zu erstellen, ist setzten Zielen hinterher. Ursache ist vor Bestände, beispielsweise in Parkanlagen, gehen auf Ausbringungen eben einfacher, als diese allem die extrem lange Bearbeitungszeit standortfremden Materials zurück. Ziele dann in konkresolcher Ausweisungen, die wiederum auf te Politik umzusetzen den Personalmangel im zuständigen Re- – und gegenüber den ferat der Senatsverwaltung zurückgeht. widerstreitenden AkteuUnter anderem stockt die Unterschutz- sergüteklasse II einfordert, ren der Stadtgesellschaft stellung der Tegeler Stadtheide mit dem wurde ebenso verfehlt wie auch durchzusetzen. Vogelschutzreservat am Flughafensee, Ziel 24: „Straßenbäume Ansgar Poloczek was den NABU Berlin zu einer Petition an und Straßenbegleitgrün“. Umweltsenatorin Regine Günther veran- Von einer Erhöhung der lasst hat (siehe Seite 2/3). Zahl der Straßenbäume Im Zweifel für den Neubau kann keine Rede sein, im Gegenteil: In manchen Jah- Wiesen-Kuhschelle Zum Thema Biotopverbund sagt die Senatsverwaltung: „In Berlin existieren ren überstieg die Zahl der Fällungen die Neupflan- Pulsatilla pratensis noch an vielen Stellen scheinbar wertlose zungen um das Doppelte. Brachflächen, die für den Biotopverbund Der Gesamtbestand hat Diese Pflanze gedeiht auf nährstoffarmen, sandigen Böden, wie sie jedoch eine wichtige Rolle spielen.“ Lei- sich im Vergleichszeitraum im Osten Deutschlands häufiger auftreten. Sie besiedelt magere der folgen dieser vollkommen richtigen aber kaum verändert, die Wiesen sowie lichte Eichen- und Kiefernwälder und gilt als typische Erkenntnis keine Handlungen, vielmehr offizielle Statistik der Se- Art des Sandtrockenrasens. Durch den erhöhten Nährstoffeintrag werden Brachflächen so gut wie immer natsverwaltung weist für in die Böden und den Verlust von Brachflächen ist sie inzwischen zur Bebauung freigegeben. Häufig beruft Anfang 2011 fast 436.000 stark bedroht und auch in Berlin sehr selten geworden. Durch Ansich der Senat auf den Wohnungsmangel Straßenbäume in Berlin zuchten und Wiederausbringungen konnte sie in einzelnen, geeigund spielt so die soziale Frage gegen öko- aus, für Ende 2019 noch neten Refugien wie der Düne im Wedding wieder etabliert werden. logische Notwendigkeiten aus. Nicht sel- rund 431.000. Gerade bei

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