LAB HAR DS
Eigen.Sinn 1/2013
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Zeitschrift für Denkbar Mögliches
Ausgabe 01/2013 Deutschland 6,80 Euro Österreich 6,80 Euro Schweiz 8.00 CHF
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! wir Eigensinn | Normalität
So sind
uns die Idee zu etwas * Wie Anderem in den Sinn kam
| Kommunikation | Wirtschaft | Loyalität | KulturODER | Tourismus Geschichte NEWSTICKER ODER SONST WAS +++ NEWSTICKER SONST WAS |+++ NEWSTICKER
Medien für Tourismus und Standortmarketing
Labhard Medien
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MAGAZIN 2013
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SCHWEIZ-SPEZIAL
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MAGAZIN 2013
BODENSEE
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2013/2014
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Die schönsten Jahresseiten
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Bodensee Magazin 2013 Erhältlich im ZeitschriftenFachhandel
Wirtschaftsmagazin Bodensee Vierländerregion Bodensee
KULTUR & BAROCK Mühlenschätze & Barockessen
GESUNDHEITSLANDSCHAFT Wohlfühlen & Genießen
NATUR & AKTIV Bäder, Moor & mehr
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Bodensee Magazin Spezial Kirchen, Klöster & Konzil
Oberschwaben Magazin GesundheitsLandschaft – Wohlfühlen & Genießen
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SACHSEN MAGAZIN
2013
WIRTSCHAFTSMAGAZIN
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Business Magazine Saxony
2013/2014
Nr. 9
KULTURERLEBNIS SACHSEN IN FEIERSTIMMUNG
AUSGEZEICHNETE WANDERSTRECKEN AUF DEN SPUREN DER VÖLKERSCHLACHT
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Sachsen Magazin 2013 Wirtschaftsmagazin Sachsen Das große Jahresmagazin mit Standorte, Branchen, Themen, Adressen, Terminen Innovationen
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Behandlung – Diagnostik – Rehabilitation
1 Eigen.Sinn
EIGEN(Punkt)SINN(Punkt)DENKBAR(Punkt)MÖGLICHES. Das ist das Spannungsfeld dieses Zeitschriftenprojektes, das wir Ihnen hiermit vorstellen.
EIGEN
Es geht um eigene Gedanken, Ideen, Fragen und Antworten
SINN
Wir wollen Sinnhaftigkeit in Zeiten der „Alternativlosigkeit“
DENKBAR
ist für uns vieles
MÖGLICHES
wollen wir gestalten, Unmögliches möglich machen
PUNKT
Wir bringen unsere Positionen auf den Punkt
>>
2 Eigen.Sinn
denkbar
MÖGLICHES In den letzten Jahren haben wir vielfach die Erfahrung gemacht, dass politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen immer weniger als persönliche Angelegenheiten wahrgenommen werden. Die große Politik hat das Schlagwort der „Alternativlosigkeit“ ganz nach oben gestellt und kaschiert damit gleichzeitig ihre Orientierungslosigkeit.
Dann erleben wir eine scheinbar neue Konjunktur der „Wertediskussion“ und müssen doch immer wieder feststellen, dass diejenigen, die alternativ- und orientierungslos in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Führungspositionen innehaben, die Inhalte der Wertediskussion bestimmen wollen. Gleichzeitig verbreiten sie Einschüchterung durch permanentes Krisengerede, Spardiktate, Enteignungen „kleiner Leute“ wie in Griechenland und Zypern, das Ganze dann überwacht durch die schier unbegrenzte Datensammlung der Geheimdienste. >>
3 Eigen.Sinn
>> Vieles, was wir in der großen Politik vorfinden, zeigt sich auch im Diskurs verschiedener Themen auf regionaler und lokaler Ebene, im Umfeld unserer Unternehmen. Gerade die Erfahrungen mit der Diskussion über die Veränderungen bei Medien und Kommunikation, mit den Themen Unternehmenskultur und Organisationsentwicklung, oder auch in der Kultur und im Tourismus sowie in vielen anderen Bereichen zeigen, dass die inhaltliche Debatte oft flach und oberflächlich geführt wird. Ein Lokalpolitiker hat es ohne rot zu werden auf den Punkt gebracht. „Von der Sache verstehe ich nichts, ich weiß nur, wie ich meine Position mehrheitsfähig mache. Und 51% ist Demokratie“. Gleichzeitig stellen wir fest, dass der Bedarf an qualifizierten Diskursen zunimmt, ob öffentlich, ob z.B. bei unseren Bodensee Salongesprächen oder auch im privaten Bereich. Dies stimmt uns zuversichtlich, dass wir einen Kreis von Menschen kennen oder auch noch kennen lernen werden, die an einer Zeitschrift Eigen.SINN interessiert sind. Ziel ist es, dass die Zeitschrift Eigen.SINN als interessante Themenzeitschrift in kleiner und damit exklusiver Auflage ein Gewinn an Erkenntnissen sein soll. Eigen.SINN soll Ihnen und uns gefallen. Diese Zeitschrift greift aktuelle Themen auf und „besetzt“ diese. Sie ist ein Gegenpol zu den einfachen Antworten, die heute mehrheitlich in die Öffentlichkeit getragen werden und den Diskurs auch in der Region bestimmen. Die Zeitschrift Eigen.SINN soll eine Plattform für eigensinnige, d.h. selbst denkende Menschen sein und im Umfeld unserer Unternehmen und Partner und Freunde deutlich machen, dass es hier eine Vielzahl kluger und eigensinniger Persönlichkeiten gibt. Diese erste Ausgabe soll mit ihrem breiten Themenspektrum einen ersten Einblick geben in das, was uns bewegt. Themen und Layout unterstreichen unseren Eigen.SINN. Nun sind wir auf Ihre Rückmeldungen gespannt. twillauer@labhard.de
THOMAS WILLAUER Geschäftsführender Gesellschafter Labhard Medien GmbH www.labhard.de
P.S. Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Wir bedanken uns bei allen, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben.
4 Eigen.Sinn
IMPRESSUM: Eigen.SINN ist eine Publikation der Labhard Medien GmbH in gemeinsamer Herausgeberschaft mit dem Institut für Führungskultur (Willauer+Partner) in Salenstein. Verlag Labhard Medien GmbH Max-Stromeyer-Straße 116, D-78467 Konstanz Phone +49 7531 90710 verlag@labhard.de; www.labhard.de Geschäftsführung Thomas Willauer (twillauer@labhard.de) Gabriele Schindler (gschindler@labhard.de) Institut Willauer+Partner Institut für Führungskultur Ermatingerstrasse 17 CH-8268 Salenstein Phone +41 71 660 12 00 www.willauerpartner.ch Geschäftsführender Partner Martin Zuber (martin.zuber@willauerpartner.ch) Redaktion Thomas Willauer Gabriele Schindler Christian Huggenberg (Winterthur) Martin H. Zuber Art Director Helga Stützenberger Fotos: Archiv Labhard Medien GmbH. Weitere Bildnachweise siehe Fotos im Heft Alle Rechte vorbehalten: Labhard Medien GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge können, müssen aber nicht die Meinung der Herausgeber und der Redaktion wiedergeben. Die nächste Ausgabe von Eigen.Sinn erscheint im Frühjahr 2014
PARTIZIPATION UND EIGENSINN Von Beate Willauer.........................................................................06 DER GENUSS IM NORMALEN Von Maria Schorpp ........................................................................12 ZEIT.GESCHICHTE Von Raimund Wilhelmi...................................................................16 QUALTÄT STATT VERWIRRUNG Die Zunkunft der Printmedien Von Thomas Willauer .....................................................................22 DER SCHWEIZ ZULIEBE Mit Walter Wittmann im Gespräch ..................................................28 DER MARKENCHECK Wenn die Marke nicht hält, was sie verspricht Von Jean-Claude Parrent................................................................36 NACHDENKEN ÜBER LOYALITÄT Wertvoll oder Augenwischerei? Von Beate Willauer.........................................................................42 BEMERKENSWERT Über den Unterschied, der den Unterschied ausmacht Von Ann Seger und Michael Meier .................................................48 VIELFALT UND EINZIGARTIKEIT Betrachtung der Kultur- und Kunstlandschaft am Bodensee Von Dr. Ursula Zeller ......................................................................52 TOURISTISCHE LEUCHTTÜRME Das Festspielhaus Bregenz Von Gerhard Stübe.........................................................................58 BILDERWELTEN Das Fotomuseum Winterthur Interview von Christian Huggenberg ...............................................64 WUSSTEN SIE, DASS ... 750 Jahre Stadtrecht Winterthur Von Christian Huggenberg..............................................................70
5 Eigen.Sinn
INHALT!
und Partizipation
E I N E S K I Z Z E V O N B E AT E W I L L A U E R
PARTIZIPATION
6 Eigen.Sinn
und Eigensinn,
EIGENSINN
7 Eigen.Sinn
Wir müssten alle auf die Straße gehen auf die Plätze wir müssten schweigend wie angewurzelt da stehen auf dem Marktplatz wie die Menschen in der Türkei schreien vor Zorn und Empörung Fragen fragen uns im Antworten versuchen nicht müde werden nicht nach Hause gehen das Unsichere aushalten statt auf Beschwichtigungen einfachster Art und scheinbare Lösungen zu bauen
8 Eigen.Sinn
I.
Wir haben uns in den 1980er Jahren die Frage gestellt, warum sich so wenige Menschen an demokratischen Prozessen beteiligen. Begründungen gab es viele: Politikverdrossenheit, Wohlstandssattheit, Individualisierung im Sinn von Vereinzelung, um nur einige der üblichen zu nennen. Man könnte jetzt rasch, voreilig sagen, ja, die Begründungen treffen heute auch noch zu, wenn auch in unserem winzigen Ausschnitt der Welt, indem wir das Wehe der großen Welt um uns herum ausblenden: Ein riesiger blinder Fleck, ein weltumspannender. Claudio Magris, der 2009 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, spricht davon, dass der 3. Weltkrieg längst wüte, um uns herum. Der Krieg wütet: Wem fahren die Worte, die damit verbundenen Vorstellungen durch Mark und Bein? Ich weiß es nicht. Die Begründungen für den oben Ausstieg stehen stellvertretend für und zusammenhängend mit all jenen Befunden, die wir alle kennen, beklagen und die uns mit der ‘Aussichtslosigkeit allen Handelns in einer überkomplexen, wahnsinnigen und wahnwitzigen Welt’1 konfrontieren. Dass selbst eine messerscharfe Formulierung, die des 3. Weltkriegs, verhallt, könnte in die Reihe der Begründungen aufgenommen werden: Die Shifting Baseline2, die sich verschiebende Toleranzschwelle, die immer unempfindlicher macht gegenüber dem Wehen in der Welt, dem Weh vieler Menschen, die uns alle auf Knopfdruck medial vermittelt nah sind. Die große Unempfindlichkeit breitet sich aus. Wir müssten alle auf die Straße gehen, auf die Plätze, wir müssten schweigend, wie angewurzelt da stehen auf dem Marktplatz wie die Menschen in der Türkei, schreien vor Zorn und Empörung, Fragen fragen, uns im Antworten versuchen, nicht müde werden, nicht nach Hause gehen, das Unsichere aushalten statt auf Beschwichtigungen einfachster Art und scheinbare Lösungen zu bauen. Wir müssten auf die Straße gehen gegen unsere eigene Unempfindlichkeit. Und statt dessen? Die große Unempfindlichkeit ist vielleicht politisches Kalkül? Und die große Hilflosigkeit? Ich möchte die anfangs gestellte Frage in Frage stellen: Handelt es sich noch um eine gute, stimmige, richtige Frage für uns, heute, im Jahr 2013, die wir an einem (äußerlich) friedlichen und wohl(an)ständigen Fleckchen Erde leben und arbeiten? Sind die Begründungen valide oder auch nur ScheinLösungen, Schein-Antworten auf eine – für uns Heutige – Schein-Frage? Meine Hypothese ist, dass Menschen ihre Rechte, auch ihre demokratischen Rechte da wahrnehmen, wo sie sich eingeladen fühlen und sich selbst einladen können, und sie nehmen ihre Rechte längst in einem großen Umfang wahr. Es existiert längst ein Schatten-Establishment jenseits dessen, was unserer Wahrnehmung zugeführt wird.
„Meine Hypothese ist, dass Menschen ihre Rechte, auch ihre demokratischen Rechte da wahrnehmen, wo sie sich eingeladen fühlen und sich selbst einladen können, und sie nehmen ihre Rechte längst in einem großen Umfang wahr.“
Was mich immer wieder umtreibt ist die Verwunderung darüber, welche Geschichten wir eigentlich erzählen. Wir alle, in unseren Familien, bei unseren Freunden, in unseren Büros. Welche Geschichten sind das und in welchem Modus erzählen wir sie und in welcher Sprache? Die Verwunderung verstärkte sich, als ich den Text von Ulrich Beck ‘Renaissance des Politischen’ von 1992 wieder las. Der Modus und die Sprache lassen sich so beschreiben: Im Modus des Zorns, der Empörung, der kritischen Auseinandersetzung, in einer kraftvollen, nach angemessenem Ausdruck, nach Klarheit, nach Differenzierung suchenden Sprache sprechen und schreiben: Der angemessene Ausdruck ist immer der eigene, der eigenwillige, der eigensinnige, die eigene Stimme, die erhoben wird. Mit Kraft nach Antworten tasten. In einem tastenden Modus die Möglichkeiten des Sagbaren austesten, das, was wir heute verstehen, rekonstruieren können aus den Bruchstücken, die uns zur Verfügung stehen. Die Klarheit, den Wahnwitz und den Wahnsinn auszusprechen, wenn wir auf die Welt und unser Tun darin schauen. Beck verschreibt und bekräftigt den Zweifel als ‘politisches Programm’: ‘Ich zweifle, also bin ich. Ich zweifle, also werde ich. Ich zweifle, also gebe ich dir Raum! (..) Wir zweifeln, also werden wir möglich!’3 Die Frage nach 1989 könnte sein: Wo, an welcher Stelle, in welchem Kontext ist zweifeln möglich? Wer ermöglicht Zweifel? Wer gibt dem Zweifel und dem Zweifler Raum? ‘Die Zweifelskultur, die den Zweifel kultiviert und zu Formen öffentlicher Darstellung und Anerkennung verhilft, verbietet nichts, erzwingt nichts, missioniert niemanden, ermöglicht vielmehr das Gegensätzlichste, das Widerstreitendste, aber in gedämpften, eben vom Zweifel zersetzten und angeheiterten Formen.’4 Zweifeln ist, wie ich Beck verstehe, eine Form des Dialogs, des Multilogs, Zweifel als Multilog als Form der Partizipation.
II.
9 Eigen.Sinn
„Der angemessene Ausdruck ist immer der eigene, der eigenwillige, der eigensinnige, die eigene Stimme, die erhoben wird. Mit Kraft nach Antworten tasten. In einem tastenden Modus die Möglichkeiten des Sagbaren austesten ...“
10 Eigen.Sinn
III. „Demokratische Prozesse sind Prozesse des Zweifelns, tastende Versuche, mit klarer Sprache Beobachtungen in Worte fassen, vielleicht poetisch, vielleicht fremd klingend, in fremden Zungen sprechend.“
Demokratische Prozesse sind dialogische Prozesse, Prozesse des Zweifelns, tastende Versuche, mit klarer Sprache Beobachtungen in Worte fassen, vielleicht poetisch, vielleicht fremd klingend, in fremden Zungen sprechend. Gegenüber den Dingen ist schon jeder Versuch, Dinge in Sprache zu fassen, eine fremde Zunge, ein fremder Zungenschlag, etwas, das den Dingen nie und nimmer gerecht werden kann. Das sollten wir wissen, wenn wir sagen: Ja, das ist so. Never in life. Ich übersetze für mich den Modus des Zweifelns in den Modus des Tastens, der auch von einem in fremden Zungen sprechenden Mitmenschen stammt, dem Philosophen Martin Heidegger. Das Tasten hat viele Qualitäten. Blinde tasten, die ihren Sehsinn kompensieren müssen. Sie entwickeln sensitive Hände, siebte Sinne, sie hören meist besser als wir Sehende, sie lernen Spüren. Tasten heißt, Stück für Stück weitergehen, Schritt für Schritt, stehen bleiben und weiter gehen und dann diesen oder jenen Weg einschlagen, diese Abzweigung nehmen oder jene. Als Metapher für eine bestimmte Art der Reflexion ist das Tasten im Gewahr-Sein von Unsicherheit das Versuchsweise, sucht das Versuchs-Labor, ‘ein paar Nummern kleiner, vorläufiger, revidierbarer, lernfähiger’5 als alle politischen Programme, wendiger, agiler, flexibler auf der Suche nach einer ‘Lebensform des menschlichen Maßes’6. Tasten ist eigensinnig, weil ich mich auf meine Hände verlassen muss, auf meine Schritte, auf meine Art des Nachdenkens, auf meine Sinne, darauf, dass ich Worte finde für das, was ich vorfinde und Worte erfinde für das, was ich ersehne. Tasten ist nie endgültig, erzieht zur ‘Gelassenheit gegenüber den Dingen’ und der ‘Offenheit für das Geheimnis’7. Wenn man Horkheimer und Adorno8 folgt, so sind Versuche, Eigensinn und die Eigensinnigen zu bestrafen, sie auszugrenzen, sie mundtot zu machen, sie zu ermorden, tief in unserer Geschichte, in unseren Mythen verwurzelt, Sedimente unseres heutigen Lebens, zu rekonstruierende Bruchstücke einer langen Geschichte. Die Autoren, beide rechtzeitig geflohen vor dem deutschen Völkermord, sind selbst Eigensinnige, die, um nur ein Beispiel zu nennen, im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts in ihrem Frankfurter Institut für Sozialforschung ihre Arbeit transdisziplinär betrieben haben im Spannungsfeld von Psychoanalyse, Soziologie und Philosophie. Ungewöhnlich damals wie heute, anspruchsvoll, auch: ausgrenzend - weil eigensinnig. Eigensinn grenzt aus, das ist eine der vielen Seiten des Eigen.SINNS - schwer zu hören im Zeitalter von Integration und Inklusion? Horkheimer/Adorno führen die eigensinnige Antigone als frühes Beispiel dafür an, wie wir uns der Eigensinnigen entledigen. Antigone, die sterben9 musste, weil sie sich das Recht herausgenommen hatte, ihren Bruder zu beerdigen, er selbst auch ein Eigensinniger, der Rebell Polyneikes. Was ist das Bedürfnis, einen geliebten Toten zu beerdigen, anderes als ein zugegebenermaßen düsteres, aber elementares Beispiel, gemäß einer ‘Lebensform des menschlichen Maßes’ zu leben? Man könnte Geschichte schreiben als eine des Eigensinns und seiner Folgen: Wie viel Eigensinn war, ist möglich: Eigensinn als Gradmesser für die Qualität einer Lebensform. Die eigensinnige Antigone sucht nach ihrem eigenen Leben, einem vollständigen, sie nimmt sich das Recht des Beerdigens heraus, das Recht, den Kreislauf eines anderen Lebens, den ihres Bruders, zu vervollständigen, indem sie ihn zur letzten Ruhe betten will. Ich, Antigone, und du, Polyneikes. Ich und Du, Wir. Eigensinn ist nicht außenseitig, randständig, abseitig, exotisch. Eigensinniges Leben ist vollständiges Leben, selbst bestimmend. Die Eigensinnigen sind nicht gefährlich.
11 Eigen.Sinn
Und die Eigensinnigen heute, diejenigen, die nach einer Lebensform ihres Maßes suchen? Wer sind sie? Wo sind sie zu finden? Sie sind zahlreich, vielfältig, Teil- und Totalaussteiger, Total- und Teilverweigerer, Drop-Outs, die, die für sich und ihr Leben Alternativen suchen. Was im Mainstream unter dem Stichwort Fachkräftemangel im Kontext von demografischem Wandel verhandelt wird, ist auch eine Folge von individuellen Versuchen, eigensinnige Lebensformen zu verwirklichen, Eigensinn ins eigene Leben einzuführen. Ich meine, die Subkultur sind die anderen, diejenigen, die sich dem Mainstream verschreiben. Bis heute verweigern sich Frauen der Verwertung durch die Arbeitsgesellschaft, immer mehr gut ausgebildete Menschen verweigern sich Karriereoptionen, Menschen sind wählerisch, Bürger verweigern sich der Politik. Die Sinnfrage, wie will ich leben und arbeiten, wird weitgehend individuell beantwortet; Einladungen zum Aussteigen gibt es in der Tat viele. Ich halte die Teilverweigerung für eine Massenbewegung, die weitgehend unterschätzt wird. Diejenigen, die sich verweigern, formieren sich in einem rhizomförmigen demokratischen Prozess, dessen systemische Ausprägung das Netzwerk ist. Im Netzwerk rekrutieren sich Individuen selbst, sie laden sich selbst ein. Netzwerke, small worlds, das, was Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph und Anarchist, vielleicht als menschliches Maß bezeichnen würde: ‘... wirkliche Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, ein wirkliches Miteinander und Ineinanderleben, eine lebendige Unmittelbarkeit zwischen den Menschen’ müsse es geben. ‘Es kommt nicht darauf an, Einrichtungen zu ändern, sondern das menschliche Leben, die Beziehungen der Menschen zueinander zu verwandeln.’10 In unserer Gesellschaft ist Begegnung zwischen Menschen nicht vorgesehen, auch wenn wir vermeintliche Gefäße dafür schaffen: ‘Der durchgesetzte Zweifel erfordert andere Entscheidungsstrukturen, andere Architektur von Institutionen, eine andere Wissenschaft, andere Lernzirkel und Revidierbarkeiten von Entscheidungen.’11 Ich meine, es ist die Stunde der Gemeinschaften, in denen Begegnung stattfinden kann, Experten- Gemeinschaften, Bürger-Gemeinschaften, Interessen-Gemeinschaften, Entwicklungs- Gemeinschaften, Forschungs-Gemeinschaften, Lebens-Gemeinschaften, ZweifelsGemeinschaften. Martin Buber sagte dazu, Gesellschaft konstituiere sich aus Gemeinschaftszellen, in denen Menschen Du und Wir sagen können. Und wir müssen hinzufügen: In denen Menschen Ich sagen können; die Empfindlichkeit für einen anderen zirkuliert mit der Empfindlichkeit für ein Selbst. Und: ‘Was der heutigen Zeit fehlt, ist eine Theorie und eine Praxis des Gemeinwillens, verstanden als oberste Fiktion eines unwiderruflichen Glaubens, die in dem Akt zum Tragen käme, bei dem ein Volk sich zum Volk zusammenschließt.’12 Bei allem Pathos des Volksbegriffs: Das eigene Leben vollständig, eigensinnig zu leben ist ein Leben in Gemeinschaft, ist ein Leben mit Blick auf das Eigensinnige und Vollständige anderer Menschen in den small worlds, in den Netzwerken und ein Vernetzen von Netzwerken zu einem Volk, zu einer Weltgesellschaft. Wir müssen vor dem Anfang anfangen. Die Chance zur Renaissance der Politik: ‘Dinge betrachten, bevor sie existieren’13, Fragen zu erforschen, Fantasien zu entwickeln, Zukünfte aufzumalen, Empfindlichkeiten zu kultivieren gegen die Hilflosigkeit, den Wahnwitz und den Wahnsinn, als Absage an den kurzatmigen Hyper-Pragmatismus14 und beschwichtigende Pseudo-Partizipation. Statt dessen: Zusage an eine ‘post-konsensuelle Praxis’, einem klaren Abgrenzen und Ausgrenzen, einem Aufkündigen der kollektiven Konfluenzverträge und - dadurch - einer gemeinschaftlichen und gemeinschaftsbildenden Teilhabe an den small worlds und der großen, in neuen Einrichtungen, in neuen, in radikal veränderten Institutionen. Vielleicht treffen sich da Demokratie und Politik.
IV.
T
twillauer@labhard.de +49 (0)7531 907131
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PERSÖNLICHE EINLADUNG Reden wir miteinander Salongespräche am Bodensee diesmal in Winterthur
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Führung und Partizipation Ein Gespräch mit Michael Künzle, Stadtpräsident Winterthur und Uli Burchardt, Oberbürgermeister der Stadt Konstanz Mittwoch 23. Oktober 2013, 18.00 Uhr Haus zur Geduld, Marktgasse 22, CH–8400 Winterthur
Eine gemeinsame Veranstaltung mit der Standortförderung Region Winterthur und der Wirtschaftsförderung Konstanz
Am 23. Oktober wurde dieser Beitrag im Rahmen eines Bodensee Salongesprächs vorgestellt.
1) Ulrich Beck (1992), Die Renaissance des Politischen. In: GMH 10/92. Seite 596. 2) Das Shifting-Baseline-Syndrom beschreibt die Verschiebung, den Wandel von ‘Wahrnehmungen und Deutungen’ z.B. im Zusammenhang mit klimatischen Veränderungen, aber auch im Zusammenhang mit der Frage, wie sich unter der Naziherrschaft scheinbar stabile Grundwerte in kurzer Zeit aushebeln liessen. Siehe dazu: Harald Welzer (2006), Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Mörder werden. Und: Harald Welzer (2008), Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Und zum Forschungsprojekt ‘Shifting Baseline’ http://www.kwi-nrw.de/home/projekt-50.html. 3) Ulrich Beck (1992), Die Renaissance des Politischen. In: GMH 10/92. Seite 602. 4) Ebenda Seite 603. 5) Ebenda. 6) Ebenda Seite 602. 7) Beides sind Wendungen des Philosophen Martin Heidegger. 8) Siehe hierzu Horkheimer, Adorno (1980), Dialektik der Aufklärung. 9) Bei Sophokles wurde sie lebendig eingemauert. Die Faktizität des Einmauerns brutalisiert das Töten, sie steht für ein langsames, qualvolles Sterben. Die Metapher des Einmauerns steht für den Gewaltakt sozialer Isolation. 10) In: Martin Buber (1920), Drei Reden über das Judentum. 11) Ulrich Beck (1992), Die Renaissance des Politischen. In: GMH 10/92. Seite 603. 12) Simon Critchley (2007), Der Katechismus des Bürgers. Klappentext. 13) Markus Miessen (2012), Albtraum Partizipation. Seite 26. 14) Siehe hierzu Joachim Käppner, Die bessere Demokratie. Die Stadt als politisches Versuchslabor. In: Süddeutsche Zeitung Nir 212, 13. September 2013.
12 Eigen.Sinn
DER GENUSS im Normalen
EIN ERSTAUNLICHER SATZ, ausgesprochen bei Pizza und einem Glas Wein, der das Zeug hat, gegenwärtiges Lebensgefühl zu pointieren: Keiner möchte mehr normal sein. Neu ist diese Vorstellung des Menschen von sich selbst nicht. Bereits im 18. Jahrhundert bildete sich ein Grüppchen von Zeitgenossen heraus, die mit dem Normalsein nichts zu tun haben wollten. Normal, das war in ihren Augen etwas fürs gemeine Volk, für die ungebildete Masse, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdiente. Sich selbst sahen sie aus den Niederungen des Gewöhnlichen herausragen, verstanden sich als Inner Circle, in dem sie die dünne Luft der Genialität teilten. Damals begann die Verachtung des Normalen. Sie begann mit dem Siegeszug des Rationalen über den christlichen Menschen, dessen Überlegenheitsphantasien mit einem Mal der Stoff ausgegangen war: Kein Gott, keine Erleuchtung, keine Unsterblichkeit mehr, die ihn vor den anderen auszeichneten. So suchte er Ersatz und fand ihn im Kult des außergewöhnlichen Menschen, der aufgrund seiner Talente und seines Willens zum Hervorragen dem Normalsterblichen überlegen sein sollte. Letztlich mündete diese Überzeugung, selbst etwas Besonderes und Außergewöhnliches zu sein, im gegenwärtigen Selbstverwirklichungskult. Der Geniekult hat sich demokratisiert, die Sehnsucht nach dem Besonderen hat die Massen erreicht. Und so kam es, dass heute keiner mehr normal sein will.
13 Eigen.Sinn
„Ich bin gern mit Menschen zusammen, die normal sind. Ich hätte es aber nicht so gern, wenn jemand über mich sagen würde, ich sei völlig normal.“
14 Eigen.Sinn
Was einen bekennenden Normalo heute an Zuschreibungen erwartet ist nicht leicht zu verdauen. Hans Magnus Enzensberger hat in seinem Essay „Zur Verteidigung der Normalität“ ein eigenes „kleines historisches Wörterbuch zur Beschreibung des normalen Menschen“ zusammengestellt, das hinsichtlich übler Nachrede keine Wünsche offenlässt. Von „kleiner Moritz“, „stinknormal“, „stumpfsinnig“, „Massenmensch“, „Konsumidiot“, „Mitläufer“, „Kleinbürger“ bis hin zu den „kleinen Leuten“ handelt es sich um eine akribische Aufzählung von Beleidigungen. Des Weiteren besteht ein beliebter Taschenspielertrick darin, bestimmte öffentliche Figuren wie etwa Dieter Bohlen herauszugreifen, sie allein aufgrund der Tatsache, dass sie irgendwie bei den Massen ankommen, für „normal“ zu erklären, um sie postwendend quasi als die wahren Irren zu entlarven. Als ob jemand allein da-
durch als normal durchgehen würde, dass er mehrheitstauglich ist. Und als ob das Gegenteil von normal irre wäre. So lautet der Buchtitel des Arztes Martin Lütz: „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“. Es ist im materiellen wie politischen Sinn ein Zeichen von Luxus, wenn Menschen nicht normal sein wollen, wenn sie es despektierlich finden, als „normal“ bezeichnet zu werden. „In Zeiten florierenden Wohlstandes, in denen ja in der Regel auch der Pluralismus der Meinungen und Auffassungen, unter anderem über das Normale, aufblüht, gerät die Normalität als solche sehr leicht aus dem Blick“, wie es der Philosoph Thomas Rolf formuliert. Nach seinem Verständnis gleicht Normalität mehr einer Aufgabe denn einem Zustand, sie äußert sich in einem nicht auf Anhieb identifizierbaren inneren Bedürfnis, das handelnd Erfüllung findet. Letztendlich machen handfeste Dinge wie Nahrung, Kleidung und Wohnung, die wir tatsächlich als Bedürfnisse empfinden, Normalität aus. Dinge somit, die nichts mit Luxus, aber viel mit (Über)Leben zu tun haben. Wem es an solch grundlegenden Dingen mangelt, wird es schwer haben, ein normales Leben zu führen. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass dieses Bedürfnis – entgegen allen Relativierungsversuchen, dem das „Normale“ ausgesetzt ist – nicht nur personen-, sondern sogar kulturübergreifend gilt. Fatal daran ist nur, dass es sich erst wieder spürbar regt, wenn es den Menschen schlecht geht, wenn sich tatsächlich Not ausbreitet – sei es durch eine Krankheit, eine familiäre Krise, Naturkatastrophen oder die politischen Umstände. Man stelle sich vor, es sei Krieg. Würde man sich da wünschen, dass diese außerordentlich angespannte Situation möglichst lange anhält, weil sie so aufregend ist? Es mag Abenteuernaturen geben, die so empfinden. Die meisten Menschen würden sich eher danach sehnen, dass alles wieder normal wird.
Der Normalmensch an und für sich steckt in der Krise. Er führt Krieg gegen sich selbst. Doch diese schlechte Nachricht birgt gleichzeitig eine gute: Nach nichts sehnt sich der Mensch in der Krise so sehr wie nach Normalität. „Hoffnung auf ein wenig Normalität“ hieß es nach dem Erdbeben in der Türkei im März 2012. Nach „ein bisschen Normalität“ sehnt sich eine Familie mit einem krebskranken Kind. Israelis im Nahen Osten wünschen sich normale Zeiten. Unzählige Kriegstagebücher zeugen von dem alles beherrschenden Wunsch, morgens aufzustehen, um anschließend zur Arbeit zu gehen. Ganz normal und ziemlich langweilig. Wer solcherart Krisen durchmacht oder hinter sich gebracht hat, wird bestätigen, wie wertvoll es sein kann, sich auf die routinierte Normalität des Alltags verlassen zu können. Normalität ist somit kein Charakterzug eines möglicherweise ignoranten Zeitgenossen, sondern umreißt eine Lebenseinstellung, deren Besitzer es darum geht, etwas aus sich zu machen: einen Menschen, der im Alltag lebenstauglich ist. Extremzustände sind demnach Ausnahmezustände, Normalität ist die Grundvoraussetzung, um das Außerordentliche überhaupt erleben zu können. Tatsächlich befinden wir uns „in Zeiten florierenden Wohlstandes“, wie Thomas Rolf die Gegenwart unseres Landes beschreibt. In Zeiten, in denen die Grundbedürfnisse längst befriedigt sind und damit die Sorge um die eigene Person und ihre angemessene Rolle in den Vordergrund rückt. Dabei war Selbstbestimmung gestern, heute geht es um mehr: um Selbsterfindung. Die Grenzen der Um- und Selbstgestaltung werden immer weiter hinaus geschoben. Wo einst etwa in Frauenzeitschriften Schnittvorlagen zu finden waren, mit deren Hilfe sich die Leserinnen selbst Kleider schneidern konnten, wird heute die Mustervorlage für den ganzen Menschen mitgeliefert. Es herrscht ein unablässiger Gestaltungszwang, der Bauch, Beine, Po genauso betrifft wie das Gefühlsleben, das per „emotional design“ den letzten Schliff erhält. Selbstbe-
stimmung reicht nicht mehr, heute gilt es, sich lebenslang neu zu erfinden. Selfness, Self Branding, Ich-Veränderungsprogramme geben vor, was zu tun ist, um ein optimales Bild von sich zu entwerfen, in die individuelle Realität zu übertragen und entsprechend zu vermarkten. Die gesamte Person steht zur Disposition. Mit dem Ergebnis, dass die Menschen nach Belieben an sich herumwerkeln (lassen). Extrovertiert, jung und sexy in allen Lebensphasen ist genauso Pflicht wie Sporttreiben, mit dem Ziel, seinem Körper, auch gern allen biologischen Gegebenheiten zum Trotz, den formenden Willen seines Besitzers aufzuzwingen. Die lebenslange Machbarkeit des eigenen Ich ist längst zur Maxime erhoben.
Möglichkeiten, sich zu modellieren, genutzt, von der äußeren Rundumerneuerung bis zur umfassenden Persönlichkeitsumbildung, die aus einer vermeintlich grauen Maus ein Alphatier machen soll. Endziel ist die optimale Selbstdarstellung inklusive Glücksgarantie. Von ähnlichen Vorurteilen wie die Normalität wird eines ihrer effektivsten Instrumente, der gesunde Menschenverstand, verfolgt. Ihm wird Bodenständigkeit vorgehalten, Beharren auf dem Althergebrachten, dass er nicht flexibel genug sei und sich den schnelllebigen Zeiten nur ungenügend anpassen könne. Möglicherweise ist er jedoch gerade deshalb besonders geeignet, etwas Ruhe und Ordnung in die tägliche verwirrende Flut des Neuen zu bringen. „Der gesunde Menschenverstand leistet weniger irrtumsfreie Erkenntnis als vielmehr praktische Orientierung in unübersichtlichen, undurchschaubaren sowie vor allem auch in mehr oder minder neuen Situationen und Lebenslagen“, lässt sich Thomas Rolf hier vernehmen. „Langweilig“ – werden an dieser Stelle die
Kritiker des Normalen einwerfen, einer der schlimmsten aller heutzutage denkbaren Vorwürfe, der allerdings in seiner Angst vor der „langen Weile“ deren immenses schöpferische Potential übersieht. Der gesunde Menschenverstand verursacht quasi das Störgeräusch hinter den Einflüsterungsversuchen, die alles Neue als per se spannend und aufregend und in der Logik des permanenten Events als begrüßenswert anpreisen. Er ist die unbestechliche Instanz – die Urteilskraft der Normalität. Das Normale hat immer etwas zu tun mit Maß und Mitte, wobei selbigen verbissenen Kritikern des Normalen hier wieder nur das Ärgste in den Sinn kommt: Mittelmäßigkeit. Durchschnittlichkeit. Otto Normalverbraucher. Normalsein, würde der Philosoph Rolf ihnen jedoch erwidern, beinhaltet ein Werturteil und keinen Durchschnittswert. Dass das Normale oft in großer Zahl vorkommt, hat ganz einfach darin seinen Grund, dass es wert ist, von vielen wertgeschätzt zu werden. Es geht somit um Balance, wie es heute heißt. Denn der Götze Erfolg zeigt durchaus zwei Gesichter: „Nichts! War! Mehr! Normal!“ Hinter jedem Wort setzte der Interviewer ein Ausrufezeichen, um die Erschütterung zu vermitteln, die diese vier Worte begleiteten. Ausgesprochen wurden sie von Ulrike Meyfarth, die 1972 bei den Olympischen Spielen in München als 16-Jährige völlig überraschend die Goldmedaille im Hochsprung gewann und das auch noch mit neuem Weltrekord. Zur Normalität sagte sie: „Das ist das höchste Gut für einen Menschen, dass er das erlebt. Weil er das weitergeben kann.“ Sie muss es wissen.
MARIA SCHORPP Geboren 1957 in Würmersheim/Kreis Rastatt 1977 Abitur am Ludwig-Wilhelm-Gymnasium, Rastatt Ab Herbst 1977 Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Universität Konstanz 1991 Promotion im Fach Philosophie bei Prof. Jürgen Mittelstraß Seit 1986 Tätigkeit als Freie Journalistin bei diversen Zeitungen und Magazinen Seit 1994 Mitarbeiterin bzw. stellvertretende Leiterin der Stabsstelle Kommunikation und Marketing der Universität Konstanz
15 Eigen.Sinn
Heute ist es nicht eine selbsternannte Elite, die Exklusivität einfordert, sondern der Alltagsmensch drängt zur eigenen individuellen Prominenz. Die Botschaft ist angekommen und bereits verinnerlicht: Der Normalmensch darf sich nicht mehr genügen, er muss etwas Außerordentliches aus sich machen, am besten sich ganz neu erfinden. Nach dem eigenen Bilde, das jedoch verdächtig dem ähnelt, das von der medialen Welt der Schönen, Reichen und Erfolgreichen vorgelebt wird. Eifrig werden die verfügbaren
16 Eigen.Sinn
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17 Eigen.Sinn
RAIMUND WILHELMI Geschäftsführer Klinik Buchinger Wilhelmi GmbH www.buchinger.com
ZEIT. GESCHICHTE „Als ich jung war, konnte ich es kaum erwarten, dass die Glocke läutete, die das Ende des Unterrichts in der Schule ankündigte, dass es Freitag wurde und das Wochenende mit seinen Verheißungen begann, dass die Sommerferien endlich kamen. Der Sommer schien endlos, ich erinnere nur heiße Tage, die ich mit Gleichaltrigen im Bodensee – meist im immerwarmen Wasser – verbrachte ...
sond er n z
u viel
Zeit, d ie
wir nicht nutzen.“
18 Eigen.Sinn
die zeit ist jemand wie du und ich. einfach da wie du und ich. was da bedeutet? da ist die mitte von gegeben und genommen. da ist, wenn die luft verschwimmt. da ist, wenn die biene lĂźstern am nektar nippt. und da ist, wenn du sagst â&#x20AC;&#x17E;bitte gehâ&#x20AC;&#x153;. die zeit ist also immer da. und immer ist sehr oft.
die zeit
iwo randoja
Jetzt rast die Zeit. Die Woche ist schon durchgeplant – was heißt Woche: das Jahr steht Woche für Woche fest. Meine tüchtige Assistentin trägt im Januar schon die wiederkehrenden Termine ein, die Geburtstage, die Besprechungen, die Tagungen, die Betriebsversammlungen, das Sommerfest, das Weihnachtsfest, meinen Hochzeitstag – ja auch die Urlaube. Und an diesen durch Outlook und Blackberry festgezurrten Terminen rattert das Jahr dahin, es rattert allerdings von Jahr zu Jahr schneller. An den Bäumen im Garten und den Blumen auf den Beeten erkennt man die saisonalen Veränderungen: noch liegt auf dem Säntis Schnee, noch fährt die weiße Flotte nicht auf dem See, auch die „Hohentwiel“ lässt ihr stolzes Horn noch nicht erschallen. Aber die Knospen der Krokusse und Forsythien platzen, es schmücken sich Kirschbäume und Apfelbäume – lieblich und würdig – und endlich kommen die herrlichen Tulpen im April und Magnolien im Mai – und schon ist wieder Herbst! Die Blätter vor der Türe müssen gekehrt werden. Auf der Fahrt nach Zürich gibt es in Singen und Schaffhausen den ersten Nebel. Wir planen schon die Weihnachtsreparaturen! Das Weihnachtsgeld! Das Weihnachtsessen! War nicht gerade erst Pfingsten? Waren wir nicht gerade das erste Mal in den See gesprungen? Saßen wir nicht bis 22 Uhr abends draußen und es war hell? Jetzt dämmert es gegen 18 oder 19 Uhr und um 20 Uhr ist es dunkel.
Wo geht sie hin, die Zeit? Verwenden wir sie richtig? Verschwenden wir sie? Was kommt dann? Sollten wir nicht noch ein paar außergewöhnliche Dinge erleben, ein paar interessante Menschen kennenlernen, noch etwas Wichtiges zustande bringen? Es sind wohlfeile Gedanken. Anhalten können wir die Zeit nicht. Gerade höre ich im Autoradio, man solle die Uhr ablegen, das Handy abmelden und den Terminkalender weg werfen. Ist das eine Lösung? Ist es richtig, wie Martin Suter („Die Zeit, die Zeit“) meint, die Zeit einfach als nicht-existent zu erklären? Wahrscheinlich ist es wichtig, jede Begegnung, jeden visuellen Eindruck, jedes Hörerlebnis bewusst zu erleben. Mit allen Sinnen. Einen Menschen kennenzulernen, ein außergewöhnliches Bauwerk zu sehen, eine Symphonie live zu erleben – wenn man sich mit vollem Bewusstsein, mit allen Sinnen auf einen solchen Kontakt einlässt, dann scheint die Zeit stillzustehen. Man wird buchstäblich durchdrungen, erfüllt, in eine neue Dimension entzückt.
Eine Sekunde der Ewigkeit.“
19 Eigen.Sinn
... Auch das Erwachsenwerden dauerte Ewigkeiten – speziell die sechzehner und die achtzehner Marke wurden herbeigesehnt. Danach beruhigte sich das Beobachten der Eieruhr, das Lauschen des Pendels, das Mitzählen des Schlagens der Turmglocken etwas. Die erste Wohnung, der erste Käfer, die erste Liebe waren unvergessliche Glücksmomente. Das Älterwerden schien weit, sehr weit – die Jahrtausendwende 2000 war epochal, dass man eine 2 am Anfang der Jahreszahl schreiben würde, schien eine Sensation. Wie der Fall der Berliner Mauer: ich als 18jähriger im Erstsemester an der Freien Universität Berlin – anders als etwa Martin Walser – hatte mich mit dem Gedanken der Teilung abgefunden, ich konnte es mir gar nicht anders vorstellen.
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21 Eigen.Sinn
Futter
SUCHE
Dieses Foto von Achim Mende zeigt Wildschweinspuren im Schnee. Orientierung oder Chaos? Verzweiflung oder systematische Nahrungssuche? Ein Abbild 端ber den aktuellen Zustand bei Teilen der Medienbranche.
STATT
Qualität
Verwirrung 22 Eigen.Sinn
Die Zukunft der Printmedien Im Jahr 2014 erscheint im 30. Jahr das Bodensee Magazin, das wichtigste touristische Medium für die internationale Bodenseeregion. Das Bodensee Magazin ist Ausgangspunkt einer ganzen Produktfamilie im Printbereich. Nicht ganz so lange, aber immerhin auch schon über 20 Jahre, ist Labhard Medien in Sachsen verlegerisch unterwegs. Unsere Kernkompetenz ist Kommunikation in Print. Und dabei bleiben wir auch. Tierfutterverkauf ist für uns keine Alternative. Doch dazu dann später.
THOMAS WILLAUER „Im Zeitalter des Internets kann jeder alles sein: Verleger, Autor, Journalist. Jeder kann partizipieren, jeder Geld verdienen. Das ist das Mantra. Keine dieser Aussagen stimmt. Trotzdem werden sie weiter nachgeplappert. Wer profitiert eigentlich von dieser Ideologie?“ fragt Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in einem bemerkenswerten Aufsatz zum Thema „Zukunft des Journalismus“1. In dieser Debatte wollen auch wir unsere Antwort geben.
ZUKUNFT DENKE N Jedes Unternehmen muss Zukunft denken, denn wenn eines eine feste Größe ist, dann ist es der permanente Wandel. Deshalb haben wir in den vergangenen 25 Jahren die Produktfamilie Bodensee Magazin entwickelt, haben uns ein zweites Standbein in Sachsen mit der Produktfamilie Sachsen Magazin aufgebaut. Wir haben zahlreiche neue Produkte ausprobiert und, noch wichtiger, auch etabliert, verstehen Marketing und Kommunikation immer als ein ganzheitliches Projekt von Print, Internet und direkten Kundenkontakten, Events, Diskussionsveranstaltungen, Beratungsangeboten. Zukunft denken heißt auch immer, die eigene Unternehmenskultur weiter zu entwickeln. Mit arbeiterinnen und Mitarbeiter müssen den Spirit eines Unternehmens verstehen, nur dann können sie im Umgang mit unseren Kunden und Lesern diese überzeugen und gewinnen, für unsere Produkte, aber auch für unser Unternehmen. Das heißt eben auch, dass man qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter braucht. „Das Schlimme ist, schaut man beispielsweise auf die Sparmaßnahmen in Regionalzeitungen, dass Selbstausbeutung jetzt überall institutionalisiert zu werden beginnt. Von Apple lernen heißt siegen lernen! Wenn das magische iPhone von chinesischen Arbeitern in einer Charles-Dickens-Welt produziert wird, kann das auch mit Gedanken geschehen. Wer glaubt denn im Ernst, dass gerade ausschließlich auf Profite und Reflexe dressierte Verlagsunternehmen nicht begeistert von der Internetökonomie lernen könnten (…).“ Wir wollen unsere Produkte nicht „veräppeln“, sondern mit Qualität echten Kundennutzen stiften.
23 Eigen.Sinn
Denk im Großen. Kleinen.
»Wir wollen unsere Produkte nicht „veräppeln“, sondern mit Qualität echten Nutzen stiften«
24 Eigen.Sinn
Denk im Ganzen.
PSYCHOLOGIE UND KRISE
Einige Internetfirmen und Werbeagenturen haben einen neuen Markt für sich entdeckt: Social-Media-Beratung. Den dafür sehr übersichtlichen Leitfaden für richtiges Verhalten bei Facebook und Co. lassen sie sich teuer bezahlen und man hat den Eindruck, dass viele, die sich auf solche „Social-Media-Strategien“ einlassen, dies vor allem tun, weil sie glauben, etwas zu versäumen. Die Qualität der Beratung ist meist kaum besser als der Hinweis, man dürfe Gästen aus arabischen Ländern keinen Alkohol als Begrüßungsdrink im Hotel anbieten. Und das Bild der Teilnehmer an SocialMedia-Prozessen, also vom User, vom Kunden, vom Gast, dem ich was verkaufen möchte, ist nicht das eines aufgeklärten Partners, sondern es geht vor allem darum, welche Aspekte seines sozialen Verhaltens noch vermarktet werden können. „Wir wissen, eine Person ist ein
Milliarden haben Medienunternehmen im Internet schon verbrannt. Es sind vor allem die über Fünfzigjährigen (Atari und Commodoregeneration), und dazu gehört auch vielfach das Führungspersonal in den Medienunternehmen, die immer so tun, als würde das Web alles Mediale auf den Kopf stellen. Und ihr selbstgemachtes Krisengerede über Print verunsichert dann die meist jungen Berufsanfänger in den MediaAgenturen, die als Generation „Internet“ zeitgeistorientiert Werbegelder flugs von Print ins Online umschichten. Doch eine Erfolgsrechnung kann auch da nicht wirklich erfolgen. Die Verteilung von Werbegeldern besteht eben auch hier aus 50 Prozent Psychologie. Aber wer heute auf Online setzt, kann zeitgeistgetrieben scheinbar nichts falsch machen.
Depp und gibt viel Geld für nutzlose Dinge aus. Anzeigenkunden werden mehr Geld dafür ausgeben, um diese Leute ins Ziel zu nehmen und diese Leute sind nicht erfahren genug, um zu verstehen, was mit ihnen geschieht.“2 So zynisch diese Denke daherkommt, und es mag solche Leute geben (wie es auch immer noch Bildzeitungsleser gibt und solche die „Schwiegertochter gesucht“ glotzen), wahr ist auch, dass es viele gibt, die sich nicht für dumm verkaufen lassen. Nicht jeder „Facebookschuss“ aus der Kundendatenbank vor den Bug eines „Freundes“ kommt dort auch als Freundschaftsgeste an, sondern eher als Belästigung.
KAPITAL STATT SOCIAL Google und Facebook, wie auch andere Plattformanbieter im Netz, verdienen ihr Geld konventionell mit Anzeigenschaltungen, meist mit der Anmutung aus der Anfangszeit primitiver Grafikprogramme. Und ihr unternehmerisches Auftreten ist das aggressiver multinationaler Konzerne, die, nehmen wir die Ölmultis, rücksichtslos Mensch und Natur ausbeuten. Bei Google, Facebook und Co. sind es soziale Bedürfnisse und geistiges Eigentum, die man ausbeutet. Diese Unternehmen versuchen kulturelle Normen rücksichtslos im eigenen Geschäftsinteresse zu dominieren. „Die Informationsökonomie hat in ihrer heutigen Alpha-Version ausschließlich zum Entstehen industrieller Giganten geführt, zu Konzentrationsprozessen, die den Einzelnen immer häufiger zum Ausbeuter seines eigenen Ichs machen … die sogenannten ‚neuen Regeln für die neue Ökonomie‘, die in allen Köpfen rumspuken … tarnen diese Wiederkehr des Neoliberalismus in Gestalt der Techno-Utopie.“
SICH SELBST ABSCHAFFEN? Das Internet hat zweifellos das Informationsmonopol von Medienunternehmen aufgebrochen und ermöglicht eine umfassende Informationsrecherche und auch die Weitergabe von Informationen schnell, selbstständig und unabhängig von Medienunternehmen. Insoweit hat das Internet auch einen emanzipatorischen Charakter, wie z. B. die Plagiatsnachweise diverser Doktorarbeiten eindrucksvoll beweisen. Das Netz verlangt aber auch einen qualifizierten, differenzierten und verantwortungsbewussten User. Dies bei der Informationsaufnahme, aber auch bei der Informationsbereitstellung. Der Trend, Journalisten durch User zu ersetzen, hat jedenfalls die Qualität in vielen Medienhäusern drastisch nach unten getrieben. Angesichts der fast schon krampfhaften Bemühungen einiger Großverlage, sich den Content im Internet finanzieren zu lassen, denn nur so könne „Qualitätsjournalismus“ erhalten werden, bleibt dennoch die Frage berechtigt, ob das eine Trendwende oder Propaganda angesichts einer schwierigen betriebswirtschaftlichen Gesamtsituation ist. Springer wird ein internetbasierter Gemischtwarenhandel und Burda verkauft im Netz inzwischen erfolgreich Tierfutter. Von daher ist es nur konsequent, dass Burda als Fernsehpreis einen „Bambi“ verleiht. Geht die Tourismusbranche als nächstes diesen Weg der eigenen Abschaffung? Man hat den Eindruck, dass bewusst oder unbewusst daran gearbeitet wird, Tourismusfachleute durch internetaffine Gäste zu ersetzen. Imagebildung für Destinationen, Tipps, Erfahrungen, Beratungsleistungen soll Besuchern und Gästen überlassen werden, die sich in Blogs oder Facebook austoben. Auch dies ist ein Schritt in die falsche Richtung. So wenig der User ein Journalist wird, so wenig wird er ein qualifizierter Tourismusexperte. Allein die technischen Möglichkeiten der Kommunikation, so Schirrmacher, sind nicht in der Lage diejenigen kommunikativen Prozesse auszulösen, die allenthalben versprochen werden. Es geht weder um eine Internetstrategie, noch um eine Social-Media-Strategie. Es geht immer um eine integrative und synergetisch organisierte Kommunikationsstrategie. Und dies braucht qualifizierte Leute und Qualität. Es geht nicht billiger.
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DE R „ DUMME" KUNDE
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L UXUS, Z E IT UND MUSSE Trotz Internet sind im vergangenen Jahr über 500 Printtitel neu auf den deutschen Markt gekommen. Die intelligenten, die anspruchsvollen Konsumenten wollen Medien haben, für die sie sich Zeit nehmen dürfen. Ich sage, in dem Moment, in dem bedrucktes Papier nicht mehr allein unseren Informationsalltag bestimmt, sondern das Internet an Bedeutung zunimmt, wird Papier noch viel interessanter. Es entwickelt sich zum Luxusgegenstand. Luxus verstanden als Zeit und Muße. In dem Moment, in dem Papier scheinbar überflüssig wird, bekommt es eine ganz andere Qualität, auch Lebensqualität. Und für Leute, die das suchen, ist eine Zeitschrift etwas Besonderes, was Sinnlichkeit hat, eben das, was das Internet nicht hat. Um als Printmagazin erfolgreich zu bleiben, muss ein Titel dem Leser ein sinnliches Vergnügen bieten – mit hochwertigen Inhalten, Hintergrundanalysen und einem überraschenden Design. Man braucht nur Autoren, Illustratoren und Fotografen zu fragen – in Print veröffentlicht zu werden bedeutet ihnen nach wie vor mehr als in digitalen Medien. Die Zukunft des Zeitschriftenmarktes liegt in den Nischenprodukten. Die Nische ist anspruchsvoll, denn da geht es wirklich um Inhalte und nicht nur um Disposition und Preise und Cover-Fotos. Nischentitel werden auch als Printausgaben generell von jüngeren Menschen genutzt. Nischenprodukte sind unabhängig von der Massennachfrage. Die Macher von Magazinen haben so alle Freiheiten, das inhaltliche und grafische Potenzial des physischen Formats auszunutzen. Dies stärkt die Leser-Blatt-Bindung.
Titelblatt zu schreiben bringt also überhaupt nichts. Im Gegenteil: Es verstört die Leser, weil es Erwartungen enttäuscht.
WIR MACHE N WERBUNG
DIE BESSERE IDEE GEWINNT
Das grundlegende Verständnis unserer Arbeit geht dahin, dass wir mit unseren Medien unseren Kunden und Partnern Nutzen stiften, d. h. Gäste bringen. Nutzen stiften wir auch unseren Lesern, indem wir unsere Informationen und die unserer Kunden so aufbereiten, dass sie stimmig sind, dass es Vergnügen macht, sie zu lesen, dass die (Werbe-)Botschaften stimmen und dabei gleichzeitig positive Gefühle und Emotionen auslösen. Wir produzieren „Appetitmacher“, sind Gästebringer für die Region. Unsere Magazine transportieren das Image der Destination, sie prägen es aber auch aktiv mit. Wir unterstützen die touristische Produktentwicklung, die Markenbildung, ermöglichen das Voranbringen der multithematischen Kommunikation und haben nachweislich eine hohe Werbekraft. Das Magazin als Kommunikationsinstrument bietet die einzigartige Möglichkeit, z.B. die Einheit der Bodenseeregion in ihrer Vielfalt zu kommunizieren, sei es im Tourismus oder als Wirtschaftsregion. Hier verbinden sich gemeinsamer Auftritt und Individualität der Akteure. Unsere Magazine sind damit auch Plattformen, auf denen unterschiedliche Interessen gebündelt werden können. Erfolgreich sind diese Magazine aber nur, wenn sie selbst eine erfolgreiche Kommunikationsmarke sind. Dies trifft bei den Marken Bodensee Magazin und Sachsen Magazin zweifellos zu. Auf Werbebotschaften einfach „Magazin“ auf das
Der Fehler, der heute bei vielen Verlagen gemacht wird ist, dass Magazine/Publikationen, die erfolgreich sind, kopiert werden und als „me-too-Produkte“ erscheinen. Das ist genau das, was die Käufer/Leser frustriert, die Konsumenten abschreckt und auch die Werbekunden nicht brauchen. Das macht Print kaputt, weil es Printprodukte systematisch entwertet. Es kommt nicht darauf an zu kopieren, sondern es geht darum, dass man die schlauere Idee hat, dass man Zugänge hat zu Themen, die andere nicht haben, dass man Dinge weiß, die andere nicht wissen, dass man Dinge fühlt, die andere vielleicht nicht fühlen.
PRINT WIRKT Reisemagazine dienen der Information und der Imagebildung. Wir erleben gerade bei touristischen Medien eine Renaissance der Imagewerbung. Dem Gedruckten kommt die Aufgabe zu, in Wort und Bild die Geschichten der touristischen Destination zu erzählen, Interesse zu wecken, neugierig zu machen, grundlegende Informationen zu vermitteln. Print aktiviert die potentiellen Gäste. Print und Internet machen dann als gesamthafte Kommunikationsstrategie Sinn, wenn sie komplementär und nicht substitutiv genutzt werden. Deshalb haben selbst Reisekataloge eine Zukunft und werden in immer höheren Auflagen herausgegeben. Print ist werthaltig, punktet – wenn gut gemacht – durch Haptik und Optik und hat sogar einen Glaubwürdigkeitsvorsprung gegenüber den ach so flüchtigen und oberflächlichen digitalen Formaten. Das trifft neuerdings für die nicht mehr überschaubare Anzahl von Hotelbewertungen zu. Fachleute raten dazu, nicht zuletzt angesichts professioneller Fälschungen in Hotelbewertungsportalen, mindestens neun Bewertungen eines Hotels zu suchen und zu lesen, um einigermaßen sicher zu sein. Da ist die Beratung im Reisebüro oder ein Anruf in der Tourist-Information sichtlich seriöser und zeitsparender. Auch das Reisebüro wurde schon oft für tot erklärt.
LIST DER DIALEKTIK Und eines ist gewiss. Sollte es jemals so weit kommen, dass es keine Magazine mehr gibt, die auf Papier gedruckt sind, dann wird das auf Papier gedruckte Magazin eine Marktlücke sein. In diesem Sinne freuen wir uns auf die Herausforderungen der nächsten 30 Jahre l Verweise 1) Wenn nicht anders vermerkt, alle Zitate aus: Frank Schirrmacher, Zukunft des Journalismus. Das heilige Versprechen, aus Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25. November 2012 2) Natasha Singer, Reporterin der „New York Times“, zitiert nach Frank Schirrmacher, ebenda
Denk anders! 27 Eigen.Sinn
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DER SCHWEIZ
ZULIEBE
„DIE BANKEN SOLLEN MITBEZAHLEN“ Mit Walter Wittmann im Gespräch
Die Schweizer Banken haben jahrzehntelang von deutschen Kunden mit unversteuertem Vermögen profitiert. Jetzt wollen die Banken diese Kunden loswerden. Das findet Walter Wittmann nicht in Ordnung. Die Banken sollen mitzahlen. Der ehemalige Wirtschaftsprofessor Walter Wittmann gilt als unerschrockener Kritiker von Finanzindustrie und überholten politischen Strukturen – vor allem auch in der Schweiz.
Interview: Christian Huggenberg
"Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat" Walter Wittmann ist emeritierter Wirtschaftsprofessor der Universität Freiburg/Schweiz und erfolgreicher Lehr- und Sachbuchautor. In seinem neuen Buch "Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat" (orell füssli/März 2013) kritisiert Prof. Dr. Walter Wittmann den Finanzsektor, der seit der Lehman-Pleite für ihn nichts dazugelernt hat. "Das Hauptproblem ist, dass keine Regulierungen stattgefunden haben", so Wittmann. "Wenn diese fehlen, können sie ja weiterhin machen, was sie wollen."
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Mit einer Flut von Sachbüchern schreiben Sie seit Jahren gegen Schweizer Eigenheiten an. Zum Beispiel die direkte Demokratie, den helvetischen Föderalismus oder das Schweizer Bankgeheimnis. Macht Ihnen diese Rolle Spaß? Walter Wittmann: Was heißt Spaß? Wenn ich Dinge lese, die ich für falsch halte und ich über genügend Zahlen und Fakten verfügen, die etwas anderes zeigen, dann schreibe ich darüber. Der Mehrheit gefällt es in der Regel nicht, was ich schreibe. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, die „Neue Zürcher Zeitung“ hat mein neustes Buch nicht einmal rezensiert. Früher war das anders. Was hat sich geändert? Walter Wittmann: Ich nehme an, dass es denen nicht passt, was ich über die Exzesse der Finanzindustrie geschrieben habe. Ich stelle nämlich fest, dass sich gegen Bankenreformen vor allem diejenigen Medien stellen, in denen es vor Inseraten der Finanzindustrie nur so wimmelt.
Immer wieder kritisieren Sie die Schweiz. Finden Sie, in der EU ist es besser? Walter Wittmann: Ich bin pro-EU. Damit bin ich für viele Schweizer sicher ein Landesverräter. Aber das macht mir nichts aus. Marode Staatsfinanzen und Euro-Krise. Inzwischen gibt es aus Schweizer Sicht wohl genügend Argumente, die dagegen sprechen, sich der EU weiter anzunähern. Walter Wittmann: Natürlich hat die EU Probleme. Aber vieles, was man sich einredet, stimmt so nicht. Zum Beispiel spricht man von der Euro-Krise, was so nicht richtig ist. Wenn schon, dann sollte man von der Schuldenkrise sprechen. Der Euro hat keine Krise. Das Problem sind die Schulden einzelner Länder. Gemäß Maastricht-Vertrag dürfte kein Land zur Tilgung der Schulden eines anderen einspringen. Um diesen Punkt umgehen zu können, spricht man von der Euro-Krise. Tatsächlich ist der Euro gegenüber dem Dollar eine starke Währung.
Der Druck von außen auf die Schweiz hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Zudem agiert das Land oft ziemlich ungeschickt im Umgang mit dem Ausland. Sind Sie als EU-Befürworter der Ansicht, das Schweizer Modell ist am Ende? Walter Wittmann: Ja, das Schweizer Modell ist weitgehend am Ende. Das Bankgeheimnis ist jetzt am Ende. Das habe ich schon in den 80er Jahren geschrieben. Aber es kann ja nicht sein, dass einer im Nachhinein Recht hatte. Es ist ja immer die Mehrheit der Versager, die dafür sorgen, dass sie Recht behalten.
Nennen Sie mir ein Beispiel, an dem Sie festmachen, dass das Modell Schweiz ans Ende kommt. Walter Wittmann: Nehmen wir den Föderalismus. Eine unsägliche Angelegenheit. Da gibt es Kantone mit 35.000 Einwohnern, die sich benehmen wie selbstständige Staaten in der globalisierten Welt. Die kleinen Kantone bestimmen durch die Regelung des Ständemehrs, was in der Schweiz läuft. Der Grundsatz, dass jede Person eine Stimme hat, wird dadurch aufgehoben. Im Ständerat hat jeder Kanton gleichviel Gewicht. Der Kanton Glarus oder die beiden Appenzell haben genau so viele Ständeräte wie der Kanton Zürich. Das ist undemokratisch. Auch ist das System Schweiz völlig ineffizient. Stellen sie sich vor, in 26 Kantonen herrschen überall andere Gesetze, gibt es selbstständige Regierungen und Behörden. Das kostet enorm viel Geld und ist ineffizient. Und wenn es tatsächlich mal drauf ankommt, dann wendet die Regierung in Bern sogenanntes Notrecht an. Das ist doch der Beweis, dass das System nicht funktioniert.
. „Das Schweizer Modell ist weitgehend am Ende
Das Bankgeheimnis ist jetzt am Ende.“
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Die Schweiz hat es besser. Die Staatsverschuldung ist vergleichsweise niedrig. Walter Wittmann: Da liegen sie völlig falsch. Wenn wir die Hypothekarschulden der Schweizer mitberücksichtigen, dann gehören die Schweizer Konsumenten mit zu den höchst verschuldeten Personen in der Welt. Man sollte also bei der Beurteilung einer Volkswirtschaft nicht nur die Staatsverschuldung anschauen. Übrigens: Die geringe Staatsverschuldung rührt daher, dass man seit Jahrzehnten die Infrastruktur vernachlässigt.
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Die föderalen Strukturen sind also schuld am Versagen. Walter Wittmann: Ja. Und sehen Sie, wie das funktioniert: In den 90er Jahren etwa bei der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum EWR war das Ständemehr nach Auszählung von 15 Prozent der Stimmen schon da. Die Vorlage war gescheitert. Hat der Kleinstaat Schweiz überhaupt noch eine Zukunft? Walter Wittmann: Ja, dank den Managern aus aller Welt, die mittlerweile eigentlich so ziemlich alle großen Unternehmen in der Schweiz anführen. Wir können froh sein, dass die Manager überhaupt noch kommen. Oder die guten Ärzte und das Pflegepersonal vor allem aus Deutschland, die heute in unseren Krankenhäusern arbeiten. Wir können froh sein, dass die da sind, sonst würde unser Gesundheitssystem zusammenbrechen. Zukunft ja oder nein? Walter Wittmann: Die Wachstumsschwäche wird sich fortsetzen. Doch immerhin haben wir jetzt das Glück, dass das Bankgeheimnis am Ende ist. Das Schwarzgeld fließt ab und neues Schwarzgeld wird nicht mehr kommen. Das schwächt den Franken und hilft der Exportwirtschaft. Finden Sie es in Ordnung, dass die Schweizer Banken ihren langjährigen Kunden aus Deutschland jetzt einen Brief schreiben, dass diese doch bitte ihr Konto bis Ende des Jahres auflösen?
Walter Wittmann: Nein. Natürlich nicht. Das ist wirklich unrühmlich. Über Jahrzehnte verkaufte sich die Schweiz als sicherer Hafen. Jetzt fordern die Banken ihre Kunden auf, bis Ende des Jahres ihre Konten beim deutschen Fiskus anzugeben. Andernfalls würden die Konten geschlossen. Das geht doch nicht. So kann man die Leute doch nicht im Stich lassen. Auf der einen Seite begrüßen sie die Auflösung des Bankgeheimnisses. Andererseits klagen Sie die Banken an, welche ihre Kunden im Stich lassen. Ihre Argumentation klingt widersprüchlich. Walter Wittmann: Auch wenn ich für den automatischen Informationsaustausch bin. So heißt dies noch lange nicht, dass ich dafür bin, langjährige Kunden im Stich zu lassen. Hier geht es doch nur darum, dass sich die Banken selber retten. Den Kunden lassen sie im Regen stehen. Das finde ich nicht in Ordnung. Was schlagen Sie vor? Walter Wittmann: Es soll das geschehen, was in den Abkommen steht und in den Verträgen mit den USA oder auch Deutschland steht. Die Vereinbarung mit den USA (Fatca) sieht Bußen vor. Das wird der Schweiz auch mit Europa blühen. Eine Möglichkeit wäre, dass die Schweizer Banken bei den deutschen Kunden wenigsten die Nachsteuer oder die Buße übernimmt. Das wäre fair, nachdem man Jahrzehntelang profitiert hatte. Aber das wollen die Banken natürlich nicht. Die wollen Gewinne machen.
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Ja, aber im Vergleich alleine schon zu Deutschland sieht es in der Schweiz doch gar nicht so schlecht aus. Hartz IV und ein Rentensystem, das auch für Beitragszahler bis weit in die Mittelklasse zukünftig nicht viel übrig lässt. Das ist doch ziemlich beklemmend. Da hat es die Schweiz doch besser. Walter Wittmann: Nein, es sieht nicht gut aus und ich staune immer wieder, wie die Deutschen damit zurechtkommen.
Wird sich an der Beziehung nach den Bundestagswahlen (am 22. September) etwas ändern? Walter Wittmann: Nein. Nicht grundsätzlich. Das Steuerabkommen wurde abgelehnt und eine Neuauflage wird es nicht geben. Stattdessen werden die Deutschen jetzt gemäß der Gleichbegünstigungsklausel dasselbe verlangen wie die USA. Das heißt, was man dem einen gewährt, muss man auch allen anderen gewähren.
Was wäre denn ein gutes Vorbild für die Schweiz? Walter Wittmann: Ein Vorbild gibt es so nicht. Die soziale Absicherung in der Schweiz nach dem Drei-Säulen-Prinzip ist wirklich gut gemacht. Und auch das Gesundheitswesen ist wie bereits gesagt, außerordentlich gut.
Sie lassen nicht viel Positives übrig an den Eidgenossen. Gibt es auch etwas, das Ihnen an diesem Land gefällt? Walter Wittmann: Das Gesundheitswesen in der Schweiz ist weltweit einmalig. Da wird wirklich etwas geboten. In Ihrem neuen Buch „Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat“ beschreiben Sie, wie das internationale System immer mehr in die Dauerkrise abrutscht. Da sieht die Schweiz doch eigentlich noch ganz gut aus. Walter Wittmann: Auch die Schweiz ist abgerutscht.
dies doch eigentlich
Also Deutschland ist auch nicht unbedingt der Idealtyp. Walter Wittmann: Nein. Eigentlich nicht.
Also gibt es kein Land, das es besser macht? Walter Wittmann: Eigentlich nicht. Und schauen Sie sich die USA an, die immer sagen, wie toll sie sind. Ich weiß aber nicht, was toll ist an einem Land, wo die Leute drei Jobs brauchen, um über die Runden zu kommen. Und eine Krankenversicherung gibt es erst noch nicht. Folglich könnte man sagen, die Schweiz ist zwar nicht perfekt, doch ziemlich gut im Vergleich zu anderen. Walter Wittmann: Ja, das kann man so sagen. Wenn ich trotzdem kritisiere, dann ist dies doch eigentlich positiv. Dafür sollte man mich nicht diskriminieren.
positiv.“
33 Eigen.Sinn
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutschland generell? Walter Wittmann: Den Schweizern sollte bewusst sein, dass Deutschland noch immer mit großem Abstand der wichtigste Markt ist. Ansonsten kann man feststellen, dass der Deutschschweizer den Deutschen nicht sonderlich mag. Das wird erst recht sichtbar, nachdem Deutsche zum Arbeiten in die Schweiz geholt wurden und sich jetzt herausstellt, dass diese tüchtiger sind wie die Schweizer. Noch schlimmer ist es, wenn der Deutsche ein Vorgesetzter ist. Das passt den kleinkarierten Deutschschweizern gar nicht.
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35 Eigen.Sinn
Auffallen
statt hinfallen
der
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MARKEN
CHECK
W E N N D I E M A R K E N I C H T H Ä LT, W A S S I E V E R S P R I C H T
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Wer nicht echt ist und nicht authentisch agiert, verliert schon im Vorfeld ...
JEAN-CLAUDE PARENT Mitinhaber der GWA Markenagentur Schindler Parent GmbH in Meersburg und Gastdozent am Institut f체r Familienunternehmen der Zeppelin Universit채t Friedrichshafen.
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K O N Z E R N E O D E R M A N A G E M E N T G E F Ü H R T E etwas wie ein Vor-Vertrauen, für das der Kunde in vielen UNT E RNE HMEN betreiben oftmals eine Art Identitäts- Fällen bereit ist, etwas mehr auszugeben als für Produkte, design im Sinne von Marktgefälligkeit. Strategien ändern sich in relativ kurzen Zyklen oder sind abhängig von der Führungsriege, die gerade den Laden führt oder von der Laufzeit des Arbeitsvertrages. Identität und Strategien von familien- oder inhabergeführten Unternehmen dagegen gründen auf dem authentischen Vorleben einer Haltung, auf ganz grundsätzlichen Einstellungen und auf Vorbild – oftmals über Generationen hinweg aufgebaut und überliefert. Auch die Planungshorizonte unterscheiden sich grundlegend von denen der Konzerne. Der ganz wesentliche Unterschied zum Konzern aber ist, dass Familienunternehmen für ihre Versprechen persönlich haftbar gemacht werden können. Claus Hipp ist hierfür ein gutes und bekanntes Beispiel, der mit seinem Namen persönlich für seine Produkte, für die Marke Hipp und deren einwandfreie Qualität einsteht. Während man bei Konzernen oft vergeblich nach jemandem sucht, der das Markenversprechen dann einlöst und dafür gerade steht, wenn etwas schiefgeht.
DIE SE S VE RHALTEN „des sich Drückens vor der Verantwortung“ hat sich nicht nur auf Konzernebenen breit gemacht, es hat große Teile der Finanzwirtschaft, der Politik und damit der breiten Gesellschaft erreicht. Denn mittlerweile wurde hochoffiziell das Risiko von der Haftung getrennt. So werden z. B. Banken (allen voran Landes- und Staatsbanken) für die eingegangenen Risiken und die dadurch entstandenen Verluste, für die deren Mitarbeiter auch noch dicke Boni erhalten haben, nicht mehr direkt zur Verantwortung gezogen. Stattdessen werden Gründe wie Systemrelevanz herangezogen, um diese Verluste zu sozialisieren und am Ende des Tages dem Steuerzahler zu übertragen. Dadurch werden nicht nur Regeln der Marktwirtschaft oder des ehrbaren Kaufmanns ad absurdum geführt – ethische und moralische Grundfesten geraten damit grundsätzlich ins Wanken. Von den volkswirtschaftlichen und soziologischen Folgen, die sich heute überhaupt noch nicht abschätzen lassen, ganz zu schweigen.
FAMILIENUNTERNEHMEN sollten daher bei der Entwicklung einer Marke stets darauf achten, dass sie die Versprechen, die sie dem Markt und den Konsumenten geben, auch einhalten können. Denn eine Marke ist vor dem Kauf zunächst eine Leistungsvermutung, die immer wieder neu eingelöst und bestätigt werden will. Eine Marke genießt so
die ihm weniger bekannt sind. Dieses Vertrauen einer Marke gegenüber ist ein enormes Präferenzkapital, was Wettbewerber, selbst durch viele Werbegelder, oft nicht aufzubauen vermögen.
WIE STELLT MAN SICHER , dass sich die Corporate Identity in einer Marke auch widerspiegelt? Nun, die Grundlage für eine identitätsorientierte Markenführung ist, den eigenen Markenkern (die DNA) zu entdecken und ihre Einzigartigkeit zu identifizieren. Dieses gleicht einer echten Kärrnerarbeit, die sich jedoch lohnt. Denn letztlich bildet der Markenkern die Grundlage für die Formulierung einer Positionierung und eines Markenversprechens. BMW, auch ein Familienunternehmen, ist mit seinem Markenkern „Freude“ und dem Markenversprechen „Freude am Fahren“ ein wunderbares Beispiel dafür, wie ein solcher Markenkern nicht nur als Führungsinstrument im Alltag unternehmensintern funktioniert. Auf der Grundlage dieser formulierten Identität, nichts anderes ist der Markenkern, lässt sich ein markentypisches und adäquates Gestaltverhalten – das so genannte Corporate Design – wunderbar aufsetzen und dieses in kommunikative Codes wie Sprache, Formen, Bilder, Farben, Töne einzigartig übersetzen. Schlussendlich sind dann auch Kunden bereit, für Produkte dieser Marke einen höheren Preis in Kauf zu nehmen, weil ein BMW sein Markenversprechen immer wieder aufs Neue einzulösen scheint. Dabei sind Preisabstände zu vergleichbaren Produkten anderer Automobilmarken von mehr als 30 Prozent keine Seltenheit.
W E N N A B E R M A R K E U N D I D E N T I T Ä T nicht zusammenpassen, ist das wie bei einer Persönlichkeit: die Kleidung passt nicht zu dem Typ, der drin steckt. Das sieht man auf den ersten Blick. Jeder spürt das, ob als Mitarbeiter oder als Konsument. Irgendwann wird das Identitätsdesign entlarvt, wenn etwa Produktversprechen nicht gehalten werden können. Oder wenn dekoratives und gefälliges Design den wahren Charakter einer Firma oder einer Marke übertünchen. Der Wettbewerb ist heute zu hart, die Welt zu transparent, als dass man damit über längere Zeit erfolgreich überleben könnte. Angesichts dessen, dass in den Beschaffungsmärkten das Angebot an qualifizierten Mitarbeitern eng wird, wird ein Unternehmen, das nicht identitätsorientiert geführt wird, erst gar nicht an die Ressourcen gelangen, um marktfähig zu bleiben.
»Die Kleidung muss zum Typ passen, der drin steckt.«
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EIS
WA S H E I S S T D A S ? Wer nicht echt ist und nicht authentisch agiert, verliert schon im Vorfeld den Kampf um qualifizierte Leute, die eine der Grundlagen bilden, um überhaupt exzellente Produkte zu entwickeln, herzustellen und zu vertreiben. Solche Unternehmen werden sich in der Folge auch am Kapitalmarkt schwer tun. Und letztlich werden sie ganz schnell aus dem Markt gemobbt. Auf die Frage „was ist zu tun?“ kann man nur empfehlen, gründlich über die Bücher zu gehen und den Status quo zu analysieren, die Fakten auf den Tisch zu legen und ganz offen die Differenzen zwischen Selbst- und Fremdbild zu identifizieren. Danach geht es an die Arbeit in den Eingeweiden eines Unternehmens oder einer Organisation: die Entdeckung der eigenen DNA. Daraufhin wird alles überprüft: die Produkte und ihre Marktposition, die grundsätzliche Positionierung und das Marktversprechen, das kommunikative Verhalten, das Pricing usw. Mit dem Ergebnis, dass ein Unternehmen völlig neu justiert wird. Womit es in vielen Fällen durch diese Kenntnis an neuer Kraft, Motivation und Stärke gewinnt. Im Sinne von: gute Markenführung ist exzellente Unternehmensführung. Und umgekehrt l Jean-Claude Parent
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Ich denk dann mal
weiter
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NACH DENKEN über Loyalität
WERTVOLL ODER AUGENWISCHEREI? Werte sind zum Thema geworden, sei es als Klage über deren Wandel und Zerfall, sei es als Ruf nach ‘Mehr Wert!’. Nehmen wir an, Loyalität sei einer dieser Werte. Was ihn auszeichnet ist, dass er von nicht allzu vielen im Munde geführt wird, im professionellen Kontext vor allem auf Kundenloyalität reduziert ist, bei dem einen oder anderen Militäraffinen mit dem Geschmack von Gehorsam, mehr oder weniger blind, ausgestattet wird. Loyalität wird im Bauchladen der Werte nachgeordnet gehandelt.1 Allesamt gute Voraussetzungen, um nicht in einen mainstreamigen Jubel zu verfallen: Aber jetzt haben wir ein Allheilmittel gefunden! Im Gegenteil. Loyalität ist ein Gegengift. Gegen welche Vergiftungen? Zunächst einmal gegen zwei, die sich möglicherweise als Ingredientien einer einzigen herausstellen: Gegen die Überforderung durch Werte und den Trend zur Individualisierung von Risiken.
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ÜBER 3 LOYALITÄTEN UND DARÜBER, WAS ES FÜR EINEN WERT HAT, SICH MIT LOYALITÄT ZU BESCHÄFTIGEN.
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BEATE WILLAUER ist Gesellschafterin und geschäftsführende Partnerin des Willauer+Partner Instituts für Führungskultur. Sie begleitet Persönlichkeiten und Organisationen.
Werte bleiben in den meisten Fällen seltsam blutleer, obwohl sie gelegentlich blutige Auseinandersetzungen begründen und entscheiden. Wobei sich hinter der Fassade von Werten immer noch trefflich streiten und kämpfen lässt und Werte zur Durchsetzung wertfremder Interessen missbraucht werden. Die Beispiele sind Legion. Blutleer auch deshalb, weil Werte in Ahnengalerien gehalten und als Zeugen einer vermeintlich besseren Vergangenheit aufgerufen werden. Ich meine, wir sollten die Werte von unseren Wänden abhängen, diese lieber weiß streichen und als Leinwand für ein kollektives Brainstorming nutzen: Was will ich, was willst du, was wollen wir erleben, wie will ich, wie willst du, wie wollen wir handeln? Es werden Generalisierungen, Bilder, Begriffe von Erlebenssehnsüchten und Handlungsvielfalt entstehen. Eben: Werte. Nur wären diese dann mit Vorstellungen aus Verständigung durchblutet und sie hätten etwas zu tun mit Erleben und Handeln. Damit wären sie (arbeits-)lebensnah reflektierbar und würden Stoff liefern für wirkungsrelevante Diskurse. Wobei Handeln und Erleben, Erleben und Handeln in einem zirkulären, multidirektionalen und damit komplexen Verhältnis zu denken sind: Erleben lenkt Handeln, Handeln Erleben und Erleben wirkt auf Erleben wie auch Handeln Handeln einfärbt, jeweils für alter wie für ego, immer unberechenbar.
DIE ZWEITE VERGIFTUNG bezieht sich auf eine gesellschaftliche Praxis, die seit dem 18. Jahrhundert unvermindert anhält, nämlich den Transfer von Lebens- und Arbeitsrisiken auf die Individuen und die Erzeugung von Risiken vielgestaltiger Art mit vielgestaltigen Absichten. Eine Folge dieser Praxis ist, dass Loyalitäten dadurch gemindert, wenn nicht verhindert werden. Die Phänomene sind Legion, die im einzelnen einer sorgfältigen Einordnung bedürfen. Die weiße Leinwand ist nun zwar eine weiße und das, was darauf (nicht) geschrieben, (nicht) gemalt, (nicht) geklebt, (nicht) geworfen, (nicht) geschmiert, (nicht) wieder ausgelöscht wird, ist als Ausdruck eines Hier-und-Heutigen alles andere als unbeschrieben, vielmehr durchzogen mit Intarsien von Vergangenem, kenntlichen und unkenntlichen Ablagerungen. Das, was auf dieser Leinwand landen wird, braucht unsere gesamte Ausdruckskraft. Werte, sofern sie Ausdruck von Erlebnissehnsüchten und Handlungsvielfalt sind, ergreifen uns geradezu: Dieses ‘Ergriffen-Sein’, wie Hans Joas2 sagt, zeigt sich in einem ‘intensiven Gefühl äußersten ‘Bei-sich-Sein’’, einem ‘Gefühl, ganz besonders mit (...)
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DIE ERSTE VERGIFTUNG IST RASCH ERKLÄRT:
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(sich) identisch zu sein’. Werte sind, so weit sehen wir an dieser Stelle, ‘hochgradig emotional besetzt’ und emotional fundiert, tief verwoben mit existentiellen Fragen. Mir gefällt dieses Wort vom ‘Ergriffen sein’, weil es sich einer rationalistischen Vereinnahmung und deutungshoheitlichen Ansprüchen entzieht. Loyalität auf diesen Hintergrundfolien betrachtet scheint mir das Potenzial zu haben, ein zentraler Wert in unseren professionellen Umfeldern zu werden. Warum?
I C H D E F I N I E R E L O YA L I T Ä T I N D R E I E R L E I HINSICHT als Loyalität zum Selbst, als Loyalität zum Gegenüber, als Loyalität dem Werk gegenüber. Meine These ist: Wenn wir in unseren professionellen Kontexten, in Organisation und Netzwerken, diese dreifache Loyalität pflegen, wird dies Auswirkungen auf die Qualität der Produkte, der Dienstleistungen, der Leistungen und Zukunftsentwürfe, auf die Qualität der Interaktionen zwischen Peers sowie in hierarchischen Konstellationen und auf die Qualität des Selbstbezugs, der Selbstkompetenz haben. Oder nochmals anders: Wenn wir in professionelle Loyalitäten investieren, gewinnen wir Sicherheit und wir werden einen Klimawandel erleben, der allen überraschend gut tun wird. Nicht zuletzt wird dies auch auf der Kostenseite sichtbar, Kosten als Aufwände, als energetische Investitionen aller Art verstanden. Ich bemühe Josiah Royce3 und sein spätes Werk ‘Philosophy of Loyalty’, eines der wenigen Werke, das sich explizit mit Loyalität beschäftigt: Eine Ausgrabung aus einer ungefähr 100 Jahre alten Sedimentschicht, heute auf die Leinwand geworfen. Loyalität im Royce’schen Sinn auf den Punkt gebracht: Kenne deine Motive, Ziele und Aufgaben, bekenne dich dazu, schließe dich einer Gemeinschaft an und arbeite
mit anderen Menschen an diesen Zielen. Die authentische Loyalität – was treibt mich an, was zieht mich an, wann bin ich ‘ganz bei mir’ – hat ihr Pendant in der ‘genuine community’, einer authentischen Gemeinschaft: ‘Mein Leben meint nichts, weder theoretisch noch praktisch, wenn ich mich nicht als Mitglied einer Gemeinschaft begreife.’ Loyalität heißt Selbst-Treue und Gemeinschaft, das Eigene als Gemeinsames, Gemeinsames als Eigenes bearbeiten. Die ‘genuine community’, wie sie Royce versteht, geht über die Ziele von einzelnen Menschen und einzelnen Gruppen hinaus. Mit heutigem Vokabular versehen, würde sich Royce vielleicht so anhören: Wir müssen bei unseren Communities darauf achten, dass sie ein großes Ganzes im Blick haben, auf die Eigenarten von Personen und Gemeinsamkeiten achtend Zugehörigkeit ermöglichen. Die Vagheit ist gewollt. Denn die Arbeit beginnt jetzt. Dies, in der schönen Sprache von Royce, als ‘practical devotion’.
SO SCHÖN, SO NOSTALGISCH? Weit gefehlt. Theorieinteressierte finden Anschlüsse an die wissenschaftlichen Diskurse der Zwischenzeit. Philosophisch vorweggenommen wird die neurobiologische Forschung, die - was Weisheitstraditionen quer über den Globus bereits wissen - die Trennung von Individuum und Gemeinschaft, von Individualität und Sozialität aufhebt. Die Adresse, so stellvertretend der Neurochirurg Detlef B. Linke, unter der das Ich auffindbar ist, scheint nicht so leicht identifizierbar: ‘Wir können uns der Sozialität gar nicht entziehen.’4 Die Zugehörigkeitsdimension zeigt sich als ein grundlegender strukturierender Prozess, innerhalb dessen all das stattfindet, was Einzelne für ihr Eigenes halten. Eine dritte Vergiftung wird an dieser Stelle sichtbar und könnte sich angesichts dieser Betrachtung vom Zwang zur DiskursNotwendigkeit wenden: Der Originalitätszwang, unter dem
1) Dies ist u.a. aufgearbeitet in Ulf Bernd Kassebaum (2004), Interpersonelles Vertrauen. Entwicklung eines Inventars zur Erfassung spezifischer Aspekte des Konstrukts. 2) Ich beziehe mich auf und zitiere aus Hans Joas (1999), Die Entstehung der Werte sowie Hans Joas (Vortrag 2006), Wie entstehen Werte? 3) Josiah Royce (1908), The Philosophy of Loyalty. 4) Detlef B. Linke (2004), Die Zeiten des Gehirns. Hörbuch.
Wenn man Loyalität als heute noch unentdeckte und vernachlässigte Schönheit sehen möchte, wäre die Suche nach Bedingungen sinnvoll, die ein Klima von Loyalität erlauben, Loyalität individuell, sozial, praktisch-faktisch in einer und für eine ‘genuine community’.
DREI HINWEISE DAZU: Loyalität funktioniert nur als Prinzip der Gegenseitigkeit, quer zu Hierarchien und Gewohnheitsrechten. Kontakt, gegenseitige Bezugnahme, Pflege von qualitativ hochwertigen Beziehungen, gemeinsame Sinnproduktion, gemeinsames Wirken ist Voraussetzung für eine ‘genuine community’.
UND DIE SACHE MIT DER FÜHRUNG? Führungspersonen sollten sich als CLO, als Chief Loyalty Officer begreifen, Hüterinnen und Hüter der genuine communities, der practical devotion, die ihr eigenes Ergriffensein offenlegen. Und mit Hans Joas: Wir brauchen die Zeugen, die für ihre Überzeugungen einstehen. Und damit hätten wir zu guter Letzt auch noch eine theologische oder besser, eine spirituelle Dimension an Bord. Wovon ich ergriffen bin, überfordert mich nicht, im Gegenteil. Wovon wir ergriffen sind, mindert Risiken. Und Originalität, Zukunftsschau stellt sich ein, weil Ergriffene eine Zukunft wollen. Wie lässt sich Loyalität entwickeln? Zufall, Absicht, Wertlos oder aus Ergriffenheit? Unsere Einladung: Gestalten wir den Loyalitäts-Raum als ‘practical devotion’, schreiten wir ihn ab, vermessen ihn und erhöhen so den Wirkungsgrad von Organisationen.
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Personen stehen, der Innovationszwang, dem sich Organisationen unterwerfen. Auch hier: Die Arbeit beginnt jetzt mit der bescheidenen Frage: Was bedeutet neu für mich, für uns und was ist neu an meinem und unserem Neuen? Schärfer formuliert kann man sich mit Royce einem Diskurs nähern, der grob skizziert unter dem Stichwort ‘Dezentrierung des Subjekts’ geführt wird. Kurz und einfach geht es darum, dem fundamentalen und existentiellen Angewiesensein des einzelnen Menschen auf andere Rechnung zu tragen und die Alleinstellung des Einzelnen zu relativieren. Positive und negative Heldenverehrungen - jemand ist der Retter, jemand ist der Schuldige, wenn wir den kriegen, wird alles gut, wenn der weg ist, wird alles wieder gut - sind damit obsolet. Und wofür sollten Organisationen aufhören Saläre zu bezahlen? Für die, die sich als Helden anbieten. Damit beginnt die Arbeit erst, die der Führungskräfte, derer, die sich einmischen, in der Auseinandersetzung mit Fragen wie: Wie sollen Leistungen, die Einzelnen zuschreibbar scheinen, gleichzeitig auf bewusst-unbewussten Böden Frucht getragen haben und sich im Bezug zu anderen und anderem entfalten konnten, wie sollen diese Leistungen belohnt werden, sollen ‘Erfinder’ belohnt werden? Belohnung auch verstanden als Bedienung der neuronalen Belohnungssysteme. Wie sollen individuelle Fähigkeiten und Eigenschaften in Differenz zu anderen zwar differenziert, aber nicht in einen Kanon von Aufwertung und Abwertung eingehen? Wenn man der Frage nachgeht, wodurch ein System Erfolge, Fehler, Fortschritte und Katastrophen ermöglicht, kommt die gleich hinterher, wie denn ein System zu instruieren sei, ohne dass man auf die Elemente dieses Systems direkt durchgreift? Die Fragen haben kein Ende. Als methodische Haltung hilft es, sich auf die drei Loyalitäten als Spiel der Differenzen zu besinnen, um die Komplexität der Fragen und der Antworten als never ending work in progress im Auge zu behalten.
48 Eigen.Sinn
BEMERKENS WERT ÜBE R DEN UNTERSCHIED, DER DEN UNTERSCHIED AUSMACHT.
ormen und ihre Einhaltung sind uns wohl vertraut und lieb. Sie spielen sowohl im alltäglichen Leben als auch in der Welt des Business eine wichtige Rolle. Sie gewähren den reibungslosen Ablauf von Prozessen und machen damit das Leben leichter. Normbrüche dagegen können ärgerlich sein - wer jemals auf einer Reise in die USA den Adapter für das Notebook vergessen hat, weiß nur zu gut, wovon hier die Rede ist. Auf der anderen Seite stehen uns die Normen im Weg, wenn es darum geht, neue Kontakte zu knüpfen, zu kommunizieren und Beziehungen aufzubauen oder zu pflegen - „Normal sein“ kann in diesem Fall ebenfalls zum Problem werden. Hier heißt es auffallen, die Regeln überschreiten, damit uns die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die wir im Sinn haben. Denn wer sich zu sehr auf die Regeln eines Spiels konzentriert, nimmt kaum wahr,
N
wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignet, wie Daniel Simon und Christopher Chabris in einem berühmt gewordenen Experiment nachgewiesen haben. Die Aufgabe für den Betrachter lautete, fünf Basketballspielern zuzuschauen und die Anzahl der geworfenen Pässe zu zählen. Je ernsthafter dieses Ziel verfolgt wird, desto weniger nimmt der Betrachter wahr, dass sich ein als Gorilla verkleideter Mitspieler unter die Basketballer mischt. Das außergewöhnliche Ereignis, das den Unterschied zu einem herkömmlichen Spiel ausmacht, wird vom Gehirn aus Gründen der Effizienz ausgeblendet. Der eigentlich offensichtliche Normbruch - Gorillas spielen nicht Basketball - wird nur gesehen, wenn die Testnorm (Würfe zählen) gebrochen wird. Die Anzahl der Pässe wird dabei zwar nicht mehr korrekt erfasst. Dafür wird der Zuschauer mit einer neuen „Erkenntnis“ belohnt.
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Ohne Norm keine Abweichung, also auch kein Unterschied. Um aus der Fülle an Angeboten – gleichgültig, ob es sich um Waren, Dienstleistungen oder auch Informationen handelt – herauszuragen, bedarf es einer besonderen Kommunikation oder Handlung: Sie muss den kleinen Unterschied ausmachen, der sie von den anderen unterscheidet. Dabei darf diesem einmaligen Effekt allerdings nicht die Integrität geopfert werden.
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Eine Lehre aus dem Experiment lautet aber auch: Es gehört Mut dazu, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen, und zwar sowohl für den Betrachter als auch für die Spieler. Übertragen auf die Welt der Kommunikation bedeutet das, für einen starken Auftritt bereits geschaffener Markenwerte zu sorgen, damit bestehende Kundenbeziehungen gewahren, bestätigt und verstärkt werden, und erst recht, wenn neue Kunden angesprochen und gewonnen werden sollen. Marketing und Markenpflege müssen sich etwas zutrauen und nicht zuletzt auch die Arbeitgebermarke.
DOCH WIE MACHT MAN DAS? Ein bisschen Nabelschau lässt sich hier nicht vermeiden. In einem ersten Schritt heißt es, die Werte zu klären, für die eine Marke einsteht. Das sagt sich leichter, als es getan ist. In Workshops ist immer wieder zu erleben, dass in der Geschäftsleitung jeder das Bild einer Marke mit unterschiedlichen Charakterzügen zeichnet, wobei kleinere Abweichungen nicht von Bedeutung sind. Die Tücke liegt oft im Markenbild selbst, wie etwa der Markenwert „Genuss“ veranschaulichen kann. „Reiner Genuss“ trifft hier auf „Genuss mit Verantwortung“, und schon sind Missverständnisse vorprogrammiert. Im letzteren Fall genügt es nämlich nicht, Kaviar als Bild zu wählen, so lange die Fischeier nicht, was leider die Norm ist, in Russland unter umweltverträglichen und artgerechten Bedingungen gewonnen werden. Die Umsetzung des Markenwerts will also wohl gewählt sein. Dem folgt in einem zweiten Schritt die Evaluation des Marktes, sprich der Zielgruppen und Branchentrends, die sich wiederum kontinuierlich in Bewegung befinden, und das in einem immer schneller werdenden Rhythmus. Im ständigen Meereswogen des Marktes
muss die eigene Marke Orientierung bieten, schließlich ist genau das ihre Aufgabe. Sie fungiert quasi als Bezugspunkt für die Kunden, die sich ihrerseits dadurch eine Position innerhalb des Marktsystems einrichten. Die Marke hilft ihnen dabei – und zwar als Norm. Doch was, wenn sie nicht gesehen wird, etwa, weil sie zu unauffällig geworden oder zur unbeweglichen Norm erstarrt ist, die kein Überraschungspotenzial mehr bietet? Um ihre Funktion als Bezugspunkt innerhalb des Marktgeschehens auf Dauer tatsächlich erfüllen zu können, muss sich eine Marke regelmäßig für einen kalkulierten Normbruch entscheiden – mit knallgelben Socken getragen, gewinnt ein klassischer Businessanzug an Format, an Aufmerksamkeit, an Gewicht. Marken funktionieren nach demselben Muster. Wobei natürlich nicht immer gesagt ist, dass ein möglichst schriller Normbruch immer die beste Wahl ist, speziell im B2B Bereich.Hier genügt es oft, auf den (kleinen) Unterschied zur Konkurrenz hinzuweisen, etwa auf eine technische Innovation, die den (großen) Unterschied ausmacht. Die Differenz muss für den Kunden jedoch klar sichtbar gemacht werden, und genau an dieser Stelle kommt der Gorilla wieder ins Spiel. In der Kommunikation mit dem Kunden darf sich die Marke nicht den Fehler erlauben, die Aufmerksamkeit allein auf die bereits bestehenden Spielregeln zu lenken. Sie muss den Kunden auch zum Normbruch animieren, zur Änderung seiner Position. Der Gorilla fällt ins Auge, wenn innerhalb der gewohnten Spielregeln die Verletzung der Norm als Sprungbrett genutzt werden kann, das Neue zu erkennen – im besten Fall sogar als Bereicherung des Spiels selbst. Eine Marke, die sich in dieser Weise als Normbruch inszeniert, darf sich mitunter sogar auf die Fahne schreiben, die Spielregeln neu definiert zu haben – was nichts anderes bedeutet als Marktführer zu sein.
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SCHNÖDE PAPPKARTONS – NICHT MIT IGGESUND! Ein kleines Beispiel mag das Gesagte kurz illustrieren. Für den schwedische Weltmarktführer Iggesund haben wir darauf verzichtet, als Kommunikationsstrategie ein weiteres Look Book für den Kartons Invercote herzustellen. Stattdessen wurden Designer und Künstler aus aller Welt damit beauftragt, ihre Visionen umzusetzen, die deutlich machen sollten, welches Potenzial in einem schnöden Karton steckt. Als Rahmen wurde eine schwarze Box gewählt, innerhalb dieser gezeigt wurde, was sich aus und mit Karton alles machen lässt. Präsentationsorte der Box waren acht Städte, verteilt um den ganzen Globus von New York über Hamburg und Mailand bis nach Moskau. Die Ausstellungen, die zur Präsentation der jeweiligen neuen Box veranstaltet wurden, haben mittlerweile Kultstatus erreicht. Der Normbruch, also der Verzicht auf ein weiteres Look Book, hat die Marktführerposition von Iggesund nachhaltig gestärkt und gleichzeitig eine neue Spielregel der Produktpräsentation erfunden - und damit auch des Kartons selbst. Ann Seger, Michael Meier
„Der Gorilla fällt ins Auge, wenn innerhalb der gewohnten Spielregeln die Verletzung der Norm als Sprungbrett genutzt werden kann, das Neue zu erkennen ...“
KONTAKT: Ann Seger Geschäftsleitung / Beratung Ann.seger@schindlerparent.de Tel. +49 7532 4301-138 www.schindlerparent.de
Das Gorilla-Experiment gibt es übrigens zum Nachspielen als Video auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo.
DIE VOGELPERSPEKTIVE IN DER KUNST 11.10.2013 1 1.10.201 13 – 1 12.01.2014 2.01.201 0 4
INSTALLATIONSANSICHT: REMOTEWORDS 2013
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DIE WELT VON OBEN
53 Eigen.Sinn
&
VIELFALT EINZIGARTIGKEIT
EINE TOURISMUSGETRIEBENE BETRACHTUNG DER KULTUR- UND KUNSTLANDSCHAFT AM BODENSEE
Der Tourismus am Bodensee ist ein Wachstumsmarkt. Selbst zu Zeiten, da andere Urlaubs-
regionen Deutschlands stagnieren, kann der Bodenseetourismus zulegen. Seine Abhängigkeit vom deutschsprachigen Markt ist offensichtlich, denn der An-
teil der ausländischen Gäste (ohne Österreich und Schweiz) beträgt nur 11 % – eine Umstandskonstante, die sich auch als Potential für die Zukunft und nicht als Schwäche beurteilen lässt. Mit dem Zuwachs steigen auch jährlich die Vielfalt der Attraktionen und damit das Angebot für die Besucher.
Keine Saison vergeht, in der nicht neue Erlebnisparks, Museen und Ausstellungshäuser eröffnet werden. Auch die vorhandenen Attraktionen investieren und entwickeln sich zu Ganzjahres- und vor allem zu Allwetteranbietern. Es gibt großartige Highlights in allen vier Ländern um den See: Die Festspiele in Bregenz, die Insel Mainau, das Weltkulturerbe in St. Gallen, das der Reichenau und der Pfahlbauten – und nicht zu vergessen: die Schifffahrt mit ihren zahlreichen Ausflugsmöglichkeiten. Kultur- und Technikinteressierte kommen also am Bodensee ebenso auf ihre Kosten wie Blumenfreunde, Badegäste, Wanderer und Fahrradfahrer. Also alles prima?
Da der Erfolg immer recht hat, darf man die Frage ruhig mit Ja beantworten. Andererseits: die Angebotsvielfalt birgt nicht nur viele Chancen für den Tourismus am See; sie ist gleichzeitig auch Ursache für Mittelmaß und unterbleibende Profilierung, auch wenn dies gewiss nicht für alle Angebotssparten gleichermaßen gilt. Nicht jeder Freizeitpark muss die Größe von Rust haben, um erfolgreich so viele Besucher anziehen zu können, dass sein Geschäftsmodell aufgeht; schiere Größe kann auch abschrecken. Bei Museen und Ausstellungsinstitutionen verhält sich die Sache ein wenig anders, zumal, wenn sie sich die Bildende Kunst auf die Fahne geschrieben haben. Fast jede Stadt am See hat inzwischen ihr Museum und veranstaltet Kunstausstellungen – ein Zug eher zur Breite als zur Stärke. Die IBK, der Zusammenschluss der um den Bodensee liegenden Länder und Kantone Deutschlands, der Schweiz, Österreichs und Liechtensteins, könnte auf diese Entwicklung beratend und regulierend Einfluss nehmen; sie sieht ihre Aufgabe jedoch eher in der Überwindung der Grenzen und der Erhaltung von Kunst und Kultur, so dass sie mehr in die Breite als in die Spitze arbeitet und
versucht, die Teilhabe aller an Kulturereignissen zu ermöglichen. Eine Folge davon ist aber, dass die Fülle der Aktivitäten so groß wird, dass diese leicht unter die Wahrnehmungsschwelle fallen und meist nur auf die nähere Umgebung ausstrahlen. Kaum ein Haus wirkt mit seinen Veranstaltungen über den eigenen Standort hinaus. Genauso geht es den – ohnehin wenigen – privaten Galerien und auch den hier ansässigen Künstlerateliers. Würde man eine Umfrage bei den Kunstinteressierten Deutschlands machen, so würde die Bodenseeregion sicher nicht als bedeutende Kunstlandschaft bewertet werden – trotz ihrer herausragenden Ausnahmen: das KUB in Bregenz hat einen exzellenten nationalen und internationalen Ruf und genießt Bekanntheit – nur, kaum einer besucht es. Ganz ähnlich ergeht es den Museen in Winterthur, St. Gallen und Vaduz. Der deutsche Bodensee hat schon überhaupt kein vergleichbar international oder auch nur national bekanntes Haus zu bieten – mit Ausnahme des Zeppelin Museums in Friedrichshafen, das aber kein reines Kunstmuseum ist, sondern seinen Schwerpunkt auf die Verbindung von Technik und Kunst legt und dadurch seinen
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Katrin Wegemann, ATMEN, 2010. Galerie artplosiv, Freiburg. Foto: Annette Jonak. © Katrin Wegemann
LUFTKUNST 4.2. – 1.5.2011
Seestraße 22 · 88045 Friedrichshafen · Telefon: +49 / 75 41 / 38 01- 0 · www.zeppelin-museum.de Öffnungszeiten: Di – So von 10:00 – 17:00 Uhr
Gewiss, die Museen leisten ihren Beitrag für die touristische Gesamtperformance und helfen, den Gästen den Aufenthalt vielfältig und abwechslungsreich zu machen. Gemeinsames Werbemotiv ist dabei die Bildung, die Museen und Tourismus verbindet. Als zentrale Aufgabe der Museen markiert das Bildungserlebnis gleichzeitig den Punkt, an dem Tourismus einmal seinen Anfang nahm: Reisen galt als Bildungsinstrument seit der Renaissance – und „Reisen bildet“ gilt bis heute. Museen verrichten hierbei wichtige Aufgaben und haben sich dazu über die Jahrzehnte stetig gewandelt. Der alte Typ von Museen wurde im Wesentlichen repräsentiert von Institutionen aus der Tradition der fürstlichen Residenzen und aus den Museen, die sich die großen Bürgerstädte zulegen konnten. Vom neuen Museumstyp geht die Zahl in die Tausende; als Träger traten neben die öffentlichen Körperschaften Vereine, Stiftungen oder auch Privatleute. In die Museen neuer Konzeption strömten mehr und mehr Menschen – gern wird der Vergleich mit den Fußballstadien bemüht, die sie quantitativ weit hinter sich lassen. Dieser Entwicklung sah die Politik aufmerksam zu und förderte aus ökonomischen Gründen besonders solche Museen, die große Besucherzahlen vorweisen konnten. Das waren neben den Technikmuseen die Kunstmuseen. Der Kunstboom der letzten 40 Jahre brachte fast jeder Stadt über 20.000 Einwohnern ein eigenes Museum oder Ausstellungshaus, auch wenn einige inzwischen wieder geschlossen sind. Diese Entwicklung sehen wir auch am Bodensee, wo aus demselben Grund eine vielfältige Museums- und Ausstellungslandschaft aufblühte. Eine Frage, die mich seit 2008 beschäftigt, ist, wie man diesen reichen, aber kleingemusterten Teppich zu einer wirklichen Stärke ausbauen kann; wie sich erreichen lässt, über die Vielfalt des Angebots hinaus ein nationales, wenn nicht gar internationales Profil in der Kunstwelt für die Bodenseeregion aufzubauen. Denn Bildende Kunst ist wie wenig anderes geeignet, die Bodenseeregion an der Spitze zu verorten. In der Schweiz sind die Museen als Angebotsform von Kunst und Kultur innerhalb des Tourismus gut untersucht. Es wird klar gesehen, dass die 1000 Museen der Schweiz 1. einen Beitrag zur kulturellen Vielfalt des Landes leisten, 2. das Interesse bildungswilliger Einheimischer genießen und 3. eine motivsetzende Attraktion für Reisende darstellen. In Basel entfallen 93%
des Kulturtourismus auf den Museumstourismus, in Bern sind es 81%. Und auch in Deutschland nahm der Kulturtourismus deutlich zu. Insofern ist es folgerichtig, dass auch viele Tourismusverantwortliche am Bodensee auf den Faktor Kunst und Kultur setzen. Dies umso mehr, als uns ein Blick in die Geschichte hilft: die große Epoche des Bodenseeraumes als Europäische Zentralregion in Mittelalter und früher Neuzeit war politisch-kulturell geprägt; zwischen Konstanz, St.Gallen, Ravensburg und der Reichen auch entstanden geistige Höchstleistungen, bis das Gebiet in den politischen Windschatten geriet. Durch Hochtechnologie ist die Region wirtschaftlich wieder ins Zentrum gerückt, aber auch durch Tourismus und Kultur können ihr neue Kräfte zuwachsen, wenn sie gefördert und beworben werden. Ein beliebtes Modell kulturellen Engagements ist das Herausstellen großer Namen. Es nahm 1978 seinen Ausgangspunkt in Tübingen. Dort konnten Politiker lernen, dass sich mit Kunst systematisch Besucherschlangen erzeugen und Busunternehmen anlocken lassen. Das vermittelte ihnen den Eindruck, als ob sich mit Kunst Geld verdienen ließe – was zumindest bezogen auf die Sekundärnutzenrechnungen auch zutrifft. Museumsverantwortliche, die nicht nach dem Tübinger Modell arbeiten, müssen sich seither für kommerzielle Erfolglosigkeit rechtfertigen. Selbstverständlich sind nicht alle Projekte, die ein Massenpublikum anziehen und sich rechnen, per se qualitativ minderwertig. Dafür gibt es genügend Gegenbeispiele – nicht zuletzt in Tübingen. Aber es gab und gibt, auch am Bodensee, genügend Ausstellungen, die Qualität nur noch vortäuschen – was sich der Urteilsfähigkeit des Massenpublikums jedoch entzieht. Sie präsentieren nur noch den ruhmreichen Künstlernamen, verzichten aber fast ganz auf dessen wichtige Werke. Wegen ihrer Massenattraktivität sind solche Veranstaltungen bei Stadtvätern und Touristikern beliebt. Die Fachwelt weiß aber, dass sie sich in einer Grauzone der fachlichen Kompetenz bewegen und langfristig eine Adresse diskreditieren. Deshalb eignen sie sich nicht wirklich für die nachhaltige Profilierung einer Kunstregion. Es gibt in den vielen kleinen und großen Städten rund um den See viele Initiativen und Ausstellungshäuser, die gute Arbeit am Thema der Bildenden Kunst leisten. Um allerdings diesen Bereich zu einem überregionalen Attraktionspunkt auch für den Tourismus zu entwickeln, müsste einiges zum Besseren verändert werden. Eine Voraussetzung wäre z.B. die Überwindung der „Kleinstaaterei“. Jeder Teilnehmer müsste, statt nur auf sich, auf seine Ortschaft, sein Land oder seinen Kanton zu schauen, das Ganze in den Blick fassen. Notwendig wäre zudem, die seeübergreifende Kooperation zwischen den betreffenden Institutionen und Museen auszubauen; der gemeinsame Willen, wäre herzustel-
55 Eigen.Sinn
Alleinstellungs-Rang gewinnt. Infolgedessen rangieren seine Besucherzahlen um ein Vielfaches höher als bei den genannten Schweizer, Österreichischen und Liechtensteinischen Institutionen. Bezeichnenderweise liegt der Anteil ausländischer Besucher ohne Schweizer und Österreicher im Zeppelin Museum mit knapp 20 % ums Doppelte über dem Bodenseetouristendurchschnitt.
ANDREAS FEININGER INDUSTRIEFOTOGRAFIE IN AMERIKA
A ndreas Feininger - A llison, Indianapolis, Indiana, 1941 © A ndreas Feininger Archive c /o Zeppelin Museum Friedrichshafen
56 Eigen.Sinn
3. FEBRUAR BIS 6. MAI 2012
WIR SIND ALLE ASTRONAUTEN UNIVERSUM BUCKMINSTER FULLER IM SPIEGEL ZEITGENÖSSISCHER KUNST
ZEPPELIN MUSEUM FRIEDRICHSHAFEN T E C H N I K U N D K U N S T
ZEPPELIN MUSEUM FRIEDRICHSHAFEN T E C H N I K U N D K U N S T
Öffnungszeiten: November – April: Di – So von 10:00 bis 17:00 Uhr
Öffnungszeiten: Ö ffnungszeiten: D Dii – S So o von 10:00 bis 17:00 U Uhr hr
Seestraße 22 · 88045 Friedrichshafen Info-Telefon: +49 / 75 41 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de
S eestraße 22 · 88045 Friedrichshafen Seestraße IInfo-Telefon: nfo-Telefon: +4 +49 9 / 75 41 41 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de www.zeppelin-museum.de
ANDREAS FEININGER THAT’S PHOTOGRAPHY
CRASH MICHAEL SAILSTORFER
24. SEPTEMBER 2010 BIS 9. JANUAR 2011
7.10.2011 BIS 8.01.2012
ZEPPELIN MUSEUM FRIEDRICHSHAFEN T E C H N I K U N D K U N S T Di – S So o von 10:00 bis 17:00 Uhr (im Oktober Oktober ab 9:00 Uhr, Uhr, auch montags) Seestraße Friedrichshafen +49 41 S eestraße 22 · 88045 F riedrichshafen · +4 9 / 75 4 1 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de www.zeppelin-museum.de
ZEPPELIN MUSEUM FRIEDRICHSHAFEN T E C H N I K U N D K U N S T Öffnungszeiten: Mai – Oktober: täglich von 9:00 bis 17:00 Uhr November – April: Di – So von 10:00 bis 17:00 Uhr Seestraße 22 · 88045 Friedrichshafen Info-Telefon: Info-Telefon: +49 +49 / 75 4 41 1 / 3801-0 · www www.zeppelin-museum.de .zeppelin-museum.de
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Bernd-Blindow-Schule Ber nd-Blindow-Schule Friedrichshafen
Regierungspräsidium TTübingen übingen
ohne Titel, Foto: Studio Michael Sailstorfer
Selbstportrait, 1946, Photo von A ndreas Feininger © A ndreasFeiningerArchive.com
23. NOVEMBER 2012 BIS 24. FEBRUAR 2013
Nein, die Möglichkeit für ein in greifbarer Nähe liegendes Highlight wäre vielmehr mit der Zeitgenössischen Kunst verbunden. Warum machen wir vom See es nicht einfach so wie alle Städte und Regionen in der Welt, wenn sie einen touristischen Anziehungspunkt schaffen wollen? Gründen wir eine Biennale, eine internationale Bodensee-Biennale, die wie die „manifesta“ zwar institutionalisiert wäre, aber keinen festen Austragungsort hätte und stattdessen um den Bodensee wandern könnte. Eine absurde Idee? Nicht wirklich. Wenn wir das Phänomen Biennale ein wenig näher betrachten, sehen wir, dass schon die Gründung der ersten Biennale der Welt, der Venedig Biennale von 1896 als Hauptargument die Förderung des Tourismus zum Ziel hatte. Und das Beispiel der Bergen Assembly, eine der jüngsten Biennalen, die erstmals 2013 stattfand, zeigt, dass Stadtprofil bis heute ein beliebtes, wenn nicht das einzige Argument bei pragmatischen Kommunalpolitikern ist, eine Biennale ins Leben zu rufen. Also könnte auch dem Bodenseetourismus eine Biennale gut zu Gesicht stehen. Biennalen haben aber auch positive Effekte, die weit über die Tourismusförderung hinausgehen. Sie waren von ihrer Entstehung her übernationale Wettbewerbe. Davon übrig geblieben ist heute der Wunsch, mit der Gründung einer Biennale das jeweilige Land und die jeweilige Stadt auf der Weltkarte der Kunst konkurrent zu positionieren. Eine Biennale kann sich daher ganz schnell zu einem international beachteten Ereignis entwickeln, wenn dazu nicht nur die Künstler der Region eingeladen sind, sondern auch internationale Künstler. 2008 wollten die weitsichtigen Kuratoren der Triennale Oberschwaben, die in Friedrichshafen stattfand, genau dies erreichen: sie versuchten, die regional verortete Triennale zu einem internationalen Ereignis zu machen. Dies ist ihnen auch gelungen – sehr zum Missfallen der ursprünglichen Initiatoren, die eine regionale Leistungsschau einem internationalen Kunstereignis vorzogen. Dabei muss Regionalität und Internationalität noch nicht einmal einen Gegensatz darstellen. Denn Biennalen sind in der Lage, die jeweils heimische Kunstszene in Wettbewerb mit der globalen Kunstöffentlich-
keit zu bringen sowie Bindungen zwischen der regionalen Kunstszene und der „Welt“ herzustellen – einzige Bedingung, für die ein unabhängiges Kuratorium zu sorgen hätte, wäre, Provinzialität auszuschließen. Davon würden auch die Künstler und Kunstinstitutionen um den See profitieren. Denn unbestreitbar kann die Wirkung von Biennalen vor allem an solchen Orten nachhaltig sein, wo Ambitionen und Artikulationsmöglichkeiten der zeitgenössischen Bildenden Kunst noch nicht deutlich ausgeprägt sind. Dort lässt sich ihr positiver Effekt in der Schaffung von Netzwerken und Infrastrukturen für die Teilhabe am künstlerischen Austausch feststellen – ein Effekt, der den von Einzelvorhaben durch die periodische Verlässlichkeit und die institutionelle Unabhängigkeit – eine Biennale MUSS kommen, eine Ausstellung lässt sich aus welchen Gründen auch immer leichter absagen – übertrifft. Zudem fordern das globale Renommee, die institutionelle Stärke und der zukunftsgerichtete Vektor von Biennalen oft zur „fruchtbaren Reibung“ an regionaler und nationaler Politik heraus. Und es gibt noch weitere wichtige Nebeneffekte von Biennalen zur Gegenwartskunst. Sie erreichen auf jeden Fall, eine breitere Öffentlichkeit für die zeitgenössische Kunst zu erschließen – und zwar regionales ebenso wie internationales Publikum, zumal die Sprachbarriere hier entfällt. Und das Label „Biennale“ erweist sich auch als besonders nützlich, um Aufmerksamkeit bei örtlichen Behörden sowie bei lokalen und überregionalen Sponsoren zu wecken, indem es auf die Autorität und den Erfolg des Modells rekurriert. Eine Biennale bietet so den idealen Aufhänger für die Finanzierung großer internationaler Ausstellungsprojekte, da allein schon der markenzeichenhafte, positiv besetzte Name vermag, viel Geld für die Präsentation zeitgenössischer Kunst zu bewegen. Jede einzelne Biennale trug bisher auf ihre Weise zur Stärkung von lokaler und globaler Kunstszene bei, indem sie einen Fluchtpunkt für künstlerisch Interessierte aus allen Teilen der Erde konstituierte. Darüber hinaus gibt es aber noch eine andere, durch die Biennalisierung der Kunst beförderte Konsequenz: die Entstehung neuer Berufsfelder, ein neuer Arbeitsmarkt und ein neu strukturierter Kunstmarkt. Das war in Asien der Fall, wo in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wirtschaftlicher Wohlstand entstand und eine verlässliche Infrastruktur aufgebaut wurde, um kulturelle Bedürfnisse zu wecken und zu befriedigen. Warum sollte das nicht auch am Bodensee gelingen, wenn man für die Region einen großen, gemeinsamen, in die Zukunft reichenden Entwurf wagen wollte? Er würde dem Bodenseeraum wieder kulturelles Gewicht im Herzen Europas geben. Dr. Ursula Zeller
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len, überregionale Wirkung anzustreben, statt sich mit Erreichtem zu begnügen. Dazu gibt es von Themenabsprachen bis zu Werbekonzepten vielfältige synergetische Möglichkeiten. Die „Erlebnismuseen Rhein Ruhr“ böten dafür ein gutes Modell. Vor allem aber bedarf es eines kulturellen Highlights als Zentralmotiv, das über die Region hinaus ausstrahlt und ihren Namen trägt. Die Welterbe-Kulturstätten am See erfüllen diese Funktion mittelfristig nicht, auch wenn sie sich gewaltig anstrengen. Bis sie eine Strahlkraft entwickeln wie z.B. Dresden mit seinen einzigartigen Sammlungen, Rothenburg mit seinem Stadtambiente oder Kassel mit seiner documenta fließt noch einiges Wasser durch den Bodensee.
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DAS FESTSPIELHAUS BREGENZ
Wirtschaftsfaktor am Ostufer des Bodensees
TOURISTISCHE LEUCHT TÜRME „Das Festspielhaus ist – wie andere Veranstaltungseinrichtungen am See auch – Motor für verschiedenste Branchen und daher auch Mittel zum Zweck. Dabei geht es um immaterielle Vorteile für den jeweiligen Standort (Image) genauso wie um materielle Vorteile (Umwegrentabilität). Zwar ist der Tourismus im Vergleich zu Handel und Industrie ein vermeintlich kleiner Umsatzträger, umso größer ist aber seine Bedeutung als Imageträger für die Außenwirkung der Region. Dies macht deutlich, dass es für eine florierende Region eben beides braucht: Wirtschaftliche Fundamente und touristische Leuchttürme."
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enn heuer im Sommer die Wiener Symphoniker ihre Instrumente zu Mozarts „Zauberflöte“ erklingen lassen, die ca. 180.000 Besucher staunend und applaudierend der spektakulären Inszenierung im Bodensee gegenübersitzen, dann haben die Wirtschaftstreibenden am See ein Schmunzeln auf den Lippen und die berühmten Lachfalten im Gesicht. Denn mit dem Programm der Bregenzer Festspiele füllen sich nicht nur die Ränge auf der 6.900 Besucher fassenden Tribüne des Bregenzer Festspielhauses, sondern auch die Kassen der Restaurantbetreiber, Barbesitzer und Hoteldirektoren, der Schifffahrt, den vielen Ausflugszielen und Einkaufszentren im Umfeld des Sees. Einer Studie aus dem Jahre 2004 zu Folge sorgen alleine die Bregenzer Festspiele für mehr als 1.150 ganzjährige Arbeitsplätze am See.
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Was im Jahre 1946 als „Sport- und Kulturwoche“ seitens des Bregenzer Verkehrsvereins ins Leben gerufen wurde, avancierte über die vielen Jahre von einem „Side – Event“ für den touristischen Sommer am See zu einem international renommierten Opernfestival, welches Jahr für Jahr an die 180.000 Besucher an die Ufer des Bodensees lockt. Es war daher nicht überraschend, dass Festspielleitung wie Künstler schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Möglichkeit forderten, trockenen Hauptes proben zu können, auch die eine oder andere Festspielinszenierung in einem Konzertsaal abhalten zu können. Aber erst gute 20 Jahre später hat sich für den Bau eines „Festspiel- und Kongresshauses“ die notwendige politische Mehrheit in Bregenz gefunden. 1980 war es schlussendlich soweit: der erste Besucher betrat das neue Haus am See. Ausgestattet mit Großem Saal und neuer Tribüne, sollte das Bregenzer Festspiel- und Kongresshaus nicht nur den Aufführungen der Bregenzer Festspiele, sondern auch zur Durchführung von Tagungen und Kongressen, Firmenveranstaltungen, Fernsehaufzeichnungen und weiteren kulturellen Veranstaltungen dienen.
25 Jahre und ca. 4 Millionen Besucher später sorgten die Subventionsgeber für ein klares Bekenntnis zur Standortsicherung. Mit einer Bausumme von 38,5 Millionen Euro wurde das Festspielhaus zukunftsfähig saniert und ausgebaut. Mittlerweile hat sich das Festspielhaus auch im Konzert der großen Kongress-Städte einen Namen gemacht und sorgte so z. B. 2011 für 37.000 Kongress-Nächtigungen in der Vorarlberger Landeshauptstadt. Mit 12.500 möglichen Sitzplätzen im und am Festspielhaus bietet das Veranstaltungszentrum auch größeren Kongressen mit bis zu 2.000 Teilnehmern Platz. Doch wie für die gesamte Destination Bodensee typisch, ist das Haus nicht in großstädtische Strukturen eingebettet. Die Dichte an Beherbergungsbetrieben wie in Metropolen fehlt, die eigene Größe jedoch würde ein solches Umfeld rechtfertigen. Und so beleben Einrichtungen wie das Festspielhaus auch Hotels und Restaurants in der gesamten Region. Dies bedeutet aber auch gleichzeitig im umgekehrten Sinne, dass wenn im Kongress- und Messegelände OLMA St. Gallen ein größerer Kongress stattfindet oder z. B. die Eurobike in Friedrichshafen Ihre Pforten öffnet, sich dies auch positiv auf die Beherbergungsbetriebe in Bregenz auswirkt.
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DIE GEBURT DER NEUEN IDEE
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Vergleicht man nämlich die Umwegrentabilität des MICE–Sektors mit jener des Urlaubstourismus, so herrscht hier ein klares Ungleichgewicht zu Gunsten der Kongresse und Tagungen: während der Urlaubsgast im Schnitt 280 Euro pro Tag für die Urlaubsreise ausgibt, spülen Tagungsteilnehmer ca. 450 Euro pro Tag in die Kassen der jeweiligen Region* (*Präsident Christian Mutschlechner vom Austrian Convention Bureau zur österreichischen Kongressstatistik 2010). Weitere Zahlen aus der Branche lassen das Potential des Tagungstourismus für das wirtschaftliche Umfeld erahnen: gemäß Schätzungen stehen einem im Kongresshaus ausgegebenen Euro ca. 17 Euro an weiteren Ausgaben in Hotels, der Gastronomie, bei Fluggesellschaften oder im Einzelhandel gegenüber*. (*Quelle: http://www.bundesdekane.de/web/webcontent/documents/80_bdk/GDG_Praesentation_4_Notizen_2011_10_17.pdf. )
GERHARD STÜBE Geschäftsführer Bregenzer Festspiel- und Kongresshaus GmbH www.festspielhausbregenz.at www.bregenzerfestspiele.com
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us der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Im Rahmen des Positionierungsprozesses der Marke Bodensee wurde dem Bereich MICE (Meeting, Incentive, Congress, Event) ein hohes Zukunftspotential bescheinigt. Vor allem die Möglichkeit, durch die Stärkung dieses Bereiches auch die nächtigungsschwächeren Monate am Bodensee zu beleben, führte zur Entscheidung, MICE zukünftig als eines der strategischen Geschäftsfelder des Tourismus am Bodensee zu definieren. Das Festspielhaus als eines der Säulen im MICE–Segment am Bodensee hat sich in diese Entwicklung mit eingebracht. Gemeinsam mit den Partnern im BodenseeMeeting wird an der Zielsetzung gearbeitet, die „Schultern“ des Bodensee Tourismus um dieses interessante Segment zu verbreitern.
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BILDERWELTEN
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Das Fotomuseum Winterthur hat seit dem Sommer 2013 eine neue Leitung. Die beiden Co-Direktoren Duncan Forbes und Thomas Seelig zu ihrer Arbeit und wie es das Fotomuseum in wenigen Jahren geschafft hat zu einem der renommiertesten Zentren für die moderne Fotografie zu werden. Das Interview führte Christian Huggenberg
ling James Wel 1996 Tota Lamp, urces", 1977-2005 So ht Aus „Lig cm t, 41 x 33.5 Zwirner, Inkjet-Prin Künstler und David r de sy te ur Co / London New York
Das Fotomuseum zählt heute zu den führenden Häusern seiner Art weltweit. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg? Duncan Forbes: Seit der Gründung anfangs der 90er Jahre konzentrierte sich Winterthur voll und ganz und äußerst präzise auf das Medium Fotografie. Andernorts war dies trotz teils hervorragender Fotografie-Abteilungen viel schwieriger, da sich die Fotokunst üblicherweise in ständiger Konkurrenz zu anderen Kunstformen befindet. Ein weiterer ganz großer Vorteil ist die Reaktionsfähigkeit, mit der unser Haus auf die hohe Geschwindigkeit reagieren kann, mit der sich das Medium Fotografie entwickelt. Thomas Seelig: Wir haben es aus meiner Sicht sehr früh verstanden, dass man Fotografie nicht nur zeigen sondern auch als Medium diskutieren muss. Was wir tun, erfordert ein hohes Maß an Kommunikation. Das Wort ist genauso wichtig wie das Bild, was sich auch in unserer Corporate Identity der Einladungskarte spiegelt. Alle unsere Publikationen folgen dieser Dialektik. In diesem Sinne haben wir in den letzten Jahren immer neue Veranstaltungsformen entwickelt, etwa die Plat(t)form für junge Europäische Künstler oder unser Blog Still Searching. Wir werden in der Zukunft noch tiefer in diesen kommunikativen Prozess hineingehen, weil dies der Schlüssel für ein aktives Museumsleben ist: Das Museum als sozialer Ort, wo Menschen sich begegnen und sich austauschen.
Das Fotomuseum als Gegenentwurf musealer Verstaubung? Duncan Forbes: Absolut. Dafür verändert sich die Fotografie viel zu rasant. Fotografie steckt heute so tief in der Digitalisierung und erfindet sich immer wieder neu in einer sich fortwährend beschleunigenden Dynamik. Das verursacht eine unglaubliche Schnelligkeit, mit der man mithalten muss. Da bleibt keine Zeit, um Staub anzusetzen. Andererseits möchte ich behaupten, dass das Foto einen Platz braucht. Der Ort ist sehr wichtig, unsere Ausstellungshallen sind sehr wichtig. Wieso eigentlich? Kann es nicht sein, dass in einer Zeit der Digitalisierung auch die Museen eines Tages virtuell sind? Duncan Forbes: Ich sage Ihnen weshalb. Weil Fotografie überall ist! Jeder Aspekt unseres Lebens ist heute mit einer Kamera oder auf dem Iphone festgehalten. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir einen Ort haben, um herausdestillieren zu können, was da passiert. Es geht darum, die Überflutung zu reduzieren und zu deuten. Und es dann in einer anderen kreativen Form zusammenzubringen. Dafür braucht es das Fotomuseum Winterthur. Hier kann man sich konzentrieren als Betrachter, um Dinge anders zu sehen. Natürlich wird das Web immer wichtiger. Nichtsdestotrotz braucht es die Architektur, den physischen Ort für unsere Sammlung
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NETLEWREDLIB
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Mit welchen Institutionen vergleichen sie sich, wo schauen sie selbst hin? Thomas Seelig: Unser Programm setzt sich zusammen aus eigens produzierten Ausstellungen und aus solchen, die von unseren Partnerinstitutionen erarbeitet werden. An unseren Partnern kann man sehr gut unser Netzwerk erkennen. Wir arbeiten nächstes Jahr beispielsweise mit der Albertina in Wien und dem Folkwang Museum in Essen zusammen, unsere Ausstellungen zu Ai Weiwei oder Mark Morrisroe wurden in der ganzen Welt gezeigt. Gerade in Zeiten der begrenzten Mittel sind wir angehalten, dieses Netzwerk noch weiter auszubauen. An dieser Stelle wird natürlich deutlich, wie wichtig eine starke eigene Sammlung ist.
AKZENTE SETZEN Das Telefon ist heute auch ein Fotoapparat. Bilderwelten explodieren. Wo gibt es da noch Halt und wie lässt sich für all dies, was heute an Bildmaterial produziert wird, überhaupt noch Ordnung schaffen? Duncan Forbes: Die Visualisierung hat sich durch die Digitalisierung verändert. Doch die zentralen Fragen in der Fotografie sind geblieben. Es geht um Ereignisse und die Frage, wie diese auf den Betrachter wirken, wie er ein Ereignis festhält und welche Wirkung es wiederum beim Betrachter der Bilder auslöst. Der große Unterschied zu früher ist die schiere Menge an Reproduktion und die unglaubliche Geschwindigkeit der Reproduzierbarkeit. Darin sehe ich eine wichtige Herausforderung. Und wie gehen Sie damit um? Thomas Seelig: Diese Frage stellt sich zu allererst der betrachtende Fotograf. Wir sind diejenigen, welche die Bilder als Objekte an der Wand oder im Fotobuch filtern und ausstellen. Wir arbeiten mit Künstlern zusammen, die genau diese Fragen in den Raum stellen. Vielleicht haben wir andere Antworten als sie. Aber genau dies ist das Herausfordernde, so entsteht ein zeitgenössischer Dialog. Muss man die Rolle des Künstlers nicht überdenken in einer Zeit wo wir doch alle zu Bildermachern geworden sind und uns die Technik so dermaßen hilft, tolle Bilder zu schießen? Thomas Seelig: Gerade in der Fotografie ist ständig alles neu, der technische Fortschritt, die ästhetischen Veränderungen. Man kann auch als Laie genau erkennen, in welcher Zeit ein Bild entstanden ist. Und so werden immer Bilder in ihrer Zeit entstehen. Die Bewertung des Digitalen ist mehr eine quantitative Frage, wie Medien benutzt werden. Die Fotogra-
fie ist ein reproduktives Medium und die Reproduktion damit ein genetischer Teil von ihr. Duncan Forbes: Die Beschleunigung ist ein neues Phänomen. Diese schiere Geschwindigkeit, mit der sich die Bilderwelt verändert. Das kann müde machen. Doch Künstler haben auch hierauf eine interessante Antwort gefunden. Die sogenannte Late Photography – Künstler folgen einem bewussten Entschleunigungsprozess. Fotografie als Monument. Künstler benutzen alte Kameratechniken aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert.
ENTWICKLUNG UND SCHWERPUNKTE In welche Richtung wird sich das Fotomuseum unter Ihrer Führung weiterentwickeln? Thomas Seelig: Das stehende Bild und der Film werden verschmelzen, weil eine Kamera heute beides kann. Diese Entwicklung wirkt sich selbstverständlich auf den Künstler aus. Der Visual Artist arbeitet schon heute mit beiden Techniken, was wiederum Auswirkungen auf unsere zukünftigen Ausstellungsformen hat. Bedeutet dies, dass das Fotomuseum unter Ihrer Leitung mehr und mehr zum Film- oder Multimediamuseum wird? Wo sind die Grenzen, die Sie auch in Ihrem Haus ziehen werden? Thomas Seelig: Grenzen, die sich verschieben werden, kennen wir zum Glück noch nicht. Was sich dank der Technik aufzulösen scheint, verschmilzt auch wieder miteinander. Die digitale Welt und die analoge. Das ist doch genau das Spannende. Dank neuer Techniken etwa kann jeder heute sein eigener Verleger sein. Der Schaffensprozess ist damit wesentlich demokratischer geworden. Duncan Forbes: Die Medien vermischen sich mehr und mehr. Darauf werden wir reagieren, indem wir mehr bewegte Bilder zeigen. Ein Weg, den man zum Beispiel schon an der aktuellen Themenausstellung „Cross Over“ sehr gut erkennen kann. Ein anderer Aspekt ist die Tätigkeit des Sammelns. Das Fotomuseum ist als Sammlerin sehr aktiv und verfügt über ein großes Archiv. Wie gewichten Sie alt und neu? Thomas Seelig: Wir sind als Museum ja erst 20 Jahre alt und in den ersten Jahren fiel das Bewahren nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch je länger wir nun existieren, desto wichtiger wird auch das Sammeln, weil sich darin auch die Geschichte des Museums widerspiegelt. An dieser Stelle entwickelt sich der einzigartige Charakter eines jeden Museums in Form eines umfangreichen Bildspeichers. Duncan Forbes: Wir sammeln für die Zukunft. Und wir wollen dafür den besten Rahmen setzen, den wir mit unseren be-
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und den Platz, um Menschen zusammenzubringen.
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grenzten Mitteln schaffen können.
Team und schauen in eine hoffentlich großartige Zukunft!
Die nächste große Ausstellung zeigt den Amerikaner James Welling. Ein Künstler, der sich über Jahrzehnte immer wieder auf Neues eingelassen hat. Ist Welling ein gutes Beispiel dafür, welche Schwerpunkte das Fotomuseum Winterthur unter Ihrer Führung setzen wird? Thomas Seelig: Es gibt wahrscheinlich keinen zeitgenössischen Künstler, der auf die vorher erwähnten Paradigmenwechsel der letzten 30 Jahre in der Fotografie so intelligent reagiert hat wie James Welling. Sein Werk ist gleichzeitig abstrakt, dokumentarisch, analog, digital, ernst, lustvoll und schön! Es berührt Fragen der Malerei und der Fotografie. Welling lässt sein großes Wissen beispielsweise ganz nebenbei in seine wirklich großartigen Blumenbilder einfließen, die er in der Tradition von Fotogrammen kreiert hat. Duncan Forbes: Allgemein ist es wichtig Kontinuität zu bewahren. Engagement und Neugier waren und sind Stärken unseres Hauses. Wir haben ein gut aufgestelltes, dynamisches
20 JAHRE FOTOMUSEUM WINTERTHUR – VON DER PIONIERLEISTUNG ZUR WELTWEITEN ANERKENNUNG Die Gründung des Fotomuseum Winterthur vor 20 Jahren war eine mutige Tat. In unscheinbaren Hallen eines ehemaligen Industriegebäudes etwas außerhalb der Altstadt von Winterthur begann die Geschichte mit zweieinhalb Angestellten. Zwanzig Jahre später genießt das Fotomuseum Weltruf. Der Erfolg des Hauses erklärt sich aus einer Mischung aus Hartnäckigkeit und schlichter Begeisterung für das Medium Fotografie. Von Anfang an verstanden es die Macher, Veränderung als Chance aufzufassen und als mannigfaltige Spielwiese für die Präsentation immer neuer Künstler zu nutzen. Das Haus sog den Strom der Veränderung förmlich in sich auf. Ausstellung folgte auf Ausstellung und dokumentierte so wie kaum an einem anderen Ort den radikalen Veränderungsprozess in der Fotografie der letzten 20 Jahre. Gleichzeitig suchte das Museum von Anfang an den intensiven Dialog mit der Außenwelt oder wie es der ehemalige Direktor Urs Stahel (1993 – 2013) ausdrückte: „Ausstellungen entwickeln eine Kerntemperatur, mit der ein Netzwerk gesponnen und erweitert wird, das Besucher und Presse, Kuratoren und Künstler, Schüler und Lehrer, regionale Vereinsmitglieder und weltweite Internetbesucher miteinander verbindet und in Schwingung versetzt.“ Mit dieser oszillierenden Kraft entstand ein lebendiger Ausstellungsort, der inzwischen bereichert durch die
Im Juni 2013 haben Thomas Seelig und Duncan Forbes als Nachfolger von Urs Stahel gemeinsam die Co-Direktion des Fotomuseum Winterthur übernommen. Thomas Seelig (*1964 in Köln) hat das Fotomuseum Winterthur bereits seit 2003 maßgebend mitgeprägt. Als Sammlungskurator konzipierte und realisierte er in den letzten zehn Jahren nicht nur die jährlichen Set-Ausstellungen zur Sammlung, sondern ebenso zahlreiche weitere Ausstellungsprojekte, darunter «Forschen und Erfinden – Die Recherche mit Bildern in der zeitgenössischen Fotografie» (2007), «Status – 24 Dokumente von heute» (2012) und «Concrete – Fotografie und Architektur» (2013). Nach einem Studium der Visuellen Kommunikation/Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld und einem kuratorischen Aufbaustudium an der Jan van Eyck Akademie in Maastricht/NL arbeitete Thomas Seelig zunächst als freier Kurator.
BEGLEITER DES FUNDAMENTALEN WANDELS Eine gute Gelegenheit, die Vielschichtigkeit des Fotomuseums kennenzulernen, bietet die kommende Ausstellung Autograph von James Welling, die im November startet. Der amerikanische Fotograf James Welling (1951) bewegt sich als Künstler in den hybriden Grenzzonen zwischen Malerei, Bildhauerei und traditioneller Fotografie. Seit über 40 Jahren geht er Themen der Darstellung und Abstraktion nach und wird heute von Kritikern, Künstlern und Sammlern gleichermaßen als zentrale Figur der internationalen zeitgenössischen Fotografie geschätzt. Die Ausstellung Autograph zeigt nebst seinen quasi dokumentarischen Werkserien in der Tradition der klassischen Kunstfotografie eines Paul Strand auch
Duncan Forbes (*1967 in Paris) war von 2000 bis 2013 als Kurator in den National Galleries of Scotland tätig, wo er für den Bereich Fotografie verantwortlich war. In dieser Funktion hat er die zeitgenössische Sammlung der Scottish Gallery of Modern Art, die ARTIST ROOMS in Kollaboration mit der Tate Modern sowie die Scottish Collections in der Scottish National Portrait Gallery betreut und ausgebaut. Er ist ein Kenner der zeitgenössischen wie auch der historischen Fotografie und hat regelmäßig publiziert, unter anderem für die britischen Fotomagazine History of Photography, Portfolio und Source. Duncan Forbes hat an der University of St. Andrews einen Doktortitel in Kunstgeschichte erworben und war während mehrerer Jahre Dozent an der University of Aberdeen.
abstrakte Fotogramme, wie sie die Avantgarde mit MoholyNagy, Christian Schad und Man Ray hervorbrachte. Fasziniert von den Möglichkeiten des Mediums begleitet James Welling den fundamentalen Wandel der Fotografie bis in die heutige Zeit: Ob es um die kritischen und ideologischen postmodernen Debatten der Pictures Generation geht, in denen Konzepte wie Autorschaft, Originalität und fotografische Einzigartigkeit kritisch hinterfragt wurden, oder um die aktuelle neumodernistische Betonung der Fotografie als überhöhtes Objekt. Wellings stete Erkundung der konzeptuellen und ästhetischen Grundlagen, die das Medium formen und definieren, macht ihn zum wichtigen Vorbild für eine ganze Generation zeitgenössisch arbeitender Fotokünstler. Die Weigerung, sich auf eine bestimmte Produktionsform von Bildern festzulegen, charakterisiert das Werk des Amerikaners. Er arbeitet analog und digital, in Farbe und SchwarzWeiß, mit und ohne Kamera. Mit Autograph realisiert das Fotomuseum Winterthur die erste große Werkübersicht des Künstlers in der Schweiz. JAMES WELLING – Autograph Fotomuseum Winterthur 30.11.2013 - 16.02.2014 Weiter im Programm des Fotomuseums sind derzeit zu sehen: This infinite World – Set 10 Jubiläumsausstellung aus der Sammlung des Fotomuseums 08.06.2013 – 09.02.2014 Cross Over – Fotografie der Wissenschaft +
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Fotostiftung Schweiz Winterthur zur Hauptstadt der Fotografie machte. Drei Hauptbereiche werden durch das Museum abgedeckt: Zeitgenössische Ausstellungen, Meister des 19. und 20. Jahrhunderts sowie kulturhistorische/soziologische Ausstellungen (mit Bild-Projekten zur Industrie, zum Welthandel, zum Gegenstandsfetischismus, zur Medizin und Mode, zu Körper und Krankheit u.a.). Heute bietet das Fotomuseum mit 30 Angestellten neben den Ausstellungsräumen und den zahlreichen Publikationen ein Netz von Zugängen zur Fotografie, ein Geflecht von Präsentations- und Diskussionsmöglichkeiten, das die 2650 Vereinsmitglieder, die 50.000 realen Besucher pro Jahr und die 50.000 virtuellen Besucher pro Monat auf ihre je eigene Weise nutzen können.
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Wussten Sie,
DASS... 750 JAHRE STADTRECHT WINTERTHUR: EIN HABSBURGER WECKT DEN LIBERALEN GEIST Im kommenden Jahr jährt sich zum 750. Mal die Verleihung des Stadtrechts an die Bürger von Winterthur. Stifter war der junge Graf Rudolf von Habsburg, der spätere Begründer des habsburgischen Weltreichs. Mit der Verleihung des Stadtrechts genoss die Stadt schon früh ein hohes Maß an Selbstständigkeit, was die Entwicklung von Gewerbe und Handwerk begünstigte und einer frühen Industrialisierung Vorschub leistete. Von Christian Huggenberg
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Links: Kesselhaus Sulzerareal Stadtmitte. Quelle: Sulzer AG
interthur ist nicht nur eine sehr alte Stadt, deren Wurzeln bis in die Römerzeit zurückreichen. Winterthur hat auch einen weitgehend intakten idyllischen Altstadtkern, in dem heute in etwa immer noch so viele Menschen leben wie vor 400 Jahren. Es sind rund zweieinhalb Tausend Menschen. Nicht sehr viele wenn man bedenkt, dass sich Winterthur seit rund 2 Jahren offiziell Großstadt nennen darf. Das bedeutet über 100.000 Einwohner, was für Schweizer Verhältnisse eben schon groß ist. In China, wo es Städte gibt, die in einem einzigen Monat so viel Zuwanderung zu bewältigen haben, dürfte dies kaum jemanden bewegen. Für Winterthur indes bedeutet es viel. Denn große Träume träumte die Stadt immer wieder. Mit dem Aufschwung der Industrie kamen die Menschen zu Tausenden. Die Bevölkerung Winterthurs wuchs von 1850 bis 1970 um rund 80.000 Personen und die Stadt begann im großen Maßstab zu planen. Zum Beispiel die Wartstraße als 8 Kilometer langes Quartier zur Unterbringung der ganzen Arbeiter. Gebaut wurden die ersten 200 Meter. Dabei blieb es, obwohl der Bedarf an Menschen damals sehr groß war. Winterthur entwickelte sich als Industriestandort wie kaum ein anderer Ort in der Schweiz. 1778 wird in Winterthur die erste chemische Fabrik der Schweiz gegründet. 1802 eröffnete die Spinnerei Hard als erste mechanische Großspinnerei des Kontinents. Winterthur ist damit die erste oder älteste Industriestadt der Schweiz. In Deutschland würde eine Stadt wie Winterthur heute wohl Werbung machen mit dem Slogan „Winterthur – die älteste Industriestadt der Schweiz“. Die Winterthurer selbst sind da etwas bescheidener. Auf dem Plakat an der Autobahn lesen Vorbeifahrende einfach winterthur …
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Großtaten und bescheidenes Auftreten sind zwei Attribute, die sehr gut zum Charakter der Menschen und zur Geschichte Winterthurs passen. Bereits sehr früh war es der Stadt vergönnt, sich aus feudalen Strukturen herauszulösen und sich als relativ selbstständiger Ort mit frühdemokratischen Spielregeln, eigener Rechts- und Steuerhoheit zu entwickeln. Zu verdanken hatten sie die frühe Reichsfreiheit ihrem Stadtherren Graf Rudolf von Habsburg. Der spätere König und Begründer des Habsburgischen Weltreichs hatte als Heranwachsender einige Zeit auf der nahegelegenen Kyburg verbracht und war der Stadt sehr wohlgesonnen. Als er 1264 sein Erbe antrat, verlieh er den Winterthurern das Stadtrecht, womit er den Bürgern erlaubte, einen der ihren zum Schultheiß oder Amtmann (Gerichtsvorsitzender und Steuereinzieher) zu wählen. Auch war es den Bürgern erlaubt, Güter zu besitzen, zu vererben und zu verkaufen, was die Entwicklung des Bürgertums begünstigte. Mit der Verleihung des Stadtrechts schuf Rudolf von Habsburg somit die Keimzelle, die Winterthur später zur Wiege der liberalen Bewegung in der Schweiz machte. So hatten die Winterthurer großen Einfluss auf die Ausarbeitung der ersten Bundesverfassung 1848 und stellten mit Jonas Furrer den ersten Bundesrat der Schweiz. Dabei schien die Geschichte erst einmal eine ganz andere Wendung vorzusehen. Mit der Anlehnung an das Habsburger Reich kam die Stadt im 15. Jahrhundert immer mehr in Konflikt mit der erstarkenden Eidgenossenschaft. Die ständige Auseinandersetzung mit den alten eidgenössischen Orten – allen voran Zürich – hatte Winterthur ruiniert, sodass die Stadt 1467 an Zürich verpfändet wurde. Ein Umstand, der offenbar aber auch Vorteile hatte. So musste sich Winterthur schon früh internationale Absatz-
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Oben: „Laboratorium“ (Hauptgebäude), gebaut 1778, abgebrochen 1960. Bildaufnahme 1960. Quelle: Winterthurer Bibliotheken, Studienbibliothek Mitte: Spinnerei Hard, Tuschzeichnung um 1820. Quelle: Winterthurer Bibliotheken, Studienbibliothek Unten: Sulzerareal Stadtmitte um 1915. Quelle: Sulzer AG
märkte suchen, da der Heimmarkt den Zürchern vorbehalten war. Die Dynamik dieser frühen Form der Globalisierung wurde in Zürich nicht erkannt. Während die Zürcher an ihrem Zunftwesen festhielten, befassten sich junge Winterthurer im ausgehenden 18. Jahrhundert intensiv mit dem Aufbau des Fernhandels und neuer Industrien, um sich der Zürcher Willkür zu entziehen. Umgekehrt zog der offene Geist der Stadt auch helle Köpfe aus dem Ausland an. Allen voran Johann Sebastian Clais, der aus dem Badischen stammte und als junger Mann die Chance hatte, nach England zu reisen, um sich mit dem technischen Fortschritt vertraut zu machen. Clais traf auf wichtige Persönlichkeiten seiner Zeit wie Benjamin Franklin, James Watt und Alexander von Humboldt und unterhielt weltumspannende Beziehungen und geschäftliche Kontakte. 1776 kam Clais nach Winterthur und gründet mit dem Winterthurer Unternehmer und Arzt Johann Heinrich Ziegler die erste chemische Fabrik der Schweiz. Umgekehrt waren es aber auch Winterthurer, die auszogen und Geschichte schrieben. So kümmerte sich der Winterthurer Jakob „Jacques“ Biedermann unter Georg Danton um die Finanzierung der französischen Revolution. Johann Georg Sulzer war am Hofe Friedrich des Großen tätig und als Professor der Philosophie ein wichtiger Wegbereiter der Aufklärung. Mit der frühen Industrialisierung und der engen Vernetzung der Stadt zu den Zentren des Fortschritts kamen immer wieder wichtige Persönlichkeiten in die Stadt, die den wirtschaftlichen Aufstieg beflügelten. Ab 1851 arbeitete der englische Ingenieur Charles Brown bei der Firma Gebrüder Sulzer. Mit der ersten Ventildampfmaschine, die der englische Dampfmaschinenfachmann entwickelte, erreichte Sulzer Weltruhm. 1871 verließ Brown die Firma Sulzer und gründete erst die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur und später die Firma Brown Boveri Corp., heute ABB. Neben der Industrie blühte das Handelsgeschäft in Winterthur. Allen voran die Familie Volkart und später Reinhart, die in kurzer Zeit ein sehr erfolgreiches Handelsunternehmen aufbauten. Winterthur erlebte eine wirtschaftliche Blütezeit. Die Unternehmerfamilien gründeten Wohlfahrtseinrichtungen, förderten den genossenschaftlichen Wohnungsbau und betätigten sich als Mäzene, was der Stadt viele Kunstschätze eintrug,
die Winterthur den Namen einer bedeutenden Museumsstadt eintrugen. Dazu kam die Gründung von Berufsschulen, einer Unfallversicherung für die Werktätigen sowie die Bank von Winterthur, welche später in Schweizerische Bankgesellschaft SBG umbenannt wurde. Der Erfolg brachte allerdings auch Fehlentscheidungen mit sich, welche teils fatale Folgen hatten. Vor allem der Ruin der Schweizerischen Nationalbahn war ein Lehrstück, an dem Winterthur über Generationen zu beißen hatte. Auch der industrielle Niedergang gegen Ende des letzten Jahrhunderts setzte Winterthur arg zu. Inzwischen hat sich die Stadt doch weitgehend von diesen Rückschlägen erholt. Winterthur gilt heute dank einem breiten Bildungsangebot als junge, trendige Stadt mit guten wirtschaftlichen Aussichten und einer positiven Grundstimmung, die es im kommenden Jahr zu feiern gilt.
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