Ausgabe Dezember/Januar 12. Jahrgang / #115
2,50 Euro
12/15/-01/16
Ausgabe
Was da wieder los ist: Termine & Partys 19.12.15 – 14.02.16
Magic DaNce
of the
am 23.03.2016 im Kultur- und Bürgerhaus Denzlingen
Knallbuntes KALEIDOSKOP Die Internationale Kulturbörse Freiburg boomt wie nie
LIEDER
Wie die Freiburgerin Deena in Uganda zum Star wurde
LÄNDER
Stippvisite in der Ukraine
LITERATEN
Freiburger Buchhändler und die Bücher des Jahres
mit T h em en HE FT Weihnach tszeit
chilli Editorial
KleinkunstHochburg Freiburg Von Rettern, Popstars und Pazifisten
Foto: © Anja Limbrunner
Lokalmatador auf der Kulturbörse: Matthias Deutschmann.
Liebe Leserin & lieber Leser, einmal im Jahr trifft sich die große internationale Kleinkunstszene in der kleinen Großstadt Freiburg. Dann öffnet die Internationale Kulturbörse ihre Pforten. 600 Künstler aus 31 Ländern reisen im Januar an und werden Denkmuskeln wie Lachmuskeln strapazieren. Die Börse boomt: Nie zuvor wollten so viele Produzenten, Agenten und Aussteller ihre Visitenkarten abgeben. Und mit der IKF startet auch das Grenzenlos-Festival, das andernorts schon mal ausfällt, in Freiburg aber auch ein dickes Brett im lokalen Kleinkunstkalender ist. Für Kulturinteressierte ist alles angerichtet. Angerichtet hat auch Deena Herr etwas. Die 22-Jährige hatte vor zwei Jahren noch in Freiburg studiert und auf der Kajo musiziert. Dann ging sie nach Ruanda, um mit Straßenkindern zu arbeiten und trällerte in einer Bar so vor sich hin. Warum sie heute nicht nur in Uganda ein Popstar ist, wollte Redakteur Till Neumann wissen. Wissen Sie, was containern ist? Unsere Redakteurin Tanja Bruckert weiß es: Sie hat im Abfall recherchiert und zutage gefördert, wie viele
Menschen sich mittlerweile – legal oder illegal – darum kümmern, dass weniger Lebensmittel verschwendet werden. Dem Bewahren hingegen haben sich die Eheleute Theuerkaufer verschrieben. Sie verleihen Porzellan und Deko aus den 40er- bis 70er-Jahren – und sind für uns deswegen die Retter der Tafelrunde. Ein kämpferischer Pazifist ist Jürgen Grässlin. Der Mann, der den Mächtigen in Ministerien und vor allem dem Waffenhersteller Heckler & Koch zuverlässig auf die Finger guckt, hat erstmals erreicht, dass Waffenhändler vor Gericht gestellt werden. Warum er dennoch nicht glücklich ist, erzählte er beim Redaktionsbesuch. Wir hingegen haben Ulrich von Kirchbach einen Besuch abgestattet. Für den Sozialbürgermeister stand das vergangene Jahr ganz im Zeichen der Flüchtlingskrise. Die kleine Politik hat er im Griff, bei der großen spart er nicht an klaren Worten. Wir wünschen anregende Lektüre, ein friedliches Weihnachtsfest, besinnliche Tage und ein gesundes neues Jahr. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen.
Herzlichst, Ihr Lars Bargmann, Chefredakteur & die chillisten Dezember 2015 / Januar 2016 CHILLI Kultur 3
Kultur Veranstaltungen
Volle Ladung Kulturbörse: Es wird viel Staunenswertes und Hörenswertes geben. Unter anderem von Ulik, „Das Geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, Michael Hatzius -
Facettenreiches Kaleid
Die 28. IKF boomt wie nie – 600 Künstler aus 31 L
D
ie 28. Internationale Kulturbörse Freiburg hat ihre ohnehin schon kräftige magnetische Wirkung auf internationale Künstler und Aussteller noch einmal verstärkt: Schon Anfang November hatten 354 Aussteller die Messe Freiburg restlos ausgebucht. Rekord. Rund 600 Künstler aus 31 Nationen kommen vom 25. bis 28. Januar zur IK nach F. „Das Who-is-who der deutschsprachigen Kleinkunstszene ist bei uns“, sagt IKF-Chef Holger Thiemann von der veranstaltenden Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH. Widerspruch wird er nicht ernten. Den Reigen der sechs öffentlichen Veranstaltungen (siehe Infobox) eröffnet am 25. Januar – auch fürs Grenzenlos-Festival – die große Opening-Gala mit dem Kabarett-Duo „Das Geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, dem deutschen Slam-Poeten Nektarios Vlachopoulos, dem preisgekrönten Puppenspieler und Comedian Michael Hatzius mit seiner Echse, UliK Produktion, der Fenix Theatre Company und den virtuosen Mozart Heroes – für Thiemann „Liebe auf den ersten Blick“. Während die Kabarett- und ComedySzene vor allem deutschsprachig ist, sind Musik und Straßentheater so in-
ternational wie selten. Aus Südamerika (Argentinien, Brasilien, Chile), den USA und Kanada, aus Japan und dem Nahen Osten (Libanon), aus Afrika (Kamerun, Südafrika) und so gut wie allen Teilen Europas reisen die Künstler an – ja sogar aus Österreich, dem erfolgreichen Themenschwerpunkt aus dem Vorjahr. Das nötige Lokalkolorit in die äußerst bunte Kulturbörse bringen der Freiburger Kabarettist Frank Sauer als Moderator und Ink Stained Me, die hippen und hoppen, derweil durchaus auch groovigen diesjährigen Rampe-Gewinner. Schwerpunkt heuer sind Cirque nouveau und das Varieté: 55 von 180 Veranstaltungen gehen in diesen Bereichen über die Bühnen. Zum ersten Mal in der Geschich-
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te der IKF gibt es einen Dokumentarfilm zu bestaunen, in dem die Lutterbekerin Linn Marx die erzählenswerte Geschichte ihres Elternhauses, der Kult-Gaststätte Lutterbeker, filmisch aufbereitet hat. Etwas Schrilleres gefällig? Es gibt eine Maschine, die mit Sand schreiben kann, eine Graffitikünstlerin, die mit Laser Bilder an die Wand wirft und dazu tanzt, oder die irische Formation Journey to Ireland, die die Geschichte ihres Landes, jawohl, tanzt. Und es gibt einen, an den sich auch ältere Semester erinnern: Ilja Richter kommt nach Freiburg, der mit dem TV-Format Disco elf Jahre lang Musik und Sketche in die Wohnzimmer gebracht hat. Das Internet-Comedy-Magazin Joke kommt
Open House info > Mo., 25.1., 20 Uhr, Theatersaal 1: Opening Gala. Karten ab 19/13 Euro > Di., 26.1., 20.30 Uhr, Theatersaal 2: Libery Di … Physical Theatre. Karten ab 16/12 Euro > Di., 26.1., 20.30 Uhr, Music Hall: A Cappella Worldwide. Karten ab 16/12 Euro > Mi., 27.1., 19.30 Uhr, K 6 – K 9: Poetry Slam. Karten ab 8/6 Euro > Mi., 27.1., 20 Uhr, Zentralfoyer: La Trócola Circus. Karten ab 16/12 Euro > Do., 28.1., 19.15 Uhr, Theatersaal 1: Varieté-Abend. Karten ab 19/15 Euro > Mehr Infos: www.kulturboerse-freiburg.de
Kultur Veranstaltungen
Kopfkino und Animatöse Scharfes, Schräges und Schrilles beim 17. Grenzenlos-Festival
Z natürlich nebst Echse, Africappella und den Mozart Heroes (v.l.) .
oskop
Ländern
gleich mit Aufnahmestudio angereist und zeichnet viele Live-Auftritte auf. Eine Denkaufgabe für den SWR? Zu Gast – im Messekatalog – ist auch die Online-Satirezeitung Tagespresse, die heuer beim österreichischen Kabarettpreis den Sonderpreis einheimste. Es gibt Langsames, etwa von Gráinne Holland, Spektakuläres, etwa von Libery Di … Physical Theatre, Vielstimmiges wie bei der A-cappella-Nacht mit Africappella aus Johannesburg und Cluster aus Italien oder auch Erstaunliches wie beim La Trócola Circus. Und es gibt auch wieder was zu gewinnen: die Freiburger Leiter. Die Kandidaten für die Karriereleiter, 1000 Euro sowie Auftritte auf der Schweizer Künstlerbörse und bei der IKF 2017 sind erstmals durch eine Jury nominiert worden. Und anders als bisher werden die Sieger – nach dem Publikumsentscheid – nicht mehr am Ende, sondern gleich am zweiten Börsen-Tag im Theatersaal geehrt. „Wir möchten die Freiburger Leiter aufwerten“, erzählt Thiemann – derweil im Hintergrund die Mozart Heroes Metallicas Enter Sandman mit Violoncello und Gitarre inszenieren. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum es Liebe auf den ersten Blick war. Lars Bargmann
ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein (Die neuen Leiden des alten M.) eröffnet das Festival am 26. Januar im SWR-Studio, Bernd Kohlhepp (Hämmerle – Privat) und Ehnert vs. Ehnert (Zweikampfhasen) beenden es am 6. Februar ebenda und im Vorderhaus. Dazwischen gibt es auch mal im E-Werk, im Paulussaal, im Berghotel Schauinsland oder auch im Humboldtsaal Spaß mit Tiefgang, Unterhaltung mit Niveau. So lädt Martin Zingsheim ein zum Kopfkino – der Mann ist so etwas wie der Assoziations-Hopping-Beauftragte –, Matthias Deutschmann fragt sich: „Wie
sagen wir’s dem Volk?“. Volker Gerling weiß hingegen schon, dass Bilder laufen lernen, indem man sie herumträgt, und Irmgard Knef, die Alterspräsidentin des deutschen Kabarett-Chansons, findet: Ein Lied kann eine Krücke sein. Aber auch Badesalz (Dö Chefs), die Antidiva Anna Mateur & The Beuys, die Gesangsdiva Gesine Heinrich oder Volker Gerling mit seinem Daumenkino und viele andere kommen nach Freiburg. Nicht zu vergessen Christine Prayon (das ist die Birte Schneider aus der ZDF-heute-Show), die ihr Programm „die Diplom-Animatöse“ auf die Bühne bringt. Keine so weite Anreise hat die in Freiburg lebende Susanne Fritz, die zusammen mit Matthias Anton Worten mit Klavier, Saxophon und Bassklarinette Ausdruck verleiht. Büchner-Preisträger Arnold Stadler sagte einst über die Schriftstellerkollegin Fritz: „Sätze wie Spaten“. Ein tiefschürfender Abend wartet. bar Mehr Infos und Karten: www.freiburg-grenzenlos-festival.de www.reservix.de
Fotos: © ZVG, Thorsten Harms, David Campensino, Anja Limbrunner, C. Bertelsmann
Fotos: © ZVG
eitgleich mit der Internationalen Kulturbörse startet am 25. Januar in Freiburg auch das Freiburger Grenzenlos-Festival, das das Kulturbüro vom Vorderhaus zusammen mit dem SWR und dem Konzertveranstalter Koko & DTK Entertainment auf die Bretter bringt. Es ist gleichsam das Festival zur Börse, es ist mal scharf, mal schräg und auch mal schrill, und es zählt in seiner 17. Auflage zu den ganz dicken Brettern im Kleinkunstkalender von Freiburg.
Grenzenlose Unterhaltung: Christine Perayon, Ehnert vs. Ehnert, Matthias Deutschmann, Harald Martenstein, Anna Mateur und Dö Chefs von Badesalz (von links oben im Uhrzeigersinn).
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KINO Filmtipp
kochkunst mit wunderwirkung Bitterschöne geschichte – grandios erzählt
Kirschblüten und rote Bohnen
Fotos: © Neue Visionen Filmverleih
Japan 2015 Regie: Naomi Kawase Mit: Kirin Kiki, Kyara Ushida u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 113 Minuten Start: 31.12.2015
E
s gibt Filme, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Geschichten, die zunächst ganz unspektakulär daherkommen, sich dann aber unversehens umso nachhaltiger einnisten – in Herz und Verstand. Naomi Kawase hat mit „Kirschblüten und rote Bohnen“ einen solchen Film geschaffen: Mit einer unfassbaren Kombination von Schlichtheit und Poesie porträtiert sie eine Frau namens Tokue, die sich trotz lebenslanger Zwangs-Isolation eine fast schon beschämende Menschlichkeit bewahrt hat. Freilich ahnt man davon noch nichts, wenn man die alte Frau mit dem freundlichen Gesicht zu Beginn des Films durch die von üppig blühenden Kirschbäumen gesäumten Straßen einer japanischen Großstadt gehen sieht. Die dadurch wie eine himmelslichtdurchflutete Kathedrale wirkt, in der selbst der Verkehrslärm nur gedämpft zu vernehmen ist. Doch schon da geht ein Zauber von ihr aus, regt sich das Gefühl, einem ganz besonderen Menschen zu begegnen. Dieses Gefühl täuscht nicht: Als sie Sentaro, der am Stadtrand einen kleinen Kiosk mit gefüllten Pfannkuchen betreibt, mit großer Hartnäckigkeit schließlich davon überzeugt, dass sie die ideale Aushilfe für den Betrieb ist, entpuppt sie sich als geradezu märchenhafte Köchin. Mit unendlicher Geduld und einem untrüglichen Gespür für den richtigen Moment stellt Tokue in stundenlanger nächtlicher Arbeit ihre eigene Variante der traditionell zur Füllung der Pfannkuchen verwendeten süßen Paste aus roten Bohnen her. Dabei spricht sie mit den Bohnen, streichelt sie mit dem Löffel, umarmt die Töpfe, meditiert über das Kochen, die Gastfreundschaft, das Leben, die Natur und deren Geheimnisse. Und das Ergeb-
nis ist von einer Qualität, die Sentaro bisher nicht kannte. Seine spärlichen Gäste auch nicht. Begeistert erzählen sie überall davon. Mit der Folge, dass am nächsten Tag bei Ladenöffnung bereits viele neue Kunden Schlange stehen, um in den Genuss der Paste zu kommen, deren geglückte Zubereitung früher ein Heiratskriterium war. Und die Tokue mit einer rührenden Seligkeit darüber kreiert hat, dass sie endlich – mit fast 80 Jahren – arbeiten darf: Als sie sich mit Sentaro über den unverhofften Erfolg freut, spiegelt sich in ihrem Gesicht das reine Glück. Das hält indessen nicht lange: Die Schülerin Wakana, die auf dem Heimweg immer bei Sentaro einkehrt, erzählt ihrer Mutter von Tokues merkwürdig verformten Händen. Und schon bald drängt die Imbissbuden-Besitzerin darauf, sie zu entlassen: Es geht das Gerücht, dass sie Lepra habe. Was auch stimmt: Tokue lebt seit 60 Jahren in einer geschlossenen Anstalt, die erst seit kurzer Zeit keine Ausgangssperre mehr hat. Sie wurde ihrer Jugend, ihres Lebens, ihres ungeborenen Kindes, ihrer Zukunft beraubt. Und ist ein solidarischer Mensch geblieben, der Zuversicht verbreitet, wie bei Sentaro und Wakana. Ein bitterschöner Film, mit einer großartigen Kirin Kiki als Tokue. Erika Weisser
KINO Kino FILMTIPPS News
The Revenant – Der Rückkehrer
Die Kinder des Fechters
Voll von der Rolle
Foto: © Jason Bell
Foto: © Kick-Film GmbH
Der Junge am Klavier kommt aus Freiburg
Finnland, Estland 2015 Regie: Klaus Härö Mit: Märt Avandi, Ursula Ratasepp u. a. Verleih: Zorro Laufzeit: 93 Minuten Start: 17.12.2015
Foto: © Jessica Alice Hath
USA, Kanada 2015 Regie: Alejandro González Iñárritu Mit: Leonardo DiCaprio, Tom Hardy u. a. Verleih: 20th Century Fox Laufzeit: 150 Minuten Start: 6.1.2016
Schwere Entscheidung
Überleben aus Rache
Endel Nelis hat es wirklich gegeben. Dennoch ist Klaus Härös Film über das Leben des estnischen Fechters keine Dokumentation, sondern ein lebendiger und höchst spannender Spielfilm, der eine Lebensgeschichte in historische Zusammenhänge stellt. Und die Zuschauer hautnah in Entscheidungsprozesse einbezieht. Die Handlung setzt mit Endels Ankunft in der Hafenstadt Haapsalu in Estland ein. Dorthin wurde er nach dem Ausschluss aus der Leningrader Elite-Sport-Universität von Stalins Geheimpolizei verbannt – wegen abtrünnigen Verhaltens gegenüber der allmächtigen Partei. Als Ausgleich für seine Verfehlung muss er als Provinzlehrer arbeiten und hat es plötzlich mit den armseligen Kindern von Kriegswitwen oder deportierten Vätern zu tun. Zu seinen Aufgaben gehört der Aufbau eines Sportclubs, der freilich bald zu einem persönlichen Anliegen wird: Gegen alle Widerstände lehrt er die Kinder das Fechten. So gut, dass sie am nationalen Fecht-Wettbewerb in Leningrad teilnehmen sollen. Womit Endel seine Verhaftung riskiert.
Der Film ist mehr als ein Wildnis-Survival-Abenteuer: Er erzählt die Geschichte eines Verrats und dem unbändigen Überlebenswillen, den die dafür geplante Rache erzeugt. Er erzählt aber auch eine Vater-Sohn-Geschichte, denn die Liebe zu diesem Sohn beflügelt den schier übermenschlichen Überlebenswillen noch mehr als die Rachegelüste. Und Hugh Glass, der legendäre Jäger und Fallensteller, schafft es: Nachdem er bei einer Expedition in der amerikanischen Wildnis von einem Bären übel zugerichtet und dabei von seinen Jagdbegleitern im Stich gelassen wurde, kämpft er sich müh- und langsam zurück ins Leben – gegen den drohenden Tod, den unerbittlichen Winter und die feindliche Wildnis. Er durchleidet dabei schier unerträgliche Qualen, ist allein auf sich und seine Instinkte gestellt. Alejandro González Iñárritus imposanter neuer Film ist langsam entstanden – entsprechend Hugh Glass’ Weg zurück ins Leben: Ohne Spezialeffekte, ohne künstliches Licht und mit viel Zeit an kraftvollen Orten in unberührter Landschaft
Erika Weisser
Erika Weisser
Auf dem Jakobsweg war Moritz Knapp nicht. Leider: Als Devid Striesow in den Sommerferien 2014 in die Fußstapfen Hape Kerkelings trat und für die Verfilmung von „Ich bin dann mal weg“ ein Stück durch Nordspanien wanderte, war er in Berlin. Denn die Dreharbeiten mit dem inzwischen fast 16-jährigen Rotteck-Schüler fanden dort statt. Dabei haben sich die Szenen, in denen Moritz Knapp aufritt, in der Echtzeit in Recklinghausen abgespielt, wo Hape Kerkeling zur Schule ging. Und seine ersten künstlerischen und musikalischen Versuche unternahm – zusammen mit seinem besten Freund, dem Pianisten Achim Hagemann. Und diesen spielt Knapp im Film – in der Zeit, als der so alt war wie er jetzt. In „ein paar Rückblenden“ ist er zu sehen, unter anderem auch mal am Klavier. Mit „so einer komischen Brille“ und, dem Outfit der 80er-Jahre entsprechend, in „einer witzigen Hose, die bis zum Bauchnabel reicht“. Samt „hineingestopftem Hemd“. Bei den Dreharbeiten, die ihm viel Spaß gemacht haben, weil „alle so supernett“ waren, hat er weder Hagemann noch Kerkeling kennengelernt. Auch vorher nicht; er hat sich „mit YouTube-Videos von den beiden auf seine Rolle vorbereitet“. Er traf erst jetzt, bei der Berliner Premiere, mit ihnen zusammen. Dort hat er den Film zum ersten Mal gesehen – und wird ihn auch ein zweites Mal anschauen, zusammen mit ein paar Kumpels aus seiner Klasse.
Erika Weisser
Ab 24. Dezember 2015 in Freiburger Kinos
kino Filmtipps
Brooklyn – Eine Liebe zwischen zwei Welten
Deutschland 2015 Regie: Stephan Rick Mit: Moritz Bleibtreu, Jürgen Prochnow Verleih: Alamode Laufzeit: 97 Minuten Start: 14.1.2016
Uns geht es gut Foto: © X-Verleih
Foto: © TCF
Foto: © FelixCramer
Die dunkle Seite des Mondes
USA 2015 Regie: John Crowley Mit: Saoirse Ronan, Emory Cohen u. a. Verleih: 20th Century Fox Laufzeit: 112 Minuten Start: 21.1.2016
Deutschland 2015 Regie: Henri Steinmetz Mit: Franz Rogowski, Maresi Riegner u. a. Verleih: Verleih: X-Verleih Laufzeit: 93 Minuten Start: 28.1.2016
Wolf unter Wölfen
groSSe herausforderung Flüchtiges Glück
Unbehagen schleicht sich schon im Vorspann ein, wenn man eine gefühlte Ewigkeit lang in einen zwielichtigen Wald blickt, der geradezu nach einer verborgenen Leiche schreit. Doch die gibt es noch nicht. Denn Urs Blank, der auf dem Gebiet von Firmenfusionen sehr erfolgreiche Wirtschaftsanwalt, hat die Pilze noch nicht gegessen, die sein Leben grundlegend ändern werden. Und ihn. Vielleicht auch nicht: Blanks Freundin Lucille, der er nach dem gemeinsamen Psylo-Trip seine Sorge über seine plötzliche unkontrollierbare Gewalttätigkeit anvertraut, behauptet jedenfalls, dass nur die dunklen Seiten zum Vorschein kommen, die schon immer da waren. In der Hoffnung, durch den nochmaligen Verzehr seine inzwischen in die Tat umgesetzten mörderischen Wolfsinstinkte loszuwerden, begibt er sich auf die Suche nach dem Pilz. Und wird von einem wahren Wolf zur Strecke gebracht: Geschäftspartner und Widersacher Pius Ott. Großartige Umsetzung des Romans von Martin Suter, bestens gespielt von Moritz Bleibtreu und Jürgen Prochnow.
Die junge Irin Eilis Lacey verlässt in den frühen 1950er-Jahren ihre Heimat, um in New York die Chance auf ein besseres Leben zu finden. Dort trifft sie den italienischstämmigen Amerikaner Tony, der ihr hilft, sich in der Großstadt einzuleben. Bald entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die aber zunehmend von Eilis‘ starkem Heimweh und der Sehnsucht nach ihrer Familie überschattet wird. Um beides zu stillen, reist sie nach Irland, doch die Reise gerät zu einer harten Probe, die ihr eine endgültige Entscheidung zwischen zwei Ländern und zwei Lebensentwürfen abverlangt. Saoirse Ronan spielt die Rolle der hinund hergerissenen Eilis mit viel überzeugendem, sehr berührendem Tiefgang. Doch auch die unfreiwillig heitere Seite einer Einwanderung kommt nicht zu kurz und ist trefflich dargestellt, etwa wenn Eilis versucht, sich ungeahnten Herausforderungen wie der richtigen Strand-Etikette und dem kleckerfreien Genuss von Spagetthi zu stellen. Das Drehbuch verfasste Nick Hornby nach dem Roman von Colm Toibin.
Franz Rogowski, der gebürtige Freiburger, spielt in diesem Film die Hauptrolle. Und in der Clique ganz junger Erwachsener, die sich in einer Art Schwebezustand befinden. Er spielt die Rolle des Machers in diesem aus einem Mädchen und vier Jungs bestehenden Quintett, das ziellos in den Tag hineinlebt. Er strotzt vor Kraft und Tatendrang, kann beides aber nicht zur Entfaltung bringen, wirkt seltsam ausgebremst in dem selbst auferlegten Zustand ewiger Sommerferien. Und so bekommt die ohnehin ziemlich oberflächliche Gemeinschaft von Tubbie, Tim, Jojo, Birdie und dem Mädchen Marie bald Risse. Es kommt zu Rangeleien, zu handfesten Streits, die weniger mit Marie zu tun haben als mit der Leere, die sie angesichts ihres unwirklich undefinierten Daseins zunehmend ausfüllt. Denn außer gelegentlichen kleinen Botendiensten haben sie nichts zu tun, als durch die Stadt zu streunen, durch die Wälder zu streifen – sehnsüchtig und hungrig, ohne zu wissen, wonach. Und nur manchmal erleben sie flüchtige Momente des Glücks. Ungewöhnlich tiefgehend.
Erika Weisser
Erika Weisser
Erika Weisser
dvd neuerscheinungen
Gefühlt Mitte Zwanzig
Guten Tag, Ramón
Trash
USA 2014
Mexiko 2014
Großbritannien 2014
Mit: Ben Stiller,
Ramírez-Suárez
Mit: Rickson Tevez,
Vertrieb: Fox Home
Weinstein, Rooney Mara
Laufzeit: 120 Minuten
Laufzeit: 100 Minuten
Regie: Jorge
Regie: Noah Baumbach
Regie: Stephen Daldry
Mit: Christian Ferrer u.a.
Naomi Watts u.a.
Vertrieb: Square One
Entertainment
Entertainment
Laufzeit: 97 Minuten
Vertrieb: Universal
Preis: ca. 13 Euro
Preis: ca. 14 Euro
Eduardo Luis, Gabriel
Preis: ca. 16 Euro
Feine Seitenhiebe
Wärme in der Kälte
Olympische Sprinter
Josh und Cornelia, um die 40, leben in Brooklyn und arbeiten in der Filmbranche. Während ihre Freunde Kinder bekommen, genießen sie alle Freiheiten, die ihnen das Großstadtleben bietet. Und doch beschleicht sie manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen. Ihre Beziehung ist längst zur Routine geworden, als sie das junge Hipster-Pärchen Jamie und Darby kennenlernen. Und zunächst fasziniert sind von deren Unbeschwertheit. Bis sie merken, dass sie Blender sind. Wie viele, die es im Kunstbetrieb zu etwas bringen wollen.
Als Ramón aus dem Frankfurter Flughafengebäude tritt, fällt ihn eine unerhörte Kälte an. Und die Windjacke, die ihm in mexikanischen Wintern und bei seinen fünf vergeblichen Fluchtversuchen in die USA genügend Schutz bot, ist viel zu dünn. Und Geld für eine warme Jacke hat er nicht. Und die Tante, deren Briefe ihn nach Deutschland lockten, findet er nicht. Doch er findet eine freundliche Frau, die ihn bei sich einquartiert, ihn mit Kleidung und Essen versorgt. Eine schöne Geschichte. Zu schön, um wahr zu sein.
Die drei Straßenjugendlichen Rafael, Gardo und Rato finden auf einer Müllkippe am Rande der künftigen Olympiastadt Rio eine Ledertasche. Voller Geld. Schnell ist sie versteckt, doch die Polizei, die alsbald nach ihrem Verbleib fahndet, ist misstrauisch, unternimmt massive Einschüchterungsversuche, heftet sich an ihre Fersen. Bei dem fast schon geglückten Versuch, das Geheimnis des mysteriösen Funds zu lüften, geraten die drei Freunde in eine atemberaubende Verfolgungsjagd mit fast olympischen Sprints. Großartig.
Der Marsch
Victoria
Meister des Todes
Großbritannien 1990
Deutschland 2014
Deutschland 2015
Mit: Malick Bowens,
Mit: Laia Costa,
Mit: Hanno Koffler,
Regie: David Wheatley
Regie: Sebastian Schipper
Juliet Stevenson u.a.
Frederick Lau u.a.
Laufzeit: 100 Minuten
Laufzeit: 140 Minuten
Vertrieb: BBC
Heiner Lauterbach u.a.
Vertrieb: Senator
Preis: ca. 13 Euro
Regie: Daniel Harrich
Vertrieb: Edel
Laufzeit: 93 Minuten
Preis: ca. 15 Euro
Preis: ca. 16 Euro
Ziemlich realistisch
Volles Risiko
Nicht nur Fiktion
Wer hätte vor 25 Jahren damit gerechnet, dass Fiktion so schnell Realität werden würde? Dass tatsächlich eine massenhafte Flucht vor den Folgen von Klimawandel und rücksichtsloser Verheerung eines ganzen Kontinents und der daraus resultierenden Armut einsetzen würde? Damals sorgte „Der Marsch“ für Unbehagen, vielleicht auch Mitgefühl mit denen, deren Heimat unbewohnbar gemacht worden war. Und die nicht weiter als bis an die Außengrenzen der Festung Europa kamen. Nun ist dieser höchst aktuelle Film auf DVD zu sehen.
Zweieinhalb Stunden Film, der in einer Einstellung gedreht wurde, ohne technische Tricks, ohne künstliche Effekte. Ohne Schnitt. Die Kamera ist mitgegangen mit den fünf jungen Menschen. Besser: Mitgerannt. Denn Victoria, Sonne, Boxer, Blinker und Fuß sind in dieser Nacht unterwegs. In Berlin, wo sie in Discos tanzen, auf Dächern feiern und trinken, auf Straßen vor denen davonlaufen, die hinter ihnen her sind – nach einem rasanten, riskanten Banküberfall, der beinahe glückt. Ein atemloser und atemberaubender Film.
Es ist ein Spielfilm, auch wenn die dargestellten Verstrickungen von Behörden und Politikern in den Waffenhandel mit Mexiko ziemlich realistisch wirken. Sind sie auch: Eine solche Geschichte um die Manipulation von Ausfuhrbestimmungen kann man gar nicht erfinden; sie beruht auf heiklen Recherchen, die Regisseur Daniel Harrich zusammen mit dem Freiburger Friedensnetzwerker Jürgen Grässlin in dem Buch „Netzwerk des Todes“ dokumentiert hat. Ein spannender Thriller, den man lieber in den Bereich der Fiktion wünscht.
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Musik Afrika
Sozialarbeiterin wird Popstar Wie Deena Herr, einst Studentin in Freiburg, in Uganda berühmt wurde
V
or zwei Jahren studierte Deena Herr noch in Freiburg und musizierte auf der Kajo. Jetzt wird die 22-Jährige in Uganda als Popstar gefeiert. Ein Manager entdeckte sie in einer Bar. Ihr Song „Mumulete“ in der Landessprache Luganda war der Durchbruch. Ab April will sie in Deutschland Welle machen.
Deena Herr spielte einst in der Kajo. Jetzt wird sie in Ostafrika gefeiert.
Foto: © Promo
Deenas Geschichte ist filmreif. Nach dem Abitur zog es die Baden-Badenerin für ein Jahr nach Ruanda, um mit Straßenkindern zu arbeiten. Anfang 2013 machte sie dabei einen Abstecher ins Nachbarland Uganda. In einer Bar jammte sie spontan mit ein paar Leuten. Der Musik-Manager Bashir sprach sie an, sie tauschten Nummern. Nach dem Auslandsjahr zog Deena im Herbst 2013 nach Freiburg. Sie schrieb sich an der Uni ein – Bio und Mathe auf Lehramt. Die Sängerin lebte in einer Musiker-WG, im Haus gab’s zwei Studios. „Da war immer was los“, erinnert sich Deena beim chilli-Skype-Interview live aus Kampala. Drei- oder viermal die Woche habe sie damals in Freiburgs Gassen musiziert, außerdem sang sie in einem Gospelchor. Schon nach einem Semester wechselte Deena nach Berlin und schrieb sich für Soziale Arbeit ein. Ende 2014 flog sie in die ugandische Hauptstadt Kampala, um Freunde zu besuchen. Dann rief Bashir sie an, fragte, ob sie in der Landessprache Luganda singen könne. Deena sprach kaum ein Wort, willigte aber dennoch ein. Bashir schrieb ihren ersten Song. „Mumulete“, übersetzt: Bringt ihn zu mir. Das verträumte Lied schlug ein wie eine Bombe – und machte Deena zum Star. Ihr Praxissemester absolviert Deena seit September in Kampala, sie arbeitet wieder mit Straßenkindern. Doch der Fokus liegt auf der Musik. Songs schreiben, Videos drehen, Interviews geben. Auch die deutschen Medien
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entdeckten Deena. „Der Oktober war wahnsinnig krass, ich hatte nicht einen freien Tag“, erzählt sie. Nicht mal zum Essen sei sie gekommen und habe einige Kilo verloren. „Ich war im Arbeitswahn “, erinnert sich die Sängerin. Jetzt achtet sie wieder mehr auf sich. Doch die Konzertanfragen häufen sich, die Heiratsanträge auch. „So leicht bin ich aber nicht zu haben“, sagt Deena und lacht. Auf öffentlichen Plätzen muss sie achtgeben. Wenn sie Downtown auf dem Markt erkannt werde, sei die Hölle los. Dann werde sie auch betatscht, die meisten Fans sind Männer. Vor Kurzem hat Deena vor 20.000 Leuten gesungen. „Nach zwei Zeilen sind alle ausgerastet“, sagt sie und kann es selbst kaum fassen. Deena ist sich bewusst, dass ihre Hautfarbe Teil des Erfolgs ist, will sich darauf aber nicht reduzieren lassen. Wichtig ist ihr, zwischen Deutschen und Afrikanern zu vermitteln, Klischees abzubauen. Davon gebe es viel zu viele – auf beiden Seiten. In vier afrikanischen Sprachen singt sie mittlerweile, es könnten noch mehr werden. Ihr Manager Bashir hat Großes vor. Bis Ende März soll eine EP fertig sein. Im April geht’s zurück nach Berlin. Dann will sich Deena auch in Deutschland musikalisch einen Namen machen. Konzertanfragen liegen schon vor, berichtet sie. Ihr Manager will sie einfliegen lassen, falls größere Konzerte in Uganda anstehen. Ihr Studium in Berlin möchte sie auf jeden Fall abschließen. Zwei Semester sind es noch. Wahrscheinlich geht’s danach zurück nach Kampala. Die Sängerin kann sich aber auch gut vorstellen, irgendwann wieder in Freiburg zu leben. „Ich kann Großstädte nicht ab. Ich brauche Ruhe, Felder, Natur“, sagt sie durch die rauschende Skype-Leitung. Im Vergleich mit der 1,3Millionen-Stadt Kampala ist Freiburg für sie ein Dorf. Till Neumann
Various Artists Casper Displaced – songs, XOXO that can’t replace home
keno Casper XOXO Lost Paradajz Four Music (Warner) Showdown
Four Music Displaced
der sounddreck Headline zur zuwanderung
Verlorene Tomate
Charity-Jazz Neu ist die Idee nicht: 1984 rief Bob Geldorf das Band-Aid-Projekt mit seinem Hit „Do They Know It’s Christmas?“ ins Leben, ein Jahr später folgte als amerikanische Version USA for Africa mit dem Hit „We Are The World“. Und auch auf „Displaced“ trällern bekannte Musiker wie Laith Al-Deen, Roger Cicero oder Astrid North für den guten Zweck: Die Einnahmen fließen an Amnesty International für die Flüchtlingshilfe. Der eine Grund, sich die Platte zu kaufen, ist also geklärt, der andere wird beim Hören deutlich. Die Musiker kleiden bekannte Klassiker in neue Gewänder, geben ihnen überraschende Wendungen und interpretieren sie spannend und modern. Eric Claptons „Change the World“ bekommt von Roger Cicero eine jazzige Note, bei Tom Waits „Please Call Me Baby“ übernimmt die soulige Stimme der Elaiza-Sängerin Ela die Hauptrolle, und der eher unbekannte Michael-Jackson-Song „You Were There“ wird mit einem mächtigen orchestralen Sound hinterlegt. Für den sorgen die NDR Bigband und das Babelsberger Filmorchester. „Displaced“ ist ein jazzlastiges, sehr rundes Album, dem man seine Starqualitäten anhört. Ein paar weitere schnelle Nummern hätte es allerdings vertragen. So wird es wohl statt auf Parties eher bei faulen Winterabenden auf der Couch zum Einsatz kommen.
Als Frontmann der HipHop-Blaskapelle Moop Mama hat der Münchner Rapper Keno zuletzt für Furore gesorgt. Dann bereiste der „Backpacker“ Osteuropa, fuhr per Bus und Anhalter durch die Gegend. Jetzt ist sein erstes Soloalbum auf dem Markt. „Paradajz Lost“, der Name ist Programm: Keno rappt über verschmutzte Seen, geschmacklose Tomaten und gottverlassene Orte. Gesellschafts- und Konsumkritik tropft aus jeder Zeile. Keno will hinter die Fassade blicken, will „die Dinge sehen, wie sie sind“ und zitiert nebenbei auch mal Albert Einstein. Der stärkste Moment der Platte ist „Der See“. Zu düsteren Gitarren und dumpfen Bässen erzählt der Mann mit dem kleinen Zopf die Geschichte zweier gegensätzlicher Ufer: Auf der einen Seite Luxus und Wohlstand, auf der anderen „Wäscheleinen in den Industrieruinen“. „Paradajz“ heißt auf Kroatisch Tomate. Eine Metapher für den Verfall einer Gesellschaft, in der alles massenweise verfügbar ist – aber kaum mehr schmeckt. Deutlich aromatischer sind die Beats: Die psychedelisch-orientalischen Samples fand Keno in einer Istanbuler Kneipe. Wie gemacht für seine Texte. „Paradajz Lost“ ist intelligent, kritisch und geht tief – keine leichte Kost. Aber Ballaststoffe sind gesund. Tanzbares gibt’s dann wieder bei Moop Mama.
Tanja Bruckert
Till Neumann
Sind wir doch mal ganz ehrlich. Geht es ihnen nicht auch so: Bei aller Toleranz und Weltoffenheit wundern Sie sich über den Anstieg der Zuwanderung fremdländischer Instrumente. Wollen Sie auch nicht, dass Ihre Kinder die guten deutschen Instrumente wie die Blockflöte, die Schalmei oder die Kesseltrommel nur noch aus Erzählungen der Großeltern kennen? Wo früher die große deutsche Fidel reüssierte, spielt heute ein italienisches Violoncello. Die gute Kesseltrommel, oft schlicht Pauke genannt, sieht sich einer großen Zahl afrikanischer Djemben und karibischer Congas ausgesetzt und ist bald fremd im eigenen Orchester. Am schlimmsten hat es die Laute getroffen. Ihren Konkurrenten, den spanische Gastarbeiter Guitarra, haben wir ja selbst gerufen, gut integriert und zu unserem Bruder gemacht. Dass aber eben diese Guitarra jetzt vermehrt durch die hawaiianische Ukulele verdrängt wird, ist schwer zu ertragen. Insbesondere im untersten Billiglohnsegment macht die Ukulele jeden Job und lässt unserer Guitarra keine Chance auf einen fairen Wettbewerb. Noch schlimmer: Wie viele Balalaikas sitzen wohl in Russland auf ihren Instrumentenkoffern und warten nur darauf, einen Platz im Wohlfahrtstaat unserer Zupfsaiteninstrumente zu bekommen? Also: Mit Hilfe der Geschmackspolizei sollten alle aufpassen, dass es sich beim nächsten Konzert tatsächlich um eine Band und nicht bloß um Instrumentenschleuser handelt. Mit Pauken und Trompeten, Benno Burgey, für die Geschmackspolizei Freiburg
Literatur anregungen für die leser
Prima, utopisch, rauschhaft Freiburger Buchhändler über ihre Bücher des Jahres
Ulrich Profröck Buchhändler bei X für U Ernest van der Kwast: „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“, 96 Seiten, gebunden, Mare 2015, Übersetzung: Andreas Ecke, 18 Euro Wenn ein niederländischer Autor mit indischen Wurzeln, wohnhaft in Südtirol, es fertigbringt, die Geschichte zweier italienischer Leben, und – vielleicht – einer Liebe, ohne gefühlsduseliges Gesülze und noch dazu auf weniger als 100 Seiten ohne quälendes Wortgeschwalle so zu berichten, dass einem dabei warm wird um’s Herz, man noch dazu etwas über den Bikini erfährt, und das Ganze auch noch so fein übersetzt wird, dann darf man das ganz rückhaltlos prima finden!
Susanne Schmid Buchhändlerin bei jos fritz Karin Kalisa: „Sungs Laden“, 255 Seiten, gebunden, C. H. Beck 2015, 19,95 Euro Vor der Wende leben Hien und Gam Tran als vietnamesische Vertragsarbeiter in Ostberlin. Nach der Wende verlieren sie ihre Arbeit, übernehmen einen kleinen, mit Ost- und Westwaren vollgestopften Gemischtwarenladen in Prenzlauerberg. Dann steigt Sohn Sung in das Geschäft ein und macht es zum Sehnsuchtsort der Anwohner, er ist Versorgungseinrichtung, Nachbarschaftstreff und Museum. Menschen aus ganz Berlin kommen, Kulturen mischen sich, Bambus-Brücken verbinden die Stadtteile. Utopisch, unrealistisch, märchenhaft? Vielleicht. Aber es sind Geschichten wie diese, die das Lesen und Leben schön machen.
Roland Burkhart Inhaber von Burkhart Buch- & Medienservice Herrad Schenk: „Für immer Schwestern“, 218 Seiten, gebunden, Insel 2015, 12,99 Euro Alle wissen es: Geschwister haben und speziell Schwestersein ist ein lebenslanges, immer wieder aufwühlendes Schicksal. Herrad Schenk, die seit vielen Jahren vor den Toren 12 CHILLI kultur dezember 2015 / Januar 2016
von Freiburg als Sozialwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Leiterin von Schreibwerkstätten lebt, hat exemplarisch drei ältere Frauen von heute skizziert, die so ziemlich alles mitund gegeneinander durchmachen und gegen Lebensende auch noch streng gehütete Geheimnisse offenbaren (müssen). Das Leben zwingt sie dazu. Unterhaltsamer Tiefgang.
Elke Siebenrock Buchhandlung Rombach Armin Greder: „Die Insel“, 40 Seiten, gebunden‚ Sauerländer 2015, 16,99 Euro Ein großartiger, bewegender und zugleich erschreckender Beitrag zum Thema Flucht: Ein nackter, namenloser Mann strandet auf einer Insel und wird von den dort lebenden Menschen abgelehnt. Sie begegnen ihm mit Furcht und Hass, bringen ihn irgendwann ins Meer zurück. Eine neu errichtete hohe Mauer soll die Inselbewohner künftig vor weiteren Fremden schützen. Die Geschichte hat nicht viele Worte. Umso stärker wirken die expressiven Bilder, die an Edvard Munch erinnern: Sie lassen unglaubliche Emotionen entstehen und beflügeln die eigene Phantasie, die die kargen Worte ergänzt. Ein WERTvolles Buch, das an unsere Menschlichkeit appelliert und das man so schnell nicht vergisst.
Michael Schwarz Inhaber der Buchhandlung Schwarz Frank Witzel: „Die Erfindung ...“, 830 Seiten, gebunden, Matthes & Seitz 2015, 29,90 Euro „Das bestimmende Element des Romans ist sein Sound.“ Sagt sein Autor Frank Witzel. Kein Wunder: Er ist auch, vielleicht gar zuerst, Musiker; mit zwei Kollegen hat er ein Buch über den Pop als Weltaneignungsmodell verfasst. Es gibt Sätze, die sich über mehr als eine engbedruckte Buchseite ziehen. Am Ende eines solchen Satzes konnte ich mich nicht immer erinnern, wo er seinen erzählerischen und gedanklichen Ausgangspunkt hatte. Aber egal: Rhythmus und Sound hatten mich in einen Rausch versetzt. Das Buch wirkt wie eine durchkomponierte Doppel- oder besser Zehnfach-LP, die nie ausgehört sein wird.
BÜCHER REZENSIONEN
Stephanie Kovacs Wilde Lilie 169 Seiten, gebunden Kladde Buchverlag, 2015 19 Euro
einzlkind Billy 206 Seiten, gebunden Insel Verlag, 2015 18,95 Euro
Natalio Grueso Der Wörterschmuggler 356 Seiten, gebunden Hoffmann und Campe, 2015 18 Euro
Mord, Musik, Moral
literarische perlen
Koks gegen Kitsch
Irgendwann kommt Elvis. Der King. Auf Billy zu. In Las Vegas. In einem elektrischen Rollstuhl. Der alte Mann mit der zerzausten Haartolle trinkt Dosenbier, rülpst, will die Weltherrschaft und die Politiker köpfen. Er stimmt „In the Ghetto“ an und kommt dem Original gefährlich nahe. Und dann fallen in einzlkinds grandiosem Roman so schöne Sätze wie „Große Kunst braucht keine Frisur“. Billy ist Schotte, er wächst beim Onkel auf, seitdem sich seine Hippieeltern mit einer Überdosis weggeschossen haben. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche bereitet ihn auf das Leben vor – auf das Andersartige, auf das, was manch einer vielleicht unmoralisch findet. Schlägereien in der Schule, sein brutal-böser Halbbruder Frankie und gute Bands wie Joy Division und Ramones tragen ihren Teil dazu bei. Philosophie, ein bisschen Totschlag und Musik, darum kreist die Story. Immer leicht erzählt, selbstironisch, souverän und mitunter richtig lustig. Billys Familie ist eine von Auftragskillern, sie werden angeheuert, wenn es gilt, Mörder zu bestrafen, Rache zu üben. In Las Vegas erlebt Billy Abenteuer, die der Gonzo-Journalist Hunter S. Thompson in „Fear and Loathing“ nicht schöner hätte beschreiben können. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein. An einer Ausfallstraße macht es schließlich „Peng“. Wer gewinnt? Und was ist die Moral von der Geschichte? Das weiß nicht einmal Elvis. Dominik Bloedner
Der Radiojournalist Ricardo ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er ein Fußballspiel und dessen Ausgang so moderiert, wie es seinem Großvater gefallen würde. Dabei weiß der kultige Sportkommentator, dass er dafür gefeuert, dass seine „Stimme Argentiniens“ zum Schweigen gebracht wird. Was treibt ihn dazu? Der ziemlich arme Lucas riskiert hohe Geldstrafen, um seine Gefühle mitzuteilen: Da die Nutzungsrechte für Sprache bei einem multinationalen Konzern liegen und jeder Buchstabe teuer bezahlt werden muss, schmuggelt der Junge seine Botschaften über Geldscheine unter die Leute. Oder schreibt sie in den Sand, wo das Meer sie löscht, bevor die Gebühreneintreiber sie entdecken. Was bewegt ihn? Die Liebe. Die Liebe, die mit der Magie der Worte gegen die Vereinsamung ankämpft, sie überwindet. Ricardos alterseinsamer Großvater kann nach dem wundersamen Ausgang des Spiels als glücklicher Mensch sterben. Die Macht des verbitterten Sprach-Konzernchefs gerät durch Lucas’ Liebe zu einem Mädchen außer Kraft. In allen Episoden des Romans erweist sich Natalio Grueso als Meister dieser Magie der Worte. Auch wenn die Rahmenhandlung banal ist – und nicht vermuten lässt, dass sie so fantastische literarische Perlen zusammenhält.
„Das Rezept von ihrem selbst angesetzten Chili-Wodka hatte ihr vor Jahren der Besitzer des KGB-Klubs gegeben.“ Die erste Novelle der in Freiburg geborenen Autorin Stephanie Kovacs spielt in ihrer Heimat und zeigt die grüne Stadt von ihrer grauen Seite. Die Protagonistin ist eine Frau, die sich in Drogen und Alkohol verliert, um ihre Vergangenheit zu verdrängen. „Sie“ wird bis zum Ende nicht beim Namen genannt. Trotz der Warnungen ihrer Freunde hatte sie es nicht geschafft, sich von ihrem Verlobten zu trennen – Mario, Alkoholiker und Vater ihres Sohnes Tobias. Als ein Streit eskaliert, entrinnt die Mutter nur knapp dem Tod. Ihr Sohn stirbt bei der Auseinandersetzung. Die Geschichte packt den Leser und zieht ihn in jede Ecke quer durch Freiburg: auf den Weihnachtsmarkt, in die Eschholzstraße, nach St. Georgen und in die verdreckten Hochhäuser von Landwasser. Man könnte sich während des Lesens im gleichen Bus der Linie 11 befinden, in dem auch die Protagonistin sitzt. Die Geschichte wirkt nicht nur wegen der bekannten Schauplätze so echt. Sie lebt von den detaillierten Beschreibungen. Man riecht, fühlt und sieht genau, was passiert. Doch manchmal will man sich beim Lesen wegen Drogen, Alkohol und Totschlag die Augen zuhalten. Eine mitreißende Lektüre gegen den alltäglichen Weihnachtskitsch.
Erika Weisser
Laura Wolfert
reise madeira
Elftes Gebot: Besuche Madeira Eine Liebeserklärung an den Garten Eden Europas
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Fotos: © slipdealder.de / Collage © chilli
in portugiesischer Prinz schickte Anfang des 15. Jahrhunderts zwei junge Kapitäne auf Entdeckungsreise. Sie stießen auf eine riesige, dunkle Wolkenmasse am Horizont. Als die beiden Abenteurer sich an dieses Ungetüm heranwagten, stellte es sich als komplett bewaldete Insel heraus, weswegen sie ihr den Namen „Madeira“ – Holz – gaben. Jahrhunderte später besuche ich als ziemlich mittellose Schulabgängerin die Insel und lande mitten im Atlantik auf einem schwimmenden Berg, der vor 12 Millionen Jahren entstand, als ein untermeerischer Vulkan Lavamassen vom Meeresboden in die Höhe gedrückt hat. Eine Insel, auf der ewiger Frühling, bestes Klima und enorme Vielfalt herrschen. In dem mit durchschnittlich 22 Grad milden, aber nicht zu heißen Klima wächst und gedeiht Obst und Gemüse in Hülle und Fülle. Beim Ankommen springen erst einmal die 14 CHILLI Kultur Dezember 2015 / Januar 2016
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vielen Bananenstauden ins Auge. Diese sind zwar nicht so krumm und groß, wie die EU es sich wünschen würde – dafür schmecken sie noch echt nach Banane. Auch sehr lecker zum traditionellen Degenfisch. Madeira ist für bekennende Wandervögel wie mich ein Paradies: Die ganze Insel blüht und grünt, von Liebesblumen über Bougainvillea und Hibiskus bis hin zu Hortensien und dem „Stolz Madeiras“, den lila leuchtenden Echinacea. Neben der fantastischen Vegetation staune ich über die wandelbare Landschaft. Die Insel bietet nass-grüne Lorbeer- oder Eukalyptuswälder, aber auch heiße, trockene Staubwege mit orange blühenden Kakteen. Eine Wanderung kann einem Kurztrip durch den Regenwald ebenso ähneln wie einem durch Afrika. Schwindelfreiheit ist dabei von Vorteil, da viele Wanderwege direkt am Abhang von senkrecht in die Tiefe herabstürzenden Steilklippen laufen. Kaum zu glauben, dass die Insel früher als Urlaubsdomizil für rüstige Rentner schlechthin galt.
Reise madeira
Fotos: © Sophie Radix
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9 1. Traditionelles madeirisches Bauernhaus in Santana. 2. Eine Touristenattraktion: In einem Korbschlitten auf Holzkufen geht es bergab.
3. Eine Spezialität des Landes, der Madeirawein (Likörwein 4. Bacalhau (Stockfisch), das
mit 17-22% Vol.), reift in Barriquefässern.
portugiesische Nationalgericht, darf auch in der madeirischen Küche nicht fehlen.
5. Der Hafen der Hauptstadt Funchal 6. Die berühmten
portugiesischen Azulejos (große, historische Bildergeschichten in blau-weiß gebrannte Fliesen) finden sich auch im Botanischen Garten
7. Die wahrscheinlich berühmteste Blume, die Strelizie 8. Madeiras Westen besicht durch herrliche Panoramen. 9. Madeiras zentrales von Monte.
oder Paradiesvogelblume, ist auf Madeira beheimatet.
Hochland: Das Landesinnere bietet ein völlig anderes Landschaftsbild, das zum Wandern einlädt.
Allerdings sind die steilen Touren kein Muss: Bereits im 15. Jahrhundert wurden künstliche Wasserläufe angelegt, die sogenannten Levadas, um das Wasser aus den niederschlagsreichen Bergen in andere Bereiche der Insel zu transportieren. Diese Wege sind flach, damit das Wasser besser fließen kann, und laden daher auch zum Spazierengehen ein. Plant man indes, einen der vielen Tunnel auf der Insel zu durchqueren, sollte man Licht dabei haben: Ich selbst vertraue in einem eigentlich harmlosen Tunnel bei Rabaçal naiverweise auf das Licht meines Handys, muss mich dann aber minutenlang im fast Stockdunkeln an nass-kalten glitschigen Wänden entlanghangeln, bis zwei fröhliche „Viva Colonia“ singende Touristen hinter mir mit ihren Taschenlampen Licht ins Dunkle bringen. Neben anderen Wandervögeln begleiten einen stets das Rascheln der schillernden Eidechsen, die über heiße Steine huschen, und hüpfende Finken, die einem durchaus mal überschüssige Krümel aus der Hand picken. Besonders ruhige und nicht überlaufene Pfade finden sich im Westen der Insel. Vom Dorf Estreito da Calheta geht es mit spektakulären Ausblicken entlang steiler Hänge in die Nachbardörfer Jardím do Mar und Paúl do Mar. In den umliegenden Bergen fließt ein Wasserfall, dessen Lauf einen Bach und kleine Teiche bildet, die zur Erfrischung inmitten grünster Natur einladen. In Jardím do Mar zeigt der Atlantik dann mit meterhohen Wellen, was er drauf hat. Beim Verlassen der Insel bin ich einerseits traurig, diese Schönheit hinter mir zu lassen. Aber auch ein bisschen erleichtert. Denn wer einmal auf Madeira war, macht sich weniger Gedanken darüber, ob er mal in Himmel oder Hölle landet. Er hat das Paradies auf Erden schon gesehen. Sophie Radix
Madeira
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INFO
Ankommen & Rumkommen Edelweiss, eine Tochter von SwissAir, fliegt ab Zürich zweimal die Woche direkt nach Funchal (kostet um die 350 Euro hin und zurück) Vom EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg aus gibt es Flug-Verbindungen nach Funchal entweder über London oder über Lissabon. Mehr Info: www.euroairport.com Ein Tipp zur Übernachtung ist das Hotel Atrio in Estreito da Calheta, familiäre und ruhige Atmosphäre 500 Meter über dem Meer. Viele schöne Wanderungen beginnen direkt hinterm Haus. Infos im Netz www.visitmadeira.pt | www.atrio-madeira.com Dezember 2015 / Januar 2016 CHILLI kultur 15
reise Ukraine
Das gespaltene Land Ein Streifzug durch die Ukraine
Denkwürdig: Auf dem Maidanplatz wurden vor zwei Jahren Menschen erschossen. Heute schlendern dort Touristen umher und fotografieren Denkmäler für die Gefallenen.
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s ist derzeit nicht jedermanns Sache, aber chilli-Redakteur Till Neumann ist eine Woche lang durch die Ukraine gereist. Er besuchte Kiew, Charkow und Dnipropetrowsk – die drei größten Städte des Landes. Manches erinnert dort an Paris, manches auch an die Sowjetunion. Und manchmal fühlt man sich ein bisschen wie im Krieg. Die Ukraine. Nicht gerade ein typisches Touristenziel in diesen Tagen. Man erinnert sich an brennende Barrikaden in Kiew, an Erschossene auf dem Maidanplatz, denkt an die Unruhen im Osten des Landes und an die annektierte Krim. Erst Ende November versammelten sich Kiewer Bürger auf dem zentralen Platz der Stadt. Sie gedachten der blutigen Revolution vor zwei Jahren im Zentrum Kiews.
reise Ukraine
Fotos: © tln
Voller Kontraste: Kiew wandelt zwischen europäischer Metropole und Relikten der Sowjetunion. An Souvenirständen gibt‘s Putin-Klopapier.
Am Maidan beginnt auch die Reise. Genauer gesagt im altehrwürdigen Sowjet-Hotel Kozatskiy. Vom Balkon aus hat man den Brennpunkt der Revolution direkt vor sich. Autos schlängeln sich dort hupend über die vierspurige Straße der 2,7-Millionen-Einwohner-Metropole, im Schein der orangenen Laternen schlendern Fußgänger zwischen monumentalen Bauten über den Asphalt. Den besten Blick hat Erzengel Gabriel. Er thront in 36 Metern Höhe auf der Säule des Maidan. Willkommen in Kiew. Warmes Wasser zum Duschen gibt’s am nächsten Morgen nicht. Und auch das Frühstücksbüffet bietet herzhafte Überraschungen: Nudeln, Fleisch, Reis und Gemüse. Die ukrainischen Tischnachbarn bedienen sich reichlich. Zum Glück gibt’s auch etwas Kuchen, Brot und Joghurt. Englisch spricht das Hotel-Personal nur bedingt. Aber irgendwie versteht man sich. Gesprochen wird Ukrainisch oder Russisch. Das Land ist zweisprachig, nahezu jeder versteht beides. Vor dem Hotel herrscht reges Treiben. Zwischen lässigen Bistros, schicken
Cafés und einem McDonald’s treffen sich Jung und Alt. Wäre da nicht die fremde Sprache, man könnte sich in Paris oder Berlin wähnen. Die Stadt lebt und pulsiert. Wiedergewonnene Normalität trotz der brodelnden Konflikte im Donbass. Doch ein paar Meter weiter wird man von den harten Fakten eingeholt: Im Zentrum
Klitschko macht Wahlkampf des Maidanplatzes lebt die Revolution weiter. Mannsgroße Fotos zeigen martialische Bilder der Kämpfe. Vor einem alten VW-Bus stehen Erinnerungstafeln mit Bildern der Gefallenen, die blau-gelbe Landesfahne flackert im Wind, Alt-Revolutionäre sammeln Spenden für Hinterbliebene. Auch rund herum sind viele Gedenkstätten, Kerzen, Fotos und Blumen erinnern an die rund 100 Erschossenen
des Winters 2013/2014. Wer die Scharfschützen auf den Dächern rund um den Maidan beauftragte, ist bis heute nicht geklärt. Ungewiss ist an diesem Sonntag auch noch, dass Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko eine Woche später erneut zum Bürgermeister Kiews gewählt wird. Sonderlich beliebt ist er in alternativen Kreisen Kiews nicht. Er sei korrupt wie viele andere Politiker auch, heißt es. Nur etwa 15 Gehminuten entfernt liegt ein Szene-Ort, der in keinem Touristenführer verzeichnet ist. Partkom. Ein Partykeller, ein Proberaum, ein Ort des Widerstands. In den Räumlichkeiten treffen sich kreative Köpfe zum Musizieren, Diskutieren und Feiern. Während der Revolution wurden dort Verwundete versorgt. Viele der heutigen Stammgäste standen auf dem Maidan an vorderster Front. So auch der Schlagzeuger Costa, für den sein Land weiter im Ausnahmezustand ist: „Hier ist Krieg“, sagt der 42-Jährige. Unsicher fühle er sich in Kiew aber nicht. So geht es auch den Touristen. Nachts stolpert man zwar auch mal über bewaffnete Soldaten und Panzer. 33
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reise Ukraine
Fotos: © tln
Auf in den Osten: In Charkow stehen Panzer in der Stadt, Dnipropetrowsk lädt mit Uferpromenade und Strand zum Flanieren ein.
33 Doch Kiew kann man erkunden, ohne sich bedroht zu fühlen. Ein Rundgang lohnt sich: Malerische Kirchen wie das St. Michaelskloster recken ihre gold-glänzenden Kuppeln Richtung Himmel. Und Souvenirstände bieten interessante Einblicke: Neben Revolutions-T-Shirts werden Klopapierrollen mit dem Konterfei Wladimir Putins feilgeboten. Wer müde ist, kann sich mit einem Kaffee an kleinen Foodtrucks stärken. Das Heißgetränk gibt’s für etwa 50 Cent. Mittagessen kann man ab drei Euro, Vodka gibt’s für zwei. Mit dem Nachtzug geht es weiter in die zweitgrößte Stadt des Landes Charkow. Es empfiehlt sich, ein Schlafabteil für zwei Personen zu nehmen. In den Massenlagern sind Sauerstoff und Platz Mangelware. Eiskalte Luft kann man dafür am frühen Morgen in Charkow atmen. Im Bildungszentrum des Landes leben 1,4 Millionen Einwohner. Bis nach Russland sind es von dort nur 40 Kilometer, bis ins umkämpfte Donezk 300. Absolut sehenswert ist die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale. Die rot-ocker gestreifte Fassade sieht aus wie gemalt, der prunkvolle Innenraum glitzert golden wie die Schatzkammer Dagobert Ducks. Dafür ist der mehr als 700 Meter lange Freiheitsplatz im Zentrum gähnend leer. Nur ein Militärzelt steht am Rande, es heißt, dort würden Kämpfer für den Donbass rekrutiert. Eine überaus stilvolle Bleibe in der nur überschaubar touristischen Stadt ist das Hotel 19 (www. hotel19.ua). Dort lässt sich seelenruhig schlafen und ausgezeichnet essen. Im Kühlschrank eines kleinen Ladens um die Ecke lächelt Manuel Neuer vom Etikett einer Bierflasche. 18 CHILLI Kultur Dezember 2015 / Januar 2016
Über holprige Straßen geht es mit dem Kleinbus weiter nach Dnipropetrowsk. Die drittgrößte Stadt des Landes hat touristisch mehr zu bieten als Charkow. Die Uferpromenade des Dnepr lädt zum Flanieren ein, am kleinen Strand streckt sich sogar im Oktober ein Badegast. Das Stadtzentrum lockt mit einer netten Einkaufspassage, der Club Moulin Rouge erinnert nicht nur namentlich an Paris. Auch das schwülstige Interieur passt zum französischen Namensgeber. Entlang dem Dnepr geht’s zurück nach Kiew – in die Stadt der Kontraste: West trifft Ost, Krieg trifft Alltag, funkelnd-modern trifft brüchig-verkommen. Nur eins ist hier zweifelsohne zeitlos: Vodka. Das entsprechende Supermarktregal ist so groß wie hierzulande das für Bier. Till Neumann
Ukraine INFO
Die ukrainische Landeshauptstadt Kiew ist vom EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg mehrfach täglich zu erreichen. Die Flüge gehen mit der Lufthansa oder Austrian Airlines über München. Mehr Mehr Info: www.euroairport.com