chilli Kultur – das Freiburger Stadtmagazin

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Ausgabe Dezember/Januar 12. Jahrgang / #115

2,50 Euro

12/15/-01/16

Ausgabe

Was da wieder los ist: Termine & Partys 19.12.15 – 14.02.16

Magic DaNce

of the

am 23.03.2016 im Kultur- und Bürgerhaus Denzlingen

Knallbuntes KALEIDOSKOP Die Internationale Kulturbörse Freiburg boomt wie nie

LIEDER

Wie die Freiburgerin Deena in Uganda zum Star wurde

LÄNDER

Stippvisite in der Ukraine

LITERATEN

Freiburger Buchhändler und die Bücher des Jahres

mit T h em en HE FT Weihnach tszeit



chilli Editorial

KleinkunstHochburg Freiburg Von Rettern, Popstars und Pazifisten

Foto: © Anja Limbrunner

Lokalmatador auf der Kulturbörse: Matthias Deutschmann.

Liebe Leserin & lieber Leser, einmal im Jahr trifft sich die große internationale Kleinkunstszene in der kleinen Großstadt Freiburg. Dann öffnet die Internationale Kulturbörse ihre Pforten. 600 Künstler aus 31 Ländern reisen im Januar an und werden Denkmuskeln wie Lachmuskeln strapazieren. Die Börse boomt: Nie zuvor wollten so viele Produzenten, Agenten und Aussteller ihre Visitenkarten abgeben. Und mit der IKF startet auch das Grenzenlos-Festival, das andernorts schon mal ausfällt, in Freiburg aber auch ein dickes Brett im lokalen Kleinkunstkalender ist. Für Kulturinteressierte ist alles angerichtet. Angerichtet hat auch Deena Herr etwas. Die 22-Jährige hatte vor zwei Jahren noch in Freiburg studiert und auf der Kajo musiziert. Dann ging sie nach Ruanda, um mit Straßenkindern zu arbeiten und trällerte in einer Bar so vor sich hin. Warum sie heute nicht nur in Uganda ein Popstar ist, wollte Redakteur Till Neumann wissen. Wissen Sie, was containern ist? Unsere Redakteurin Tanja Bruckert weiß es: Sie hat im Abfall recherchiert und zutage gefördert, wie viele

Menschen sich mittlerweile – legal oder illegal – darum kümmern, dass weniger Lebensmittel verschwendet werden. Dem Bewahren hingegen haben sich die Eheleute Theuerkaufer verschrieben. Sie verleihen Porzellan und Deko aus den 40er- bis 70er-Jahren – und sind für uns deswegen die Retter der Tafelrunde. Ein kämpferischer Pazifist ist Jürgen Grässlin. Der Mann, der den Mächtigen in Ministerien und vor allem dem Waffenhersteller Heckler & Koch zuverlässig auf die Finger guckt, hat erstmals erreicht, dass Waffenhändler vor Gericht gestellt werden. Warum er dennoch nicht glücklich ist, erzählte er beim Redaktionsbesuch. Wir hingegen haben Ulrich von Kirchbach einen Besuch abgestattet. Für den Sozialbürgermeister stand das vergangene Jahr ganz im Zeichen der Flüchtlingskrise. Die kleine Politik hat er im Griff, bei der großen spart er nicht an klaren Worten. Wir wünschen anregende Lektüre, ein friedliches Weihnachtsfest, besinnliche Tage und ein gesundes neues Jahr. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen.

Herzlichst, Ihr Lars Bargmann, Chefredakteur & die chillisten Dezember 2015 / Januar 2016 CHILLI Kultur 3


Kultur Veranstaltungen

Volle Ladung Kulturbörse: Es wird viel Staunenswertes und Hörenswertes geben. Unter anderem von Ulik, „Das Geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, Michael Hatzius -

Facettenreiches Kaleid

Die 28. IKF boomt wie nie – 600 Künstler aus 31 L

D

ie 28. Internationale Kulturbörse Freiburg hat ihre ohnehin schon kräftige magnetische Wirkung auf internationale Künstler und Aussteller noch einmal verstärkt: Schon Anfang November hatten 354 Aussteller die Messe Freiburg restlos ausgebucht. Rekord. Rund 600 Künstler aus 31 Nationen kommen vom 25. bis 28. Januar zur IK nach F. „Das Who-is-who der deutschsprachigen Kleinkunstszene ist bei uns“, sagt IKF-Chef Holger Thiemann von der veranstaltenden Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH. Widerspruch wird er nicht ernten. Den Reigen der sechs öffentlichen Veranstaltungen (siehe Infobox) eröffnet am 25. Januar – auch fürs Grenzenlos-Festival – die große Opening-Gala mit dem Kabarett-Duo „Das Geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, dem deutschen Slam-Poeten Nektarios Vlachopoulos, dem preisgekrönten Puppenspieler und Comedian Michael Hatzius mit seiner Echse, UliK Produktion, der Fenix Theatre Company und den virtuosen Mozart Heroes – für Thiemann „Liebe auf den ersten Blick“. Während die Kabarett- und ComedySzene vor allem deutschsprachig ist, sind Musik und Straßentheater so in-

ternational wie selten. Aus Südamerika (Argentinien, Brasilien, Chile), den USA und Kanada, aus Japan und dem Nahen Osten (Libanon), aus Afrika (Kamerun, Südafrika) und so gut wie allen Teilen Europas reisen die Künstler an – ja sogar aus Österreich, dem erfolgreichen Themenschwerpunkt aus dem Vorjahr. Das nötige Lokalkolorit in die äußerst bunte Kulturbörse bringen der Freiburger Kabarettist Frank Sauer als Moderator und Ink Stained Me, die hippen und hoppen, derweil durchaus auch groovigen diesjährigen Rampe-Gewinner. Schwerpunkt heuer sind Cirque nouveau und das Varieté: 55 von 180 Veranstaltungen gehen in diesen Bereichen über die Bühnen. Zum ersten Mal in der Geschich-

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te der IKF gibt es einen Dokumentarfilm zu bestaunen, in dem die Lutterbekerin Linn Marx die erzählenswerte Geschichte ihres Elternhauses, der Kult-Gaststätte Lutterbeker, filmisch aufbereitet hat. Etwas Schrilleres gefällig? Es gibt eine Maschine, die mit Sand schreiben kann, eine Graffitikünstlerin, die mit Laser Bilder an die Wand wirft und dazu tanzt, oder die irische Formation Journey to Ireland, die die Geschichte ihres Landes, jawohl, tanzt. Und es gibt einen, an den sich auch ältere Semester erinnern: Ilja Richter kommt nach Freiburg, der mit dem TV-Format Disco elf Jahre lang Musik und Sketche in die Wohnzimmer gebracht hat. Das Internet-Comedy-Magazin Joke kommt

Open House info >  Mo., 25.1., 20 Uhr, Theatersaal 1: Opening Gala. Karten ab 19/13 Euro >  Di., 26.1., 20.30 Uhr, Theatersaal 2: Libery Di … Physical Theatre. Karten ab 16/12 Euro >  Di., 26.1., 20.30 Uhr, Music Hall: A Cappella Worldwide. Karten ab 16/12 Euro >  Mi., 27.1., 19.30 Uhr, K 6 – K 9: Poetry Slam. Karten ab 8/6 Euro >  Mi., 27.1., 20 Uhr, Zentralfoyer: La Trócola Circus. Karten ab 16/12 Euro >  Do., 28.1., 19.15 Uhr, Theatersaal 1: Varieté-Abend. Karten ab 19/15 Euro >  Mehr Infos: www.kulturboerse-freiburg.de


Kultur Veranstaltungen

Kopfkino und Animatöse Scharfes, Schräges und Schrilles beim 17. Grenzenlos-Festival

Z natürlich nebst Echse, Africappella und den Mozart Heroes (v.l.) .

oskop

Ländern

gleich mit Aufnahmestudio angereist und zeichnet viele Live-Auftritte auf. Eine Denkaufgabe für den SWR? Zu Gast – im Messekatalog – ist auch die Online-Satirezeitung Tagespresse, die heuer beim österreichischen Kabarettpreis den Sonderpreis einheimste. Es gibt Langsames, etwa von Gráinne Holland, Spektakuläres, etwa von Libery Di … Physical Theatre, Vielstimmiges wie bei der A-cappella-Nacht mit Africappella aus Johannesburg und Cluster aus Italien oder auch Erstaunliches wie beim La Trócola Circus. Und es gibt auch wieder was zu gewinnen: die Freiburger Leiter. Die Kandidaten für die Karriereleiter, 1000 Euro sowie Auftritte auf der Schweizer Künstlerbörse und bei der IKF 2017 sind erstmals durch eine Jury nominiert worden. Und anders als bisher werden die Sieger – nach dem Publikumsentscheid – nicht mehr am Ende, sondern gleich am zweiten Börsen-Tag im Theatersaal geehrt. „Wir möchten die Freiburger Leiter aufwerten“, erzählt Thiemann – derweil im Hintergrund die Mozart Heroes Metallicas Enter Sandman mit Violoncello und Gitarre inszenieren. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum es Liebe auf den ersten Blick war. Lars Bargmann

ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein (Die neuen Leiden des alten M.) eröffnet das Festival am 26. Januar im SWR-Studio, Bernd Kohlhepp (Hämmerle – Privat) und Ehnert vs. Ehnert (Zweikampfhasen) beenden es am 6. Februar ebenda und im Vorderhaus. Dazwischen gibt es auch mal im E-Werk, im Paulussaal, im Berghotel Schauinsland oder auch im Humboldtsaal Spaß mit Tiefgang, Unterhaltung mit Niveau. So lädt Martin Zingsheim ein zum Kopfkino – der Mann ist so etwas wie der Assoziations-Hopping-Beauftragte –, Matthias Deutschmann fragt sich: „Wie

sagen wir’s dem Volk?“. Volker Gerling weiß hingegen schon, dass Bilder laufen lernen, indem man sie herumträgt, und Irmgard Knef, die Alterspräsidentin des deutschen Kabarett-Chansons, findet: Ein Lied kann eine Krücke sein. Aber auch Badesalz (Dö Chefs), die Antidiva Anna Mateur & The Beuys, die Gesangsdiva Gesine Heinrich oder Volker Gerling mit seinem Daumenkino und viele andere kommen nach Freiburg. Nicht zu vergessen Christine Prayon (das ist die Birte Schneider aus der ZDF-heute-Show), die ihr Programm „die Diplom-Animatöse“ auf die Bühne bringt. Keine so weite Anreise hat die in Freiburg lebende Susanne Fritz, die zusammen mit Matthias Anton Worten mit Klavier, Saxophon und Bassklarinette Ausdruck verleiht. Büchner-Preisträger Arnold Stadler sagte einst über die Schriftstellerkollegin Fritz: „Sätze wie Spaten“. Ein tiefschürfender Abend wartet. bar Mehr Infos und Karten: www.freiburg-grenzenlos-festival.de www.reservix.de

Fotos: © ZVG, Thorsten Harms, David Campensino, Anja Limbrunner, C. Bertelsmann

Fotos: © ZVG

eitgleich mit der Internationalen Kulturbörse startet am 25. Januar in Freiburg auch das Freiburger Grenzenlos-Festival, das das Kulturbüro vom Vorderhaus zusammen mit dem SWR und dem Konzertveranstalter Koko & DTK Entertainment auf die Bretter bringt. Es ist gleichsam das Festival zur Börse, es ist mal scharf, mal schräg und auch mal schrill, und es zählt in seiner 17. Auflage zu den ganz dicken Brettern im Kleinkunstkalender von Freiburg.

Grenzenlose Unterhaltung: Christine Perayon, Ehnert vs. Ehnert, Matthias Deutschmann, Harald Martenstein, Anna Mateur und Dö Chefs von Badesalz (von links oben im Uhrzeigersinn).

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KINO Filmtipp

kochkunst mit wunderwirkung Bitterschöne geschichte – grandios erzählt

Kirschblüten und rote Bohnen

Fotos: © Neue Visionen Filmverleih

Japan 2015 Regie: Naomi Kawase Mit: Kirin Kiki, Kyara Ushida u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 113 Minuten Start: 31.12.2015

E

s gibt Filme, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Geschichten, die zunächst ganz unspektakulär daherkommen, sich dann aber unversehens umso nachhaltiger einnisten – in Herz und Verstand. Naomi Kawase hat mit „Kirschblüten und rote Bohnen“ einen solchen Film geschaffen: Mit einer unfassbaren Kombination von Schlichtheit und Poesie porträtiert sie eine Frau namens Tokue, die sich trotz lebenslanger Zwangs-Isolation eine fast schon beschämende Menschlichkeit bewahrt hat. Freilich ahnt man davon noch nichts, wenn man die alte Frau mit dem freundlichen Gesicht zu Beginn des Films durch die von üppig blühenden Kirschbäumen gesäumten Straßen einer japanischen Großstadt gehen sieht. Die dadurch wie eine himmelslichtdurchflutete Kathedrale wirkt, in der selbst der Verkehrslärm nur gedämpft zu vernehmen ist. Doch schon da geht ein Zauber von ihr aus, regt sich das Gefühl, einem ganz besonderen Menschen zu begegnen. Dieses Gefühl täuscht nicht: Als sie Sentaro, der am Stadtrand einen kleinen Kiosk mit gefüllten Pfannkuchen betreibt, mit großer Hartnäckigkeit schließlich davon überzeugt, dass sie die ideale Aushilfe für den Betrieb ist, entpuppt sie sich als geradezu märchenhafte Köchin. Mit unendlicher Geduld und einem untrüglichen Gespür für den richtigen Moment stellt Tokue in stundenlanger nächtlicher Arbeit ihre eigene Variante der traditionell zur Füllung der Pfannkuchen verwendeten süßen Paste aus roten Bohnen her. Dabei spricht sie mit den Bohnen, streichelt sie mit dem Löffel, umarmt die Töpfe, meditiert über das Kochen, die Gastfreundschaft, das Leben, die Natur und deren Geheimnisse. Und das Ergeb-

nis ist von einer Qualität, die Sentaro bisher nicht kannte. Seine spärlichen Gäste auch nicht. Begeistert erzählen sie überall davon. Mit der Folge, dass am nächsten Tag bei Ladenöffnung bereits viele neue Kunden Schlange stehen, um in den Genuss der Paste zu kommen, deren geglückte Zubereitung früher ein Heiratskriterium war. Und die Tokue mit einer rührenden Seligkeit darüber kreiert hat, dass sie endlich – mit fast 80 Jahren – arbeiten darf: Als sie sich mit Sentaro über den unverhofften Erfolg freut, spiegelt sich in ihrem Gesicht das reine Glück. Das hält indessen nicht lange: Die Schülerin Wakana, die auf dem Heimweg immer bei Sentaro einkehrt, erzählt ihrer Mutter von Tokues merkwürdig verformten Händen. Und schon bald drängt die Imbissbuden-Besitzerin darauf, sie zu entlassen: Es geht das Gerücht, dass sie Lepra habe. Was auch stimmt: Tokue lebt seit 60 Jahren in einer geschlossenen Anstalt, die erst seit kurzer Zeit keine Ausgangssperre mehr hat. Sie wurde ihrer Jugend, ihres Lebens, ihres ungeborenen Kindes, ihrer Zukunft beraubt. Und ist ein solidarischer Mensch geblieben, der Zuversicht verbreitet, wie bei Sentaro und Wakana. Ein bitterschöner Film, mit einer großartigen Kirin Kiki als Tokue. Erika Weisser


KINO Kino FILMTIPPS News

The Revenant – Der Rückkehrer

Die Kinder des Fechters

Voll von der Rolle

Foto: © Jason Bell

Foto: © Kick-Film GmbH

Der Junge am Klavier kommt aus Freiburg

Finnland, Estland 2015 Regie: Klaus Härö Mit: Märt Avandi, Ursula Ratasepp u. a. Verleih: Zorro Laufzeit: 93 Minuten Start: 17.12.2015

Foto: © Jessica Alice Hath

USA, Kanada 2015 Regie: Alejandro González Iñárritu Mit: Leonardo DiCaprio, Tom Hardy u. a. Verleih: 20th Century Fox Laufzeit: 150 Minuten Start: 6.1.2016

Schwere Entscheidung

Überleben aus Rache

Endel Nelis hat es wirklich gegeben. Dennoch ist Klaus Härös Film über das Leben des estnischen Fechters keine Dokumentation, sondern ein lebendiger und höchst spannender Spielfilm, der eine Lebensgeschichte in historische Zusammenhänge stellt. Und die Zuschauer hautnah in Entscheidungsprozesse einbezieht. Die Handlung setzt mit Endels Ankunft in der Hafenstadt Haapsalu in Estland ein. Dorthin wurde er nach dem Ausschluss aus der Leningrader Elite-Sport-Universität von Stalins Geheimpolizei verbannt – wegen abtrünnigen Verhaltens gegenüber der allmächtigen Partei. Als Ausgleich für seine Verfehlung muss er als Provinzlehrer arbeiten und hat es plötzlich mit den armseligen Kindern von Kriegswitwen oder deportierten Vätern zu tun. Zu seinen Aufgaben gehört der Aufbau eines Sportclubs, der freilich bald zu einem persönlichen Anliegen wird: Gegen alle Widerstände lehrt er die Kinder das Fechten. So gut, dass sie am nationalen Fecht-Wettbewerb in Leningrad teilnehmen sollen. Womit Endel seine Verhaftung riskiert.

Der Film ist mehr als ein Wildnis-Survival-Abenteuer: Er erzählt die Geschichte eines Verrats und dem unbändigen Überlebenswillen, den die dafür geplante Rache erzeugt. Er erzählt aber auch eine Vater-Sohn-Geschichte, denn die Liebe zu diesem Sohn beflügelt den schier übermenschlichen Überlebenswillen noch mehr als die Rachegelüste. Und Hugh Glass, der legendäre Jäger und Fallensteller, schafft es: Nachdem er bei einer Expedition in der amerikanischen Wildnis von einem Bären übel zugerichtet und dabei von seinen Jagdbegleitern im Stich gelassen wurde, kämpft er sich müh- und langsam zurück ins Leben – gegen den drohenden Tod, den unerbittlichen Winter und die feindliche Wildnis. Er durchleidet dabei schier unerträgliche Qualen, ist allein auf sich und seine Instinkte gestellt. Alejandro González Iñárritus imposanter neuer Film ist langsam entstanden – entsprechend Hugh Glass’ Weg zurück ins Leben: Ohne Spezialeffekte, ohne künstliches Licht und mit viel Zeit an kraftvollen Orten in unberührter Landschaft

Erika Weisser

Erika Weisser

Auf dem Jakobsweg war Moritz Knapp nicht. Leider: Als Devid Striesow in den Sommerferien 2014 in die Fußstapfen Hape Kerkelings trat und für die Verfilmung von „Ich bin dann mal weg“ ein Stück durch Nordspanien wanderte, war er in Berlin. Denn die Dreharbeiten mit dem inzwischen fast 16-jährigen Rotteck-Schüler fanden dort statt. Dabei haben sich die Szenen, in denen Moritz Knapp aufritt, in der Echtzeit in Recklinghausen abgespielt, wo Hape Kerkeling zur Schule ging. Und seine ersten künstlerischen und musikalischen Versuche unternahm – zusammen mit seinem besten Freund, dem Pianisten Achim Hagemann. Und diesen spielt Knapp im Film – in der Zeit, als der so alt war wie er jetzt. In „ein paar Rückblenden“ ist er zu sehen, unter anderem auch mal am Klavier. Mit „so einer komischen Brille“ und, dem Outfit der 80er-Jahre entsprechend, in „einer witzigen Hose, die bis zum Bauchnabel reicht“. Samt „hineingestopftem Hemd“. Bei den Dreharbeiten, die ihm viel Spaß gemacht haben, weil „alle so supernett“ waren, hat er weder Hagemann noch Kerkeling kennengelernt. Auch vorher nicht; er hat sich „mit YouTube-Videos von den beiden auf seine Rolle vorbereitet“. Er traf erst jetzt, bei der Berliner Premiere, mit ihnen zusammen. Dort hat er den Film zum ersten Mal gesehen – und wird ihn auch ein zweites Mal anschauen, zusammen mit ein paar Kumpels aus seiner Klasse.

Erika Weisser

Ab 24. Dezember 2015 in Freiburger Kinos


Literatur anregungen für die leser

Prima, utopisch, rauschhaft Freiburger Buchhändler über ihre Bücher des Jahres

Ulrich Profröck Buchhändler bei X für U Ernest van der Kwast: „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“, 96 Seiten, gebunden, Mare 2015, Übersetzung: Andreas Ecke, 18 Euro Wenn ein niederländischer Autor mit indischen Wurzeln, wohnhaft in Südtirol, es fertigbringt, die Geschichte zweier italienischer Leben, und – vielleicht – einer Liebe, ohne gefühlsduseliges Gesülze und noch dazu auf weniger als 100 Seiten ohne quälendes Wortgeschwalle so zu berichten, dass einem dabei warm wird um’s Herz, man noch dazu etwas über den Bikini erfährt, und das Ganze auch noch so fein übersetzt wird, dann darf man das ganz rückhaltlos prima finden!

Susanne Schmid Buchhändlerin bei jos fritz Karin Kalisa: „Sungs Laden“, 255 Seiten, gebunden, C. H. Beck 2015, 19,95 Euro Vor der Wende leben Hien und Gam Tran als vietnamesische Vertragsarbeiter in Ostberlin. Nach der Wende verlieren sie ihre Arbeit, übernehmen einen kleinen, mit Ost- und Westwaren vollgestopften Gemischtwarenladen in Prenzlauerberg. Dann steigt Sohn Sung in das Geschäft ein und macht es zum Sehnsuchtsort der Anwohner, er ist Versorgungseinrichtung, Nachbarschaftstreff und Museum. Menschen aus ganz Berlin kommen, Kulturen mischen sich, Bambus-Brücken verbinden die Stadtteile. Utopisch, unrealistisch, märchenhaft? Vielleicht. Aber es sind Geschichten wie diese, die das Lesen und Leben schön machen.

Roland Burkhart Inhaber von Burkhart Buch- & Medienservice Herrad Schenk: „Für immer Schwestern“, 218 Seiten, gebunden, Insel 2015, 12,99 Euro Alle wissen es: Geschwister haben und speziell Schwestersein ist ein lebenslanges, immer wieder aufwühlendes Schicksal. Herrad Schenk, die seit vielen Jahren vor den Toren 12 CHILLI kultur dezember 2015 / Januar 2016

von Freiburg als Sozialwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Leiterin von Schreibwerkstätten lebt, hat exemplarisch drei ältere Frauen von heute skizziert, die so ziemlich alles mitund gegeneinander durchmachen und gegen Lebensende auch noch streng gehütete Geheimnisse offenbaren (müssen). Das Leben zwingt sie dazu. Unterhaltsamer Tiefgang.

Elke Siebenrock Buchhandlung Rombach Armin Greder: „Die Insel“, 40 Seiten, gebunden‚ Sauerländer 2015, 16,99 Euro Ein großartiger, bewegender und zugleich erschreckender Beitrag zum Thema Flucht: Ein nackter, namenloser Mann strandet auf einer Insel und wird von den dort lebenden Menschen abgelehnt. Sie begegnen ihm mit Furcht und Hass, bringen ihn irgendwann ins Meer zurück. Eine neu errichtete hohe Mauer soll die Inselbewohner künftig vor weiteren Fremden schützen. Die Geschichte hat nicht viele Worte. Umso stärker wirken die expressiven Bilder, die an Edvard Munch erinnern: Sie lassen unglaubliche Emotionen entstehen und beflügeln die eigene Phantasie, die die kargen Worte ergänzt. Ein WERTvolles Buch, das an unsere Menschlichkeit appelliert und das man so schnell nicht vergisst.

Michael Schwarz Inhaber der Buchhandlung Schwarz Frank Witzel: „Die Erfindung ...“, 830 Seiten, gebunden, Matthes & Seitz 2015, 29,90 Euro „Das bestimmende Element des Romans ist sein Sound.“ Sagt sein Autor Frank Witzel. Kein Wunder: Er ist auch, vielleicht gar zuerst, Musiker; mit zwei Kollegen hat er ein Buch über den Pop als Weltaneignungsmodell verfasst. Es gibt Sätze, die sich über mehr als eine engbedruckte Buchseite ziehen. Am Ende eines solchen Satzes konnte ich mich nicht immer erinnern, wo er seinen erzählerischen und gedanklichen Ausgangspunkt hatte. Aber egal: Rhythmus und Sound hatten mich in einen Rausch versetzt. Das Buch wirkt wie eine durchkomponierte Doppel- oder besser Zehnfach-LP, die nie ausgehört sein wird.


BÜCHER REZENSIONEN

Stephanie Kovacs Wilde Lilie 169 Seiten, gebunden Kladde Buchverlag, 2015 19 Euro

einzlkind Billy 206 Seiten, gebunden Insel Verlag, 2015 18,95 Euro

Natalio Grueso Der Wörterschmuggler 356 Seiten, gebunden Hoffmann und Campe, 2015 18 Euro

Mord, Musik, Moral

literarische perlen

Koks gegen Kitsch

Irgendwann kommt Elvis. Der King. Auf Billy zu. In Las Vegas. In einem elektrischen Rollstuhl. Der alte Mann mit der zerzausten Haartolle trinkt Dosenbier, rülpst, will die Weltherrschaft und die Politiker köpfen. Er stimmt „In the Ghetto“ an und kommt dem Original gefährlich nahe. Und dann fallen in einzlkinds grandiosem Roman so schöne Sätze wie „Große Kunst braucht keine Frisur“. Billy ist Schotte, er wächst beim Onkel auf, seitdem sich seine Hippieeltern mit einer Überdosis weggeschossen haben. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche bereitet ihn auf das Leben vor – auf das Andersartige, auf das, was manch einer vielleicht unmoralisch findet. Schlägereien in der Schule, sein brutal-böser Halbbruder Frankie und gute Bands wie Joy Division und Ramones tragen ihren Teil dazu bei. Philosophie, ein bisschen Totschlag und Musik, darum kreist die Story. Immer leicht erzählt, selbstironisch, souverän und mitunter richtig lustig. Billys Familie ist eine von Auftragskillern, sie werden angeheuert, wenn es gilt, Mörder zu bestrafen, Rache zu üben. In Las Vegas erlebt Billy Abenteuer, die der Gonzo-Journalist Hunter S. Thompson in „Fear and Loathing“ nicht schöner hätte beschreiben können. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein. An einer Ausfallstraße macht es schließlich „Peng“. Wer gewinnt? Und was ist die Moral von der Geschichte? Das weiß nicht einmal Elvis. Dominik Bloedner

Der Radiojournalist Ricardo ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er ein Fußballspiel und dessen Ausgang so moderiert, wie es seinem Großvater gefallen würde. Dabei weiß der kultige Sportkommentator, dass er dafür gefeuert, dass seine „Stimme Argentiniens“ zum Schweigen gebracht wird. Was treibt ihn dazu? Der ziemlich arme Lucas riskiert hohe Geldstrafen, um seine Gefühle mitzuteilen: Da die Nutzungsrechte für Sprache bei einem multinationalen Konzern liegen und jeder Buchstabe teuer bezahlt werden muss, schmuggelt der Junge seine Botschaften über Geldscheine unter die Leute. Oder schreibt sie in den Sand, wo das Meer sie löscht, bevor die Gebühreneintreiber sie entdecken. Was bewegt ihn? Die Liebe. Die Liebe, die mit der Magie der Worte gegen die Vereinsamung ankämpft, sie überwindet. Ricardos alterseinsamer Großvater kann nach dem wundersamen Ausgang des Spiels als glücklicher Mensch sterben. Die Macht des verbitterten Sprach-Konzernchefs gerät durch Lucas’ Liebe zu einem Mädchen außer Kraft. In allen Episoden des Romans erweist sich Natalio Grueso als Meister dieser Magie der Worte. Auch wenn die Rahmenhandlung banal ist – und nicht vermuten lässt, dass sie so fantastische literarische Perlen zusammenhält.

„Das Rezept von ihrem selbst angesetzten Chili-Wodka hatte ihr vor Jahren der Besitzer des KGB-Klubs gegeben.“ Die erste Novelle der in Freiburg geborenen Autorin Stephanie Kovacs spielt in ihrer Heimat und zeigt die grüne Stadt von ihrer grauen Seite. Die Protagonistin ist eine Frau, die sich in Drogen und Alkohol verliert, um ihre Vergangenheit zu verdrängen. „Sie“ wird bis zum Ende nicht beim Namen genannt. Trotz der Warnungen ihrer Freunde hatte sie es nicht geschafft, sich von ihrem Verlobten zu trennen – Mario, Alkoholiker und Vater ihres Sohnes Tobias. Als ein Streit eskaliert, entrinnt die Mutter nur knapp dem Tod. Ihr Sohn stirbt bei der Auseinandersetzung. Die Geschichte packt den Leser und zieht ihn in jede Ecke quer durch Freiburg: auf den Weihnachtsmarkt, in die Eschholzstraße, nach St. Georgen und in die verdreckten Hochhäuser von Landwasser. Man könnte sich während des Lesens im gleichen Bus der Linie 11 befinden, in dem auch die Protagonistin sitzt. Die Geschichte wirkt nicht nur wegen der bekannten Schauplätze so echt. Sie lebt von den detaillierten Beschreibungen. Man riecht, fühlt und sieht genau, was passiert. Doch manchmal will man sich beim Lesen wegen Drogen, Alkohol und Totschlag die Augen zuhalten. Eine mitreißende Lektüre gegen den alltäglichen Weihnachtskitsch.

Erika Weisser

Laura Wolfert


reise madeira

Elftes Gebot: Besuche Madeira Eine Liebeserklärung an den Garten Eden Europas

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Fotos: © slipdealder.de / Collage © chilli

in portugiesischer Prinz schickte Anfang des 15. Jahrhunderts zwei junge Kapitäne auf Entdeckungsreise. Sie stießen auf eine riesige, dunkle Wolkenmasse am Horizont. Als die beiden Abenteurer sich an dieses Ungetüm heranwagten, stellte es sich als komplett bewaldete Insel heraus, weswegen sie ihr den Namen „Madeira“ – Holz – gaben. Jahrhunderte später besuche ich als ziemlich mittellose Schulabgängerin die Insel und lande mitten im Atlantik auf einem schwimmenden Berg, der vor 12 Millionen Jahren entstand, als ein untermeerischer Vulkan Lavamassen vom Meeresboden in die Höhe gedrückt hat. Eine Insel, auf der ewiger Frühling, bestes Klima und enorme Vielfalt herrschen. In dem mit durchschnittlich 22 Grad milden, aber nicht zu heißen Klima wächst und gedeiht Obst und Gemüse in Hülle und Fülle. Beim Ankommen springen erst einmal die 14 CHILLI Kultur Dezember 2015 / Januar 2016

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vielen Bananenstauden ins Auge. Diese sind zwar nicht so krumm und groß, wie die EU es sich wünschen würde – dafür schmecken sie noch echt nach Banane. Auch sehr lecker zum traditionellen Degenfisch. Madeira ist für bekennende Wandervögel wie mich ein Paradies: Die ganze Insel blüht und grünt, von Liebesblumen über Bougainvillea und Hibiskus bis hin zu Hortensien und dem „Stolz Madeiras“, den lila leuchtenden Echinacea. Neben der fantastischen Vegetation staune ich über die wandelbare Landschaft. Die Insel bietet nass-grüne Lorbeer- oder Eukalyptuswälder, aber auch heiße, trockene Staubwege mit orange blühenden Kakteen. Eine Wanderung kann einem Kurztrip durch den Regenwald ebenso ähneln wie einem durch Afrika. Schwindelfreiheit ist dabei von Vorteil, da viele Wanderwege direkt am Abhang von senkrecht in die Tiefe herabstürzenden Steilklippen laufen. Kaum zu glauben, dass die Insel früher als Urlaubsdomizil für rüstige Rentner schlechthin galt.


Reise madeira

Fotos: © Sophie Radix

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9 1. Traditionelles madeirisches Bauernhaus in Santana. 2. Eine Touristenattraktion: In einem Korbschlitten auf Holzkufen geht es bergab.

3. Eine Spezialität des Landes, der Madeirawein (Likörwein 4. Bacalhau (Stockfisch), das

mit 17-22% Vol.), reift in Barriquefässern.

portugiesische Nationalgericht, darf auch in der madeirischen Küche nicht fehlen.

5. Der Hafen der Hauptstadt Funchal 6. Die berühmten

portugiesischen Azulejos (große, historische Bildergeschichten in blau-weiß gebrannte Fliesen) finden sich auch im Botanischen Garten

7. Die wahrscheinlich berühmteste Blume, die Strelizie 8. Madeiras Westen besicht durch herrliche Panoramen. 9. Madeiras zentrales von Monte.

oder Paradiesvogelblume, ist auf Madeira beheimatet.

Hochland: Das Landesinnere bietet ein völlig anderes Landschaftsbild, das zum Wandern einlädt.

Allerdings sind die steilen Touren kein Muss: Bereits im 15. Jahrhundert wurden künstliche Wasserläufe angelegt, die sogenannten Levadas, um das Wasser aus den niederschlagsreichen Bergen in andere Bereiche der Insel zu transportieren. Diese Wege sind flach, damit das Wasser besser fließen kann, und laden daher auch zum Spazierengehen ein. Plant man indes, einen der vielen Tunnel auf der Insel zu durchqueren, sollte man Licht dabei haben: Ich selbst vertraue in einem eigentlich harmlosen Tunnel bei Rabaçal naiverweise auf das Licht meines Handys, muss mich dann aber minutenlang im fast Stockdunkeln an nass-kalten glitschigen Wänden entlanghangeln, bis zwei fröhliche „Viva Colonia“ singende Touristen hinter mir mit ihren Taschenlampen Licht ins Dunkle bringen. Neben anderen Wandervögeln begleiten einen stets das Rascheln der schillernden Eidechsen, die über heiße Steine huschen, und hüpfende Finken, die einem durchaus mal überschüssige Krümel aus der Hand picken. Besonders ruhige und nicht überlaufene Pfade finden sich im Westen der Insel. Vom Dorf Estreito da Calheta geht es mit spektakulären Ausblicken entlang steiler Hänge in die Nachbardörfer Jardím do Mar und Paúl do Mar. In den umliegenden Bergen fließt ein Wasserfall, dessen Lauf einen Bach und kleine Teiche bildet, die zur Erfrischung inmitten grünster Natur einladen. In Jardím do Mar zeigt der Atlantik dann mit meterhohen Wellen, was er drauf hat. Beim Verlassen der Insel bin ich einerseits traurig, diese Schönheit hinter mir zu lassen. Aber auch ein bisschen erleichtert. Denn wer einmal auf Madeira war, macht sich weniger Gedanken darüber, ob er mal in Himmel oder Hölle landet. Er hat das Paradies auf Erden schon gesehen. Sophie Radix

Madeira

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INFO

Ankommen & Rumkommen Edelweiss, eine Tochter von SwissAir, fliegt ab Zürich zweimal die Woche direkt nach Funchal (kostet um die 350 Euro hin und zurück) Vom EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg aus gibt es Flug-Verbindungen nach Funchal entweder über London oder über Lissabon. Mehr Info: www.euroairport.com Ein Tipp zur Übernachtung ist das Hotel Atrio in Estreito da Calheta, familiäre und ruhige Atmosphäre 500 Meter über dem Meer. Viele schöne Wanderungen beginnen direkt hinterm Haus. Infos im Netz www.visitmadeira.pt | www.atrio-madeira.com Dezember 2015 / Januar 2016 CHILLI kultur 15


Dies war eine Leseprobe der Dezember 2015 / Januar 2016-Ausgabe.

Sie haben lust auf mehr? Das komplette Heft ist unter abo@chilli-online.de oder im Handel erh채ltlich.


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