chilli – das Freiburger Stadtmagazin

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Was da wieder los ist: Ausstellungen, Events, Kino, Theater u.v.m 18.02.-20.03.22

A u s g abe 02-03/2022 2,8 0 Euro

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Ausgabe Februar 18. Jahrgang / #173

mit THEMENHEF T Bauen & Wohnen

GESPALTENE STADT

Warum Freiburg eine Corona-Protest-Hochburg ist

HOCH OBEN

Die Rebellen im Dietibleibt-Camp

MITTENDRIN Catcalls kreidet Sexismus an

GANZ UNTEN

Freiburger verzockt 20.000 Euro



CHILLI EDITORIAL

STADT DER PROTESTE

Foto: © tln

FREIBURG ERLEBT MEGA-CORONA-DEMOS UND REBELLEN IM BAUMHAUS

Recherche am Seil: chilli-Redakteur Till Neumann hat im Dietibleibt-Camp ein Baumhaus erklettert.

Liebe Leserin & lieber Leser, Was ist nur in Freiburg los? Die beschauliche Provinzmetropole hat zuletzt mit die größten Demos Deutschlands gegen die Corona-Politik erlebt. Bis zu 6000 Menschen zogen durch die Stadt. Stattliche 3500 Gegendemonstranten standen ihnen gegenüber: Wer tummelt sich mit welchen Motiven bei den Protesten? Philip Thomas, Liliane Herzberg und Pascal Lienhard haben sich das näher angeschaut, Experten befragt, Studien gelesen und Aktivisten interviewt. In einem sind sich viele einig: Kanzler Olaf Scholz hatte Unrecht, als er vor Weihnachten sagte: „Die Gesellschaft ist nicht gespalten.“ Rau ist der Wind auch rund um den geplanten Stadtteil Dietenbach. Im Langmattenwäldchen ist ein Protestcamp entstanden – mit rund 20 Schlafplätzen in bis zu 23 Metern Höhe. Das Team ist bereit zu bleiben, bis die Polizei den Wald räumt. Doch der Wunsch ist ein anderer: Die Rebellen hoffen auf eine Lösung ohne Waldrodung. Im Rathaus macht man ihnen aber keine Hoffnungen. Die Gemüter erhitzt auch die neue CannabisPraxis an der Hornusstraße. Das umtriebige

Start-up Algea Care bietet Behandlungen mit THC oder CBD. Unumstritten ist der Ansatz nicht. Denn die Kosten sind hoch – und nur Privatversicherte bekommen sie erstattet. Eine Arbeitsgemeinschaft erhebt zudem weitere Vorwürfe. Harte Kritik gibt’s auch für den neuen Glücksspielstaatsvertrag. Die neuen Regeln sollen Spieler schützen – doch sie sind nur ein „fauler Kompromiss“, poltert ein Experte. Ein Betroffener aus Freiburg erzählt, wie er selbst in den Strudel der Online-Zockerei geraten ist. Er findet: Glücksspiel gehört verboten. Erstmals als Autor im chilli schreibt einer, der 1989 die Freiburger Kulturbörse gegründet hat und zuletzt das Freiburger Stadtjubiläum verantwortet hat: Holger Thiemann macht sich Sorgen um die IKF. Warum, lesen Sie im cultur.zeit-Teil. Eigentlich wollten wir unsere Leser mit der 175. Ausgabe im April mit einem neuem Papier überraschen. Das haben wir nun vorgezogen: Ein dickeres Cover und mehr Volumen im Innenteil, eine Investition in noch mehr Qualität. Wir wünschen anregende Lektüre. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen. Herzlichst, Ihr Till Neumann, Redakteur & die chillisten

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CHILLI INHALT

Foto: © pt

Foto: © Pixabay

HEFT NR. 1/22 11. JAHRGANG

> 10-12 Corona-Hochburg: Die Proteste in

> 20-21

Freiburg sind mit die größten in Deutschland

Depressionen kämpft, hat es derzeit schwer

IN EIGENER SACHE

KRANKER KOPF

EDITORIAL

GASTKOLUMNE FLORIAN SCHROEDER MEHR KOLUMNEN

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TITEL

POLARISIERENDE PANDEMIE 10-12

Freiburger Maßnahmenskeptiker und Gegendemonstranten werfen sich gegenseitig Spaltung vor

SZENE PROTEST IM BAUMHAUS

16-17

Wie ein junger Freiburger in die Online-Glücksspiel-Falle gerät HEILEN MIT THC

In Freiburg hat eine CannabisPraxis eröffnet, die Nachfrage ist da, auch Kritik bleibt nicht aus KREIDE GEGEN SEXISMUS

Vier Freiburgerinnen malen Catcalling-Sprüche auf den Boden

IMPRESSUM chilli – Das Freiburger Stadtmagazin chilli Freiburg GmbH

Paul-Ehrlich-Straße 13, 79106 Freiburg fon / Redaktion 0761-76 99 83-0 fon / Anzeigen 0761-76 99 83-70 fon / Vertrieb 0761-76 99 83-83 www.chilli-freiburg.de

E-Mail für Online- / Printredaktion redaktion@chilli-freiburg.de

Geschäftsführerin (V.i.S.d.P.) Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de

Chefredaktion

Lars Bargmann (bar): bargmann@chilli-freiburg.de

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STEREO DYNAMITE DREHEN FILM ZU NEUEM ALBUM

Menschen mit psychischen Krankheiten leiden besonders unter den Corona-Maßnahmen

BEDROHT

HOLGER THIEMANN ÜBER DIE ZUKUNFT DER IKF

BUSINESS

> 45-57

LEICHTER AUFWIND

Passagierzahlen am Euroairport Basel-Mulhouse-Freiburg steigen ZWEITES LEBEN

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KALENDER

14-15

POST-PUNK TRIFFT VIDEOPUZZLE

20-21

re-cycle bietet gebrauchte und neue Räder im Netz an

Im Langmattenwäldchen hat sich Widerstand gegen die geplante Rodung für Dietenbach formiert LEGAL, ABER BRUTAL

Leiden in der Krise: Wer mit

TIPPS UND TERMINE

Was geht wann und wo?

24-36

KULTUR

38-39

AM SCHEIDEWEG

Holger Thiemann über das drohende Aus für die Internationale Kulturbörse Freiburg (IKF) ORGANISCHE FORMENSPRACHE

Fondation Beyeler zeigt Retrospektive von Georgia O’Keeffe

Till Neumann (tln): neumann@chilli-freiburg.de Philip Thomas (pt): philip.thomas@chilli-freiburg.de Liliane Herzberg (herz): herzberg@chilli-freiburg.de Pascal Lienhard (pl): lienhard@chilli-freiburg.de

Kulturredaktion

Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de Erika Weisser (ewei): weisser@chilli-freiburg.de Jennifer Patrias: jennifer.patrias@chilli-freiburg.de

Autoren

Holger Thiemann, David Hamann (dh)

Gastkolumnisten

Florian Schroeder, Ralf Welteroth

Lektorat Beate Vogt

50 JAHRE KOMMUNALES KINO FREIBURG

VERKRACHT

SCHWARZWALDROMAN ÜBER EINEN EGOMANEN

cultur.zeit: News aus Freiburg

zu Kultur, Musik, Literatur und Leinwand

KINO

40-43

NICHT WEGZUDENKEN

Kommunales Kino Freiburg wird 50 Jahre alt – und bietet erstklassiges Programm / Pedro Almodóvars Film „Parallele Mütter“ über den spanischen Bürgerkrieg / Film-Tipps

MUSIK

44-47

POST-PUNK IN SERIE

cultur.zeit

Redaktion

GEFEIERT

Stereo Dynamite veröffentlichen sehenswerte Video-Reihe „Fernweh“ / Neue EP der Indie-Folk-Pop-Band Catastrophe Waitress / CD-Tipps

LITERATUR

48-49

ABSEHBARER AMOKLAUF

Jürgen Glocker schreibt das tragikomische Psychogramm eines Selbstverlierers – auch Freiburg spielt in dem Kleinstadtroman eine Rolle / Buch-Tipps

Grafik Miriam Hinze (Leitung),

Druck & Belichtung

Titel © iStock.com/ Halfpoint

Themenbuch dieser Ausgabe

Tatjana Kipf, Katharina Fischer

cultur.zeit Titel © stereo dynamite

Bildagenturen iStock.com,

Pixabay, fotolia.com

Anzeigenannahme per E-Mail anzeigen@chilli-freiburg.de

Anzeigenberatung

Christoph Winter (Leitung), Jennifer Patrias, Giuliano Siegel, Fredrik Frisch, Marion Jaeger-Butt

Vertrieb

Hofmann Druck, Emmendingen cultur.zeit

Nächster Erscheinungstermin 18. März 2022

Ein Unternehmen der

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Druckunterlagenschluss Jeweils am 28. des Vormonats. Es gilt die Preisliste Nr. 13

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SCHWARZES BRETT

FÜR SOZIALE GERECHTIGKEIT Mehr als 22 Jahre lang war ­Michael Moos Stadtrat der Linken Liste – Solidarische Stadt. Nun schied der 75-jährige Rechtsanwalt, der auch Co-Vorsitzender der Fraktionsgemeinschaft „Eine Stadt für Alle“ war, aus dem Freiburger Gemeinderat. OB Martin Horn verlieh ihm „in Würdigung seiner besonderen Verdienste um die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger“ das silberne Stadtsiegel.

Foto: © Felix Groteloh

„Meine ersten Aktivitäten in Frei­burg hatten ein kommunalpolitisches Thema, die vom Gemeinderat beschlossene Fahrpreiserhöhung für öffentliche Verkehrsmittel. Ich war im WS 1967/68 von Tübingen nach Freiburg und vom dortigen SDS in die hiesige Gruppe gewechselt. Im Januar 1968 organisierten wir Demonstrationen gegen diesen Beschluss, viele Studenten, Schüler und auch Lehrlinge nahmen daran teil. Am Bertoldsbrunnen, wo es damals noch keine Fußgängerzone gab, kam es dabei auch zu Sitzblockaden. Zu diesen hatte ich per Megaphon aufgerufen, weswegen die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen mich beantragte – wegen Rädelsführerschaft zum Landfriedensbruch. Doch der Haftrichter ließ mich gehen. Andere hatten weniger Glück und mussten über Nacht in U-Haft am Holzmarkt bleiben. Ich studierte Jura, war in den Ausein­andersetzungen an der Uni aktiv, beteiligte mich an den großen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und am Kampf gegen die Notstandsgesetze; im Mai 1968 fuhren wir mit über 1000 Leuten aus Freiburg zur zentralen Demo nach Bonn. Das waren für mich sehr wichtige und prägende politische Ereignisse, die auch Freiburg verändert haben: Viele junge Leute gingen damals zum ersten Mal auf die Straße und politisierten sich.

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Zu diesen prägenden Ereignissen zählt auch der Kampf gegen das geplante AKW in Wyhl. Der Moment, als sich nach der zweiten Platzbesetzung im Frühjahr 1975 die Polizei vor uns zurückzog, das war so ein Erlebnis, das man nie vergisst. Das Gefühl, dass es sich lohnt, solche Kämpfe zu führen, dass man etwas bewirken kann, nicht machtlos ist. Einen der schönsten Momente in meiner Gemeinderatstätigkeit erlebte ich vor vier Jahren, als sich alle unserem Antrag für die Einrichtung eines NS-Dokumentationszentrums anschlossen. Es hat mich sehr bewegt, dass es bei allen Unterschieden und trotz harter Auseinandersetzungen einen einstimmigen Beschluss gab. Es gäbe noch viel zu erwähnen, was wir seit 1999, als Hendrijk Guzzoni und ich im Gremium noch als extreme Außenseiter galten und nur wenig bewirken konnten, auf den Weg gebracht haben. Mit der Zeit fanden wir für sozialpolitische Anliegen Mehrheiten, etwa für die Einführung des Sozialtickets oder der 50-Prozent-Quote für Sozialwohnungen bei Neubauvorhaben. Dank der sehr fruchtbaren Zusammenarbeit unserer Fraktionsgemeinschaft, vor allem auch mit der SPD, ist es auch gelungen, 2006 den bereits beschlossenen Verkauf der Stadtbau zu verhindern – mit einem Bürgerentscheid. Ich scheide nun mit Wehmut aus dem Gemeinderat, aber auch zufrieden: Einige Weichen sind gestellt, einiges wurde erreicht, anderes aber noch sehr im Argen, wie die Wohnungsnot oder die fehlende Bildungsgerechtigkeit. Es liegt nun an meinen Kolleginnen und Kollegen, weitere Schritte in Richtung soziale Gerechtigkeit zu gehen.“ Aufgezeichnet von Erika Weisser


SCHWARZES BRETT

BITTE SMART

NACHGEWÜRZT! LINKSEXTREMISTIN NANCY FAESER?

Foto: © tln

Die Hufeisen fliegen wieder tief: Unsere Innenministerin Nancy Faeser wird als Linksextremistin beschimpft, weil sie einen Artikel für ein antifaschistisches Magazin geschrieben hat! No-Name-Politiker von CDU und CSU ereifern sich auf verwirrte Weise in der BILD-Zeitung: „Die SPD ist auf dem linken Auge weitgehend blind.“ Da wäre doch die erste Frage: Sollte nicht jedes Magazin in Deutschland antifaschistisch sein? Oder sagen Zeit, Spiegel und FAZ: „Na, beim Thema Faschismus sind wir neutral – mal abwarten, wer gewinnt“? Es war ja nicht alles schlecht: Mit dem Zweiten Weltkrieg schuf Hitler ja auch viele Arbeitsplätze. Und wenn man einer deutschen Innenministerin zum Vorwurf machen kann, dass sie antifaschistisch ist: Was waren dann ihre Vorgänger im Amt? Und vor allem: Wer war das? Ach ja, stimmt! Horst Seehofer! Der Mann, der Hans-Georg Maaßen in sein Innenministerium holen wollte. Nee, der war dann wohl doch eher Faschis… also, kein Antifaschist. Gegenstand der Aufregung: Dass Faeser geschrieben hat in einem Magazin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, dem Bund der Antifaschisten. Ort der Empörung: das Rechtsaußen-Magazin „Junge Freiheit“ und ihre große Schwester, die BILD-Zeitung. Jetzt darf man davon ausgehen, dass Faeser wohl wieder den üblichen Morddrohungen und Einschüchterungsversuchen von rechts ausgesetzt ist – was genau das Thema ihres Beitrags im Antifa-Magazin war. Und da heißt es immer, Deutschland sei ein Land, das sich mit Ironie schwertue. Nein, wir sind das ironischste Land der Welt. Wir merken‘s nur nicht. Prompt sind vor allem Konservative mit der Situation überfordert – aber nicht alle: Namhafte CDU-Größen seien hier ausgenommen, etwa … Konrad Adenauer, der selbst Mitglied in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes war. In Bayern dagegen wird der Bund der Antifaschisten vom Verfassungsschutz beobachtet. Glückwunsch, dass dem NeoStasi so viel Zeit bei seinem Kampf gegen Verfassungsfeinde bleibt, dass er KZ-Überlebende und deren Sympathisanten überwachen kann. Es ist also verfassungsfeindlich, gegen Faschismus zu sein. Das ist doch auch mal eine Erkenntnis. Und wenn der bayerische Verfassungsschutz gegen eine Organisation ermittelt, dann wissen wir auch schon, was Sache ist. AfD und Union gemeinsam gegen eine Innenministerin, die gegen Faschismus ist. Das scheint eine zukunftsträchtige Allianz zu sein.

Erst sind Trinkende randvoll. Dann die Container. Der hier in Haslach an der Markgrafenstraße quoll im Januar über. Helfen könnte da eine smarte Lösung – zum Beispiel LoRaWAN-Sensoren (Long Range Wide Area Network), die den Füllstand automatisch in die Zentrale funken. Badenova und die Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Freiburg (ASF) möchten genau das umsetzen. Vorstellen wollten sie dem chilli die Technik noch nicht. Das Foto lässt vermuten, warum. tln

Foto: © pt

NICHT VOGELFREI

Florian Schroeder, Kabarettist, studierte in Freiburg, lebt in Berlin und vergibt die chilli-Schote am goldenen Band.

Foto: © privat

Die Corona-Proteste bilden die Mitte der Gesellschaft ab, sagen die Freiburger Demo-Organisatoren. In die Mitte der Freiburger Corona-Proteste scheint derweil dieses Hühnchen geflattert zu sein. Statt die Maskenpflicht durchzusetzen, drückte die Polizei im Falle dieses Demo-Teilnehmers lieber beide Augen zu. Wir sagen: Unverantwortlich. Zumal davon auszugehen ist, dass der Vogel nicht geimpft ist. pt

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TITEL GESELLSCHAFT

PANDEMIE-POLITIK POLARISIERT FREIBURG WARUM DIE GESELLSCHAFT AUSEINANDERDRIFTET Von Liliane Herzberg, Pascal Lienhard, Philip Thomas

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Fotos: © pt

reiburg hat sich zu einem Hotspot für Querdenker und Corona-Maßnahmenskeptiker·innen entwickelt. Auf den Demos läuft links neben rechts, zeigen Untersuchungen. Und auch auf der Gegenseite hat sich ein breites Bündnis gebildet. Die Parteien werfen einander Spaltung vor. Statt miteinander zu sprechen, schieben sich beide Lager die Schuld gegenseitig zu.

Am Freiburger Fahnenbergplatz wehen rote Herzen neben Deutschlandflaggen und bunten Transparenten. „Es gibt eine klare Spaltung. Die ist politisch und medial gemacht“, sagt eine 38-jährige Freiburgerin auf einer der größten Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesrepublik Mitte Januar. „Die Diffamierung ist pervers, ein Grund zum Auswandern“, pflichtet ihr Begleiter bei. „Die Stimmung im Land ist aufgepeitscht, auf der Arbeit werde ich ausgegrenzt, nur weil ich ungeimpft bin“, erklärt eine 30-jährige Krankenpflegerin, der deswegen ein Tätigkeitsverbot am Freiburger Uniklinikum droht. 10 CHILLI FEBRUAR 2022

Nur wenige Hundert Meter weiter südlich, am Platz der Alten ­Synagoge, ist die Atmosphäre ebenfalls angespannt. „Nachdenken statt Querdenken“, ruft eine Gruppe junger Menschen auf der Gegendemo in die kalte Januarluft. „Diese Leute inszenieren sich als Opfer. Dabei wird


TITEL GESELLSCHAFT

die Spaltung doch von denen betrieben“, sagt ein 49-jähriger Freiburger. „Die Impfung ist ein Segen“, betont eine 46-Jährige. „Ich hätte auch gerne meine Grundrechte zurück, aber unser Verständnis von Freiheit ist ein anderes“, sagt ein 53-Jähriger. Durch Deutschland geht ein Riss. Dabei hatte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner ersten Regierungserklärung kurz vor Weihnachten noch die Einheit im Land beschworen: „Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten.“ Ein Statement, das derzeit nur die wenigsten unterschreiben würden. „Viele Indikatoren zeigen, dass die Gesellschaft in Deutschland auseinanderdiffundiert. Ich würde das als gespalten bezeichnen“, sagt Uwe Wagschal vom Seminar für Wissenschaftliche Politik der Freiburger AlbertLudwigs-Universität. Einer dieser Indikatoren sei die steigende Zahl politisch motivierter Verbrechen: Vergangenes Jahr wurden in Deutschland so viele Straftaten mit politischem Hintergrund begangen wie seit 2001 – dem Beginn der jährlichen Erfassung – nicht mehr: Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage hervorgeht, stieg die Zahl der politisch motivierten Straftaten 2021 nach vorläufigen Daten des Bundeskriminalamts im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent auf insgesamt 47.303 Delikte. „Wir beobachten außerdem eine große ökonomische Ungleichheit“, so Wagschal. In der Krise hat sich soziale Ungerechtigkeit zugespitzt: Eine Mitte Januar veröffentlichte Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam geht davon aus, dass die zehn reichsten Deutschen ihr kumuliertes Vermögen seit Beginn der Pandemie von rund 126 Milliarden Euro

auf etwa 234 Milliarden Euro gesteigert haben – ein Plus um fast 79 Prozent. Angesichts solcher Zahlen vermisst Wagschal in der Krise glaubwürdige Führung: „Die Leute sind zunehmend verunsichert. Wissen nicht, welche Regeln gelten.“ Trotzdem steht die Mehrheit im Land hinter den Corona-Maßnahmen, die allerdings bröckelt. Im vergangenen Oktober hielten 60 Prozent der Befragten die Corona-Maßnahmen für angemessen, 25 Prozent

MEHRHEIT IM LAND STEHT NOCH HINTER MASSNAHMEN gingen sie zu weit, 13 Prozent gingen sie nicht weit genug, lautete das Ergebnis einer Infratest-Umfrage mit rund 1300 Teilnehmenden. „Allerdings beobachten wir, dass die Gruppe der Unzufriedenen wächst“, sagt Wagschal. Aktuell halten noch 44 Prozent die Regeln für angemessen, 31 Prozent gehen sie laut Folgebefragung zu weit, für 22 Prozent reichen die Maßnahmen nicht aus. Ein Fingerzeig für die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen ist für Wagschal die Impfquote. Zum Redaktionsschluss würden damit drei Viertel der deutschen Bevölkerung die Einschränkungen abnicken: 74,6 Prozent haben sich zwei Schutzimpfungen abgeholt, mehr als die Hälfte (55 Prozent) ist hierzulande geboostert. Laut einer Online-Erhebung mit 9234 Teilnehmern nach der Bundestagswahl am 26. September durch Wagschals Lehrstuhl wählten von den ungeimpften Befragten rund 39 Prozent die AfD, 18 Prozent gaben ihre Stimme bei der Bundestagswahl der Basis, darauf folgen FDP (10 Prozent), Linke (7 Prozent) und Grüne (5 Prozent). „Das ist ein breites Spektrum“, so Wagschal. Auf den Veranstaltungen mische sich grün, links, libertär, AfD-Klientel mit Reichsbürgern und Extremisten. Die Unzufriedenen machen sich auf Deutschlands Straßen Luft: Insgesamt 260.000 Menschen nahmen

laut Marek Wede, Sprecher des Bundesinnenministeriums, auf knapp 1300 Protestaktionen gegen die staatlichen Maßnahmen um den 10. Januar teil. „Eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, dass es in Deutschland rund 10.000 Kommunen gibt“, kommentiert Wagschal. In Freiburg zählte die Polizei am 15. Januar bis zu 6000 Demonstrant·innen gegen die Maßnahmen. „Unsere Bewegung spiegelt die Mitte der Gesellschaft wider. Gegen Gewalt oder Extreme, sei es von rechts oder links, grenzen wir uns stets ab“, sagt „Siegrun“, Sprecherin der Organisation FreiSeinFreiburg, die hinter den Demos steht. Die Basisdemokratische Partei Deutschland (dieBasis) in Freiburg stößt in ein ähnliches Horn. „Es geht darum, Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Pressefreiheit zu sichern“, so Jens Lettow, Vorstandsmitglied im Kreisverband Freiburg. Er spricht ebenfalls von Spaltung. Diese sei durch die Corona-Politik und Angst entstanden: „Täglich wird Angst durch Medien und bestimmte Politiker geschürt.“ Auf der anderen Seite versammelte das Bündnis FreiVac gegen Verschwörungsideologie, Antisemitismus und Corona-Verharmlosung rund 3500 Menschen am 15. Januar in Freiburg. FreiVac-Mitgründer Sebastian Müller prangert innerhalb der Corona-Protestbewegung Personen und Gruppen am rechten Rand an: Seit zwei Jahren sammelt der ehemalige 

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Stadtrat mit seinen Mitstreiter·innen Fotos von rechten Symbolen auf Freiburger Corona-Demonstrationen. Neben Provokationen wie Davidsternen handle es sich bei den Zeichen häufig um szenenspezifische Codes. Eine vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage mit 3048 Teilnehmer·innen vom Oktober 2021 macht unter nicht Geimpften vier Typen aus: „Existenzleugner“: Personen, denen „eindeutige Beweise“ für das Vorhandensein des Virus bis heute fehlen. „Diktatur-Vermuter“: Menschen, die alternative Motive hinter den Maßnahmen sehen. Corona sei ein Vorwand, mehr staatliche Kontrolle zu erhalten. Dazu kommen „Skeptiker“: Diese distanzieren sich von den Existenzleugner·innen und Diktatur-Vermuter·innen, stehen der Berichterstattung jedoch kritisch gegenüber. Nicht alle Stimmen aus der Wissenschaft werden ihrer Meinung nach gehört. Die Einschränkungen gegen das Virus seien schwerwiegender als das Virus selbst. Außerdem „Personen ohne Nähe zu Querdenkern“, die diesen Aussagen höchstens teilweise zustimmen. Eine Impfpflicht werde laut Wagschal nur weiter polarisieren: „Bei Zwang reagieren Menschen in der Regel stark und emotional.“ Statt zu bestrafen, plädiert der Professor deswegen dafür, positive Anreize zu schaffen: „Als der SC Freiburg im August 1100 Freikarten zur Impfung verschenkt hat, kamen 3000 Menschen. Damit kriegt man die Leute. Und die Corona-Hilfen hätte man ans Impfen koppeln müssen.“ 12 CHILLI FEBRUAR 2022

Wagschal pocht auf mehr Austausch zwischen Gegnern und Befürworterinnen: „Die Unfähigkeit, im Umgang mit der Pandemie miteinander zu kommunizieren, ist schockierend.“ Die Ängste vieler Skeptiker·innen kann der Professor nachvollziehen: „Es ist bedenklich, mit welcher Rigorosität und Vehemenz einige Virologen und Politiker freiheitseinschränkende Maßnahmen durchsetzen wollen.“

BISHER FRIEDLICH IN FREIBURG Auch Michael Wehner, Politik-Experte der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, versteht die Protesthaltung: „Das ist ein Stück weit normal.“ Es gehöre durchaus zu einer Demokratie, dass diese in Ausnahmesituationen infrage gestellt werde: „Zwei Jahre Pandemie mit Einschränkungen, teilweise von Grundrechten, sind eine Besonderheit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.“ In Freiburg blieb es bisher friedlich. Verbale Scharmützel habe es laut Polizeisprecher Michael Schorr indes auf beiden Seiten gegeben. Im Gegensatz zu Wagschal sieht Wehner allerdings keine Spaltung: „Wir reden hier von ein oder zwei Prozent, nicht von 25 oder 30 Prozent.“ Der Corona-Protest bringe die deutsche Demokratie nicht ins Wanken und habe auch positive Seiten: „Es ist nicht systemgegnerisch, wenn sich zum Beispiel

Foto: © Alex Dietrich

Unter Beobachtung: Maßnahmen-Gegner und Gegendemonstranten in Freiburg

Parteien gründen oder existierende Parteien des Protestes ein Stück weit annehmen und dann in parlamentarische Bahnen lenken.“ Der Experte mahnt jedoch, wachsam zu bleiben. Es gebe in Deutschland Potenzial für Radikalisierung sowie Anzweiflung von Gewaltmonopolen und staatlichen Institutionen. „Umgekehrt muss es in einer Demokratie aber immer auch darum gehen, Minderheiten zu ihrem Recht kommen zu lassen, sie im Idealfall argumentativ zu überzeugen und nicht vorschnell in eine Ecke zu stellen.“ Das Band, das laut Wehner viele Skeptiker·innen eint, sei ein vermeintlich übergriffiger Staat: Bürger·innen haben das Gefühl, ihnen werden Verhaltensweisen aufgenötigt. „Individuelle Freiheit ist jedoch nicht grenzenlos“, sagt Wehner und appelliert: „Wir sollten uns bemühen, Debattenkultur zu pflegen und nicht glauben, eine moralisch höhere Position zu haben.“ Letztlich sei Politik der Aushandlungsprozess eines Konsenses. Von einem solchen sind beide Lager gerade weit entfernt. Der Diskurs ist festgefahren, die Fronten verhärtet. Und der Ton werde sich laut Konfliktforscher Wagschal noch verschärfen: „Ich sehe derzeit keine Möglichkeit, alle an einen Tisch zu kriegen.“

Foto: © Maude Wagschal

Fotos: © pt

TITEL GESELLSCHAFT

Mehr Dialog wagen: Das fordern die Experten Michael Wehner (o.) und Uwe Wagschal.



SZENE GLÜCKSSPIEL

Außer Kontrolle: Der Freiburger Markus Vogt (Name geändert) hat jahrelang heimlich gespielt. Das Online-Zocken kostete ihn ein Vermögen.

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eit Juli ist Online-Glücksspiel in Deutschland legal. Ein neuer Staatsvertrag macht das m ­ öglich und will Glücksritter vor dem Ruin bewahren. Erlebt hat das der Freiburger Markus Vogt (Name geändert). Der 33-Jährige verlor rund 20.000 Euro. Ein Experte hält die neuen Regeln für einen faulen Kompromiss. Doch der Staat verdient Milliarden damit. „Ich bin da irgendwie reingeschlittert“, sagt Markus Vogt. Er startete vor rund fünf Jahren mit kleinen Sportwetten: Fünf bis zehn Euro setzte er auf KombiFußballpartien. „Um es ein bisschen spannender 16 CHILLI FEBRUAR 2022

zu machen“, sagt der Freiburger. Der Online-Anbieter bwin hatte auch eine Casinorubrik, die probierte er einfach mal aus. Unverhofft gewann er schnell knapp 1000 Euro. „Das war pures Adrenalin“, erinnert sich Vogt. Er wollte mehr, merkte aber: Sich Gewinne auszahlen zu lassen, ist gar nicht so einfach. Bevor er den Betrag bekommt, muss er weiterspielen. „Sie sagen dir: Setze 20 Euro ein, wir legen 20 drauf – das muss man immer wieder machen, um den Gewinn zu erhalten“, erklärt Vogt. Je mehr er spielte, desto abstrakter wurde es: „Man hat nur eine Zahl, keinen Stapel Scheine vor sich – das ist eine der ganz üblen Sachen beim Online-Glücksspiel.“ Die Verluste häuften sich. Er wollte schlauer sein als die Maschine, redete sich ein, es im Griff zu haben. Manchmal setzte er sich Limits: Beim Betrag X höre ich auf. Doch der Sog war zu groß.

Er ließ sich auch bei Anbietern sperren, spielte dann aber einfach bei einem anderen weiter. Mittlerweile kann er sagen: „Die Gewinne von heute sind die Verluste von morgen: Kommen 50 Euro rein, gehen 500 weg.“ Spielen konnte Vogt zu fast jeder Uhrzeit: morgens nach dem Aufstehen, mittags im Büro oder nachts, wenn seine Freundin schlief. „Ich war auf Adrenalin, aber todmüde, man kommt sehr schwer davon los“, erinnert er sich. Vor seiner Partnerin und dem Umfeld verheimlichte er die Sucht fast ein halbes Jahr. Dann hatte er einen Nervenzusammenbruch. Hilfe suchen wollte er nicht: „Ich dachte, ich habe es im Griff.“ Doch er wurde rückfällig, vertuschte es weiter. Schließlich zog er die Notbremse: „Mir ging es so schlecht, mich zu offenbaren war das kleinere Übel als weiterzumachen.“

Fotos: © iStock.com/ audioundwerbung, Gina Sanders/fotolia.com

WIE EIN FREIBURGER SEIN GELD IM NETZ VERZOCKTE


Fotos: © Evangelische Stadtmission Freiburg, Kai Uwe Bohn / Universität Bremen Hochschulkommunikation

SZENE GLÜCKSSPIEL

Seine Freundin riet, professionelle Hilfe zu suchen. Bei der AGJ Suchtberatung in Freiburg fand Vogt einen Platz für eine ambulante Reha. Ein Jahr lang zog er das durch. Dann kam die Pandemie, Vogt wurde erneut mehrfach rückfällig. Seit November besucht er nun eine Selbsthilfegruppe bei der Evangelischen Stadtmission Freiburg. Die stabilisiert ihn. „Man muss lernen, mit den Reizen umzugehen, ihnen standzuhalten“, sagt Vogt. Seit Juni hat er nicht mehr gespielt. Verantwortlich für die Begleitung der Hilfsgruppe ist Willi Vötter. Der Sozialarbeiter erlebt seit der Corona-Pandemie mehr Online-Spielende. „Fast jeder hat Schulden“, sagt der 61-Jährige. 20.000 bis 80.000 Euro seien es häufig. Die Betroffenen kämpften mit Schuldgefühlen – auch gegenüber Angehörigen. Er rät ihnen: „Es ist gut, sich anderen anzuvertrauen. Es loszuwerden ist ein riesiger Schritt.“ Der nächste sei professionelle Hilfe. Fast alle seine Klienten bräuchten eine Finanzverwaltung. Markus Vogt sieht er auf einem guten Weg: „Er ist reflektiert und achtsam, hat eine stabile Beziehung, das ist wichtig.“ Vom neuen Glücksspielstaatsvertrag hält Vötter wenig: Es sei zwar positiv, dass Spieler zentral gesperrt werden könnten, die flächendeckende Legalisierung sei jedoch katastrophal. Das bestätigt auch der Glücksspielforscher Tobias Hayer von der Universität Bremen. Für ihn sind die Regelungen ein „fauler Kompromiss“. Beispielsweise sieht er das neue Einzahlungslimit für Online-Glücksspiele kritisch: Demnach kann jeder Spieler im Monat bis

zu 1000 Euro einzahlen und damit verlieren. „Das ist ein viel zu hoher Betrag“, sagt der 47-Jährige. Wer gebe 12.000 Euro im Jahr für ein Hobby mit Suchtgefahren aus? Auch ein Früherkennungssystem für gefährdete Online-Spieler begrüßt er grundsätzlich. Problematisch sei aber, dass jeder Anbieter ein eigenes Tracking-System nutze. „Das ist, als würde man bei einem Alkoholiker in jeder Kneipe separat erfassen, wie viel er trinkt, keiner weiß aber, wie viel er insgesamt säuft“, sagt Hayer.

»ES GIBT ZWEI SICHERE GEWINNER« Er ist überzeugt: „Der neue Vertrag dient nicht dem Interesse des Gemeinwohls, sondern dem der Anbieter.“ In der Forschung sei bekannt, dass zwei Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass sich jemand verzockt: eine hohe Verfügbarkeit des Spielangebots und die massive Werbung dafür. Es sei also zielführend, die Glücksspiel-Möglichkeiten zu minimieren. Eine Legalisierung aller möglichen Formen des Online-Glücksspiels bewirke das Gegenteil. Zudem verstehe er nicht, warum eine massive Vermarktung des Glücksspiels erlaubt ist. „Das ist in dieser Form ein No-Go“, sagt der Bremer. Hayer sieht zudem die Konkurrenz unter den Anbietern kritisch: „Der Markt ist umkämpft: Wer bietet bessere Boni?

Experten: Willi Vötter (links) begleitet in Freiburg Glücksspiel-Süchtige. Tobias Hayer forscht in Bremen zu den Folgen der Zockerei: Er sagt, der neue Staatsvertrag sei ein „fauler Kompromiss".

Wer hat den besseren Celebrity in der Werbung?“ Zielführender wäre hier eine einzige zentrale Glücksspiel-Plattform. So nutzten die zahlreichen Wettanbieter derzeit alles, was der Vertrag hergebe – und überschritten manchmal die Grenzen. Hayer sagt: „Beim Glücksspiel gibt es zwei sichere Gewinner: die Anbieter und den Staat.“ In den vergangenen Jahren habe Letzterer mit Glücksspiel rund 5,3 Milliarden Euro pro Jahr an Steuern kassiert. Weit mehr als durch den Verkauf von Alkohol. Auch Markus Vogt ist entsetzt, dass Deutschland das Online-Glücksspiel legalisiert hat. „Ich finde das fahrlässig, so werden Existenzen zerstört.“ Er hat rund 20.000 Euro verspielt. Im Vergleich zu anderen Fällen sei er glimpflich davongekommen. Dennoch kann er dem Ganzen auch etwas Positives abgewinnen. In der Reha habe er gelernt, besser auf sich zu achten. Zudem hat er kürzlich seine Freundin geheiratet. Auch sie hat ihm geholfen, nicht mehr zu spielen. Nur seine Eltern wissen bis heute nichts von der Sucht: Er hat es nicht übers Herz gebracht, es zu erzählen. Till Neumann

GLÜCKSSPIELSTAATSVERTRAG Seit dem 1. Juli 2021 ist OnlineGlücksspiel in Deutschland flächendeckend legal. Damit einher geht eine zentrale Sperrdatei für Abhängige, ein Einzahlungslimit von monatlich 1000 Euro pro Person und eine zentrale Aufsichtsbehörde. Werbung für Sportwetten dürfen zudem keine aktiven Funktionäre oder Profis machen – ein Lothar Matthäus aber schon. Online-Glücksspiel war seit 2012 lediglich in Schleswig-Holstein legal. Rund eine halbe Million Menschen in Deutschland gelten als problematisch oder abhängig Spielende. Experten wie der Glücksspielforscher Tobias Hayer sehen die neuen Regeln kritisch: „Es wird einige Jahre dauern, bis die Kollateralschäden sichtbar werden – erst dann wird auch die Öffentlichkeit umdenken.“ tln FEBRUAR 2022 CHILLI 17


SZENE GESUNDHEIT

MEDIZIN STATT DROGE ERSTE CANNABIS-ARZTPRAXIS IN FREIBURG ERÖFFNET / KRITIK VON ACM

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eit 2017 ist „Cannabis als Medizin“ per Gesetz legal. Eingesetzt wird das Medikament dennoch zu selten, findet Arzt Julian Wichmann. Er hat 2020 das auf die Cannabis-Therapie spezialisierte Unternehmen Algea Care gegründet. 20 Standorte hat es bundesweit, nun gibt es auch in Freiburg eine Praxis. Unumstritten ist das Konzept nicht, doch die Nachfrage ist hoch.

Fotos: © Algea Care

Wieder arbeiten gehen, das Studium fortsetzen, die Scheidung abblasen: Nicht selten verändert sich das Leben von Patienten und Patientinnen mit chronischen Leiden durch eine CannabisBehandlung grundlegend, berichtet Wichmann. Das Problem: Der Weg dorthin ist oft holprig. Interessierte wissen nicht, an wen sie sich wenden können, Krankenkassen lehnen Anträge ab, nicht alle Apotheken ­haben Cannabis-Präparate im Sortiment. „Da setzen wir mit Algea Care an. Wir schaffen Zugang zu Informationen, klären auf über Erfolgschancen sowie Nebenwirkungen und ermöglichen die Behandlung mit natürlichen CannabisMedikamenten“, erklärt Wichmann. An der Freiburger Hornusstraße hat sein junges Unternehmen im ­November eine Praxis mit drei Ärzt·innen eröffnet.

Spoiler: Für durchschnittliche Kifferinnen oder Patienten mit kleineren Beschwerden lohnt sich der Weg dorthin nicht. Es braucht eine chronische Erkrankung, um für die Therapie infrage zu kommen. „Cannabis ist kein Medikament der ersten oder zweiten Wahl. Es ist also klar, dass es nichts für gelegentliche Kopfschmerzen ist“, so der 36-jährige Experte. Wenn medizinisches Cannabis jedoch zur Auswahl steht, ist es vielseitig anwendbar: von Schmerzerkrankungen über psychische oder entzündliche Leiden hin zu Übelkeit, Appetitlosigkeit oder neurologische Erkrankungen. Oft reicht dabei bereits eine niedrige Dosis: „Manchmal kann man schon mit 0,1 Gramm Cannabis pro Tag arbeiten. Und häufig muss es auch gar nicht gesteigert werden“, erklärt der Algea-Care-CEO. Dadurch gebe es auch weniger Nebenwirkungen. Unerwünschte Effekte seien etwa Mundtrockenheit oder Schwindelgefühle. „Schwere Nebenwirkungen wie eine Psychose kommen häufig aus der Drogenmedizin, also einem unkontrollierten Markt.“ Die größte Gefahr, eine Psychose in der Cannabis-Therapie zu kriegen, bestünde dann, wenn Patienten davor bereits unter der Erkrankung litten. Auch des-

halb seien die ärztliche Anamnese und Betreuung besonders wichtig. Wer das Gefühl hat, für eine CannabisTherapie infrage zu kommen, der kann auf der Algea-Care-Website einen medizinischen Fragebogen ausfüllen. Lohnt sich die Behandlung nach Einschätzung des Ärzte-Teams, folgt ein Erstgespräch. Der weitere Verlauf geht online per Videosprechstunde über die Bühne: „Für Patientinnen zum Beispiel mit Angststörungen bedeutet jeder Arztbesuch Stress“, erklärt Wichmann. Unter anderem deshalb setzt der CEO auf Telemedizin. 120 Euro kostet das Erstgespräch, die folgenden vier Beratungen zwischen 100 Euro bis 140 Euro pro Termin. Danach sinken die Kosten auf unter 100 Euro. Private Kassen erstatten die Behandlung, alle anderen müssen tief in die eigene Tasche greifen. Die Nachfrage ist dennoch da – bundesweit zählt das Unternehmen mit Hauptsitz in Frankfurt am Main mehr als sechstausend Patienten, in Freiburg sind es bereits über hundert. Trotz Erfolg erntet das Unternehmen durchaus auch Kritik: In einer Pressemitteilung hat die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin e.V. (ACM) Algea Care vorgeworfen, den Patient·innen überhöhte Rechnungen auszustellen, dabei gegen die ärztliche Gebührenordnung zu verstoßen und Leistungen abzurechnen, die gar nicht erbracht wurden. Wichmann sieht das als ungerechtfertigt: „Die Kritik entlädt sich an Dingen, die nicht immer durch uns primär verursacht oder lösbar sind.“ Für ihn sei das tägliche Feedback von Patienten, Ärzten und Patientenverbänden ausschlaggebend. Und das sei durchweg positiv. „Ich bin überzeugt, dass Algea Care bisher einen starken positiven Impact hatte und so zur Verbesserung der Versorgungslage beiträgt.“

Julian Wichmann, Gründer von Algea Care: Setzt seit November auch in Freiburg (li.) auf Cannabis als Medikament.

18 CHILLI FEBRUAR 2022

Liliane Herzberg


SZENE SEXISMUS

Auf die Straße schreiben, was andere verletzt: Das machen auch Frauke de Vries, Sandra Emrich und Nele Wiemhoff (von links).

CATCALLING ANKREIDEN FREIBURGERINNEN BEMALEN STRASSEN MIT BELÄSTIGUNGEN

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Foto: © David Hamann

prüche wie: „Hey Süße, renn doch nicht weg vor uns!“ Sie sind ein verbaler Angriff, der die Betroffenen fassungslos zurücklässt. „Eine von vielen Belästigungen auf der Straße, gegen die etwas unternommen werden muss“, findet Sandra Emrich (20). Zusammen mit Nele Wiemhoff (21), Frauke de Vries (21) und Sophie Hunhold (25) betreibt sie seit gut einem Jahr den Instagram-Kanal @catcallsoffr. Die Studentinnen sind mit ihrem Freiburger Ableger Teil der internationalen Jugendbewegung #Chalkback. In 150 Städten weltweit werden Belästigungen Wort für Wort an der Stelle auf die Straße geschrieben, an der sie passiert sind – das sogenannte Ankreiden. Dann fotografieren sie das Geschriebene und laden es auf Instagram hoch. So können Betroffene die Belästigungen anonymisiert veröffentlichen lassen. Gemeinsam knien die Aktivistinnen vor dem Eingang des Freiburger Hauptbahnhofs. Menschen strömen vorbei. Mit neonfarbener Kreide schreiben sie die Erfahrung einer Userin auf die Straße, die am Bahnsteig belästigt wurde: „Ich aß ein Eis. Ein Mann (circa 50) macht Blowjobbewegungen, stößt

seine Hüfte und schlägt sich auf den Hintern.” Trauriger Alltag. Und nur einer von knapp 50 Catcalls, den die vier bereits öffentlich gemacht haben. „Für mich hat der Schockfaktor mit der Zeit abgenommen, das macht es zum Glück leichter, damit umzugehen”, erzählt Wiemhoff. Der englische Begriff „Catcalling“ beschreibt verbale Straßenbelästigung. Wie einer Katze wird Menschen, meist Frauen, auf der Straße hinterhergerufen. „Der Raum dafür ist leider vorhanden”, merkt Emrich an, „es fehlt an negativer Resonanz.“ Sie wünscht sich: Wer selbst Zeuge wird, sollte reagieren, Betroffenen helfen und den oder die Täter direkt ansprechen. Einige latschen noch während des Ankreidens über das Geschriebene. Eine ältere Dame wird neugierig, bleibt stehen. „In Portugal habe ich das auch schon mal gesehen“, berichtet sie erfreut. Die Gespräche auf der Straße sind ein großer Teil der Aufklärungsarbeit. Erfahrungen mit Beleidigungen während des Ankreidens oder Auseinandersetzungen mit der Polizei haben die Freiburgerinnen bisher nicht gemacht. In anderen Städten kommt sowas jedoch vor. Die Resonanz nach über

einem Jahr @catcallsoffr sei für Freiburg überwiegend positiv. „Wir wollen den Menschen die Chance geben, sich wehren zu können“, sagt Emrich – und das Angebot wird dankend angenommen. Im Schnitt bekommen sie vier Catcalls pro Woche, alltägliche Grenzüberschreitungen, die sie öffentlich machen. Die Hemmschwelle soll auf diese Weise steigen, damit Straßenbelästigung weniger wird. Bis dahin werden sie weiter ankreiden gehen. David Hamann

CHALKBACKBEWEGUNG @catcallsofnyc wurde 2016 in New York von der Aktivistin Sophie Sandberg ins Leben gerufen – als erster Instagramaccount der „Chalkback“Bewegung. Der erste Account in Deutschland ist Anfang 2019 in Berlin online gegangen. Mittlerweile gibt es hierzulande 73 aktive Accounts – allein 10 davon in Baden-Württemberg. Online sind diese unter @catcallsof mit dem jeweiligen Städtenamen zu finden. FEBRUAR 2022 CHILLI 19


CHILLI ASTROLOGIE

DAS »BIERERNSTE«

CHILLI-HOROSKOP DIE OLYMPISCHE WINTERSPIELE-EDITION VON HOBBY-ASTRONAUT PHILIP THOMAS

WIDDER

WAAGE

21.03. – 20.04.

24.09. – 23.10.

Mit dünnen Brettern an den Füßen über turmhohe Schanzen springen, völlig außer Atem mit einem Gewehr auf winzige Ziele ballern, und auf wackeligen Schlitten im Affenzahn durch einen Eiskanal rasen. All das reißt dich nicht vom Hocker. Die sollen dich anrufen, wenn Après-Ski oder Schneeballschlacht endlich olympisch werden.

Bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio gingen erstmals Skateboarder und Kletterer an den Start. Dafür hattest du noch Verständnis, Gerüchten zufolge soll aber bei den Winterspielen 2026 erstmals Ski Mountaineering laufen. Was das ist? Das ist genau wie Skifahren. Nur eben bergauf. Also ungefähr so, als würden Formel-1-Piloten ihre Autos schieben.

STIER

SKORPION

21.04. – 21.05.

24.10. – 22.11.

So viel Aktivismus macht dir keiner nach! Du hast dein brandneues Handy (Made in China) gezückt und auf sämtlichen Social-Media-Kanälen verlauten lassen, dass du die Olympischen Winterspiele in diesem Unrechtsstaat boykottierst. Da machst du nicht mit! Starke Leistung. Besonders für jemanden, der den Rest des Jahres auch keinen Wintersport schaut.

ZWILLING 22.05. – 21.06. Dieses Jahr finden die Olympischen Winterspiele auf Kunstschnee statt. In den Bergen nordöstlich von Peking sowie am Rand der Wüste Gobi wurden dafür riesige Gebiete mit Schneekanonen beschossen. In dieser Region fällt schließlich kaum Niederschlag. Was kommt als Nächstes? Eine Fußballweltmeisterschaft im Winter?

KREBS 22.06. – 22.07. Nach den Winterspielen brauchst du eine neue sportliche Ablenkung. Vom modernen Fußball hast du im Frühling 2022 nämlich die Nase voll wie Christoph Daum im Sommer 2000: Die Bundesliga liebäugelt mit einem Play-Off-System?! Du hast Glück: Die National Football League (NFL) kommt diesen Sommer für ein Spiel aus Nordamerika nach Deutschland.

Der Medaillenspiegel der Winterspiele in Peking wird angeführt von Norwegen, den USA und Schweden. Kanada dominiert im Eishockey. Japan und das sogenannte Russische Olympia Komitee schicken gleich mehrere Eiskunstlaufkoryphäen ins Rennen ums Edelmetall. Also alles wie immer. Oder wie man in China wahrscheinlich sagt: In Deutschland ist ein Sack Kartoffeln umgefallen.

SCHÜTZE 23.11. – 21.12. An künstlichen Schnee bei Olympischen Winterspielen werden wir uns wohl gewöhnen müssen. Solange China, die USA, Indien, Russland, Japan, der Iran und Südkorea jedes Jahr Gold im Co2-Austoßen holen, wird es bald ohnehin keine weißen Winter mehr geben. Also bis zur nächsten Eiszeit, eben ...

STEINBOCK 22.12. – 20.01. Das olympische Motto „Dabei sein ist alles“ sollten sich auch dieses Jahr wieder sämtliche Athlet·innen zu Herzen nehmen. Warum? 2002 bescherte der über 1000 Meter längst abgeschlagene australische Schlittschuhläufer Steven Bradbury seinem Land das erste olympische Winter-Gold, weil das gesamte Feld in der letzten Kurve stürzte.

LÖWE

WASSERMANN

23.07. – 23.08.

21.01. – 20.02.

Jaja, du hast es auch gehört: Die kanadischen Hockeyfrauen haben Russland mit 6:1 vom Eis gefegt und dabei FFP2-Masken getragen. Derweil stellen sich Deutsche an, wenn sie eine Maske zum Einkaufen tragen müssen. Das ist natürlich richtig, vergessen wird dabei allerdings, dass die Hockeyspielerinnen auch keine Brillen tragen müssen.

Die Olympischen Winterspiele lässt du links liegen. Sogar ganz ohne Protest, du pfeifst ja schon auf die Sommerspiele. Die einzigen Disziplinen, die dich interessieren sind: Freistil-Schimpfen, Marathon-Schlafen, Extrem-Saufen, Synchron-Schnarchen und natürlich Rhythmisches Mampfen. Darin bist du schließlich absolut goldverdächtig.

JUNGFRAU

FISCHE

24.08. – 23.09.

21.02. – 20.03.

Das Bild ging um die Welt: Eine schneeweiße Skischanze inmitten einer graubraunen Betonwüste zwischen AKW-Kühltürmen, Schornsteinen und Stromtrassen. Statt zu nörgeln, sollten die Umwelt-Aktivisten der Volksrepublik lieber zujubeln: Für diese Schanze wurden sicher keine Bäume gefällt.

50 CHILLI FEBRUAR 2022

Sportlicher Erfolg ist nicht alles. Bei den Winterspielen geht es vor allem darum, Werbung für das eigene Land zu machen. Am meisten imponieren dir bisher die Olympioniken aus der Schweiz: Wann immer sich ein Sportler verletzt, sind die Eidgenossen mit ihrem weißen Kreuz auf rotem Grund direkt zur Stelle.




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