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SO (GUT) WIRD 2023
DAS CHILLI WAGT EINEN BLICK IN DIE FREIBURG-KRISTALLKUGEL
Von Lars Bargmann, Pascal Lienhard, Till Neumann, Jennifer Patrias, Philip Thomas
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Ein Drama jagte das nächste im Jahr 2022. Auch Freiburg hat turbulente Monate hinter sich. Die chilli-Redaktion hat daher die Kristallkugel rausgekramt und einen Ausblick auf 2023 gewagt. Die Redaktion ist sich sicher: Das nächste Jahr wird viel besser. Nur das mit Dietenbach … da hoffen wir, falschzuliegen.
Pyro auf dem Münsterplatz
Freiburg goes Woodstock – im Juni startet eine fünftägige Konzertreihe auf dem Münsterplatz. Nein, nicht das Reboot fürs unrühmlich gescheiterte Reboot-Festival, sondern die Münsterplatzkonzerte. „Ich habe in Corona-Zeiten ein provokantes Konzept an Martin Horn geschickt“, hat uns Mitorganisator Bela Gurath im Herbst wissen lassen. Was SeaYou-Chef und OB wirklich ausgeheckt haben, zeigt sich in letzter Sekunde: Auf die Besucher von Peter Maffay wartet nicht der Tabaluga-Rocker, sondern auch der Exportschlager Rammstein. Statt Wunderkerzen gibt’s Pyrotechnik, statt Zeilen wie „Du bist alles, was ich habe auf der Welt, du bist alles, was ich will, yeah“ ergehen Texte der Marke „Schnaps im Kopf, du holde Braut, steck Bratwurst in dein Sauerkraut“ über die schockierten Gäste. Das Fazit: Die Schock-Rocker haben eine Handvoll neuer Fans, die Münsterplatzkonzerte sind beerdigt.
Widerstand gegen Vegetarismus
Der erste Schritt zur Ökodiktatur ist gemacht: Ab Herbst soll es in Freiburgs Grundschulen und Kitas kein Fleisch mehr geben. Was folgen soll, hätten sich selbst führende Wutbürger nicht erträumt: Der Gemeinderat plant das Verbot von Fleischkonsum in der Öffentlichkeit. Berittene Ordnungswächter sollen für die Einhaltung der Regel sorgen. Wer sich widersetzt, wird in der Stadthalle eingekerkert. Doch es regt sich Widerstand: Die Betreiber Freiburger Dönerläden kleben sich an rotierenden Fleischspießen fest. Den Kleber haben sie im Klimacamp gefunden.
Autos zahlen für Räder
Als Radfahrer hat man ohnehin ein gutes Gewissen – ab nächstem Jahr könnte es noch besser werden: Dann sollen 300 Meter Radweg an der Messe mit Solarmodulen überdacht werden. Kostenpunkt: rund eine Million Euro. Der produzierte Strom soll dem Durchschnittsverbrauch von 180 Personen entsprechen. Warum nicht einen Gang höherschalten? Würde man die insgesamt fast 500 Kilometer Radweg der Stadt konsequent mit Solarmodulen überdachen, stünde Elektrizität für rund 292.000 Menschen bereit. Und das für schlappe 1,6 Milliarden Euro. Wo soll das Geld herkommen? Das Anwohnerparken wird in ganz Freiburg kostenpflichtig, für den geplanten Stadttunnel wird eine saftige Maut verlangt.
Retterin der Nacht
Im Sommer tauchte eine rosa Freiheitsstatue auf dem Schlossberg auf. Ein anonymes Kollektiv hatte sie dort als Hilferuf für das Freiburger Clubsterben aufgestellt. Nachdem auch die Aktion die Lage fürs Freiburger Nachtleben nicht signifikant verbessert hat, ruhen jetzt alle Hoffnungen auf der neuen Nachtkulturbeauftragten Kristina Mühlbach. Und siehe da: Die 39-Jährige geht 2023 mit Tatkraft zu Werke. Sie kassiert eigenhändig Bluetooth-Boxen am Seepark, lässt nachts Müllroboter über den Platz der Alten Synagoge rollen und fädelt ein sensationelles Späti-Comeback ein. Die Anwohner aus dem Stühlinger brauchen sich keine Sorgen zu machen: Der Nachtkiosk zieht in den Freiburger Hauptbahnhof. Da ist wegen schimpfender DB-Kunden eh ein Höllenlärm. Dass da noch ein paar Alkoholisierte zusammensitzen, fällt fast keinem auf.
Die Quadratur des Kreises
Im Laufe des ersten Quartals legt Rüdiger Engel, Chef der Planungsgruppe Dietenbach, eine neue Finanzierungsübersicht für den neuen Stadtteil vor. Demnach sind die Kosten von zuletzt 850 Millionen auf mehr als eine Milliarde gestiegen. Damit müssten die Grundstücke noch teurer werden, was aber nun wirklich gar keiner mehr bezahlen kann. Engel ruft beim Finanzbürgermeister Stefan Breiter an: „Wir brauchen noch mal 150 Millionen aus der Stadtschatulle.“ Breiter imitiert: „Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte wenden Sie sich irgendwo anders hin.“ Und legt auf. Im zweiten Quartal legt das Liegenschaftsamt unter Berücksichtigung aller politischen Wünsche das Vermarktungskonzept für die ersten 1600 Wohnungen vor. Es ist – euphemistisch ausgedrückt – komplex. Ein Medienvertreter fragt nach einem Dolmetscherprogramm, das Politik in Wirtschaft übersetzen kann. OB Martin Horn und Baubürgermeister Martin Haag schauen zu Liegenschaftsamtsleiter Bruno Gramich rüber. Der hebt abwehrend die Hände. Der Blick geht weiter zu Breiter. Der sagt: „Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.“
Musikmekka statt Wohnviertel
Seit Jahren suchen Bands Proberäume. Auch 2023 geht das Ringen weiter: Das große Musikerhaus am Güterbahnhof war ja zu teuer. Die Keller-Kompromisslösung KA52 wird nach langem Hickhack unsexy. Jetzt sollen containerähnliche Proberaummodule die Rettung sein. Doch wohin damit? Das Rathaus präsentiert einen Hammer: Der Stadtteil Dietenbach wird aus Kostengründen nicht gebaut. Freiburg plant alternativ dort das größte Proberaumareal Europas: Neben 5000 Holzmodulen zum Musizieren werden zwei Konzertsäle, eine Künstlerresidenz, Tonstudios und eine Außenstelle der Pop-Akademie Mannheim aufgebaut. Finanziert wird die „Giga Groove Galaxy“ von Peter Unmüssig. Der Unternehmer will das Jahrhundertprojekt mit Anteilen an Charthits made im Breisgau refinanzieren. Seitdem er die „Freiburger Tracks des Jahres“ vom chilli-Magazin gehört hat, ist er vom Potenzial der Szene restlos überzeugt. Da sich die Wohnraumlage weiter verschärft, pennen Musiker fortan einfach im Wohlfühlproberaum aus Holz.
Millionen-Coup auf Eis
Fast 14 Millionen Euro muss der EHC für das neue Eisstadion an der Messe auftreiben. Das zu schaffen, wäre eine Sensation, sagte Vereinspräsident Michael Müller dem chilli. Auch 2023 glaubt kaum einer daran. Doch der Verein hat Glück: Unerwar teterweise springt der Sportclub Freiburg bei. Geschäfts führer Oliver Leki überweist den gesamten Betrag aufs EHC-Konto. Der Grund: Der SC-Freiburg-Kicker Ritsu Doan hat bei der WM in Katar für Japan groß aufgespielt. Danach verkauft ihn der SC für 150 Millionen Euro an Real Madrid. 14 Millionen sind da ein Klacks. SC-Coach Christian Streich wird zum Dank als EHC-Trainer engagiert. Sein Statement: „Durch die kurzen Wege zwischen den Nachbarstadien isch des gut machbar.“
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Fische in der Badewanne
Sonne so weit das Auge reicht. Das hat auch 2022 gezeigt, das als eins der heißesten Jahre deklariert wurde. Besserung? Nicht in Sicht! Da der Breisgau womöglich bald von Wüstentemperaturen heimgesucht wird, beschließt der Gemeinderat: Von Montag bis Freitag wird von 14 bis 17 Uhr die Siesta eingeführt. Dafür werden die Ladenzeiten bis 22 Uhr erweitert – es shoppt sich schließlich viel entspannter ohne tellergroße Schweißflecken und stinkende Klamotten. Auch für die Dreisam gibt es Pläne: Um dem Fischsterben zuvorzukommen, werden Helfer gesucht, die die Flussbewohner über die heißen Monate in ihren Badewannen und Pools in Kurzzeitpflege nehmen. Kost und Logis werden natürlich übernommen.
Ungewöhnliche Maßnahmen
Die Energiekrise hat den Wintersport erreicht. Selbst an schlechten Tagen kostet eine Erwachsenen-Tageskarte auf dem Feldberg 39 Euro – an guten Tagen deutlich mehr. Zudem sollen die Lifte nur noch laufen, wenn sie gebraucht werden. Das lassen eingefleischte Skibegeisterte nicht auf sich sitzen. Plötzlich stehen unzählige Katapulte am Fuße der Pisten. Mit denen werden Skihasen nicht nur in Rekordgeschwindigkeit den Berg hochgeschossen, sie sparen aufgrund der Einmalgruppenanschaffung auch viel Geld. Die Frage, ob Ski oder Snowboard dabei kaputtgehen – nebensächlich. Schließlich kann man den Berg zur Not auch einfach nur runterrollen. Eltern haften jedoch für ihre Kinder!
Wanne-Eickel statt New York
Zuerst 2050, zwischenzeitlich 2038, jetzt 2035: In nur 13 Jahren möchte Freiburg klimaneutral sein. Das ist gar nicht so abwegig, wenn man sich die Verringerung des CO2-Ausstoßes anschaut. Um das Ganze noch schneller voranzutreiben, setzt die Initiative „Klimaentscheid Freiburg“ das Bahn-gegen-Flugzeug-Ticket um. Wer nur einmal pro Jahr ein Flugzeug besteigt, bekommt vier Freifahrten von der Deutschen Bahn. Vollgestopfte Züge, kaputte Klimaanlagen und Verspätungen sind schließlich die reinste Entspannung. Und mal ehrlich: Wanne-Eickel mit seinem Rhein-Herne-Kanal ist doch viel schöner als der Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center kurz vor Weihnachten.
Bröseln im Breisgau
Neben dem Freiburger Fraunhofer Institut für Wasserstoff eröffnet außerdem eine Einrichtung für die Erforschung von Klebstoff. Mit revolutionärem Kleister (Farbe: Lila) gelingt es, sämtliche Paneele der Dauerbaustelle Universitätsbibliothek zu entspiegeln und endlich sicher zu verleimen. Sogar an der Fassade eingenistetete Spinnen verscheucht das Hightech-Mittelchen. Provisorisch lässt das Landesamt für Denkmalschutz außerdem die maroden Fassaden von Friedrichsbau und Augustinermuseum kitten. Nachdem jedoch Jugendliche eine Probe des Super-Klebers aus dem neuen Labor entwenden, geht bei Autofahrern im Breisgau die Angst um.
Die Welt zu Gast bei Freiburgern
Auch im Mooswald wird baulich nachgebessert. Zwischen zwei Bundesligaspielen bekommt das neue SC-Stadion breite Stufen auf und mehr Platz hinter der Südtribüne spendiert. Außerdem nehmen sich Fans vor Toiletten und Wurstbuden nicht länger unfreiwillig in Manndeckung. Die nun voll funktionstüchtige Freiburger Arena verdrängt kurzfristig Stuttgart als Austragungsort für die EM 2024. Davor beendet Nico Schlotterbeck seinen bis 2027 datierten Vertrag mit dem BVB frühzeitig und wechselt zurück an die Dreisam. Die Begründung: Der Innenverteidiger würde gern Champions League spielen.
Warme Worte gegen die Erderwärmung
In Zeiten explodierender Energiepreise ist nicht nur guter Rat teuer. Um Gas zu sparen, besinnt sich Deutschland im bitterkalten Frühjahr auf menschliche Wärme – das Land rückt zusammen. Auch das Lagerfeuer der Nation, Wetten, dass ...?, wird wieder entfacht. Gottschalk moderiert in Dauerschleife. Im Gummibärchenrausch wettet Gast Martin Horn, dass Freiburg dank Empathie und warmer Worte schon 2030 klimaneutral wird. Top, die Wette gilt!
Das bisschen Haushalt
Im ersten Quartal ringen Rathaus und Fraktionen um den Doppelhaushalt. Die Verwaltung legt vor, die Fraktionen bringen mehr als 400 Änderungsanträge ein. Im Mai verabschiedet Freiburg den nächsten Milliarden-Haushalt. Erneut mit zig Millionen neuen Schulden. Im Juli genehmigt das Regierungspräsidium den Haushalt, muss aber danach den Titel „Aufsichtsbehörde“ ablegen, weil es den ausgabefleißigen Freiburgern wieder nicht auf die Finger gehauen hat. Finanzbürgermeister Stefan Breiter weiß nicht, ob er darüber lachen oder weinen soll. Die Entscheidung fällt im Penaltyschießen.