HEFT NR. 9/23 13. JAHRGANG
KULTUR
FREIBURGER HOLT STUDI-OSCAR
LEINWAND
WIE DEMENZ EINFÜHLSAM VERFILMT WERDEN KANN
MUSIK
ORGELSTUDENT NIKLAS JAHN STARTET DURCH
KULTUR 2 von 23: Lena Frey (links) und Mirabelle Korfsmeier werkeln in ihren Ateliers.
Linien, Henkel, Meditation BLICK HINTER DIE KULISSEN DER BETTACKER-ATELIERS
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Fotos: © tln
rei Jahre lang war es ruhig um die KunstAteliers an der Bettackerstraße in FreiburgHaslach. Am 19. Novem ber lädt das Kollektiv zum Tag der offenen Tür ein. Das chilli hat vorab hinter die Kulissen geblickt. Ein Besuch bei der ältesten und der jüngsten Künstlerin. Wer ins Atelier von Mirabelle Korfsmeier kommt, sieht gleich: Hier wird intensiv gewerkelt. Der Raum ist voller farbenfroher Bilder, auf dem Tisch stehen Pinsel und Stifte, nur eine kleine Sitzecke bietet Platz für eine Pause. Auch mit fast 80 Jahren ist der Tatendrang groß. Seit der Eröffnung der Kunsträume 2011 ist Korfsmeier hier – und hat den Luxus, einen Raum für sich alleine zu haben. „Sprache, Linie, Farbe, das sind die Komponenten, aus denen ich schöpfe“, so Korfsmeier. Oft arbeitet sie an Serien zu festen Themen. So hat sie beispielsweise Bilder zu Neuer Musik des „Ensemble Recherche“ aus Freiburg entworfen. Aktuell malt sie mit Pastellkreide. 40 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2023
von Till Neumann Wegweiser ist dabei stets eine Linie – „egal wie breit sie ist, egal welche Technik“, erklärt die Frau mit japanischen Wurzeln. „Die Linie ist immer der Ausgang.“ Sie lenke Gedanken. „Das Wasser, was runterrinnt, Licht und Schatten kann auch wie eine Linie sein.“ Wichtig ist ihr ein eigener Stil: „Jemanden zu kopieren funktioniert nie, es verunglückt.“ Studiert hat sie Kunstgeschichte und Innenarchitektur. Kein Wunder also, dass Geraden ihre Werke prägen. Kunst mache sie aber schon immer. Und unterrichtet seit 30 Jahren – mittlerweile auch hier am großen Tisch in ihrem Atelier. So weit ist Lena Frey noch nicht. Die 31-Jährige ist seit März an der Bettackerstraße und töpfert. Am liebsten Tassen, ihr Spezialgebiet sind ausgefallene Henkel. Mal sind sie außergewöhnlich lang, mal gibt’s gleich mehrere pro Tasse, mal sehen sie aus wie abgebrochen. „Manche würden sagen, es sind gar keine Henkel. Dem würde ich teilweise zustimmen, teilweise nicht“, sagt die Künstlerin. Erhältlich sind die Werke im Freiburger Laden „Kiwi Koala“. Leben
kann sie davon aber noch lange nicht. Den Raum teilt sie sich mit drei anderen Künstler·innen, von denen sie immer mal wieder Tipps bekommt. Nachdem sie früher im WG-Keller werkelte, ist das Atelier ein Upgrade: „Es ist richtig nice hier. Schön hell, man hat Platz, es gibt den Ofen – alles ist sehr convenient.“ Die gelernte Schuhmacherin ist durch Zufall zum Töpfern gekommen. „Ich habe einfach mal einen Drehkurs gemacht und das hat mich gehookt.“ Seit drei, vier Jahren töpfert sie nun und findet darin etwas Meditatives. Zu sehen sind ihre Werke im Dezember im Klamottenladen „Zündstoff“. Und beim Tag der offenen Ateliers am 19. November von 11 bis 17 Uhr. 23 Kunstschaffende sind dann in den Ateliers und geben Einblicke in ihre Arbeiten. Vielleicht kommen die beiden Künstlerinnen so ihren Träumen etwas näher: Für Mirabelle Korfsmeier wäre das eine große Retrospektive ihrer Arbeit in Freiburg. Für Lena Frey der Schritt, vom Verkauf ihrer Arbeiten leben zu können.
The Studi-Oscar goes to ...
KULTUR
EX-FREIBURGER ERHÄLT PRESTIGETRÄCHTIGEN PREIS
Foto: © André Stahlmann
„Wir sind stolz und glücklich, dass unsere harte Arbeit gewürdigt wird“, sagt Drehbuchautor David M. Lorenz. Ende Oktober hat der 38-Jährige mit Kommiliton·innen der Hamburg Media School (HMS) in Los Angeles einen Student Academy Award abgeholt. Lorenz hat schon viele Kurzfilme gedreht, die auf etlichen Festivals zu sehen waren und mehrere Preise abgestaubt haben. Erste kreative Gehversuche machte der gebürtige Breis gauer in Freiburg. Als Schüler realisierte er mit Freunden Projekte, die beim Schülerfilmforum liefen. Nach dem
Zivildienst in Australien, Studien in Wien und Berlin sowie mehreren Jahren als „digitaler Nomade“ schrieb er sich für einen Master an der HMS ein. Für den Abschlussfilm hat er sich mit Tamara Denić (Regie), Christian Sieé (Produktion) und André Stahlmann (Kamera) zusammengetan. Im bedrückenden Kurzfilm „Istina“ (serbisch für Wahrheit) geht es um eine serbische Fotojournalistin, die bis ins häusliche Umfeld von rechten Hooligans bedrängt wird. Sie flieht mit ihrer Tochter nach Hamburg, auch dort erfährt sie aufgrund ihrer Arbeit Anfeindungen. „Journalismus fasziniert mich schon immer“, sagt Lorenz. Auf der Suche nach Stoff für sein Drehbuch habe er die zunehmende Bedrohung Medienschaffender beobachtet. Das Thema sei weltweit aktuell, weshalb das Team den Bogen nach Serbien gespannt habe. Zudem stammt Regisseurin Denić aus dem Land. Im Januar hat das Team hinter „Istina“ bereits einen Max-Ophüls-Preis gewonnen, zudem war der Film für den Student-BAFTA nominiert. Beim Studentenoscar musste er sich mit rund 2500 weiteren Kontrahenten messen.
Prämiert wurden zehn Streifen in den Kategorien Narrative, Documentary, Animation und Experimental. Für „Istina“ gab’s Bronze in der Erzählsparte. Rund um die Preisverleihung quartierte sich das Hamburger Quartett mit sechs Mitarbeiter·innen in einer Villa in den Hollywood Hills ein. Auch für die Zeremonie im Samuel Goldwyn Theater sollte es etwas glamouröser sein: „Ich musste meine Garderobe ein wenig aufstocken, um nicht wie ein Konfirmand auszusehen“, verrät Lorenz. Den Oscar in der Hand zu halten sei dann weniger spektakulär gewesen als gedacht. Mit dem prestigeträchtigen Preis in der Hinterhand hofft Lorenz nun auf eine Förderung für einen abendfüllenden Film. Und vielleicht winkt schon die nächste Auszeichnung? Als Preisträger konnte das norddeutsche Team seinen Film bei den „echten“ Oscars einreichen. Selbst wenn es dieses Mal nicht reicht, macht das Beispiel Robert Zemeckis Mut: Der Regisseur und Filmproduzent bekam 1975 den Student Academy Award, 1994 dann für „Forest Gump“ den „echten“ Oscar.
Foto: © privat
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Was haben die Streifen „Forest Gump“, „Toy Story“ und „BlacKkKlansman“ gemein? Ihre Schöpfer haben einen Studentenoscar. Einen solchen hat unlängst auch Ex-Breisgauer David M. Lorenz entgegengenommen. Mit einem Film zur Gewalt gegen Medienschaffende haben der Drehbuchautor und sein Team die Academy überzeugt.
von Pascal Lienhard
Mit hartem Tobak nach Hollywood: Das Filmteam um Drehbuchautor David M. Lorenz (zweiter von rechts) hat für einen Film über Gewalt gegen Journalist·innen einen Oscar gewonnen. NOVEMBER 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 41
KINO
Das Verschwinden DER FRANCO-QUEBECER ÉRIC TESSIER BRINGT DAS THEMA DEMENZ EINFÜHLSAM INS KINO
Kanada 2020 Regie: Éric Tessier Mit: Rémy Girard, Karelle Tremblay, France Castel, Julie Le Breton, David Boutin u.a. Verleih: JETS Filmverleih Laufzeit: 108 Minuten Start: 7. Dezember 2023
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Die aufgeregte Hektik gilt dem Film im Film: Edouard und seine Frau Madeleine werden für eine Fernsehaufzeichnung gestylt. Für Edouard eigentlich ein Routine-Auftritt: Der pensionierte Historiker war es gewöhnt, vor laufenden Kameras Vorträge zu halten oder aktuelle politische Ereignisse zu kommentieren. Doch dieses Mal geht es um ein anderes Thema: Der freundliche Mann ist dabei, sein Gedächtnis und damit seine Worte zu verlieren. Nun soll er darüber sprechen, wie es sich anfühlt, mit einer Alzheimer-Erkrankung zu leben. Doch so weit ist Edouard noch nicht. Während er versucht, seine „gelegentliche kleine Vergesslichkeit“ zu verharmlosen, geizt Madeleine nicht mit giftigen Bemerkungen zu seiner falschen Selbstwahrnehmung. In der Gewissheit, dass er „nach drei Minuten
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sowieso alles wieder vergisst“, lässt sie ihrer Verbitterung freien Lauf. Nach dem Interview packt sie ihren Ehemann ins Auto und liefert ihn bei der Tochter Isabelle ab. Und verschwindet zu ihrem neuen heimlichen Lover. Da Isabelle berufliche Verpflichtungen hat, überlässt sie den verwirrten Vater der Obhut ihres arbeitslosen Lebensgefährten, der mit der Situation ziemlich unaufgeregt umgeht. Doch er wird überraschend zu einem dringenden Termin gerufen; als kurzfristige Betreuung für Edouard fällt ihm nur seine nicht besonders lebenstüchtige, sehr dis tanzierte und völlig ungebundene 20-jährige Tochter Bérénice ein. Widerwillig – und gegen Geld – macht sie mit. Nach anfänglichen Holprigkeiten finden sie schließlich Zugang zueinander. Sie erinnert ihn an seine zweite Tochter Nathalie, die mit zweitem Namen auch Bérénice hieß und über die seit ihrem Suizid vor fast 30 Jahren in der Familie nicht mehr gesprochen wurde. Bald gehört Bérénice zu Edouards vertrautestem Kreis; mit ihr kann er auch über sein langsames Verschwinden, seinen allmählichen Abschied von sich selbst sprechen. Und sie wächst mit ihrer Rolle, in der sie lernt, Verantwortung zu übernehmen. Dieser wunderbar einfühlsame und zugeneigte Film ist bereits vor dem offiziellen Start im Rahmen der Französischen Filmwoche am 25. und 28. November im Kino Friedrichsbau zu sehen.
Fotos: © JETS Filmverleih
Du wirst mich in Erinnerung behalten
ohnzimmeratmosphäre mit Polstermöbeln, Bücherwänden und einem älteren Paar. Doch die beiden betagten Menschen sitzen nicht einfach gelangweilt am alltäglichen Nachmittagskaffeetisch und reden aneinander vorbei. Um sie herum werden Möbel verschoben, bringen Techniker Lampen, Kameras und Aufnahmegeräte in Position, wuseln Stylisten, die sie pudern, frisieren und schminken.
von Erika Weisser
KINO
ELAHA
THE OLD OAK
WIE WILDE TIERE
Foto: © Camino Filmverleih
Foto: © Wild Bunch
Foto: © Prokino
Deutschland 2023 Regie: Milena Aboyan Mit: Bayan Layla, Derya Durmaz u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 110 Minuten Start: 23. November 2023
Großbritannien 2023 Regie: Ken Loach Mit: Dave Turner, Ebla Mari u.a. Verleih: Wild Bunch Laufzeit: 113 Minuten Start: 23. November 2023
Spanien 2022 Regie: Rodrigo Sorogoyen Mit: Marina Foïs, Denis Ménochet u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 137 Minuten Start: 7. Dezember 2023
Der Preis der „Ehre“
Umkämpftes Gebiet
Vom Argwohn zur Feindschaft
(ewei). Eine junge Frau in einem smaragdgrünen Kleid tanzt ausgelassen auf einer Hochzeit. Sie wirft ihre Arme in die Luft, wirkt befreit, ausgelassen. Bis ihre Mutter sie zu sich ruft und mahnt, sich zurückzunehmen. In dieser Szene deutet sich bereits der Konflikt an, den die 22-jährige Kurdin Elaha mit den Wertvorstellungen und Rollenerwartungen ihrer Familie hat: Ein Mädchen, lautet die Tradition, muss jungfräulich in die Ehe gehen. Daher vertraut sie weder der strengen Mutter noch den Freundinnen an, dass sie schon einmal Sex hatte. So treibt ihre eigene anstehende Heirat sie schier in Verzweiflung: Sie hat panische Angst, dass ihr Verlobter in der Hochzeitsnacht merken könnte, dass sie nicht mehr Jungfrau ist. Eine plastisch-chirurgische HymenRekonstruktion scheint ein Ausweg zu sein, doch dafür fehlt ihr das Geld. Wie also den Konflikt lösen? Milena Aboyans Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg wurde mit dem renommierten Prix Europa ausgezeichnet.
(ewei). Das Pub „The Old Oak“ hat schon bessere Zeiten gesehen: Vor 30 Jahren, als das nordenglische Städtchen noch eine blühende Bergbaugemeinde war, spielte sich hier viel öffentliches und privates Leben ab. Die Kneipe war Treffpunkt für alle; von Hochzeitsfesten bis zu Trauerfeiern, von Streikversammlungen bis zur Feierabend-Bierrunde – der große Saal und der Schankraum waren immer gut besucht. Wie der Saal sind auch die Minen längst geschlossen, viele sind weggezogen, ihre Häuser werden zu Spottpreisen verkauft. Wirt TJ Ballantyne kämpft ums Überleben; am Tresen sitzen nur noch ein paar verbitterte Männer, die Zuflucht vor der Trostlosigkeit des häuslichen Elends suchen. Und die sich lautstark gegen unerwartete Neuankömmlinge auflehnen: einen Bus voller syrischer Geflüchteter. Das Pub wird zum umkämpften Gebiet, als TJ gemeinsame Mittagstische für alle anbietet – und versucht, die Solidarität aus der Zeit der großen Arbeitskämpfe wieder aufleben zu lassen.
(ewei). Antoine und Olga haben den Neuanfang gewagt: Sie verließen Frankreich und fanden in einer kleinen Gemeinde im Landesinneren Galiziens eine neue Heimat. Dort haben sie ein Fleckchen Land gekauft und leben von dem, was sie in mühsamer Arbeit erwirtschaften. Doch so sehr sie sich auch bemühen, die ortsansässigen Bauern, die dem Kreislauf von wenig Einkommen und Perspektivlosigkeit entrinnen wollen, begegnen ihnen mit Argwohn: Zu tief ist der Graben zwischen ihnen und den beiden wohlhabenden Aussteigern und ihrem Leben im Einklang mit der Natur. Das schwelende Misstrauen wird zum offenen Konflikt, als Antoine die Pläne seiner Nachbarn, der Anta-Brüder, durchkreuzt: Diese wollen ihr Land für den Bau von Windrädern verkaufen, doch Antoine verweigert die Zustimmung zur Zufahrt über sein Gelände. Während sich die Männer in einer eskalierenden Spirale von Feindseligkeit und Gewalt verlieren, entschließt sich Olga, für Ausgleich zu sorgen. Doch ihr Weg ist schwer.
MUSIK
Foto: © Marvin Laibold
Zielstrebig: Niklas Jahn weiß, wohin er will.
Big in Japan
NIKLAS JAHN WIRD ZUM RISING STAR AN DER ORGEL
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rgel. Das klingt nach Kirche, Beten und Begleitmusik. Doch der Freiburger Musikhochschulstudent Niklas Jahn zeigt, dass Organisten noch ganz andere Optionen haben. Zuletzt hat der 26-Jährige drei renommierte Wettbewerbe gewonnen. Erste Schritte zum Traum einer Solokarriere – doch die geht fast nur im Ausland. Läuft bei ihm. So könnte man das Jahr von Niklas Jahn zusammenfassen. Im März landete der Freiburger beim 13. Internationalen Orgelwettbewerb in Korschenbroich (NRW) ganz oben auf dem Treppchen. Im Juli folgte der erste Platz bei einem Improvisationscontest in England. Im September wurde er Bester beim Orgel-Wettbewerb „International Organ Competition Musashino-Tokyo“ in Japan. Damit verbunden ist ein Plattenvertrag 44 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2023
von Till Neumann beim Label Naxos und eine Tournee Für eine große Karriere muss durch Konzertsäle in Japan, Polen und Jahn wohl über Grenzen gehen. Deutschland. Denn für freiberufliche Organisten „Riesendinger“ nennt Jahn die Er- sei Deutschland sehr verkopft. Hier folge. Er steht in einem der Or- hieße es oft: „Orgel, das gehört in gel-Übungsräume im Keller der die Kirche.“ Bei seinem Glanzstück Freiburger Musikhochschule mit in Japan hat er das anders erlebt. schicken schwarzen Schuhen, Hose „Die standen Schlange an, um von und Hemd. Hier hat er jahrelang für mir ein Autogramm zu holen“, erinseine jüngsten Coups gearbeitet, die nert er sich. Eine Situation, die er so ihn selbst stutzig machen. Nicht ein- aus Deutschland nicht kennt. mal eine Homepage hat er, als die Orgel„Ich wollte immer welt sich fragt, wer dieser Freiburger irgendwie sehr gut sein“ eigentlich ist. Die Titel haben Türöffner-PotenziPressefotos hat er jetzt machen lasal: „Davon träumt man seine ganze sen – die Website ist in Arbeit. Die InStudien-Laufbahn.“ Solche Wettbeterviewanfragen häufen sich. Jahn bündelt sie auf einen Tag und betont: werbe könnten die Spreu vom Weizen „Ich wollte immer normal bleiben.“ trennen, das seien Karriere-MarkDas sei auch noch jetzt so. Doch er sagt steine. Auch sein Orgel-Professor auch: „Ich wollte immer irgendwie sehr Matthias Maierhofer bestätigt das: gut sein.“ Das macht sich nun bezahlt. „Durch den Gewinn dieser bedeutenDie Gunst der Stunde will er nutzen, den Wettbewerbe wird Herr Jahn nun zu vielen Konzerten eingeladen. um sich als Künstler zu vermarkten.
MUSIK
„Man muss brennen“ WIE WILLMAN AN 74.000 EURO KAMEN
Viele Künstler·innen kommen ohne Fördergelder kaum aus. So auch das Elektro-Pop-Duo Willman aus Freiburg. Beim BaWü-Programm „Perspektive Pop“ haben sie für ihre aktuelle EP „Mein Thron“ rund 74.000 Euro bekommen. Wie sie das geschafft haben und was damit möglich ist? Von Musik leben zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen. Auch weil die Kosten für Produktionen hoch sind. Also ringen viele Acts um Fördergelder, etwa der „Initiative Musik“ oder auch regionalen Programmen wie zuletzt der „Perspektive Pop“ in Baden-Württemberg. Rund 1,9 Millionen Euro hat das Land dabei 2022 an 50 Projekte ausgegeben, um die Live-Musik-Szene zu stärken. Der Maximalbetrag lag bei 75.000 Euro. Das Freiburger Duo Willman hat davon satte 74.285 Euro erhalten. Ein Jackpot für die Newcomer, die damit ihre gerade erschienene Flinta-EP „Mein Thron“ finanzieren konnten. Wie Willman das geschafft haben? „Weil wir gepokert haben – und gerechnet“, sagt Drummer und Produzent Felix Birsner (29). Der Betrag klinge nach viel Geld. Auf das Projekt gesehen sei das aber auch ganz schnell wieder weg. Mit Anträgen haben Willman schon einiges probiert. Drei Anträge bei der „Initiative Musik“ sind abgelehnt worden. Jetzt wagen sie einen vierten Anlauf – gemeinsam mit einem Management, berichtet Sängerin Julia Lauber. Die Initiative Musik gilt bei Anträgen als komplex. Rund 30 Stunden seien sie am ersten Antrag gesessen. Ein überzeugendes Konzept muss formuliert werden, ein Finanzplan erstellt und Kooperationspartner ins Boot geholt werden. Ihre Miete bezahlen konnten Willman mit den knapp 75.000 Euro nicht. „Es war ein großer Wunsch, dass wir wirklich jeden, der an dieser EP beteiligt ist, auch wirklich gut auszahlen können“, erklärt Lauber. Für Honorare ging daher am meisten Geld weg. Gefolgt von Promo-Investitionen. Neben der Musik haben sie Jobs, die Geld bringen – ohne Privatvermögen lasse sich die Musikkarriere nicht starten. „Wir sehen das als Start-up, in das man investiert, um langfristig davon zu leben“, erklärt Lauber. Vom zeitlichen Aufwand her sei die Band längst ein Hauptberuf. Eine Garantie, dass sich das Duo irgendwann mit dem Verkauf von Tickets, Merchandise und Platten trägt, gibt es dennoch nicht. Lauber setzt auf den Faktor Leidenschaft: „Man muss einfach brennen, um das Ganze auf sich zu nehmen.“ tln Schreiben einige Anträge: Felix Birsner und Julia Lauber.
Foto: © Sophia Emmerich
Foto: © Ramon Manuel Schneeweiss
Das ist der optimale Einstieg in eine künstlerische und in seinem Falle sicher langfristig auch pädagogische Karriere.“ Maierhofer unterrichtet Jahn seit zwei Jahren in seiner Orgelklasse an der Musikhochschule Freiburg. Drei Masterstudiengänge schaffte sein Schützling parallel – in Kirchenmusik, Improvisation und Chorleitung. Jetzt macht er zwei Meisterklassenstudiengänge obendrauf – in Improvisation und Literaturspiel. Ein Novum an der Musikhochschule Freiburg. Der Hochschulrat hat diesen Sonderfall auf Wunsch von Jahn genehmigt. Professor Maierhofer kennt Jahns Stärken: „Ihn zeichnet die Kombination von hoher künstlerischer Begabung und außerordentlichem Fleiß aus.“ Er könne in eine kommunikative und energetische Ebene zum Publikum treten. Dass Fleiß ein Trumpf ist, weiß Jahn: „Ich war sehr diszipliniert und das hat auch manchmal sehr wehgetan.“ So viel zu üben, auch mal gegen Müdigkeit und Schmerz, zahle sich jetzt aus. Doch das Privatleben will er darunter nicht leiden lassen: „Ich habe eine tolle Freundin“, betont Jahn. Mit ihr lebt er zusammen. Da sie selbst Musikerin ist, könne sie seine Ambitionen verstehen. Aufgewachsen ist Jahn in einer musikalischen Familie in einem „Dörfchen“ bei Fulda. Sehr bodenständig sei das gewesen – und Jahn habe mit 15, 16 mit anderen Jugendlichen auch öfter „ein Bierchen gezwitschert“. Doch schon damals habe er die Zeiten zum Üben „brutal abgesteckt“. Authentisch wollte er bleiben, nicht zu nerdig werden. Da seine Eltern selbst weder Geld noch Zeit für ein MusikTraut seinem Schützling instrument hatten, gaben sie einiges zu: Orgelprofessor das an ihn weiter, erzählt er. Matthias Maierhofer. Ein prägender Moment war die Teilnahme beim Bundeswettbewerb Jugend musiziert in Stuttgart. Einen dritten Platz holte er da und sah, wie gut die beiden vor ihm waren. „Was ist hier los? Richtig wild“, sein Gedanke. Das wollte er auch können. Also schrieb er den Domorganisten von Fulda an und kam in professionelle Strukturen. Jetzt weiß er, dass es sich gelohnt hat. Doch langfristig will er sich absichern: „Ich will irgendwann eine feste Stelle, wo ich einfach zur Ruhe kommen kann.“ Es sei ein sehr umtriebiges Leben freiberuflich, begleitet von Unsicherheiten. Wenn er jetzt krank werde, kriege er kein Geld für geplante Engagements. Ein Posten als Domorganist im Freiburger Münster? Das wäre „Himmel auf Erden“. Maierhofer rät, am Ball zu bleiben: „Für eine langfristige Karriere gilt es, die erreichte Qualität ständig am höchsten Standard zu halten – zudem mental und körperlich gesund zu bleiben.“ Für Jahn geht es auch um Demut: „Ich habe auch viele Wettbewerbe verloren." Die Karriere verlaufe in Wellen. Jetzt gerade gehe „einfach nur alles bergauf“. Dafür ist er dankbar.
MUSIK Metal
ProgRock
Heavy Fantasy
Kratzige Session
(pl). Die Freiburger·innen von Full Stop machen einen Mix aus Cross over und Alternative-Metal. Mit „Behind the Mirror“ hat das Quartett gerade seine Debüt-Single veröffentlicht. Zwar fehlt noch der gewisse Wiedererkennungsfaktor. Dafür kracht die Nummer stilecht aus den Boxen und macht neugierig auf mehr. Gegründet hat sich die Formation 2021, das Bühnendebüt war im Folgejahr bei „Freiburg stimmt ein“. Die von Sängerin Linda Kiefer geschriebenen Lyrics zu „Behind the Mirror“ basieren auf dem ersten Manuskript eines von Gitarristin Mandy Haberland geschriebenen Fantasy-Romans. „Es geht um die Elemente, trügerische Anziehung und alte Mächte“, verrät Kiefer. Der Song startet mit Drums von Raphael „Heffer“ Hierholzer und einem groovenden Basslauf von Philipp „Ritschy“ Ritschel, bevor eine harte E-Gitarre und der Gesang von Linda einsetzen. Ritschel steuert zudem Backing-Vocals bei. Technisch kommt „Behind the Mirror“ astrein daher, auch wenn von dem rund vierminütigen Song erst mal wenig hängen bleibt. Wer aber auf Gitarrenmusik der härteren Gangart inklusive ausdrucksstarker Frauenstimme steht, ist bei Full Stop gut aufgehoben. Und schon bald geht es weiter: Ende des Jahres folgt die zweite Single inklusive Musikvideo, kommendes Jahr dann eine EP.
(tln). Der Freiburger Gitarrist Merwyn Christopher aka Mörf macht mit einer Videoserie auf sich aufmerksam. Mitte November ist die dritte seiner Sessions erschienen: Der Song „Abuse“ kommt wie die Vorgänger mit zwei Gastmusikern und einem One-Take-Video daher. Der fast fünf Minuten lange Track fackelt nicht lange: Nach einem Synthie-Intro geht’s mit treibenden Drums und einer fauchenden E-Gitarre nach vorne. Der kratzige Kopfnick-Sound wird komplettiert von Mörfs Stimme. Eindringlich klingt das. Und nach einer Portion Schmerz. Kein Wunder, geht es doch im Song um das Gefühl, sich mit Ausreden zu quälen. „Der ständige Leistungsdruck kann dazu führen, dass Ausreden zu Schuldzuweisungen werden“, erklärt Mörf. Seine Beobachtung: „Die Investition von Zeit und Vertrauen kann dazu führen, dass sich Menschen gegenseitig angreifen.“ Der Gitarrist möchte mit seinem Soloprojekt Musiker zusammenbringen und aufeinander reagieren lassen. Mit „Marooned“ und „Scavenger“ sind seit Juni zwei weitere spannende Tracks in dem Format erschienen. Musiziert wird hier mit hochkarätigen Freiburger Musikern wie Silas Benz, Max Büttner (beide Drums) und Hannes Farrenkopf (Synthie & Bass). So birgt auch das Arrangement in „Abused“ noch so manch unerwartete Wendung.
BEHIND THE MIRROR (SINGLE)
ABUSE (SINGLE)
Plat
MÖRF
Foto: © David Lössl
3 FRAGEN AN LAURIN RUTGERS Egal ob für Redensart oder die Konzertagentur Lucky Booking: Laurin Rutgers ist in der Freiburger Szene bekannt. Mit seiner Bremer Punk-Combo Phantom Bay hat er gerade 14 Gigs in den USA gespielt – unter anderem auf dem prestigeträchtigen „Fest“ in Florida. Mit chilli-Volontär Pascal Lienhard spricht der 32-Jährige über die Shows und ein potentielles Konzert in Freiburg. Wie ist die US-Tour zustande gekommen? Schon bei der Bandgründung haben wir uns vorgenommen, einmal in den USA zu touren. Aus meiner Zeit als DIY-Booker hatte ich den Kontakt zum „Fest“-Veranstalter und habe ihm geschrieben. Er fand die Band gut und hat uns engagiert. Darauf haben wir den Rest der Tour gebucht. Von Burger- und Burritorestaurants über Bars, Coffeeshops und den Keller einer Kirche bis zu kleinen professionellen Musikclubs und dem Festival war fast alles dabei. Wie seid ihr angekommen? Hoffentlich gut! Meist spielten lokale Bands mit und wir fühlten uns für einen Abend als Teil der lokalen Szene. Es ist bemerkenswert, dass auf jeder Show ein paar Leute nur für uns gekommen sind. Viele hoffen auf einen Auftritt in Freiburg. Wann ist es so weit? Wir spielen dieses Jahr noch in Berlin und Nürnberg. Nächstes Jahr folgen kurze Tourneen im Frühjahr und Festivals im Sommer. Es wird sehr sicher auch eine Freiburg-Show geben. Lucky-Booking-Ehrenwort!
46 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2023
onats
Der amerikanische Traum
te des M
FULL STOP
KOLUMNE MONDAY EVEN
MIRO LANGE
Pop/Rock
Dark Ambient
LIKE JULIE (SINGLE)
INTO ETERNITY (SINGLE)
... zu den Idioten Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Herbstlicher Flair
Meditative Sphären
(pl). Melancholy-Indie-Pop-Rock: In diese Kerbe möchten die fünf Musiker der Freiburger Band Monday Even mit der aktuellen Single „Like Julie“ schlagen. Die Ballade ist ein angenehmer musikalischer Begleiter für den Herbst. Die fünfminütige Nummer startet ruhig, neben den Tasten steht die ausdrucksstarke Stimme von Sebastian Spindler im Fokus. Darauf aufbauend steigert sich die Instrumentierung – allerdings ohne den Rahmen der Ballade zu sprengen. Letztlich endet der Song wieder so ruhig, wie er begonnen hat. Spindler erklärt gegenüber dem chilli, dass der Track eine Neuinterpretation von Shakespeares Dauerbrenner „Romeo und Julia“ ist. Durch die musikalische Dynamik wolle die Formation eine Art Dramaturgie widerspiegeln. „Like Julie“ ist der dritte MondayEven-Song. „Nevermind“ war eine relaxt-groovige Nummer, „Mountains“ eine ziemlich gelungene Pop-Rock-Ballade. An Letztere kommt „Like Julie“ zwar nicht ganz ran. Dennoch ist die Single ein guter Soundtrack für die kälter und nässer werdenden Tage. Zudem wird das Stück nicht das letzte Lebenszeichen der Band sein. „Wir befinden uns weiterhin im kreativen Prozess und können bislang acht Songs unser Eigen nennen“, verrät Spindler. Das Potential ist da. Bleibt abzuwarten, wo die Reise hingehen wird.
(tln). Mit atmosphärischen Sounds baut der Freiburger Produzent Miro Lange Klangwelten auf. So auch mit seinem jüngsten Release, dem Song „Into Eternity“. Von Synthieflächen getragen kann man damit in die Ewigkeit schweben. Düster kommt der Track daher, aber auch Hoffnung schwingt mit, wenn sich das Ganze nach und nach entfaltet. Lange hat mit Klaviermusik angefangen, in Metalbands gespielt und war als Singer-Songwriter unterwegs. Der Klangkünstler arbeitet bevorzugt nachts und lässt seine Musik im Moment der Kreation entstehen. „Ich lasse die Inspiration komplett fließen“, erzählt er. Zu „Into Eternity“ kam ihm die Idee, statt auf Percussion zu setzen, ein Pochgeräusch mit seinem Mund zu erzeugen. Mit dem Song verarbeitet er einen persönlichen Verlust in einer komplexen Lebensphase. „Into Eternity“ ist Teil der kürzlich veröffentlichten Platte „Dimensions (Remastered 2023)“. Anfang 2024 soll es mit der nächsten Veröffentlichung weitergehen. Der Künstler ist auch auf dem Twitch-Kanal „Miro Lange“ aktiv. Dort gibt er bei spontanen Sessions Einblick in sein Schaffen. Wer einen Aufheller im düsteren November sucht, wird hier nicht fündig. Wer jedoch auf sphärische Klänge mit meditativen Vibes steht, kann hier voll auf seine Kosten kommen.
Alles was recht ist, aber Idioten machen uns einfach immer wieder das Leben schwerer, als es sowieso schon ist. Idiotensicher gibt es nicht. Sicher nicht, da man vor Idioten nie sicher ist, schon gar nicht im Bereich der Unterhaltungs musik. Wahrscheinlich, nein, ziemlich sicher sogar bedingen sich diese beiden Begrifflichkeiten gegenseitig. Die U-Musik kommt ohne den Idioten nicht aus und umgekehrt. Beispiele dafür gibt’s genügend. Beispiele gefällig? Norman Langen mit „Nur ein Idiot“. Bei Matthias Reim heißt es ebenfalls selbstreferen ziell „Du Idiot“ und beim Wendler, logisch, als Steigerung dann „Vollidiot“ („wie kommt das nur ins Lot, vor dir steht ein echter Vollidiot“). Ein eindeutiger Fortschritt: Idioten verkünden es lauthals selber, dass sie welche sind. Die sogenannte E-Musik wird hier nicht näher von uns unter die „akustische Lupe“ genommen, aber sie ist keinesfalls frei von Idioten. Die kommen dort sogar recht häufig vor, können sich aber aufgrund ihres intellektuellen Deckmäntelchens besser tarnen. Deswegen plädieren wir schon seit Jahren für die Einführung eines von uns konzipierten Idiotentests: Jeder, der sowohl musikalisch und/oder auch textlich öffentlich in Erscheinung treten möchte, sollte diesen vorher verpflichtend durchführen. Ansonsten: Abführen Es grüßt wirklich idiotensicher Ralf Welteroth für Ihre Geschmackspolizei
LITERATUR
Die Geister, die er rief ...
M von Erika Weisser
Was man nicht zurücklassen kann: Rike Scheffler (o.r) beschreibt in ihrem Lyrikband „Lava.Rituale“ Dinge, die geborgen werden müssen, die es zu bewahren gilt – für die Archive der Zukunft. Und sie macht daraus ein Lesekonzert (10.11., 18 Uhr), trägt den Kosmos ihrer Buchseiten in den Raum und entfaltet die Klanglandschaften der Texte in einer Performance mit Stimme, Synthesizer, Loopmaschine und Effektgerät.
it großer Vorfreude“ schauen Literaturhausleiter Martin Bruch und seine Kolleginnen Katharina Knüppel, Hanna Hovtvian und Birgit Güde dem schon längst zur guten Freiburger Tradition gewordenen Literaturgespräch entgegen. „Alle meine Geister“ lautet das Motto der Lesungen, Begegnungen, Performances und Gespräche, die vom 9. bis zum 12. November im Rathaus, im Literaturhaus und im Schlossbergsaal des SWR-Studios stattfinden. Wie immer, sagt Bruch, sei das Festival „eine gute Mischung von bekannten und neuen Namen“ – dieses Mal mit einem Schwerpunkt auf den Ereignissen und Zufällen, die eine Biografie beeinflussen können: eben die Geister, die man nicht mehr los wird, gute wie böse. Zu Routinier Uwe Timm, der die literarischen Begegnungen mit seinem Erinnerungs- und Aufbruchsbuch „Alle meine Geister“ am Donnerstag im Neuen Rathaus eröffnet, gesellen sich fast unbekannte Autor·innen wie etwa Joanna Bator oder Ralph Tharayil mit ihren noch druckfrischen Erstlingswerken. Beide haben am Samstagnachmittag im Literaturhaus ihre Auftritte. Während Bator sich mit „Bitternis“ auf die Spurensuche nach den (gescheiterten) Lebensentwürfen dreier Frauengenerationen einer polnischen Familie macht, untersucht Tharayil in „Nimm die Alpen weg“ die Deformationen, die Migrationserfahrungen in den Körpern und der Sprache jener hinterlassen, deren Integration sich darauf beschränkt, dass sie in der Fabrik oder im Spital schuften. Einige Veranstaltungen, freut sich Bruch, seien längst ausgebucht. Und er ist „sehr
Alle meine Geister von Uwe Timm Verlag: KiWi, 2023 280 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro 48 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2023
Foto: © eberle
BEIM 37. FREIBURGER LITERATURGESPRÄCH TREFFEN SICH ZAUBERER UND HANDWERKER DER WORTE
glücklich“ über das große Interesse der Freiburger·innen. Es zeige, dass das Team mit seiner Auswahl an Autoren und Themen nah an den Menschen sei – nicht nur bei diesem Herbst-Event, dem Höhepunkt im Jahresprogramm des Literaturhauses sowohl fürs Publikum als auch für die Veranstalter. Und, so hofft er, auch für die Autoren: Bei Veranstaltungen in dieser Dichte „tun sich immer neue und unverhoffte Verbindungen zwischen allen Anwesenden auf, von denen man vorher noch nichts ahnt“. Genau das mache den Zauber eines solchen Festivals aus. Zauberhaft wird womöglich das Lesekonzert von Rike Scheffler, die ihre Lyrik vielstimmig performt – mit eigener Stimme und viel Technik. Und ebenfalls am Freitag bringt noch ein Autor ein Instrument zur Lesung mit: Wenn Liao Yiwu seinen Roman „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“ präsentiert, spielt er dazu auf seiner Flöte, die ihm während seiner Haftzeit in China die wichtigste Begleiterin war: Die Seiten des Buchs wurden einzeln aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt.
Bitternis von Joanna Bator Übersetzung: Lisa Palmes Verlag: Suhrkamp, 2023 829 Seiten, gebunden Preis: 34 Euro
Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs von Liao Yiwu Übersetzung: Brigitte Höhenrieder, Hans-Peter Hoffmann Verlag: S. Fischer, 2023 448 Seiten, gebunden Preis: 34 Euro
LICHTSPIEL
von Daniel Kehlmann Verlag: Rowohlt, 2023 480 Seiten, gebunden Preis: 26Euro
FREZI
FREZI
FREIBURG UND DIE FOLGEN
LOTTE PAEPCKE
von Christian Kayser Verlag: Schnell & Steiner, 2023 968 Seiten, 2 Bände, gebunden Preis: 86 Euro
von Gisela Hack-Molitor Verlag: 8 Grad, 2023 180 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro
Karriere eines Mitläufers
Vorbildlicher Turm
Keine Heimat mehr
(ewei). Wer nicht weiß, wer Georg Wilhelm Pabst war, kann es in Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ erfahren. Doch es geht dabei nicht nur um das Werk und die Person dieses einst weltbekannten und heute fast vergessenen österreichischen Kinoregisseurs. Im Zentrum des Romans steht vielmehr die Wandlung des während der Stummfilmzeit als linker Avantgardist gefeierten Schöpfers der „Weißen Hölle von Piz Palü“ oder der ersten Verfilmung von Brechts „Dreigroschenoper“ hin zu einem Profiteur des zuvor von ihm bekämpften Nazi-Regimes. Fast gleichnishaft schildert Kehlmann, wie sich Pabst, der sich zur Zeit der Machtübernahme zu Dreharbeiten in Paris aufhielt und vor den Gräueln des neuen Deutschland nach Hollywood floh, schließlich selbst in eine ausweglose Situation manövrierte: Ohne den erwarteten Erfolg im US-Filmbusiness und enttäuscht vom erlittenen Bedeu tungsverlust kehrt er in sein Land zurück, das nun Ostmark heißt. Und kollaboriert mit Goebbels, der ihn für seine Zwecke gut brauchen kann. Über sein Buch und die Verstrickungen, zu denen allzu kompromissbereiter Opportunismus führen kann, kommt Kehlmann am Donnerstag, 7. Dezember mit dem Freiburger Autor Karl-Heinz Ott im Großen Haus des Theater Freiburg ins Gespräch.
(ewei). Spätestens seit 2018 wissen es alle: Der Freiburger Münsterturm ist ein ganz besonderes Bauwerk. Davon konnten sich auch die letzten Zweifler überzeugen, als er nach zwölf Jahren hinter einem massiven, blickdichten Rundum-Gerüst bestens saniert wieder zum Vorschein kam. Die Besonderheit dieses im frühen 14. Jahrhundert vollendeten, weithin sichtbaren Wahrzeichens der Stadt liegt indessen nicht allein in seiner aus Sandsteinblöcken herausgearbeiteten filigranen Schönheit. Denn der Turm ist nicht nur visuell ein Höhepunkt der Gotik: Wie der Münchner Architekt und Bauhistoriker Christian Kayser in seiner Habilitationsschrift nachweist, wurde mit ihm „erstmalig ein vollständig in Maßwerk aufgelöster Aufbau aus Oktogonhalle und Turmhelm geschaffen“. Ein Turm also, der vom Fuß seines achteckigen Fundaments bis in die Spitze in geometrische Muster aus durchbrochenen Steinprofilen gegliedert ist. Voraussetzung für die Realisierung dieses „Spitzenwerks“ war laut Kaiser außer präziser Steinmetzarbeit auch die Entwicklung innovativer Techniken. Und die seien in Freiburg nicht nur pionierhaft angewandt, sondern auch vorbildhaft exportiert worden, wie an den später entstandenen Türmen in Straßburg, Wien, Burgos oder Brüssel erkennbar sei.
(ewei). Lotte Paepcke (1910–2000) wuchs in Freiburg auf. In einem Haus, das an der Ecke Schusterstraße/Buttergasse steht, neben der dem Münster abgewandten Seite des Historischen Kaufhauses. Von ihrem Fenster aus blickte sie direkt auf den Turm, den sie in einigen ihrer Texte als „Juwel“ in ihrem Leben erinnerte. Im Erdgeschoss des Elternhauses war das Ledergeschäft ihres Vaters, des SPD-Stadtverordneten Max Mayer untergebracht (heute Leder-Rees). 1933 schloss sie ihr Jura-Studium ab. Doch sie galt nun als „Volljüdin“ und wurde mit Berufsverbot belegt. Durch ihre Heirat mit dem protestantischen Philologen Ernst Paepcke war sie in sogenannter „privilegierter Mischehe“ zwar einigermaßen geschützt – zumindest in den ersten Jahren des Naziregimes. Doch die ständige Angst, verschleppt zu werden, setzte ihr zu und trieb sie in die Isolation. Den Eltern gelang die Flucht in die USA, sie selbst überlebte zuletzt im Versteck im Kloster Stegen. Danach arbeitete sie als Familienberaterin und Rundfunk-Redakteurin und begleitete den geistigen und politischen Neuanfang der Republik mit ihren klugen Texten zu Demokratie und Emanzipation. Doch eine Heimat fand sie nicht mehr, wie Gisela Hack-Molitor anhand ihrer Tagebücher und Briefe darlegt.
NOVEMBER 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 49