chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 8/19 9. Jahrgang

Ulan & Bator

Sarah Bosetti

Simon & Jan

Julian Heun

Inka Meyer

Michael Hatzius

Sebastian Lehmann

Abdelkarim

Kultur

Festivals

Leinwand

Monroe in Riegel, Scherer in Freiburg

Neues ZMF im alten Stadion?

Parasite: Satire Mit Witz & Tiefgang


Die Extrovertierte und der Expressionist Scherer in Freiburg, Monroe in Riegel – Ausstellungen mit Format

M

von Lars Bargmann

Museum für Neue Kunst Freiburg: Die Scherer-Ausstellung läuft bis zum 15. März. Offen: dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 7 Euro. Kunsthalle Messmer: Die Monroe-Ausstellung läuft bis zum 2. Februar. Offen: dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 13,50 Euro.

ögen Sie’s ein bisschen direkter, roher, emotionaler? Dann sind Sie bei der gleichnamigen Ausstellung des Expressionisten Hermann Scherer im Museum für Neue Kunst (MNK) im Herzen von Freiburg gut aufgehoben. Interessieren Sie neben dem Sexappeal von Marylin Monroe auch die anderen Seiten der wohl meistfotografierten Frau der Welt? Dann lohnt ein Besuch der Kunsthalle Messmer in Riegel. Es ist schon ein kleiner Coup, der der MNK-Leiterin Christine Litz und ihrem Team gelungen ist. Hermann wer?, werden sich viele Kunstinteressierte gedacht haben. Scherer, Hermann, geboren 1893 bei Lörrach, mit 17 in die Schweiz rübergemacht. Und mit 34 schon gestorben, an einer Streptokokken-Infektion. Scherer, von Edvard Munch inspiriert, zählt zu den wichtigsten Expressionisten der Schweiz. Albert Müller zählt auch dazu. Oder Paul Camenisch. Die drei

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hatten in der Silvesternacht 1924/25 die Künstlervereinigung „Rot-Blau“ gegründet. Und natürlich ist Ernst Ludwig Kirchner, geboren 1880 in Aschaffenburg, zu nennen, in dessen Kernschatten viele Scherer kaum wahrgenommen haben. Kirchner hatte mit Gleichgesinnten die Künstlergruppe „Brücke“ gegründet. Die Nazis hatten seine Kunst 1937 als „entartet“ gebrandmarkt, mehr als 600

Kirchner warf einen Kernschatten auf Scherer Werke wurden zerstört, ein Jahr später nahm er sich das Leben. Scherer hatte 1923, 1924 häufiger bei Kirchner in den Bergen um Davos gelebt, aus Freundschaft erwuchs schließlich Feindschaft, weil Kirchner seinem Gast Epigonentum ankreidete. Vielleicht war er auch einfach nur ein bisschen neidisch auf die

Foto: © Bert Stern

Kultur Kunst


Tief in Abgründe geschaut In Abgründe geschaut hat auch Marylin Monroe, die schon einmal in der Kunsthalle von Jürgen Messmer zu sehen war, vor ein paar Jahren, als Andy Warhol in Riegel gastierte und Monroe in zehn Motiven die Blicke auf sich zog. Der Blick auf den Megastar ist es, den die Ausstellung mit mehr als 100 Fotografien zum Thema macht. Monroe als Sexsymbol, als Kunstfigur, privat, gespielt schüchtern, nachdenklich, zweifelnd. Es sind Fotografien von Tom Kelley, der 1949 die Reize der jungen Marilyn festhält und es mit einem Bild vier Jahre später ins Herz der ersten Playboy-Ausgabe schafft. Werke von Milton H. Greene, der in den 50ern und 60ern die Größen Foto: © Museum für Neu e Kunst – Städtische

der Kunst-, Film- und Musikbranche vor die Linse brachte. Natürlich von Bert Stern und Andy Warhol, von James Francis Gill (1934), der mit seinen Monroe-Bildern erstmals internationale Anerkennung erfuhr – sein „Marilyn Triptych“ nahm das New Yorker Museum of Modern Art 1962 in seine ständige Sammlung auf – oder auch von Leif-Eric Nygård, der fünf Wochen vor ihrem medikamentenvergifteten Tod im Sommer 1962 die letzten professionellen Fotos von Monroe schoss. Ein Leben in Bildern oder besser: in Blicken auf eine Frau, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammte, als zweiwöchiger Säugling in eine erste Pflegefamilie kam, die 15 Jahre zwischen fünf Familien und dem Waisenhaus hin- und hergereicht wird, die dann in ihrer Not den Nachbarsjungen Jim Dougherty heiratet, mit 18 vom Militärfotografen David Conover entdeckt wird und schon ein Jahr später ein begehrtes Model ist. Und die 1954 in der Männerdomäne Filmemacher mit ihrem Freund Milton H. Greene ihre eigene Produktionsfirma, die Marilyn Monroe Productions Inc., in New York gründete. Mit 51 Prozent der Anteile. Acht Jahre später, mit 36, stirbt sie in ihrem Bett. Sicher ist, dass sie ständig in psychoanalytischer Behandlung war und Psychopharmaka nahm. Unklar ist aber, ob sie den tödlichen Cocktail absichtlich genommen hat – oder ob sie ermordet wurde. „Leben und Legende“ ist die Schau betitelt. Eine gute Wahl.

Museen Freiburg, Nac hlass Hermann Schere r, Foto: Bernhard Stra uss

Kulturnotizen Zuschauerplus im Freiburger Theater Mit neuem Selbstbewusstsein ist das Theater Freiburg in die neue Spielzeit gestartet. „Es gibt gute Nachrichten“, sagte Intendant Peter Carp zum Auftakt der Saison 2019/20 und verkündete einen Zuschauerzuwachs von 9,4 Prozent: Mehr als 192.000 Menschen haben sich in der vergangenen Saison die Inszenierungen angesehen. In der Spielzeit 2017/18, der ersten des damals neuen Intendanten, waren es nur 176.000: „Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.“ Dann damit ist das Theater der 2018 mit

Foto: © Kerstin Behrendt

Arbeiten von Scherer, der Steinmetz gelernt hatte und im Ausdruck ein bisschen direkter, roher, emotionaler war. Im Fokus der Ausstellung – die eigene Werke des Museums, aber auch Leihgaben zeigt – stehen vor allem die letzten drei – fast schon furchtbar fruchtbaren – Jahre im Leben Scherers: Skulpturen in Holz, von beiden Seiten bemalte Leinwände, Gemälde, Zeichnungen auf Papier, eine Gipsbüste. Die Fotografin Eva Rugel nimmt die Besucher mit einer Multimedia-Installation auf eine kleine Reise mit, verortet Scherers Werke in heutigen Landschaften und Szenen. Viele Werke Scheres haben etwas Bedrohliches, Lauerndes, Hintergründiges, Abgründiges.

Die große Bühne zieht mehr Publikum an.

dem Freiburger Rathaus neu abgeschlossenen Zielvereinbarung ein gutes Stück näher gekommen. Diese sieht vor, dass die Zahl der Zuschauer bis 2023 auf mehr als 200.000 steigen soll. „Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel erreichen werden“, so der Intendant. Im Gegenzug hat sich die Stadt verpflichtet, zehn Millionen Euro in die dringend anstehende Sanierung des Kleinen Hauses zu investieren. Weitere 15,5 Millionen Euro sollen im Anschluss in die Bestandswahrung des 1910 errichteten Altbaus fließen.

Wim-Wenders-Stipendium für Freiburger Regisseur Der Freiburger Jung-Regisseur Jan Raiber erhält für seinen 360-Grad-Dokumentarfilm „Was Mach(t) Mut?" ein mit 24.000 Euro dotiertes Wim-Wenders-Stipendium. Das teilte die Film- und Medienstiftung NRW mit. Es gab insgesamt unter 36 eingereichten Arbeiten vier Preisträger.

Jos Fritz erhält zum dritten Mal den Buchhandlungspreis Schon zum dritten Mal in Folge wurde die Freiburger Buchhandlung Jos Fritz mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet. Dieses Mal hat es das Team sogar in den Kreis der fünf „besonders herausragenden Buchhandlungen in Deutschland“ geschafft und erhält 15. 000 Euro Preisgeld. Wenn das kein Grund zum Feiern ist: Am Freitag, 29. November ab 19 Uhr wird bei einer Blauen Stunde auf den Erfolg angestoßen .


Musik

Grenzgänger mit Bogen Trauer um Superdirt2-Cellist Daniel Fritzsche

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ier Jahre lang hat das Klassik-ElektroDuo Superdirt2 am zweiten Album gearbeitet. Nun ist es fertig, die Release-Tour soll starten. Doch Cellist Daniel Fritzsche ist im September überraschend gestorben. Nicht nur sein Freund und Bandkollege Vincent Rateau ist geschockt. Viele Weggefährten trauern um den Musiker. Die Tour soll trotzdem steigen – irgendwie.

von Till Neumann

Passioniert: Daniel Fritzsche hat für die Musik gelebt. Mit 36 Jahren ist der Freiburger Cellist überraschend gestorben. Fotos: © Superdirt2

36 Jahre alt ist Daniel Fritzsche geworden. Er war Berufsmusiker, spielte im Orchester des Nationaltheaters Mannheim, in einem Barock-Ensemble in Rastatt und experimentierte mit den Duos „Strings Intemporal“ und Superdirt2. Mit Letzterem hatte er gerade eine Hürde genommen: die Produktion des zweiten Albums „Opus 2“. Doch die Release-Tour ist plötzlich auf den Kopf gestellt. Unerwartet starb er in Folge einer Diabetes-Erkrankung. Bandkollege Vincent Rateau ringt um Worte: „Ich weiß nicht, wie es weitergeht.“ Acht Tourtermine seien geplant. Ersetzen könne er Daniel nicht.

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„Es gibt keinen anderen Musiker, mit dem das so eine Symbiose war.“ Rateau produzierte Beats, legte auf, mixte mit Effektgeräten und spielte Keyboard. Fritzsche improvisierte dazu auf dem Cello. „Wir mussten nicht viel reden, hatten unsere eigene Sprache mit den Augen“, erzählt Rateau. Ihre Improvisationen haben ihn gefesselt. „Es war unglaublich, es floss einfach.“ Leute hätten ihnen nach Konzer-

„Das ist eingeschlagen wie eine Bombe” ten gesagt: „Krass, wie ihr euch anschaut.“ 128 Shows spielten sie gemeinsam. Begegnet sind sich die beiden zum ersten Mal in Freiburg Anfang der 2000er-Jahre. Durch Zufall fuhren sie zusammen auf eine Party. Erst 2007 kreuzten sich ihre Wege erneut. Fritzsche wollte mit dem Gitarristen Matthias Eberhard als „Strings Intemporal“ eine CD heraus-


Elektro bringen. Der in Freiburg lebende Franzose Rateau wurde für die Aufnahmen engagiert. Sie verstanden sich auf Anhieb gut. Der in Freiburg und Lörrach groß gewordene Fritzsche wandelte damals auch auf Solopfaden. Als Käpt’n Dirt machte er „Acoustic Minimal“ mit Loopstation und Cello. Ihr erstes gemeinsames Konzert spielten sie in der KTS. Der Mix aus ElektroBeats und Cello-Improvisationen war als einmaliges Experiment geplant. „Ich habe viel produziert damals, Reggae und Metal.

Releaseparty wird zum Abschiedskonzert Von Elektro hatte ich keinen Plan“, erinnert sich Rateau. Viel Mühe habe er sich für die KTS-Show daher nicht gegeben. Dennoch kam das Duo an. „Das ist eingeschlagen wie eine Bombe, wir hatten direkt eine Anfrage fürs nächste Konzert“, erzählt Rateau. So gründeten die beiden Superdirt2 – als Steigerung von Käpt’n Dirt. Ihr Rezept: Klassisches Cello trifft dreckige Elektrobeats. Der Mix ist für Rateau einzigartig: „Wir haben einen neuen Musikstil kreiert, Vergleichbares gibt es nicht.“ Viele DJs würden Musiker auf Beats dudeln lassen, bei ihnen seien es aber richtige Songs. 2011 gründete sich die Formation. 2013 erschien das erste Album „Algoriddims“. Darunter die sphärisch-wabernde Single „Mademoiselle“. Ein fesselnder Instrumental-Track mit französischen Wortfetzen. Das Video zeigt sie wie in Trance vor einem Hangar in Neuseeland spielend. 2014 tourten sie zu dritt durch den Inselstaat. In zwei Monaten spielten sie dort 30 Shows mit Strings Intemporal und Superdirt2. „Wir sind immer der Idee gefolgt, alles live zu spielen“, erklärt Rateau. Auf dem ersten Album sei das noch etwas improvisiert gewesen. Er habe Beats gebaut, Daniel dazu gespielt. Mit der neuen Platte wollten sie das nächste Level erreichen. „Wir haben zwei Jahre länger gebraucht als geplant, wollten keine Kompromisse, nur das Beste sollte auf CD kommen“, erzählt Rateau. Jetzt hat er 1000 CDs und 500 Vinylplatten im Regal und versucht, den Schock zu verdauen. „Der ganz große Wille, die Tour durchzuziehen, ist da.“ Auch wenn er noch nicht wisse, wie das gehen soll. Die Release-

party ist für den 8. November im Artik geplant. Rateau will viele Musiker auf die Bühne bringen, die Daniel begleitet haben. „Die Release-Tour ist für mich die letzte Chance, das Projekt abzuschließen und unsere gemeinsame Musik noch mal wirklich zu zelebrieren“, schreibt Rateau auf Facebook. Auch Matthias Eberhard von Strings Intemporal wird dabei sein. „Der Abend wird großartig“, ist der 37-Jährige überzeugt. Er kannte Fritzsche seit Teenagerzeiten und sagt: „Eine Kopie von Daniel ist unmöglich.“ Stile zu kombinieren, sei dessen Alleinstellungsmerkmal. Viel habe er von ihm gelernt. Für das kommende Jahr war auch bei ihnen ein Album geplant. Was aus den Songs werde, weiß er noch nicht. Für Vincent Rateau hat sein Kollege eine Zeitreise gestartet. Schon immer hätten sie bandintern gewitzelt, dass sie aus der Zukunft kommen. Sie hätten sich bereits in die Barockzeit gebeamt und Mozart kennengelernt. Zum Beweis haben sie eine Zeichnung ins Booklet von Opus 2 gepackt. Es zeigt sie mit Mozartperücken an ihren Instrumenten. Dahinter stehen zwei Stapel elektrischer Geräte. Warum Fritzsche gegangen ist? „Manche sagen, er hatte noch was mit Mozart und Kurt Cobain zu besprechen“, schreibt Rateau. Vielleicht werde man bald das dritte Album von Superdirt bei Ausgrabungen in Ägypten finden. Eins ist für ihn sicher: Daniels neue Zeitreise ist die Fortsetzung seiner Suche nach Inspiration.

Superdirt2: Daniel Fritzsche und Vincent Rateau

Klassik trifft Moderne: Im Booklet ihrer neuen CD sieht man die beiden mit Mozart-Perücken und jede Menge elektronischer Geräte

Verlosung Superdirt2 spielt am 8. November ein „Releaseund Abschiedskonzert“ im Artik Freiburg. Los geht’s um 22 Uhr. Das chilli verlost zwei Exemplare der CD „Opus 2“. Wer gewinnen will, schickt bis zum 20. Oktober eine Mail mit dem Betreff „Superdirt” an redaktion@chilli-freiburg.de. Gebt bitte euren vollen Namen an. Die Gewinner werden per Mail benachrichtigt.


ZMF goes Stadion? Bürgermeister bringt Zweitstandort ins Spiel

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von Till Neumann

Altes Stadion, neue Nutzung: Für Kultubürgermeister Ulrich von Kirchbach wäre das SC-Stadion an der Dreisam der ideale Platz für größere ZMF-Konzerte. Ab kommender Saison soll der Sportclub an der Messe spielen. Fotos: © Klaus Polkowski, Neithard Schleier

as ZMF 2019 endete bitter: Ein sechsstelliges Minus fuhr das Team von Marc Oßwald ein. Das schlechteste Ergebnis seit 2007. Jetzt wird die Zukunft des Festivals diskutiert. Parallel ist ein Ausbau des Mundenhofs beschlossene Sache. Der Kulturbürgermeister bringt eine Arena ins Spiel. 41.000 Konzerttickets hat das ZMF in diesem Sommer verkauft. Etwa so viel wie im Vorjahr. Doch die Ausgaben steigen. Wenn sich das nicht ändere, seien die Reserven in fünf Jahren aufgebraucht, sagten die Festival-Macher im Sommer. Soll heißen: Das Event stünde vor dem Aus. Hohe Wellen haben die Aussagen von ZMF-Chef Marc Oßwald geschlagen. Zumal das Tiergehege Mundenhof aus allen Nähten platzt. 400.000 Besucher laufen dort jährlich auf. Tendenz steigend. Außerdem wird der Stadtteil Dietenbach nebenan gebaut. Mehr Platz ist also nötig fürs Tiergehege, heißt es. Muss das Festival weichen? Näheres dazu gab’s Anfang Oktober bei einer Pressekonferenz von Umweltbürgermeisterin Gerda Stuchlik: Sie verkündete einen Zehnjahresplan zum Ausbau des Tierparks. Und gab klar zu verstehen: Der Mundenhof hat Priorität. Das ZMF muss sich anpassen. Die Zukunft des Festivals sei dennoch gesichert. Klappe der Aus- und Umbau des Tiergeheges, sei sogar eine Erweiterung möglich. Um die Hälfte könne das Festival-Areal wachsen. Dem Wunsch nach einem größeren dritten Zelt erteilte Stuchlik jedoch eine Absage: „Wenn sie was richtig Großes machen wollen, geht man auf die Messe.“

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Die Messe als Außenstelle? Beim ZMF ist dazu kein Statement zu bekommen. „Die Verhandlungen laufen“, sagt Oßwald. Hinter den Kulissen sind auch andere Standorte geprüft worden, lässt Stuchlik wissen. Etwa eine Verlegung an den Nord-West-Rand des Mundenhofs neben die Autobahn. Doch da sei es zu laut für ein schönes Gitarrenkonzert, so Stuchlik. Auch ihre Idee, das ZMF nach Osten zum Plangebiet Dietenbach zu verlegen, sei verworfen worden. Das würde Lehen lärmtechnisch belasten. Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach befürwortet ebenfalls eine Außenstelle im Stadtgebiet. Für ihn wäre das aktuelle SC-Stadion ein „idealer Standort“. Schließlich soll der Sportclub zur kommenden Saison ins neue Stadion ziehen. Er hält die Kombination von sportlicher und kultureller Nutzung für machbar. „Eine Entfluchtung müsste man prüfen, aber wenn der Wille da ist, ist das möglich.“ 24.000 Menschen fasst die Arena. Konzerte im neuen Stadion an der Messe sind bisher ausgeschlossen. Stuchlik sagt: Auch über den Zeitraum könne sich das ZMF Gedanken machen. Schließlich gebe es im Sommer auch andere Festivals in der Region. Ulrich von Kirchbach ergänzt: Das Programm könnte weniger auf junge Leute ausgerichtet werden. Marc Oßwald und sein Team seien aber Profi genug, um zu wissen, was zu tun sei. Finanziell will das Rathaus dem Festival entgegenkommen. Die Pacht soll halbiert werden, sagt von Kirchbach. Das würde 12.500 Euro jährlich sparen. Zudem soll der Landeszuschuss direkt ans ZMF gehen statt an den Förderverein. Das spare die Mehrwertsteuer.


Kolumne Bensnburner

Tim Bendzko

Experimental

Deutsch-Pop

Noclip

Filter

... zur Oktoberfest-Epidemie Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Hörenswerte Sandburg

Urbanes Karussell

(ars). Mal düster, monoton, mit schweren Schlägen der Drums, voller Fauchen des Basses und kleinen, hellen Splittern des Synthesizers, dann eine Melodie. Die Stücke auf dem neuen Album von Bensnburner sind überraschend, schön, die Titel teils provokant. In „Suck my Rocket“ trippelt, kratzt, knarrt und quietscht eine Violine, bevor sie dem virtuosen Spiel der Töne verfällt. In anderen Songs herrscht durch Geräusche die Stille, dann Grundrauschen, Töne, Hall, wie der Sound zu einer Kunstinstallation. Der Freiburger Ben Krahl hat mit „Noclip“ nun das dritte, sehr experimentelle Album seiner Band Bensnburner veröffentlicht. Anfang 2020 erscheint es auf Vinyl. 2012 hat er mit dem Bass sein erstes Soloalbum herausgebracht. Für die Musik zu „Noclip“ hat der Bassist ein Jahr in einer Halle in Emmendingen experimentiert, viel allein oder mit seinem „sozialen Kollektiv“ aufgenommen, zum Remixen gegeben. Krahl, der sonst Teil der Balkan-Band Äl Jawala ist, spielt mit dem Einsatz von Verzerrern, Anklängen an die Hawaiigitarre, mit der metallischen Monotonie von Bassschlägen, dem Wechsel der Melodierolle zwischen Bass und Synthesizer, dem Hall als Effekt und im Raum. Bensnburner ist sein Sandbox-Game, die Emmendinger Industriehalle sein Sandkasten. „Noclip“ eine sehr hörenswerte Sandburg.

(aj). Elektronischer, moderner, ein Hauch von Hip-Hop: Das vierte Album des Berliner Singer-Songwriters Tim Bendzko überrascht. Doch ist wirklich „alles neu, alles neu“, wie der 34-Jährige in „Jetzt bin ich ja hier“ singt? Ein Jahr lang reiste er nach New York, Mykonos, Kapstadt und Australien. Tüftelte am Album. Das Ergebnis sind eingängige Melodien und Zeilen, die nach Popballaden-Manier Runde um Runde im Karussell fahren. Das Album bietet Ohrwurmgarantie und Gänsehautmomente en masse. Bendzko, der vor acht Jahren mit seinem ersten Hit „die Welt rettete“, überzeugt mit seiner Stimme Millionen von Fans. Er wird auch mit „Filter“ viele begeistern. Inhaltlich beherrschen Freiheitswunsch und Herzschmerz die Lieder. Ohne Zweifel kann man sie auf Playlists für melodramatischen Teenie-Liebeskummer setzen. Über ihre Tiefgründigkeit kann man streiten. Aus der Reihe fällt die Single „Hoch“. Sie kletterte die deutschen Charts hoch und taugt durch schnelle Rhythmen als Motivationsbooster. Auch „Nicht genug“ mit Rapper Kool Savas sticht heraus. Der Track würzt die Platte mit einer Prise Gesellschaftskritik und Hip-Hop-Flavour. „Auf den Kopf gestellt“, wird nichts. Trotzdem ist „Filter“ ein solides Album mit Hitpotenzial geworden.

Egal wohin man geht, Oktoberfest ist mittlerweile fast immer und überall. Nordsee, Ostsee, Übersee, Bodensee und am Titisee sowieso. Auch in München, bad old Bavaria, erfreut sich dieses kollektive Komasaufen mit Kotzfaktor 12 auf der nach unten offenen Wiesnskala weiterhin größter Beliebtheit. Den Sounddreck dazu liefern verlässlich die üblichen Verdächtigen wie Micki Krause, Almklausi oder Peter Wackel. Immer wieder geraten aber auch noch relativ unbesudelte Künstler ins Visier der GeschPo, heuer zum Beispiel Zascha mit „Du Sau, Sau, sauf ma noch a Maß, Sau, Sau, sauf ma noch a Maß“. Oder Schmitti: „Unser letzter Wille (na was wohl?) Promille, Promille Promille“ oder auch das „Sand im Arsch und Sangria in der Blutbahn“ von Notgeil passt wie der Eimer auf die hohle Rübe, Hauptsache Delirium. Keinesfalls aber sollte es irgendwer auf dem oder einem anderen Oktoberfest wagen, auch nur daran zu denken, geschweige denn tatsächlich eine Tüte (außer Magenbrot natürlich) zu rauchen – Franz Joseph Strauß möge ihm beistehen. Oder vielleicht besser auch nicht.

Genau in diesem Sinne, ein Prosit auf die Ungemütlichkeit in Ausnüchterungszelten! Für die Geschmackspolizei, Ralf Welteroth


kino

Der Geruch der Armut Goldene Palme für Bong Joon-Hos bissig-schockierende Gesellschaftssatire

Parasite Südkorea 2019 Regie: Bong Joon-ho Mit: Song Kang-ho, Lee Sun -kyun, Cho Yeo-jeong, Choi Woo-shik, Park So-dam u. a. Verleih: Koch Films Laufzeit: 123 Minuten Start: 17. Oktober 2019

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F

amilie Ki lebt im Souterrain. Im gesellschaftlichen wie im urbanen: Das schon seit Langem arbeitslose Ehepaar bewohnt mit seinen beiden eigentlich studierfähigen Kindern die erbärmliche Kellerwohnung eines verkommenen Hauses in der am meisten heruntergekommenen Gegend der Stadt. Kaputte Typen sind hier unterwegs, Leute, die noch weiter unten angekommen sind als die Kis. So weit unten, dass sie nicht einmal sehen, dass Menschen hinter den blinden Fenstern wohnen, die sie gelegentlich als Pissoir benutzen. An Geschick und Intelligenz mangelt es den vier Leuten, die sich mit Pizzaboxen-Falten und anderen Gelegenheitsjobs notdürftig über Wasser halten, nicht. Nur an Geld – und an Chancen. Als sich unverhofft eine solche auftut, greifen die Kis mit beiden Händen nach den höheren Sprossen der sozialen Leiter. Zunächst übernimmt der junge Kiwoo von einem früheren Schulfreund und jetzigen Studenten den Englisch-Nachhilfeunterricht bei der Tochter der superreichen Familie Park, die am anderen Ende der Stadt in einer mondänen Villa lebt. Kurz darauf vermittelt er den

Parks seine Schwester Ki-jung – als Individualbetreuerin für deren hyper-hyperaktives und – sensibles Söhnchen. Durch allerhand hinterhältige Tricksereien schaffen sie es schließlich, dass die ganze Familie Ki für die Parks arbeitet, sich in einem schleichenden und einschleichenden Prozess unverzichtbar macht und schließlich viel Kontrolle über deren Leben gewinnt. Wobei die Parks nicht einmal ahnen, dass die vier neuen Bediensteten zusammengehören. Lediglich der ihnen allen anhaftende gleiche Geruch nach Keller und Elend könnte sie verraten. Doch der dünkelhafte Hausherr, der die ihm unbekannten unangenehmen Ausdünstungen durchaus wahrnimmt, tut sie lapidar als allgemeinen Geruch der Armut ab. Und achtet penibel darauf, dass dieser nicht auch an ihm und den Seinen haften bleibt. Als die parasitäre Beziehung zwischen den beiden Familien allmählich zum Normalzustand wird, tritt eine völlig unvorhersehbare Wende ein, die die menschenmögliche Niedertracht in all ihren schockierenden Schattierungen bloß- und die Machtverhältnisse völlig auf den Kopf stellt. In einem Klassenkampf, der keine Gewinner kennt. Kein leichter, aber ein großartiger Film, bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.

Fotos: © Koch Films

von Erika Weisser


KINO Joker

Zoros Solo

Das perfekte Geheimnis

Foto: © Warner

Foto: © NFP

Foto: © Constantin

USA 2019 Regie: Todd Phillips Mit: Joaquin Phoenix, Robert de Niro u.a. Verleih: Warner Laufzeit: 118 Minuten Start: 10. Oktober 2019

Deutschland 2019 Regie: Martin Busker Mit: Mert Dincer, Andrea Sawitzki u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 90 Minuten Start: 24. Oktober 2019

Deutschland 2019 Regie: Bora Dagtekin Mit: Elyas M’Barek, Jella Haase, Frederick Lau u.a Verleih: Constantin Laufzeit: 110 Minuten Start: 31. Oktober 2019

Klinikclown wird Killerclown

Vielstimmige Einstimmigkeit

Heiteres Geheimnisraten

(ewei). Arthur Fleck sucht Anschluss. Immer wieder unternimmt der völlig verschüchterte Mann neue Versuche, sich den Menschen in seiner Umgebung zu nähern, sich als Teil der Welt zu fühlen, zu der sie sich zählen. Doch er bleibt allein in der Menge. Denn der soziale Außenseiter, der als Klinikclown arbeitet und seine kranke Mutter pflegt, wird nicht ernst genommen, von den anderen Bewohnern von Gotham City nicht als ihresgleichen angesehen, als Schwächling und Loser verlacht. Und mit jedem Mal, da er auf der Straße von Teenagern drangsaliert und wegen einer nichtigen Verhaltensstörung von Fremden gedemütigt oder von Kollegen gehänselt wird, gerät er einen Schritt weiter in das innere und äußere Abseits. Schließlich bedarf es nur noch weniger falscher Entscheidungen Arthurs, um seine Metamorphose vom warmherzigen Jungen zum kaltblütigen Joker auszulösen. Glanzleistung von Joaquin Phoenix – Goldener Löwe 2019 für Todd Phillips’ Meisterwerk.

(ewei). Im beschaulichen schwäbischen Ort Liebigheim wird die Willkommenskultur großgeschrieben. Also zumindest vom Pfarrer, der seine Kirche jederzeit für Geflüchtete geöffnet hat. In erster Linie natürlich für Leute, die im schwächelnden Kirchenchor mitsingen wollen. Chorleiterin Lehmann ist wenig begeistert von dieser Idee – zumal es nun keinen Ort mehr gibt für die Chorprobe. Denn auch in der Aula der Schule wurden, nachdem die Turnhalle überfüllt war, Flüchtlinge untergebracht. In diesen mehr als beengten Verhältnissen lebt auch der 13-jährige Afghane Zoro mit seiner Familie. Ohne den Vater, der während der Flucht in Ungarn zurückbleiben musste. Wie es der Zufall will, findet der nächste Chorwettbewerb in Budapest statt. Zoro zögert nicht lange: Er will Chormitglied werden, um nach Ungarn fahren und seinen Vater nach Deutschland schmuggeln zu können. Doch dann entdeckt er seine Liebe zum Chorgesang. Und Frau Lehmann sein ungewöhnliches Talent.

(ewei). Drei Frauen. Vier Männer. Sieben Smartphones. Und die Fragen, die an diesem Abend im Raum stehen: Wie gut kennen wir uns? Was verbergen wir vor den anderen – und vor uns selbst? Eigentlich ist es eines der üblichen heiteren Abendessen, zu denen sich die langjährigen Freunde samt ihren jeweiligen Partnern regelmäßig treffen. Doch im Laufe dieses Dinners kommen sie auf das Thema Ehrlichkeit zu sprechen – und entschließen sich zu einem Spiel: Jeder legt sein Smartphone in die Mitte des Tisches und sämtliche eingehenden Nachrichten werden miteinander geteilt. E-Mails werden vorgelesen, Telefonate auf laut gestellt und von allen mitgehört, jede noch so kleine WhatsApp gezeigt – egal, wer nun welche Bilder oder Nachrichten bekommt. Doch was als harmloser Spaß beginnt, wird schon bald zu einer harten Probe für das gegenseitige Vertrauen. Denn in dem perfekten Freundeskreis gibt es mehr brisante Geheimnisse und Lebenslügen als angenommen.


kino Lara

Foto: © almonde

Foto: © Studiocanal

Frankreich 2019 Regie: Céline Sciamma Mit: Noémie Merlant, Adèle Haenel u.a. Verleih: Alamode Laufzeit: 119 Minuten Start: 31. Oktober 2019

Deutschland 2019 Regie: Jan Ole Gerster Mit: Corinna Harfouch, Tom Schilling u.a. Verleih: Studiocanal Laufzeit: 100 Minuten Start: 7. November 2019

Foto: © ewei

voll von der Rolle

Porträt einer jungen Frau in Flammen

Wieder geöffnet: Das Kino Friedrichsbau an der Kaiser-Joseph-Straße

Film ab mit Brandschutz (ewei). Die Freiburger, zu deren Lieblingsbeschäftigungen trotz aller jederzeit-und-überall-erreichbar-Filmstreaming-Angebote immer noch ein Kinobesuch gehört, konnten in diesem Sommer erleben, wie sich eine Stadt ohne Kino anfühlen muss: Gar mancher stand verdutzt und möglicherweise bereits mit vorauseilenden Wehmutsgefühlen vor den versperrten Toren des plötzlich düster wirkenden Friedrichsbaus. Denn es hatte sich nicht überall herumgesprochen, dass in dem mehr als 100 Jahre alten Lichtspieltheater der Brandschutz erneuert werden musste. Die dringende Notwendigkeit dieser Sanierungsarbeiten war bei einer Überprüfung der Haustechnik festgesellt worden – und kam nach Angaben von Ludwig Ammann auch für die Kinobetreiber ziemlich überraschend. Da sie den Betrieb jedoch erheblich beeinträchtigt hätten, habe man sich kurzfristig zur kompletten – und gottseidank nur vorübergehenden – Schließung entschlossen. Und zur Verlängerung des Sommernachtskinos im Schwarzen Kloster. Dorthin zog es in fünf Wochen 12.961 Besucher; nach Ammanns Auskunft hat diese „sensationelle Zahl“ alle bisherigen Rekorde gebrochen. Und da es bei so mancher Filmvorführung unter den Kartensuchenden zu „dramatischen Szenen“ gekommen sei, wurden zur Wiedereröffnung des Friedrichsbaus in einem kleinen Filmfest die begehrtesten Sommernachtsstreifen noch einmal gezeigt. Nun läuft in den fünf Sälen wieder das besondere Kinoprogramm, für das der Friedrichsbau bekannt ist. Derweil können sich die Freiburger schon einmal auf weitere Stadt-ohne-Kino-Gefühle einstellen: In rund zwei Jahren steht für den gesamten Gebäudekomplex des Friedrichsbaus eine große Sanierung an.

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Eine unmögliche Liebe

Oh Mother!

(ewei). Im Jahr 1770 erhält die Porträtmalerin Marianne von einer italienischen Gräfin den Auftrag, ein Bild ihrer Tochter Héloïse anzufertigen – und reist erfreut zu ihnen in die Bretagne. Doch Héloïse spielt nicht mit: Sie weiß, dass das Porträt einzig dem Zweck einer arrangierten Heirat in Milano dienen soll – mit einem Mann, den sie nie gesehen hat. Dabei ist ihr die Vorstellung, dass sie diesem Mann mit dem Bild schmackhaft gemacht werden soll, ebenso unerträglich wie der Gedanke, bei ihm den Platz ihrer durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Schwester einnehmen zu müssen. Um ihren Auftrag dennoch zu erfüllen, beobachtet Marianne Héloïse intensiv – sie will ihr Wesen aus dem Gedächtnis zum Ausdruck bringen. Indessen haben die beiden Frauen längst ganz andere Augen aufeinander geworfen als die von Modell und Malerin. Und Marianne wird durch das wunderschöne, mit den Augen der Liebe gemalte Bild Héloïses unwillkürlich zur Komplizin der Männer und deren Schwiegermüttern.

(ewei). Lara streift unruhig durch ihre kleine Hochhauswohnung. Sie öffnet einen Vorhang, das Fenster – und holt einen Stuhl. Man ahnt nichts Gutes. Bis es klingelt: Zwei Polizisten brauchen einen Beamten als Zeugen bei einer Wohnungsdurchsuchung ein Stockwerk tiefer. Und Lara ist Beamtin, wenn auch pensionierte. Nach vollbrachter Amtshandlung holt die plötzlich wiederbelebte Lara all ihr Geld von der Bank, ersteht ein teures und viel zu enges Abendkleid und kauft sämtliche noch vorhandenen Eintrittskarten für ein Klavierkonzert am gleichen Abend auf. Bei diesem Konzert spielt ihr jahrelang allein erzogener und zum Erfolg angetriebener Sohn Viktor eigene Kompositionen. Doch er hat sie nicht eingeladen. Obwohl sie Geburtstag hat. Also macht Lara sich – und wahllos ausgesuchten anderen – das Konzert selbst zum Geschenk. Was sich freilich bald als Fehlgriff erweist. Wie bei „Oh Boy“ versprüht Jan Ole Gerster auch hier den trockenen Humor nicht so ganz gelungener Typen.


DVD Das Familienfoto Frankreich 2018 Regie: Cécilia Rouaud Mit: Vanessa Paradis, Pierre Deladonchamps u.a. Studio: Alamode Film Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Likemeback Deutschland 2019 Regie: Leonardo Guerra Seràgnoli Mit: Angela Fontana, Carolina Pavone u.a. Studio: Alamode Film Laufzeit: 77 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Der Fall Collini Deutschland 2019 Regie: Marco Kreuzpaintner Mit: Elyas M’Barek, Franco Nero u.a. Studio: Constanin Film Laufzeit: 118 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Weise und witzig

Lust, Lügen und Likes

Unbequeme Wahrheit

(ewei). Gabrielle, Elsa und Mao sind nicht richtig im Leben angekommen. Die alleinerziehende Gabrielle arbeitet als „lebende Statue”, Elsa hadert mit ihrem unerfüllbaren Kinderwunsch, und der Spieleentwickler Mao will sich nie festlegen. Da haben die getrennt lebenden Eltern ganze Arbeit geleistet: Während der Vater nie da war, mischte sich die Mutter immer in alles ein. Die normalste ist da noch die demente Großmutter. Und um die dreht sich in dem weisen und witzigen Film alles.

(ewei). Lavinia, Carla und Danila haben eben die Schule abgeschlossen und gehen auf Segeltour. Nur von einem Skipper begleitet, schippern die drei Mädchen entlang der malerischen Küste Kroatiens. Freizügig, hemmungslos und abenteuerlustig posten die Freundinnen ihre Urlaubserlebnisse in den sozialen Medien. Und ahnen nicht, dass sie mit ihrer digitalen Teilungswut großes Unheil heraufbeschwören. Zwischen Lust, Lügen und Likes droht ihre Freundschaft unwiederbringlich zu zerbrechen.

(ewei). Über 30 Jahre lang hat der 70-jährige Italiener Fabrizio Collini unbescholten in Deutschland gearbeitet. Dann tötet er anscheinend grundlos den angesehenen Großindustriellen Hans Meyer in einer Hotelsuite. Anwalt Caspar Leinen übernimmt die Verteidigung nur widerwillig: Meyer ist der Großvater seiner Jugendliebe Johanna und war wie ein Ersatzvater für ihn. Als Caspar nach den Mordmotiven sucht, stößt er auf einen Justizskandal und eine Wahrheit, die niemand hören will.

Peter Lindbergh – Women Stories Deutschland 2019 Regie: Jean-Michel Vecchiet Dokumentarfilm Studio: Universum Laufzeit: 128 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Edie – Für Träume ist es nie zu spät Großbritannien 2018 Regie: Simon Hunter Mit: Sheila Hancock, Kevin Guthrie u.a. Studio: Weltkino Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Welcome to Sodom Österreich 2018 Regie: Florian Weigensamer Dokumentarfilm Studio: EuroVideo Laufzeit: 92 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Faszinierende Bildcollagen

Späte Selbstverwirklichung

Die Kehrseite des Konsums

(ewei). Im September starb Peter Lindbergh, dessen Bilder dazu beitrugen, dass Frauen wie Naomi Campbell, Linda Evangelista oder Cindy Crawford weltberühmte Topmodels wurden. Mit seinem Film zeigt Jean Michel Vecchiet nun die außergewöhnliche Lebensgeschichte dieses Mannes, der zu den größten Fotografen des 20. Jahrhunderts zählt. Er zeichnet in faszinierenden Bildcollagen ein sehr persönliches und emotionales Porträt des Künstlers und eröffnet schöne Einblicke in seine Arbeit.

(ewei). Seit Jahrzehnten ist Edie mit George verheiratet, in einer Ehe, die ebenso freudlos und grau ist wie das Reihenhaus, in dem sie lebt. Als ihr Mann stirbt, will die Tochter sie gleich in ein Altersheim abschieben. Doch Edie ist endlich richtig widerborstig. Und als sie in einem alten Tagebuch auf ihren langgehegten und von George vereitelten Lebenstraum stößt, gibt es kein Halten mehr: Sie bricht auf, um endlich den Suilven in den schottischen Highlands zu besteigen.

(ewei). Sodom ist kein fiktiver Ort aus der Bibel. Sondern ein Stadtteil der ghanaischen Hauptstadt Accra. Hier landet ein großer Teil des Elektroschrotts, den die Handynutzer des globalen Nordens in Massen produzieren. Hier wird dieser giftige Schrott unter unmenschlichen Bedingungen „wiederverwertet“ – indem Menschen die Wertstoffe mit bloßen Händen aus den entsorgten Gehäusen herausklauben. Ein Film über die Kehrseite der kapitalistischen Wohlstands- und Konsumgesellschaften. Oktober 2019 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Raus aus der Nische „bauschen und biegen“ bringt junge Literatur in den öffentlichen Raum

W

von Erika Weisser

von Juan S. Guse Miami Punk Verlag S. Fischer 640 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro Lesung: Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr Kreativpark Lokhalle Freiburg Paul-Ehrlich-Straße 7

Fotos: © Juli Richter

enn der Hannoveraner Autor Juan S. Guse am 25. Oktober im Kreativpark in der Lokhalle Freiburg Passagen aus seinem kürzlich erschienenen Roman „Miami Punk“ liest, ist das schon die dritte von der jungen, unabhängigen Freiburger Lesereihe „bauschen und biegen“ organisierte Veranstaltung in diesem Jahr. „Bauschen und biegen“ – das sind Frederik Skorzinski, Fabienne Fecht und Clara Kopfermann (Foto unten, v. l.). Vor einem Jahr haben sie diese Lesereihe ins Leben gerufen, die in Freiburg zu einer Konstante werden soll. Mit ihr wollen sie vornehmlich jungen, noch nicht etablierten Autoren und deren Themen eine Plattform bieten, die diese Literatur mit anderen kulturellen oder soziokulturellen Bereichen verknüpft. Dabei, sagt Skorzinski, gehe es dem „bauschen-und-biegen“-Trio etwa auch darum, das „Partyvolk“ anzusprechen: „Man kann natürlich einfach zu irgendeiner Party in irgendeinem Club gehen. Man kann aber genauso gut einfach auf einer Party sein, dort die spannende Lesung eines gleichaltrigen Schriftstellers erleben und in den anschließenden Gesprächen möglicherweise erkennen, dass die eigenen Anliegen mit denen von vielen anderen übereinstimmen.“ Gerade das Fiktionale, erläutert er, könne da neue Denkanstöße und Perspektiven schaffen. Mit dieser Art von Literaturvermittlung haben Skorzinski und Kopfermann schon einige Erfahrung: Drei Jahre lang kura-

tierten sie die vom Freiburger Literaturhaus veranstaltete Reihe „Zwischenmiete“, die studentische WG-Bewohner und -Besucher mit jungen Schriftstellern zusammen- und miteinander ins Gespräch bringt. Nach dem Konzept der neuen Lesereihe, zu der nun auch Fecht gehört, soll Literatur aber auch zusehends den öffentlichen Raum einnehmen, „dorthin gebracht werden und dort stattfinden, wo die Leute einfach so zusammenkommen“. So könne Literatur selbst zum zwanglosen und niedrigschwelligen Treffpunkt für Schreibende und Lesende werden. Und eine Lesung zum „Medium des sozialen Diskurses mit Expertendiskussion“: Hier treffen Autoren auf Leute, die von Berufs wegen mit den in ihren Büchern behandelten Problemfeldern zu tun haben. Bei der Lesung mit Bettina Wilpert hat das Team diesen Ansatz schon praktiziert: Über ihr „Nichts, was uns passiert“ und die dort thematisierte sexuelle Grenzüberschreitung debattierte das Publikum außer mit der Autorin auch mit der Sexualstrafrechtlerin Claudia Meng und Anna-Sophia Clemens vom AwarenessTeam des Vereins „samt&sonders – Initiative für soziokulturelle Abenteuer“. Zu der Lesung mit Juan S. Guse, dessen „Miami Punk“ unter anderem neue Formen und die Zukunft der Arbeit zum Thema hat, wollen die Veranstalter ebenfalls Experten in den Kreativpark einladen. Namen nennen sie indessen noch nicht.


FRezi

Und wo warst du? 30 Jahre Mauerfall

von Freya Klier Verlag: Herder, 2019 270 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro

Der kubanische Käser

von Patrick Tschan Verlag: Zytglogge, 2019 185 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro

Das Vermächtnis der sieben Schachteln

von Dory Sontheimer Übersetzt von Katrin Schmidt Verlag: Herder, 2019 284 Seiten, kartoniert Preis: 29 Euro

Das Ende einer Ära

Jodelnder Simplicissimus

Versteck in doppelter Decke

(ewei). Seit geraumer Zeit wirft der 30. Jahrestag der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze mediale Schatten voraus: In der Presse wird das Thema täglich von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet; der Buchmarkt wird von neuen Publikationen geradezu überschwemmt. Bei Herder erschien nun das Buch „Und wo warst du?“. Darin kommen 23 völlig unterschiedliche Menschen zu Wort, werden Geschehnisse aus deren ganz persönlicher Perspektive interpretiert. Es geht dabei um Insider-Erfahrungen mit der DDR, um Empfindungen im konkreten Moment des Mauerfalls oder auch um Erinnerungen an die Zeit um den Anschluss der „neuen Bundesländer“. Dass dabei Schlussfolgerungen kontrovers ausfallen, ist nicht verwunderlich: Da setzt sich etwa Ingo Hasselbach, ein längst ausgestiegener ehemaliger Neonazi, mit seinem von Angst bestimmten DDR-Knast-Alltag auseinander. Da erinnert sich Astrid Proll, einst führendes RAF-Mitglied, an ihre Reaktion auf die Nachricht, dass andere inzwischen in der DDR untergetauchte RAF-Mitglieder nun verhaftet worden seien. Und da erzählt ein Günter Henschel, dass er „ab und zu bei Pegida mitlaufe“. Eine gute Lektion zur jüngsten innerdeutschen Zeitgeschichte – durchaus mit Positionen, die die Leser in Zunickende und Kopfschüttelnde trennen können.

(ewei). Hätte Noldi Abderhalden an jenem bitterkalten Februartag im Jahr 1620 seine Finger – und weiterreichenden Absichten – von der H ­ eidi gelassen, wäre es nicht so weit gekommen mit ihm. Dann hätte der verschmähte Liebhaber sich nicht mit Branntwein betäuben, Zuflucht auf dem Chüeboden oberhalb AltSt.-Johann suchen und dort sein herzzerreißendes Elend aus sich heraus und über das Toggenburger Land hinweg jodeln müssen. Dann wäre der arme Schlucker auch nicht geradewegs und sternhagelvoll vor den Füßen eines Söldner-Anwerbers der spanischen Armee gelandet. Und hätte sich vermutlich auch niemals verpflichtet, als Reisläufer für die Katholischen in den Krieg zu ziehen, der 30 Jahre dauern sollte. Für den gerade 16jährigen Chäser allerdings nicht: Sein raues Soldatenleben ist von kurzer Dauer – infolge allerhand erstaunlicher Ereignisse, die ihm unterwegs widerfahren und ihm schließlich die Verbannung nach Kuba bescheren. Dort kommt der wortkarge Noldi bestens zurecht: Neben weit genug entfernten Nachbarn und den richtigen Zutaten für einen gescheiten Käse findet er mit Consuelo auch eine Frau, die mit ihm nicht nur im Jodeln übereinstimmt. Eine hinreißende Simplicissimus-Geschichte, erzählt mit viel Wortwitz und unbändiger Fabulierlust.

(ewei). Am Morgen des 22. Oktober 1940 drangen Gestapo-Agenten in die Wohnungen jüdischer Freiburger ein und befahlen ihnen, sich binnen einer Stunde mit höchstens einem Koffer an der Güterannahmestelle am Hauptbahnhof einzufinden. Bald darauf waren auch drei Bewohner des Hauses Moltkestraße 40 unterwegs dorthin: Abraham Levi sowie Lina und Eduard Heilbruner. Sie wussten nicht, dass sie auf dem Weg in das Lager Gurs waren. Auch Dory Sontheimer, 1946 in Barcelona geborene Enkelin der deportierten Heilbruners, ahnte lange nichts von diesem Weg. Sie wusste ohnehin wenig von den Großeltern, die nach Angaben ihrer 1934 nach Spanien emigrierten Mutter „im Krieg gestorben“ waren. Dass damit das Vernichtungslager Auschwitz gemeint war, erfuhr Dory erst 2002, als sie nach dem Tod ihrer Mutter in deren Haus sieben Schachteln fand – versteckt in der doppelten Decke ihres früheren Kinderzimmers. Die darin aufbewahrten persönlichen und amtlichen Dokumente offenbarten ihr eine lange verheimlichte Familiengeschichte – und wurden zu „einem Wendepunkt in meinem Leben“, wie sie in ihrem Buch über dieses Stück Freiburger Geschichte schreibt. Veranstaltungen mit Dory Sontheimer: Film: Sa. 19. Oktober, 17.30 Uhr, Kommunales Kino; Lesung: Di. 22. Oktober, 20 Uhr, Stadtbibliothek Oktober 2019 chilli Cultur.zeit 65


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