chilli cultur.zeit

Page 1

Heft Nr. 9/19 9. Jahrgang

ab

21.K1in1o. im

Pfer de st ehl en Foto: © MFA+ FilmDistribution e.K.

Leinwand

Musik

Literatur

Freiburger bekommt WENDERS-STIPENDIUM

Zwei FESTIVALS FÜR MEHR FRAUENPOWER

Profs huldigen ISENHEIMER ALTAR


Kultur Film

Die Faszination des cineastischen Puristen Wim-Wenders-Stipendium für Freiburger Filmemacher

J

von Erika Weisser

Fand in Wim Wenders einen Förderer seines Projekts: der ­Freiburger Regisseur Jan Raiber (r.) Fotos: © Jan Raiber, ewei

an Raiber, Filmemacher aus Freiburg, hat kürzlich eines von vier jährlich vergebenen Wim-Wenders-Stipendien erhalten. Der mit 24.000 Euro dotierte Förderpreis ging an seine noch im Entstehen begriffene, in 360-Grad/3D-Technik gedrehte Dokumentation „Was macht Mut?“. Im Mittelpunkt des Projekts steht der Alltag einer muslimischen Familie, der Raiber durch die Heirat mit einer ihrer Töchter persönlich eng verbunden ist. Für den 39-jährigen Regisseur ist der Gewinn des von der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen ausgelobten Stipendiums für mutige und unkonventionelle Filmvorhaben „wie ein Traum“.

54 chilli Cultur.zeit November 2019

Nicht nur, weil gerade dieses renommierte Stipendium „sich ganz gut in der professionellen Vita macht“. Und auch nicht nur, weil es in seiner inzwischen 20 Jahre währenden und schon mit etlichen Preisen ausgezeichneten Tätigkeit als Film-

Keine Zeit für die Preisverleihung schaffender „überhaupt das erste Mal“ sei, dass er Fördergeld für die Produktion eines Films bekomme. Er freut sich vielmehr auch deshalb über dieses Geld, weil es ihm einen abgesicherten Freiraum eröffne, seine eigenen, oft langfristig ange-


zu diesem Thema und für die Produktion eines Trailers: Die ersten Ergebnisse seiner Arbeit muss er beim Stipendiaten-Kolloquium 2020 vorstellen. Dass er dann auch persönlich dabei sein wird, versteht sich von selbst. Der Film, sagt Raiber, der seit vier Jahren „sehr gerne“ im Raum Freiburg lebt, sei ein ähnlich „unvorhersehbares Abenteuer“ wie sein eigenes, zunächst „ahnungsloses Hineinstolpern“ in diese deutsche Familie, die vor 26 Jahren zum Islam konvertierte. Und deren selbstverständliche religiöse Existenz ihn dazu brachte, „die Welt an allen Ecken und Enden zu hinterfragen“, wie er auch in seiner Bewerbung um das Stipendium schrieb. Diese Wirkung erhofft Raiber sich auch für seinen Film, der noch unter dem Arbeitstitel „Was macht Mut“ läuft. Er könne sich vorstellen, nach der Fertigstellung damit als „mobiles Kino durch das Land zu touren“. Für die Vorführung der mit 360-Grad-Kameras gedrehten Videos brauche es keine Kinosäle mit großer Projektionsfläche, sie könnten – allerdings mit Spezialbrillen – auch in einer Turnhalle angesehen werden. Und beim Abspielen habe der Zuschauer das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Das und die unverstellte Direktheit dieser Filme fasziniere ihn „als cineastischen Puristen“ an dieser Technik. 360-Grad/3D-Filme würden erfolgreich bei der Behandlung bestimmter Phobien, etwa der Spinnenangst, eingesetzt. Möglicher­ weise könne sein Film als „Konfrontationstherapie für Islamophobe“ in Betracht kommen.

Kulturnotizen Bales auf der Shortlist Die Freiburger Autorin Ute Bales hat es mit ihrem Roman „Bitten der Vögel im Winter“ auf die Shortlist der letzten vier Nominierten für den mit 10.000 Euro dotierten Pfalzpreis für Literatur geschafft. Die Entscheidung fällt am 17. November. In dem vor einem Jahr erschienenen Buch geht es um die „Rassenforscherin“ Eva Justin, die in der Nazizeit rassistische Gutachten über Tausende von Sinti und Roma anlegte und so zu deren Ermordung beitrug. Am 21. November liest Bales im Rahmen der Ausstellung „Kinder Im KZ“ im Kinder- und Jugendzentrum Weingarten aus diesem Buch.

Foto: © Michael Winterhalter

legten Vorhaben weiter entwickeln zu können, für die ihm „eigentlich zu wenig Zeit bleibt“: Da seine Frau sich gerade beruflich neu orientiert, sei er „derzeit sozusagen der klassische Alleinernährer“ seiner Familie, zu der auch zwei kleine Kinder gehören. Deshalb arbeite er bei vielen TV-Projekten und sonstigen Aufträgen als freier Kameramann mit – im Brotberuf. Gerade hat er in Berlin für die ARD einen Spielfilm mit Senta Berger gedreht. Und da die Drehtage schon lange terminiert waren und nicht einfach unterbrochen werden konnten, war er bei der Preisverleihung gar nicht dabei. Das bedauert er sehr, denn es gab dort wie jedes Jahr auch ein gemeinsames Kolloquium mit den Stipendiaten des Vorjahrs, mit den Mitgliedern der Jury und, natürlich, mit Wim Wenders himself. Diesen hat Raiber, der in Leipzig zunächst eine Ausbildung als Cutter und dann an der Filmhochschule ­Ludwigsburg ein Regie- und Kamerastudium absolvierte, im Bewerbungs­ gespräch als „ausgesprochen sympathisch und meiner Arbeit sehr zugewandt“ erlebt. Und als sehr ­offen gegenüber allen neuen inhaltlichen und formalen Ansätzen. Er hatte sogar den Eindruck, in Wenders als Vorsitzendem der Jury einen richtigen Förderer seines Experiments ­gefunden zu haben, „nicht nur wegen der angewandten 360-Grad/ 3D-Technik, sondern auch wegen des Themas“. 18 Monate hat er nun Zeit für eingehendere Recherchen

Preisverdächtig: Ute Bales

Chantrel verlässt Centre Culturel Seit 2002 leitet Martine Chantrel das Centre Culturel Français Freiburg (CCFF), nun geht sie nach 17 Jahren als Botschafterin und Repräsentantin der französischen Kultur in den Ruhestand. Bei der von der Stadt Freiburg und dem Trägerverein des CCFF ausgerichteten Abschiedsfeier Anfang Dezember wird auch die Botschafterin Frankreichs in der Bundesrepublik, Anne-Marie Descôtes, anwesend sein. Sie verleiht dabei den Orden „Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres“ an Chantrel. Ihre Nachfolgerin wird Florence Dancoisne.

Aus fürs Gilels-Festival „Leider wird aus organisatorischen Gründen 2020 kein Festival stattfinden. Wir bitten um Verständnis.“ So steht es auf der Homepage der Emil-Gilels-Foundation, die in Freiburg seit 2012 im zweijährigen Turnus ein Festival zu Ehren des berühmten Pianisten veranstaltete. Nun, vor der fünften Auflage, kam das Aus. Gründer und Leiter Felix Gottlieb, seit 1995 auch Klavierprofessor an der Freiburger Musikhochschule, begründete es gegenüber der BZ damit, dass das Festival nicht mit ins Programm zum Freiburger Stadtjubiläum 2020 aufgenommen wurde. Damit sei dem Festival die finanzielle Grundlage entzogen worden. Der Gemeinderat hatte schon zuvor nicht für eine institutionelle Förderung votiert.


Musik

Ladys first Zwei Festivals wollen Frauen ins Rampenlicht rücken

Popbeauftragter: Tilo Buchholz

Foto: © ManosTzivakis

Rapperin: Julia Mikulec

Fotos: © Jannes Schilling

Festivalmacherin: Deborah Ewert

Foto: © Till Neumann

von Till Neumann

S

existische Kackscheiße. So nennen die Veranstalter von „Rap Fatale“ frauenfeindliches Gehabe im HipHop. Sie organisieren im April ein Female Focused Festival. Es ist nicht das Erste seiner Art in der Stadt.

Bei Bookern, die sich scheuen, Frauen zu buchen. Und bei Frauen, die sich nicht auf die Bühne trauen. Eine der wenigen Rapperinnen in Freiburg ist Julia Mikulec von der Band „Liner Notes“. „Ich finde es schwer, angenommen zu werden“, sagt die 24-Jährige. Sie werde zwar teilweise als Frau gepusht, müsse sich aber auch Sprüche anhören. „Entweder wird über unser Aussehen diskutiert oder wir werden nicht ernst genommen.“ Das ärgert auch Freiburgs Popbeauftragten Tilo Buchholz. Er hat einen Gesprächskreis zum Thema initiiert, der versucht, Musik-Workshops verstärkt weiblich zu besetzen. Die Vorbildfunktion sei entscheidend: Sehen Mädchen eine Schlagzeugerin oder E-Gitarristin auf der Bühne, würde das ermutigen, das ebenfalls zu probieren. Buchholz, selbst Musiker, könnte sich vorstellen, im städtischen Haushalt eine Förderung für eine offene Bühne für Frauen zu beantragen. Er betont aber: Man muss schon in der Erziehung anfangen. Mädchen allenfalls mal eine Blockflöte zu schenken, sei prägend.

Wer sich auf Freiburgs Bühnen umschaut, merkt schnell: Meistens stehen Männer im Rampenlicht. Deborah Ewert hat das schon vor zwei Jahren geärgert. Also initiierte die 32-Jährige mit einem Team das LocArtista Festival. Es soll Frauen helfen, sich zu vernetzen, Sichtund Hörbarkeit schaffen und aktivieren. Im September war die zweite Ausgabe. 34 Künstlerinnen standen drei Tage lang im Fokus. „Die Aufmerksamkeit für das Thema steigt“, stellt Ewert fest. 300 bis 400 Personen besuchten das Festival. Ein Kollektiv plant derzeit ein zweites Female-Festival für Freiburg: Rap Fatale. „Unser Anliegen ist breit, aber wir konzentrieren uns auf Rap“, sagt Magdalena Schweizer (32) vom Orgateam. Teil davon ist auch Tim Bosecker. „Ich habe erst bei der Recherche fürs Festival rausgefunden, wie viele Frauen Rap machen“, erzählt der „Wir hätten Tausende buchen können“ 27-Jährige. „Guten Rap.“ Auch anderswo ist das ein Thema. Bei Beim Booking hätten sie die Qual der Wahl. „Wir hätten Tausende buchen der Rock City Hamburg entsteht derzeit können“, sagt Bosecker. Ihr Team ist das „erste bundesweite Netzwerk für alle mittlerweile auf fast 20 Personen ge- Musikfrauen* in Deutschwachsen. Die erste Soliparty im Jos Fritz land“. Eine Datenbank, die ähnliche Ziele war proppenvoll. „Frauen sind im Rap oft nur schmü- hat wie die zwei ckendes Beiwerk, sie sollen mit dem Freiburger FestiArsch wackeln und gut aussehen“, sagt vals: vernetzen, erBosecker. Das soll bei Rap Fatale anders mutigen und Verlaufen. Von viel Zuspruch für das „bren- anstaltern die Mögnende Thema“, erzählt Schweizer. Sie lichkeiten zeigen, hoffen, mit dem Event dazu beitragen zu mehr Frauen auf können, dass „die Angst verschwindet“. Bühnen zu holen.


MUSIK KLASSIK

Beflügelnde Wanderjahre Sinfonieorchester Basel macht aus Not eine Tugend

von Till Neumann

U Fotos: © Benno Hunziker

mziehen ist nicht nur anstrengend, wenn es um die eigene Wohnung geht. Auch für ein Orchester bringen Standortwechsel große Herausforderungen mit sich. Dass man vom unfreiwilligen Umzug auch profitieren kann, zeigt das Sinfonieorchester Basel. Es hat aus der Not eine Tugend gemacht. In einem der besten Konzertsäle Europas ist das Sinfonieorchester Basel zu Hause. Eigentlich. Denn das Stadtcasino Basel wird seit mehr als drei Jahren umgebaut. Für das Orchester mit rund 100 Musikern kein leichtes Unterfangen. Alternative Standorte in Basel gibt es zwar, aber nicht mit einer solchen Akustik. Von aufregenden Zeiten berichtet daher der künstlerische Leiter HansGeorg Hofmann. Er sitzt im Orchesterbüro mitten im Herzen der Stadt. 18 Leute versuchen dort, bestmögliche Bedingungen zu schaffen für ihren Klangkörper rund um den britischen Dirigenten Ivor Bolton (oben rechts). 25 Nationen sind im Orchester vertreten. Viele davon junge

Musiker, die es vom Studium ins Orchester schaffen. Alternativen zum Casino wurden gefunden: Theater, Münster oder der Gare du Nord. Anstrengende Wanderjahre also, die aber auch beflügeln. „Wir haben unsere Abos jährlich um je zehn Prozent gesteigert“, erzählt Hofmann. Die neuen Orte hätten das Publikum neugierig gemacht. Getanzt wird auf vielen Hochzeiten. Es gibt Kammermusikformate in einem Grand Hotel. Oder die Reihe „mini-musik“ für Kinder ab vier Jahren. Ein Highlight im Programm ist die Zusammenarbeit mit Schauspielerin Johanna Wokalek. Sie trägt beim „Sommernachtstraum“ im Zusammenspiel mit dem Orchester Texte vor. Anfang November gab’s zudem ein Crossover-Projekt mit dem Techno-Urgestein Carl Craig in der Kaserne Basel. Auch außerhalb der Stadt ist das Sinfonieorchester Basel zu hören. Zweimal im Jahr spielt es im Burghof in Lörrach. Zum Jahreswechsel tourte es mit Opernsänger Jonas Kaufmann durch deutsche und Schweizerische Städte. Der Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie wurde der spektakulärste. Der Sänger sei in dem kreisrunden Saal

– gebaut von Basler Architekten – auf einigen teuren Plätzen nicht zu hören gewesen. „Als Skandalkonzert“ wird der Abend gehandelt. Hofmann nimmt es gelassen. Dem Orchester ist das Akustikproblem nicht vorzuwerfen. Der Fokus gilt dem bestmöglichen Musizieren. Das ist ab August wieder in der hauseigenen Spielstätte möglich: Das Casino wird am 22. August 2020 neu eröffnet. Neben Brahms und Mendelssohn werden dann auch Alphörner erklingen. Die Akustik soll noch besser sein als vorher. „Wir sind alle sehr gespannt“, sagt Hofmann. Nach vielen Wanderetappen ist das Ziel nun endlich am Horizont.

Verlosung Das chilli verlost 2x2 Karten für „Sommernachtstraum“ mit dem Sinfonieorchester Basel und Johanna Wokalek am Mittwoch, 4. Dezember, im Theater Basel. Wer gewinnen will, schickt bis zum 24. November eine Mail mit seinem vollen Namen und dem Betreff „Sinfonieorchester Basel“ an redaktion@chilli-freiburg.de. Die Gewinner werden per Mail benachrichtigt. November 2019 chilli Cultur.zeit 57


Musik

Den Tränen nahe

Zweierpasch

heirs to the wild

World HipHop

Jazz

Un peu d’amour

The Promise

Foto: © Klaus Steffen-Holländer

4 Fragen an Christoph Kirschke vom Saxofonensemble

Politisch und poetisch

Leise Melancholie

Gerade sind die acht Musiker des Freiburger Saxofonensembles mit dem „Konzerthaus Freiburg Preis“ ausgezeichnet worden. Leiter Christoph Kirschke (47 / Zweiter von links) erzählt im Interview mit Till Neumann von Rampensäuen und Durchhaltevermögen.

(bar). Darf’s ein kleines bisschen Liebe sein? Die frischgebackenen Adenauer-de-Gaulle-Preisträger Felix und Till Neumann haben mit ihrem vierten Studioalbum (Label: Jazzhaus Records) ein weiteres Reifezeugnis abgelegt. Die Reise startet musikalisch beschwingt mit dem LatinoHipHop-Stück Clandestino, bei „Panzer Politik Poesie“ oder „Flagge auf Halbmast“ wird’s düster, es macht Bang Bang, Rüstungsindustrie und Kriegstreiber stehen am Pranger. „Lichter“ – mit FatCat-Sänger Kenny Joyner – hat Ohrwurmqualität. Beim deutsch-französischen Duo geht’s nicht um leichte Kost, es geht etwa um den Rechtsruck in Europa oder den Atommeiler Fessenheim, der in „Fessengau“ zum Ort der Angst wird. Grenzen überschreiten ist Zweierpasch-DNA, Grenzen werden auch musikalisch übersprungen, HipHop meets Reggae, Weltmusik trifft Grunge (Vent de Révolte) à la „killing in the name“ von Rage against the machine. Bei „Globetrotter“ mischt die westafrikanische Rap-Größe Master Soumy mit, zum Finale gibt’s „Mon Chemin“, ein Klangteppich aus Folk, auf dem die Hiphopper mit ihrer Band sitzen und über die Welt sinnieren. Politisch und poetisch, klug und beherzt, im einen Moment verträumt, im nächsten rotzfrech – und hin und wieder mit ein bisschen Liebe.

(tln). „The Promise“ heißt das erste Album von Heirs to the Wild. Das Trio aus Freiburg verspricht Poetic Crossover Jazz. Mit Gitarre, Bass, Percussion und Gesang sind sie „auf der Suche nach unbetretenen Pfaden“. „Black Night“ heißt der Opener. Und da wird’s einem warm ums Herz: Mit viel Gefühl singt Rabea Hussain vom Weg durch die tiefschwarze Nacht. Dunkle Melancholie trifft auf erdig-schwere Klänge. Dezent, aber kraftvoll kommt das durch die Boxen. Eine Stimmung, die sich durch viele der neun Songs zieht. Der Gesang wird immer wieder ergänzt durch die Stimmen von Micha Scheiffele und Jan Klementz, hauptverantwortlich für Bass, Gitarre und Percussion. Beide mischen auch bei der Rapformation Qult mit. Straight nach vorne geht die Platte selten. Und das muss sie auch nicht. „In Magic“ mischen sanfte Percussions mit. „From Time to Time I need some Magic in this Life“, singt Hussain da. Ein Schlagzeug vermisst hier keiner. „The Promise“ ist ein Soundtrack für kalte, graue Tage. Die Melodien schlendern tiefenentspannt über die Tonleiter. Das Rad neu erfunden haben „Die Erben der Wildnis“ nicht. Aber ein stimmiges Album vorgelegt, das viel Kraft aus der Ruhe schöpft. Seine Sternstunden hat das in den leisen Momenten.

Herr Kirschke, was bedeutet Ihnen der Preis? Das ist ein Meilenstein. Schaut man sich die Liste der Preisträger an, wird klar, was das bedeutet. Das sind Leute auf dem Sprung zu einer internationalen Karriere. Für uns ist die Auszeichnung ein neues Level. Wer spielt im Saxonfonensemble? Die sieben Musiker sind 14 bis 26 Jahre alt. Alle haben es in den Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ geschafft. Das ist Aufnahmebedingung. Sie haben also schon Durchhaltevermögen und Wettbewerbserfahrung. Ich als Leiter spiele auch mit. Haben Sie den nächsten Super-Saxofonisten in Ihren Reihen? Alle im Ensemble sind musikalisch und haben ihre besondere Stärke. Die muss erst mal gar nicht zwangsläufig mit Musik zu tun haben. Sie können auch besonders strukturiert oder besonders mutig sein. Ich will, dass sie bei uns musikalische Kommunikation entwickeln und ihre Stimme finden. Wie war die Preisverleihung? Als wir gespielt haben, sind mir fast die Tränen gekommen. Wir proben sehr ernsthaft und professionell. Auf der Bühne passieren dann aber ganz andere Dinge. Im Konzerthaus habe ich gemerkt: Ich bin umgeben von Rampensäuen (lacht). 58 chilli Cultur.zeit November2019


Kolumne Mc Prisma

Gang-Starr

Deutschrap

HipHop

Golden Twenties

One of the best yet

... zur Wiedervereinigung Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Ackern für Träume

Knisterndes Comeback

(tln). Mit seinem fünften Release ist der Freiburger Rapper MC Prisma zurück. „Golden Twenties“ kommt mit zehn Tracks daher. Der Mittzwanziger spielt damit auf sein eigenes Alter und den Film „The Great Gatsby“ an. In Deutschland steht der Begriff für eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Auch der „Wiehre Boy“ will endlich den großen Schritt machen. „Ich bin immer noch kein Star, doch mein Leben ist ein Gig“, rappt Valentin Fischer. Und: „Wird Zeit, dass dieser Valle endlich Fame abkriegt.“ Prisma dekliniert das klassische Rapding durch: Seine Texte erzählen vom Traum, es nach oben zu schaffen. Mit hedonistischen Zügen: Er rappt von edlen Klamotten, teuren Parfüms und Mädels, die oben ohne unterwegs sind. „Ja, ja, ich mach es / reiße Groupies auf wie was Verpacktes“ lässt er in „Songwriter“ wissen. Für die Platte hat er sich hörbar ins Zeug gelegt. Der Flow ist stabil, die Produktionen von jokobietz klingen fresh. Der samplelastige Sound hat Oldschool-Flavour, bietet aber auch Effektbeladeneres. Der Refrain von „Belohnung“ erinnert an Cro. Zweifelsohne gutes Handwerk, das etwas mehr Überraschungsmomente vertragen könnte. In der Regio hat es Prisma zu einer festen Konstante im Rap geschafft. Den Status dürfte er damit festigen.

(tln). Auf wenige Rapduos trifft das Wort „legendär“ besser zu. Als GangStarr haben Rapper Guru und DJ Premier die Welt begeistert. 2010 der Schock: Guru alias Keith Edward Elam starb mit 43 Jahren an einer lange geheim gehaltenen Krebserkrankung. Jetzt feiert die Szene seine Auferstehung. Nach 16 Jahren bringen GangStarr ein neues Album raus. „One Of The Best Yet“ heißt die Platte vollmundig. 16 Tracks mit Stargästen, die die Herzen der Heads höherschlagen lassen: M.O.P., J. Cole, Jeru The Damaja, Talib Kweli sind nur einige der schwergewichtigen Features. Die knisternden Tracks drehen das Rad zurück und weiter. Unveröffentlichte Guru-Recordings treffen auf neue Primo-Beats. Das klingt wie eh und je. Kopfnick-Pflicht. Einziger Abstrich: Nicht alle Guru-Parts sind auf Toplevel. Manchmal klingt er müde. Möglicherweise waren einige Aufnahmen nur Testdurchläufe. Der Vibe ist dennoch da: Straßen-Weisheiten gibt’s im Minutentakt. Wer den Sound von Hits wie „Full Clip“ feiert, kommt bei „One Of The Best Yet“ sicher auf seine Kosten. Einzelne Tracks rausheben? Lieber durchhören und genießen. Nur so viel: Wer sehen will, wie Guru weiterlebt, schaut sich den Clip zur Single „Bad Name“ an. Da rappt Gurus Sohn den Vers seines Vaters.

Vor ziemlich genau dreißig Jahren war es dann passiert. Wir hatten auf einen Schlag zig Millionen zusätzliche potenzielle und tatsächliche Geschmacksstraftäter an der Backe – als ob wir nicht schon mehr als genug Arbeit mit dem ganzen Wessi-Sumpf gehabt hätten, aber die Mauer musste ja unbedingt weg. Auf einmal mussten wir uns mit Countrymusik aus dem ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat befassen, ganz zu schweigen vom (r)ostigen Schlager eines Frank Schöbel. Der ausgediente Unrechtsstaat machte in diesem Bereich auf jeden Fall seinem Namen noch alle Ehre. Exemplarisch sei hier auch die Rockformation Magdeburg (teilweise firmierten sie auch unter Klosterbrüder, ein klassischer Tarnname) erwähnt. Bei der Namensgebung orientierte man sich an amerikanischen Vorbildern wie Chicago und Boston – musikalisch leider nicht. Hoffentlich macht das jetzt nicht wieder Schule: Bands, die dann Cottbus, Zwickau oder Köthen heißen, lassen nichts Gutes vermuten. Bei allem Klagen über straffällig gewordene Ossis sollten wir aber weiterhin versuchen, die Wiedervereinigung folgender westdeutscher krimineller Banden mit aller Macht zu verhindern: Flippers, Modern Talking und Kelly Family. Wiedervereinigt grüßt für Ihre Geschmackspolizei Ralf Welteroth


kino

Naturstimmen als Soundtrack Beeindruckende Verfilmung eines groSSartigen Romans von Erika Weisser

Pferde stehlen

Fotos: © MFA

Norwegen/Schweden/ Dänemark 2019 Regie: Hans Petter Moland Mit: : Stellan Skarsgård, Bjørn Floberg, Tobias Santelmann, Jon Ranes, Danica Curcic u. a Verleih: MFA Laufzeit: 122 Minuten Start: 21.November.2019

60 chilli Cultur.zeit November 2019

P

ferde werden in Hans Petter Molands Verfilmung von Per Pettersons Roman ebenso wenig gestohlen wie im Buch selbst. Bei „Pferde stehlen“ handelt es sich lediglich um ein Spiel, das der junge Trond mit seinem Freund Jon in den unfassbar schönen Gebirgsund Flusslandschaften Ost-Norwegens spielt, wo er den Sommer des Jahres 1948 mit seinem Vater verbringt. Ein Sommer, nach dem, wie sich später herausstellen wird, nichts mehr so ist wie davor. Ein Sommer, an den sich der von Stellan Skarsgård gleichermaßen einfühlsam wie routiniert verkörperte alte Trond zunächst nur bruchstückhaft erinnert. Eigentlich will er sich gar nicht erinnern: Die mehr als 50 Jahre zurückliegenden Ereignisse schmerzen den jüngst verwitweten Mann, der sich in die Einsamkeit eines kleinen Dorfs im Wald zurückgezogen hat, immer noch sehr. Als er aber in einer Winternacht einem ebenso einsamen Mann begegnet und in ihm den jüngeren Bruder seines damaligen Gefährten erkennt, beginnt er doch, sich eingehender mit der verdrängten Vergangenheit zu beschäftigen. Denn dieser Lars erinnert ihn nicht nur an Jon, den er seit jenem zunächst glücklichen Tag, da sie auf dem Rücken der vom Nachbarhof „ausgeliehenen“ Pferde über Stock und Stein jagten, nie wieder gesehen hat.

Dieser Lars ist auch der Mensch, der damals alle Steine ins Rollen brachte: Von Jon unbeaufsichtigt, erschoss er im Spiel versehentlich seinen Zwillingsbruder Odd, was die Auflösung der Familie zur Folge hatte. Und nicht nur seiner. Auch die Familie Tronds gab es bald nicht mehr. Der Vater, ganz ausgezeichnet dargestellt vom gebürtigen Freiburger Schauspieler Tobias Santelmann, trennt sich von der Mutter, um mit Lars’ Mutter zu leben, mit der ihn seit der Zeit, da sie verfolgte Widerstandskämpfer aus dem von den Nazis besetzten Norwegen nach Schweden schmuggelten, eine heimliche Liebe verband. Trond hat auch ihn in jenem Nachkriegssommer zum letzten Mal gesehen. Und gedenkt nun seiner in „Erinnerungen, die das Bewusstsein fluten und den Schmerz bringen“. Doch gemäß der Lebensmaxime dieses Vaters entscheidet er nun selbst, „wie stark dieser Schmerz empfunden wird“. Ein großartiger Film, ausgezeichnet mit dem Silbernen Bären für „heraus­ ragende künstlerische Leistung“ und dem Preis der Frankfurter Buchmesse 2019 für die beste internationale Literatur­verfilmung. Die Lektüre des 2003 erschienenen Romans versteht sich nach diesem Film mit seinem eindrück­ lichen Soundtrack aus Natur­stimmen und -geräuschen von selbst.


KINO Bis dann, mein Sohn

Land des Honigs

Aretha Franklin: Amazing Grace

Foto: © Piffl Medien

Foto: © Neue Visionen

Foto: © Weltkino

China 2019 Regie: Wang Xiaoshuai Mit: Wang Jingchun, Yong Mei u.a. Verleih: Piffl Medien Laufzeit: 185 Minuten Start: 14. November 2019

Mazedonien 2019 Regie: Tamara Kotevska & Ljubomir Stefanov Dokumentarfilm Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 85 Minuten Start: 21. November 2019

USA 2018 Regie: Alan Elliott & Sydney Pollack Dokumentarfilm Verleih: Weltkino Laufzeit: 89 Minuten Start: 28. November 2019

Tragödie am Stausee

Von Menschen und Bienen

Atemberaubende Anmut

(ewei). Eine Stadt im Norden Chinas, Ende des 20. Jahrhunderts. Liyun und Yaojun leben mit ihrem Sohn Xingxing im Wohnheim der Metallfabrik, in der sie arbeiten. Wand an Wand mit ihren Freunden Haiyan und Yingming und deren Sohn Haohao. Die Jungen sind am selben Tag geboren; so vertraut und unzertrennlich wie Zwillinge teilen sie jeden Tag ihres Lebens miteinander. Zwölf Jahre lang. Dann stirbt Xingxing während eines Schulausflugs bei einem Badeunfall. Und Haohao ist daran nicht ganz unschuldig. Der Schmerz der Eltern ist grenzenlos. Zumal Liyun wenige Jahre zuvor bei einer Zwangsabtreibung unfruchtbar gemacht wurde: In China galt bis 2015 die strenge Vorschrift, dass jede Frau nur ein Kind haben dürfe. Aus diesem fatalen Zusammenhang von Politischem und Privatem komponiert Wang Xiaoshuai ein faszinierendes Beziehungsgeflecht, das sich über drei Jahrzehnte zieht. Und drei Kinostunden dauert – ohne jede überflüssige Minute. Silberne Bären für die beiden Hauptdarsteller.

(ewei). In einem entlegenen Dorf im nordmazedonischen Gebirge hütet Imkerin Hatidze mehrere wilde Bienenvölker. Täglich macht sie sich auf den beschwerlichen Weg zu ihnen; gelegentlich fährt sie auf den Markt der Hauptstadt Skopje, um den geernteten Honig und ihre Bienenkörbe zu verkaufen. Zu Hause kümmert sie sich um eine kleine Landwirtschaft und ihre gelähmte Mutter. Eines Tages lässt sich eine Nomaden-Großfamilie auf dem Nachbargrundstück nieder – und bringt einige Nutztiere und reichlich Lärm in Hatidzes Bienenkönigreich. Sie freut sich über die Neuankömmlinge, merkt aber bald, dass diese den Honig vor allem als profitables Verkaufsgut ansehen und auf traditionelle Imkerweisheiten pfeifen. Dieses fein beobachtende Langfilmdebüt von Ljubomir Stefanov und Tamara Kotevska wurde beim SundanceFilmfestival 2019 als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Die Filmemacher thematisieren das fragile Verhältnis der Menschen zur Natur – teilnehmend und dennoch ohne Wertung.

(ewei). Im Sommer 2018 starb Aretha Franklin, die Queen of Soul. Geblieben ist die Erinnerung an eine großartige Frau, an eine Sängerin, die ihre ganze Seele in ihre Stimme legte. Eine Stimme, von der es zum Glück zahlreiche Aufnahmen gibt. In einer bisher nicht bekannten Aufnahme aus dem Jahr 1972 ist nicht nur diese unfassbar beseelte Stimme zu hören, sondern sie auch live zu sehen: Damals kehrte die Diva, die bereits 20 Studio-Alben veröffentlicht hatte, zu ihren musikalischen Wurzeln zurück und gab in der Missionary Baptist Church in Los Angeles ein Konzert, das nicht nur mitgeschnitten, sondern auch gefilmt wurde. Bei diesem Konzert mit dem Southern California Community Choir und Reverend James Cleveland entstand „Amazing Grace“, das meistverkaufte Gospelalbum aller Zeiten. Nun, 47 Jahre später, erstrahlt Aretha Franklin endlich auch auf der Kinoleinwand – und nicht in einer fehlerlos inszenierten Show, sondern authentisch und spirituell. Mit atemberaubender Anmut.


kino Cunningham

Foto: © Prokino

Foto: © Nachweis

Frankreich 2019 Regie: Olivier Nakache & Éric Toledano Mit: Vincent Cassel, Reda Kateb u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 114 Minuten Start: 5. Dezember 2019

USA 2019 Regie: Alla Covgan Dokumentarfilm Verleih: Camino Laufzeit: 87 Minuten Start: 19. Dezember 2019

Foto: © Koki

voll von der Rolle

Alles auSSer gewöhnlich

Filmkonzert im Komunalen Kino: Survival Strategies for Cold Countries

Ein Kino, das wagt (ewei). Beim Deutschen Kinematheksverbund sind im Oktober wieder die Würfel gefallen. Und einmal mehr zugunsten des Kommunalen Kinos Freiburg: Einer der jährlich vergebenen und bundesweit ausgeschriebenen Kinopreise ging an das Jahresprogramm 2018. In der Kategorie „Kino, das wagt“ erhielt das kleine Filmtheater im Alten Wiehrebahnhof einen der mit 1000 Euro dotierten zweiten Preise. „Seit 13 Jahren“, freut sich Geschäftsführerin Neriman Bayram, ist das KoKi ohne Unterbrechung unter den Preisträgern; es „wurde bereits in allen Kategorien für seine Jahresprogramme ausgezeichnet“: für besondere film- und kinohistorische Konzepte, für spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche sowie für Kooperationen mit örtlichen politischen, sozialen oder kulturellen Verbänden. Dieses Mal also „Kino, das wagt“. In dieser Kategorie werden laut Satzung des Kinematheksverbunds Programme ausgezeichnet, die „neue filmästhetische Perspektiven anbieten“. Der Fokus, sagt Bayram, liege dabei auf der innovativen Form, in der das Kino sich präsentiere. Und dazu gehöre es, „das Kino als sozialen, weltoffenen und interkulturellen Erfahrungsraum anzubieten und in der Stadtgesellschaft sichtbar zu machen“. Das sei dem KoKi-Team offenbar gelungen, konstatiert die Geschäftsführerin. Denn sonst hätte die Jury ihm den Preis nicht zugesprochen: Die jährliche Auszeichnung sei „kein Selbstläufer“. Die Preiswürdigkeit müsse jedes Jahr neu erarbeitet werden – „durch konstante Qualität auf hohem Niveau“. Und durch besondere Projekte. Wie etwa das in breiter Zusammenarbeit entstandene genreübergreifende Filmkonzert „Survival Strategies for cold countries“. Oder das Ausstellungs- und Filmprogramm „Die Erde ist immer noch ein Paradies“ zu Psychiatrie und Inklusion. Diese wurden von der Jury besonders gelobt.

62 chilli Cultur.zeit November 2019

Am Rand der Gesellschaft

Unerschöpfliche Kreativität

(ewei). Bruno leitet eine private Hilfseinrichtung für Menschen mit schwerem Autismus. Sie ist die letzte Anlaufstelle für Leute, denen an anderen Orten nicht geholfen werden kann – weil sie im offiziellen Gesundheitssystem keinen Platz haben. Unermüdlich kümmert sich Bruno um seine Patienten, versucht, sie in Wohneinrichtungen und in einem Job unterzubringen. Das klappt manchmal – wie bei Joseph, der bei seiner Mutter wohnt und in der Metro gern die Notbremse zieht. Für ihn findet er eine Stelle in einem Reperaturservice für Waschmaschinen. In anderen Fällen gestaltet sich die Suche sehr viel schwieriger. Etwa bei Valentin, der dazu neigt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und sich und andere zu verletzen. Kein Heim, keine Pflegefamilie hat ihn bisher ausgehalten – und auch Bruno kommt langsam an seine Grenzen. Überzeugende Darstellung der unhaltbaren Lebensumstände von Menschen am Rand der Gesellschaft – von den Machern des Kinohits „Ziemlich beste Freunde“.

(ewei). In der internationalen Tanzszene gilt der 2009 im Alter von 90 Jahren verstorbene Merce Cunningham als einer der kreativsten Köpfe des zeitgenössischen Tanzes. Als einer, dessen Schaffen geprägt war von einer außerordentlichen Risikobereitschaft und einem unerschöpflichen Ideenreichtum. Einige seiner legendären Choreografien werden nun in der zu Merce Cunninghams 100. Geburtstag er­ schienenen Dokumentation wieder zum Leben erweckt – vermittels moderner 3D-Technik und unter Mitwirkung der letzten Mitglieder der MerceCunningham-Dance-­Company. Die Filme­macherin Alla Covgan zeigt aber auch, dass Cunningham zu Beginn der 1940er-Jahre nicht immer unumstritten und nicht als ernsthafter Tänzer anerkannt war: Er verfüge, hieß es, zwar über ein außergewöhnliches Talent, doch verschwende er dieses mit exotischen Experimenten. Und sie zeigt, wie er es schaffte, zu dem richtungsweisenden Choreografen zu werden, von dessen visionärem Werk sich viele heutige Tänzer inspirieren lassen.


DVD Finsteres Glück Frankreich 2019 Regie: Lisa Azuelos Mit: Sandrine Kiberlain, Thaïss Alessandrin u.a. Studio: Alamode Film Laufzeit: 87 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Ein Becken voller Männer Frankreich 2018 Regie: Gilles Lellouche Mit: Mathieu Amalric, Guillaume Canet u.a. Studio: Arthaus Laufzeit: 122 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Nur eine Frau Deutschland 2018 Regie: Sherry Hormann Mit: Amila Bagriacik, Rauand Talebet u.a. Studio: EuroVideo Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Extremes Klammern

Synchrone Lebenskrisen

Aus nächster Nähe

(ewei). Héloïse hat ihr Leben im Griff, als Single, Mutter dreier Kinder und mit eigenem Restaurant. Doch als ihre jüngste Tochter Jade als letzte das Nest verlassen und in Kanada studieren will, gerät sie in eine existenzielle Krise. Stets waren die Kinder für sie der Mittelpunkt – und ihr wird zusehends klar, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens steht. Und sie nervt ihre Tochter durch extremes Klammern. Ein emotionaler Film über Familienzusammenhalt, Loslassen und Neuanfänge.

(ewei). Sieben Männer im besten Alter treffen sich zufällig regelmäßig im Schwimmbad. Sie kommen miteinander ins Gespräch – und erfahren, dass jeder von ihnen gerade in einer handfesten Lebenskrise steckt. Sie tun sich zusammen – nicht etwa zu einer Männer-Midlifecrisis-Smalltalk-Runde, sondern zu einem Synchronschwimmteam. Der Spott ihrer Mitmänner kümmert sie nicht: Begeistert trainieren sie mithilfe zweier Trainerinnen für einen internationalen Wettbewerb für Wasserballett.

(ewei). Ein Mann erschießt eine junge Frau auf offener Straße. Aus nächster Nähe. Die Frau ist seine Schwester. Drei Kugeln treffen sie ins Gesicht: Ein Mord im Namen der „Ehre“. Mit ungewöhnlichen Stilmitteln zeigt Regi­ sseurin Sherry Hormann die Hintergründe eines realen Frauen-Schicksals im ­Berlin unserer Tage – ein aufrüttelndes Drama, das auch als Hommage an die ungeheure Stärke einer Frau verstanden werden kann, die im ­gnadenlosen Patriarchat um Selbstbestimmung kämpft.

Tel Aviv on Fire Frankreich, Israel 2018 Regie: Zameh Zoabi Mit: Kais Nashef, Yanif Bitton u.a. Studio: MFA+Cinema Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Wenn Fliegen träumen Deutschland 2018 Regie: Katharina Wackernagel Mit: Thelma Buabeng, Nina Weniger u.a. Studio: Lighthouse Home Entertainment Laufzeit: 81 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Zwischen den Zeilen Frankreich 2018 Regie: Olivier Assayas Mit: Juliette Binoche, Guillaume Canet u.a. Studio: Alamode Film Laufzeit: 107 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Seifenoper in Nahost

Unterhaltsames Chaos

Geistreiche Offenbarungen

(ewei). Als Mediensatire ebenso überzeugend wie als Komödie: der Nahostkonflikt vor dem Hintergrund einer TV-Seifenoper, die am Vorabend des Sechstagekriegs spielt und bei Israelis und Palästinensern gleichermaßen beliebt ist. Im Mittelpunkt der bissigen und streckenweise absurden Geschichte steht der palästinensische Drehbuchautor Salem, dessen Manuskript in die Hände des israelischen Grenzwächters Assi gelangt. Und der zwingt ihn, das Buch nach seinen Vorstellungen umzuschreiben.

(ewei). Eine einsame Psychotherapeutin und ihre suizidgefährdete Halbschwester machen sich in einem Feuerwehr­ auto auf den Weg nach Norwegen, um das Erbe ihres ihnen ziemlich unbekannten Vaters anzutreten. Unterwegs treffen sie einen Spanier, der nach Finnland will. Und werden bald von einem Haufen gestrandeter Persönlichkeiten verfolgt. Ein chaotischer, doch höllisch unterhaltsamer und schwarz­ humoriger Film über Einsamkeit und das pralle Leben – umnebelt von ­Wodka und Tabletten.

(ewei). Léonard schreibt Romane, in denen er seine Liebschaften verarbeitet. Sein langjähriger Verleger Alain lehnt das neue Manuskript jedoch ab; er ist gerade mit der Digitalisierung ­seines Verlags beschäftigt – und mit der hierfür zuständigen jungen ­Mit­arbeiterin. Außerdem liest er zwischen den Zeilen heraus, dass es dieses Mal um seine Frau Selena geht. Jeder ahnt das Doppelleben des anderen – doch gesprochen wird über die Mühen des Literaturbetriebs. Ein geistreiches Vergnügen. November 2019 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Stürmische Resonanz Wie der Renaissence-Maler Matthias Grünewald bis heute wirkt

I

von Erika Weisser

Foto: © ewei

von Werner Frick & Günter Schnitzler (Hg) Werk und Wirkung Der Insenheimer Altar Verlag : Rombach 286 Seiten, broschiert Preis: 48 Euro

m Wintersemester 2015/16 gab es beim Studium Generale der Universität Freiburg eine Vortragsreihe zu Werk und Wirkung des zwischen 1512 und 1516 geschaffenen Isenheimer Altars von Matthias Grünewald, der seit 1793 im Musée d’Unterlinden in Colmar aufgestellt ist. Neun der zehn in der Samstagsuni gehaltenen Referate haben die beiden Freiburger Literaturwissenschaftler Werner Frick und Günter Schnitzler nun in einem ebenso kenntnisreich wie reich bebilderten Buch herausgegeben. „Kaum ein Kunstwerk“, schreiben die beiden Professoren für Neuere Deutsche Literatur in ihrem Vorwort, habe „eine derart breite lebendige und auch ertragreiche Rezeption“ erfahren. Schnitzler, bis 2017 Leiter des Freiburger Studium Generale, und sein Nachfolger Frick hatten die fächerübergreifende Vortragsreihe organisiert, da sie festgestellt hatten, dass diese „kostbarste Ikone der Kunst in der Oberrhein-Region“ ihre Wirkung nicht nur in der Bildenden Kunst, sondern auch in Musik und Literatur, in Philosophie und Theologie entfaltet hat. Und das bis in die Gegenwart: Das „exzeptionelle Werk“ habe seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „geradezu stürmische“ Resonanz ausgelöst und „in vielen Schöpfungen auch der Nachbarkünste“ ihren Ausdruck gefunden, insbesondere im 20.Jahrhundert. Ein Beispiel wird im Beitrag der Musikwissenschaftlerin Susanne Schaal-Gotthardt manifest. Die ehemalige Freiburger Studentin und heutige Direktorin des Hindemith Instituts Frankfurt konstatiert, dass Paul Hindemiths 1938 uraufgeführte Oper „Mathis der Maler“ nicht

Foto: © Musée Unterlinden, Colmar

nur starke Bezüge zum Leben und zu der Zeit Grünewalds aufweist, sondern dass sogar die Altarbilder „Eingang in den Handlungsstrang der Oper“ finden. In etlichen Dialogszenen sei von Bildern die Rede, die in ihrer Beschreibung eine „frappierende Ähnlichkeit zum Isenheim-Altar“ aufwiesen. Der Beitrag des Heidelberger Kunsthistorikers Dietrich Schubert beschäftigt sich mit Grünewald-Impulsen im Werk von Otto Dix. Anhand einiger Kreuzigungsszenarien seiner Bilder weist er den Einfluss Grünewalds auch auf diesen Maler nach, der nach dem Ersten Weltkrieg in einem Gefangenenlager in der Nähe von Colmar interniert war. Und er stellt Bezüge zu Alfred Hrdlicka her, der den Altar nie im Original gesehen hat. Diese und die teilweise auch von Freiburger Wissenschaftlern verfassten Beiträge machen das Buch zu einer Fundgrube. Fricks eigener, zum Abschluss der Vortragsreihe gehaltener Beitrag, ist darin allerdings leider nicht enthalten. Dass der ursprünglich für die Spitalkapelle des Antoniterklosters im elsässischen Isenheim geschaffene Altar eine ungebrochene Anziehung ausübt, zeigen die Eintrittszahlen des Musée d’Unterlinden. Dort wird Matthias Grünewalds Meisterwerk derzeit übrigens ebenso sorgfältig wie aufwendig restauriert – unter den Augen der Besucher.


FRezi

Das Literatur Quiz

von Maximilian Hauptmann & Stefan Kutzenberger Verlag: Edition a, Wien 2019 256 Seiten, Taschenbuch Preis: 16,90 Euro

Dort, dort

Lesereise Schwarzwald

von Tommy Orange Verlag: Hanser Berlin, 2019 288 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

von Tomo Mirko Pavlovic Verlag: Picus Verlag, Wien 2019 130 Seiten, gebunden Preis: 15 Euro

Lauter kluge Fragen

Im Land der tiefen Risse

Schwindlig im Schwarzwald

(bar). Netflix, Youtube, Instagram, Facebook – und wer liest noch Bücher von Kafka, Shakespeare, Goethe, Kerouac? Stefan Kutzenberger, Schriftsteller und Lektor an der Wiener Universität, und sein Student Maximilian Hauptmann haben mit ihrem Quiz vor allem die jüngere Generation im Auge. Die sich mit einem Klick vermeintliches Wissen aneignet. 123 Fragen haben sie gestellt und beantwortet – zuweilen erhellend, manchmal überraschend, oft unterhaltsam, immer solide recherchiert. Ging Heinrich Heine, Hermann Hesse oder Clemens Brentano einst mit einem Tuchladen pleite? Warum spielt James Joyce’ Ulysses am 16. Juni 1904? Wer ist der erfolgreichste deutschsprachige Autor? Welches Kleidungsstück war das Erkennungsmerkmal des Exzentrikers Tom Wolfe? Was haben Vladimir Nabokov, Milan Kundera und Samuel Becket gemeinsam? Die Antworten ordnen ein, erzählen nebenbei noch eine Geschichte – die besten sind die privaten der Literaten. Das Quiz lässt sich gemeinsam spielen, könnte seinen Platz aber auch an einem stillen Ort finden. Den Zugang zur Welt der Literatur nicht verlieren. Das war der Arbeitsauftrag der Autoren. Der eine wird nach dem Lesen einen alten Klassiker aus dem Regal holen, der andere ein neues Buch bestellen. Mission completed.

(ewei). „Wir kennen das Rauschen des Freeway besser als das der Flüsse, das Heulen von Zügen in der Ferne besser als das der Wölfe, wir kennen den Geruch von Benzin, frisch beregnetem Beton und verbranntem Gummi besser als den von Zedern oder Salbei.“ Tommy Orange, 1982 als Sohn eines zum Stamm der Cheyenne gehörigen Vaters und einer weißen Mutter in Oakland geboren, erzählt die Geschichten der ersten Bewohner Amerikas neu: Sie seien längst urban geworden, schreibt er, und mit jeder Skyline „vertrauter als mit jedem heiligen Bergzug“. Dass diese Urbanität für viele Native Americans aber Zerrissenheit und Verlorenheit bedeutet, wird bei den zwölf mehr oder weniger gestrandeten Figuren manifest, die Oranges Roman zu einer großartigen Geschichtsund Gesellschaftslektion machen. Da ist etwa die trockene Alkoholikerin Jacquie Red Feather, die ihrer einst zur Adoption freigegebenen Tochter Blue begegnet, ohne sie zu erkennen. Da ist der Drogendealer Tony Loneman, dessen Gesicht vom fetalen Alkoholsyndrom gezeichnet ist. Da ist aber auch der junge Dokumentarfilmer Dene Oxendene, der nach Spuren indianischen Lebens sucht. Sie alle treffen zusammen beim Powwow, dem jährlich gefeierten großen Traditionsfest in Oakland, das dieses Mal in einer Schießerei endet.

(dob). Noch eine Kurve, noch eine Serpentine, noch eine Biegung, noch ein röhrendes Motorrad. Irgendwann reicht es mal. Man sieht ja den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, man wird schwindlig. Rechts ranfahren, beruhigen. Und dann: Diese Wahnsinnsaussicht. Tomo Mirko Pavlovic hat sich in den Schwarzwald auf eine „Lesereise“ begeben. Noch so ein Buch über die Region, mag der Skeptiker denken. Da gibt es doch schon so viel, und leider auch so viel anbiedernden, marktschreierischen Schrott. Doch Entwarnung: Pavlovic versucht eben nicht wie viele andere Autoren, möglichst viel Information auf möglichst wenige Seiten zu pressen. Er beschränkt sich in seinen mit feinsinniger Ironie gestrickten Essays. So beschreibt er die Kurven und Kehren auf der B500, der Schwarzwaldhochstraße, und die der Sauschwänzlebahn. Er speist in Baiersbronn, wandert dort im Nationalpark, spürt dem Erfinder der Dauerwelle nach, ist bei „Tatort“-Dreharbeiten in der Fasnachtshochburg Elzach dabei, besucht eine Kuckucksuhrenmanufaktur und eine Bollenhutmacherin – und tappt dabei nicht in die Klischeefalle. Besonders schön die Episode in Baden-Baden, wo er mit putzwütigen Besserverdienern einen Schuhputzkurs besucht und die „Männer, die auf Leder stehen“ porträtiert. Oden an den Schwarzwald müssen nicht in Heimatduselei enden. Gut so. November 2019 chilli Cultur.zeit 65


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.