chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 5/17 7. JAHRGANG

NACH

DIE NEUE KINOKOMÖDIE VON

»Leicht, zärtlich und herzerfrischend.«

STÉPHANE ROBELIN

LE FIGARO

„UND WENN WIR ALLE ZUSAMMENZIEHEN?“

AB 22. JUNI IM KINO

Theater

Malerei

Forschung

DIE PLÄNE DES NEUEN INTENDANTEN PETER CARP

KUNSTHALLE MESSMER HOLT PICASSO NACH RIEGEL

ABSTRAKTE KUNST FÜR DEMENZKRANKE


Im Mittelpunkt der Mensch PETER CARPS PLAN FÜR FREIBURG Der Theatermacher von Thomas Bernhard, Premiere: 10. November 2017 im Kleinen Haus, Theater Freiburg

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von Valérie Baumanns

Neuer Intendant: Peter Carp kommt aus Oberhausen nach Freiburg

INFO Das Theater Oberhausen Gesamtbudget: 10,125 Mio. l von Stadt/Land: 8,46 Mio. /0,9 Mio. Eigeneinnahmen: unter 1 Mio. l Zuschauer: 2008/09: 50.151 (1. mit Carp) 2012/13: 60.041 2016/17: 64.060 (vorläufig) Das Theater Freiburg Gesamtbudget: rund 29 Mio. l von Stadt/Land:16.42 Mio./8.72 Mio. Eigeneinnahmen: knapp 4 Mio. l Zuschauer: 2004/05: 220.000 2006/07: 208.000 (1. mit Mundel) 2012/13: 212.500 2015/16: 187.000 52 CHILLI CULTUR.ZEIT JUNI 2017

pannendes, verblüffendes und gutes Theater mit allen Ausdrucksformen steht auf dem Spielzeitprogramm des Freiburger Theaters für 2017/18. Das Team um den aus Oberhausen wechselnden Intendanten Peter Carp setzt auf internationale Regiehandschriften und die Vielfalt des Mehrspartenhauses. „Menschen gehen wegen Menschen ins Theater.“ Mit diesem Satz eröffnete Peter Carp die Präsentation seiner ersten Spielzeit im Winterer-Foyer am 11. Mai. Der neue Intendant spricht von drei Aspekten, die beim Theatermachen wichtig seien: „Wir brauchen gute Darsteller auf der Bühne, wir brauchen gute Stoffe und neugierige Menschen, die sich das angucken.“ Neben dem Menschen steht auch die Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen des Mehrspartenhauses im Fokus des neuen Leitungsteams. Dabei bildet die spartenübergreifende Arbeitsweise einen Schwerpunkt.Im neuen Team gibt es keine Spartenleiter, sondern nur noch einen Chefdramaturgen. Rüdiger Bering, der bereits in Oberhausen bei Carp diese Funktion innehatte, will sich auch in Freiburg mit der Frage beschäftigen, was zwischen den Genres und Sparten möglich ist. Dramaturgin im Musiktheater ist Tatjana Beyer. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Frage immer wieder über die Antwort zu stellen und somit die Grenzen des Musiktheaters zu anderen Sparten durchlässig zu machen. Als Dramaturg im Schauspiel möchte Michael Billenkamp Regisseuren aus dem Ausland eine Plattform bieten. Die neue Tanzkuratorin Adriana Almeida Pees stellt das Denken durch den Körper ins Zentrum ihrer Arbeit. Für Michael Kaiser, der als Künstlerischer Leiter weiterhin beim Jungen Theater tätig ist, steht das Mitmachen an erster Stelle. Vom Augsburger Theater kommt Georg Heckel als Künstle­ r­ischer Betriebsdirektor nach Freiburg.

Wie schon während seiner Zeit in Oberhausen will Carp Regisseure aus anderen Ländern nach Freiburg einladen, um Produktionen mit seinem Ensemble einzuspielen. Direkt zu Beginn zeigt der gefeierte iranische Regisseur Amir Reza Koohestani am 20. Oktober seine eigene Sichtweise auf Anton Tschechows „Der Kirschgarten“. Den Zuschauer erwartet ein sensibles Theater, erzählt Carp. Einen Tag später wird es im Großen Haus dagegen lauter und greller. Der südafrikanische Regisseur Mpumelelo Paul Grootboom bringt mit der Uraufführung „Crudeland“ einen Politthriller im Stil des afrikanischen Straßentheaters auf die Bühne. Um der Herausforderung des Mehrspartenhauses gerecht zu werden, versetzt das französische Künstlerkollektiv „LE LAB“ das Musiktheater in die Gegenwart. Die Premiere „Hoffmanns Erzählungen“ am 22. Oktober im Großen Haus ist eine Oper über die Oper in der Oper – dabei wird die Künstlerpersönlichkeit um E.T.A. Hoffmann, Protagonist der Oper, in verschiedenen Facetten vorgestellt. Obwohl das Theater Oberhausen ausschließlich Sprechtheater hat, sind spartenübergreifende Projekte kein Neuland für Carp. So machte er einige musikalische Produktionen mit Bands und mit Außenprojekten versuchte er verstärkt, neue Zuschauergruppen zu erreichen. Das möchte er auch in Freiburg: „Wir müssen die Zuschauergruppen kennenlernen, um zu wissen, wer ist das Publikum aus dem Umland in der Zukunft und welchen Service zusätzlich zum künstlerischen Angebot brauchen sie.“ Mit der Produktion „Lulu. Eine Mörderballade“ von Stef Lernous, die am 26. Oktober Premiere feiert, will Carp auch ein jüngeres Publikum ins Theater locken. Menschen, die wegen Menschen ins Theater gehen.

Fotos: © Birgit Hupfeld, Britt Schilling

THEATER


BILDENDE KUNST

Die Schönheit des Unperfekten

Fotos: © Wolfgang Tillmanns, Sportflecken, 1996 / Adam, 1991 / Fire Islands, 2015 – Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne, Maureen Paley, London, David Zwirner, New York

FONDATION BEYELER ZEIGT WOLFGANG TILLMANS UMFASSENDEN BILD-KOSMOS

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u ihrem 20. Geburtstag hat sich die Fondation Beyeler in Riehen ein ganz besonderes Geschenk gemacht: Erstmals in ihrer Geschichte widmet sie sich der Fotografie – und hat dafür keinen geringeren als einen der populärsten deutschen Gegenwartskünstler eingeladen. Wolfgang Tillmans gilt als Weltstar der Fotografie. Die Ausstellung zeigt nun mit 200 seiner Fotos von 1986 bis 2017, wie groß die Bild-Welt dieses Künstlers ist. Dass Tillmans der erste Vertreter seines Mediums ist, den die Fondation einlädt, passt. Schließlich soll die Ausstellung zeigen, dass in seinem Werk nicht die Fotografie im klassischen Sinn im Vordergrund steht, sondern das Schaffen einer neuen Bildsprache.

Fotos ohne Kamera Bekannt wurde der heute 48-Jährige Anfang der 90er. Damals selbst Teil der Technoszene, machte er Bilder, die das Lebensgefühl der damaligen Jugendkultur zum Ausdruck brachten: Fotos von Tanzenden, Porträts von Freunden und Musikern, Bilder von Liebe und Sexualität. Zur selben Zeit entstanden aber auch stilllebenartige Bilder, etwa von verlassenen Partyräumen oder einem Fenstersims mit ein paar Gegenständen darauf. Tillmans schenkt dabei Nebensäch­ lichem die gleiche Aufmerksamkeit wie Offensichtlichem. „Die Faszination, im scheinbar Offensichtlichen unvermutet Ungesehenes zu entdecken und sichtbar zu machen, wird für Tillmans zur treibenden Kraft, zum entscheidenden Im-

puls, Bilder zu machen“, beschreibt Theodora Visher, Kuratorin der Ausstellung, seine Motivation. Dabei geht der in Remscheid geborene Künstler immer weiter: Ende der 90er fängt er an, seine Colorprints selbst zu entwickeln. Fehler, die im Labor ganz selbstverständlich bereinigt werden, behält er bei und integriert sie in das Bild. Was aus Versehen zum Vorschein kommt, öffnet den Blick für eine dem Bild eigene Realität. Zudem beginnt Tillmans mit abstrakten Werken: Dafür schafft er Bilder ohne Kamera – nur durch Licht und Chemie. So sind etwa seine berühmten „Freischwimmer“-Arbeiten ausschließlich in der Dunkelkammer entstanden, wo Till­ mans mit Lichtquellen sozusagen auf Fotopapier „zeichnet“. Erst vor Kurzem ist eines dieser Bilder in New York für 600.000 Dollar unter den Hammer gekommen. Wie groß die Bandbreite des mit dem Turner-Preis ausgezeichneten Fotografen ist, zeigt nun die Sommerausstellung bei Beyeler: Neben traditionellen Genres wie Porträts, Aktdarstellungen, Stillleben oder Landschaftsbildern werden abstrakte Werke präsentiert, die mit der Grenze des Sichtbaren spielen. Auf den ersten Blick scheint dabei nichts so recht zusammenzupassen: „Große Formate stehen neben kleinen, klassische Genres neben ungesehenen Bildmotiven und abstrakte Bilder neben gegenständlichen Darstellungen“, beschreibt Visher den ungewöhnlichen Aufbau, bei dem Tillmans übrigens selbst mit Hand angelegt hat. Der Grund: Nicht ein Thema oder ein narrativer Zusammenhang sollen die Ausstellung prägen – Ausgangs- und Angelpunkt sind die Bilder selbst. Und die zeigen nun einmal vor allem die Schönheit im Unperfekten. Tanja Bruckert

INFO Wolfgang Tillmans 28. Mai bis 1. Oktober Artist Talks: Wolfgang Tillmans Do., 7. September, 18.30 Uhr Fondation Beyeler, Riehen / Basel www.fondationbeyeler.ch JUNI 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 53


KULTUR

Tragische Liebesgeschichten KUNSTHALLE MESSMER WIDMET SICH DEN FRAUEN IN PICASSOS LEBEN

von Tanja Bruckert

Der Macho Picasso: „Frauen sind entweder Göttinnen oder Fußabtreter.“

INFO Picasso und die Frauen 24. Juni bis 12. November Sylvette David in der Galerie M 14. Juni bis 12. Juli Kunsthalle Messmer, Riegel www.kunsthallemessmer.de 54 CHILLI CULTUR.ZEIT JUNI 2017

Für die meisten von Picassos Lebensgefährtinnen endete die Liebe zu ihm tragisch: Marie-Thérèse Walter hat sich erhängt. Jacqueline Roque hat sich erschossen. Olga Koklova und Dora Maar sind wahnsinnig geworden. Doch als Quelle der Inspiration haben diese Frauen das Werk des Malers deutlich beeinflusst und bereichert. Wie ein roter Faden ziehen sich daher auch die Darstellungen seiner Ehefrauen und Geliebten durch sein Werk. Angefangen von Fernande Olivier, die im Sommer 1905 zu Picasso Neuer gezogen war. Sie stand unter anderem Modell für alle Frauen des berühmten Gemäldes „Les Demoiselles d’Avignon“. Und sie machte Picasso mit seiner nächsten Geliebten bekannt: Eva Gouel. Sie galt als erste große Liebe im Leben des Künstlers. Seine erste Ehefrau, die russische Baletttänzerin Olga Koklova, heiratete er 1918. Keine andere Frau hat er so oft gemalt wie sie. Zunächst als nachdenkliche Schöne, später als stark verzerrte Frauenfigur. Marie-Thérèse

Walter war bereits vor der Trennung von Olga Picassos Geliebte. Es folgten Bekanntschaften mit den Malerinnen Dora Maar und Françoise Gilot, bevor er seine zweite Ehefrau Jacqueline Roque kennenlernte. Maar und Gilot gehören zu den Frauen Picassos, die auch selbst künstlerisch tätig waren – und das mit großem Erfolg. Auch einige ihrer Werke, ebenso wie die Zeichnungen von Fernande Olivier, zeigt nun die Kunsthalle Messmer. Auch Picassos Muse Sylvette David, das Mädchen mit dem Pferdeschwanz, ist heute eine bekannte Künstlerin. Die an die Kunsthalle angeschlossene Galerie M widmet ihr eine eigene Werkschau mit mehr als zwanzig Arbeiten aus dem Privatbesitz der Künstlerin. Jürgen Messmer setzt damit einen völlig neuen Schwerpunkt: Die 25. Ausstellung der Kunsthalle befasst sich vor allem mit den Frauen Picassos, die selbst künstlerisch tätig waren. Mit mehr als 120 Arbeiten Picassos aus bedeutenden Museen und Privatsammlungen sowie originalen Werken der Künstlerinnen gibt sie nie dagewesene Einblicke in ihre Werke. „Wir zeigen Picasso mal ganz anders“, freut sich der Kunstmäzen, „und konzentrieren uns auf die tollen Wechselbeziehungen, die es zwischen ihm und den Künstlerinnen gegeben hat.“ Nach Chagall, Hundertwasser, Warhol oder Miró bringt Messmer nach zweijähriger Planung erneut einen Hochkaräter ins beschauliche Riegel. Ob sich mit ihm der

Besucherrekord? Rekord von 40.000 Besuchern knacken lässt, den die Chagall-Ausstellung aufgestellt hatte? Messmer zeigt sich zuversichtlich. Nicht zuletzt, weil jeder, der seit dem 1. Juni auf dem EuroAirport in Basel landet, nicht umhin kommt, die neue Ausstellung wahrzunehmen: Ein 14 auf 7 Meter großes Riesenposter – von Bergsteigern am Kon­ trollturm aufgehängt – sorgt dafür.

Fotos: © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2017

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r galt als Frauenverschlinger, Macho oder gar als Monster: Auch wenn viele der Frauen in Pablo Picassos Leben sein Werk als Musen geprägt haben – sein Umgang mit ihnen muss verheerend gewesen sein. Dennoch war seine Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht groß. Und so gab es in seinem Leben zahlreiche Frauen: von seiner ersten großen Liebe Eva Gouel bis hin zur Malerin Françoise Gilot, die einzige Frau, die ihn je öffentlich verlassen hat. Sie dienten Picasso nicht nur als Inspirationsquelle, sondern waren oder sind selbst bekannte Künstlerinnen. Ihnen widmet die Kunsthalle Messmer in Riegel nun die Ausstellung „Picasso und die Frauen“ – und hofft damit auf einen neuen Besucherrekord.


KAPITELKOPF

Kunst gegen das Vergessen FREIBURGER HOCHSCHULPROJEKT WILL MIT ABSTRAKTEN GEMÄLDEN DEMENZKRANKE ANSPRECHEN

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Fotos: © tbr

ie Katholische Hochschule Freiburg hat ein Forschungsprojekt für Menschen mit Demenz gestartet. Einmal im Monat können sie und ihre Angehörigen im Kunstraum Alexander Bürkle ein Werk betrachten und ihren Assoziationen dabei freien Lauf lassen. Lassen sich demente Menschen mit abstrakter Kunst erreichen? Ein paar Sekunden lang herrscht vollkommene Stille. Vier Demenzkranke, ihre Begleiter und elf Studenten der Katholischen Hochschule schauen gebannt auf die buntbemalten Blätter an der Wand. „Fertig!“, kräht eine ältere Dame plötzlich. Kathrin Gut-Hackmann, Kunstvermittlerin im Kunstraum Alexander Bürkle, lacht: „Und, wie gefällt es ihnen?“ „Sehr schön“, sagt die Dame und zupft an ihrem geblümten Rock. „Könnte man als Kalender nehmen.“ Nach und nach melden sich auch die anderen zu Wort. „Es steigert sich von oben nach unten“, bemerkt eine ältere Dame, deren Krankheit noch im Anfangsstadium steckt. „Gewellt“, wirft ein Herr mit Schirmmütze ein, bei dem das Vergessen schon weiter fortgeschritten ist. Der aufgeweckten Dame mit dem Blumenrock wird es zu ruhig. „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein“, fängt sie lauthals an zu singen. „Man könnte es anhören“, stimmt ihr der Schirmmützenträger mit Blick auf das Kunstwerk zu. Kann man demenzkranke Menschen mit Kunst erreichen? Kann man sie damit mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen? Und ändert sich dadurch vielleicht sogar die Beziehung zwischen dem Erkrankten und seiner Begleitperson? Diesen Fragen gehen elf Heilpädagogik-Studierende der Katholischen Hochschule in diesem und nächsten Semester nach.

Die Idee dazu stammt ursprünglich aus dem New Yorker Museum of Modern Art (MoMa). Mittlerweile haben mehrere Museen in Europa die Kunstvermittlung für Demenzkranke aufgegriffen. Die Freiburger Studenten sind dabei die ersten, die es mit abstrakter Kunst versuchen. „Das Schöne daran ist, dass man sich nicht vertun kann“, sagt Professorin Monika Wigger, die das Projekt zusammen mit ihrer Kollegin Henriette Schwarz und Kathrin Gut-Hackmann leitet. Man muss nicht erkennen, was abgebildet ist. Man muss sich nicht erinnern, ob man einen Monet oder einen Picasso vor sich hat. „Ungegenständliche Kunst spricht direkt die Emotionen an: Was löst dieses Bild in mir aus?“, erläutert sie. Auch für die Angehörigen könne es ein schönes Erlebnis sein. Etwa, wenn Bemerkungen fallen, die man dem Demenz-Patienten nicht mehr zugetraut hätte. „Man wird ein Stück weit aus dem Alltag herausgeholt“, sagt einer der Teilnehmer, der mit seinem dementen Schwiegervater, dem Schirmmützenträger, bereits zum zweiten Mal dabei ist. Die beiden Männer sitzen nebeneinander und malen. Denn nach der Betrachtung können die Besucher auch selbst aktiv werden. Bis zum nächsten Mal werden die Studierenden das heute Gesagte zu einer Geschichte zusammenfassen. Das Ergebnis kann durchaus poetisch sein, wie der Text zum ersten Termin zeigt: „Wahrscheinlich fliegt sie! / Das habe ich jetzt nicht direkt gedacht – kann man das? / Länge ist Höhe, nur in ganz dünn, klein, / weder groß noch klein, eher groß. / Der Umgebung angepasst.“ Hier wird nicht ausgewählt nach richtig oder falsch, sinnvoll oder blödelnd. Schließlich soll der Vormittag im Kunstraum vor allem eins: Spaß machen. Und dazu passt auch der Titel, den sich die dementen Kunstliebhaber heute ausgedacht haben: „Schnee – einfach um Blödsinn rauszulassen.“ Tanja Bruckert

Zuerst betrachten, dann selbst malen: Im Kunstraum Alexander Bürkle will man Demenzkranke mit Kunst erreichen.

INFO Demenzkranke und ihre Angehörigen können weiterhin in das Projekt einsteigen. Interessierte melden sich bei Kathrin Gut-Hackmann: k.gut@kunstraum-buerkle.de JUNI 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 55


KULTUR

Für das innere Kind

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von Tanja Bruckert

Wer reagiert auf wen? In Peter Vogels Ausstellung sind klatschende, trillernde oder hüpfende Besucher keine Seltenheit

INFO Peter Vogel in der Galerie Baumgarten 16. Juni bis 28. Juli Vernissage: 16. Juni, 19 Uhr 56 CHILLI CULTUR.ZEIT JUNI 2017

euchtdioden, die auf Geräusche reagieren. Ein Tischtennisball, der durch die Schwingungen eines Lautsprechers auf und ab hüpft. Schattenorchester und Zwitschermaschine. Peter Vogel hat sich mit seiner Elektro-Kunst ein internationales Renomée verschafft. Im März wurde der Freiburger 80 Jahre alt. Keine zwei Monate später ist er nach jahrelanger Krankheit verstorben. Die Galerie Baumgarten zeigt nun einen Überblick über sein Lebenswerk. Ab Ende Oktober werden seine Werke in der Städtischen Galerie Offenburg zu sehen sein, nachdem er posthum den Oberrheinischen Kunstpreis erhalten hat. Dabei war der Künstler überzeugt, dass man ihn in der Region nicht zu schätzen wüsste. Er war einer der renommiertesten Künstler Freiburgs. Einer, wie es in der Bächlestadt vielleicht noch drei oder vier weitere gibt. Dessen ist sich Albert Baumgarten sicher. An der Bürowand des Freiburger Galeristen hängt eines von Vogels Kunstwerken. Wenn Baumgarten spricht, leuchten bunte LEDs auf. Dabei wechseln die Muster ständig. Kaum meint man, eine Logik erkannt zu haben, wechseln die Rhythmen wieder. Das Kunstwerk reizt. Es reizt dazu, es anzuschreien oder anzuflüstern, ihm abgehackte Laute vorzusprechen oder es mit Dauertönen zu beschallen. „Die Objekte lösen den Spieltrieb im Menschen aus“, sagt Baumgarten, der den Künstler mehr als 40 Jahre kannte. „Am unbefangensten sind dabei Kinder. Die meisten Erwachsenen schauen erst mal belustigt zu.“ Bei einigen Objekten löst der Schatten des Betrachters Propeller aus, lässt Musikinstrumente spielen oder Lichter blinken. Andere reagieren auf Geräusche. Die Reaktion der „Spieldinge“, wie sie Vogel nannte, fordert den Betrachter wiederum zu neuen Bewegungen heraus. Es entsteht ein unberechenbares Hin und Her – „die Grunddynamik jedes Spiels“, so Vogel in einem

Werkbuch. „Spiel scheint in unserer Kultur Kindern vorbehalten zu sein, allenfalls spielt man Karten oder Schach, ein Instrument oder Theater“, schreibt der Familienvater weiter, „aber immer mit der Verfolgung eines Ziels oder Zwecks, sonst hätte man ein schlechtes Gewissen, käme sich kindisch oder nutzlos vor.“ Dabei waren Vogels Kunstwerke nicht immer so interaktiv: Während der Schulzeit nutzt er die Ölfarben und Leinwände seines Vaters, probiert verschiedene Stile aus. Nach seinem Physikstudium beginnt er mit Action-Painting – sein erster Versuch, Bewegung darzustellen. Mit seinem Bild „Handschuhe“ geht er einen Schritt weiter: Zwei Gummihandschuhe hängen aus einer Leinwand heraus und blasen sich bei Bewegung auf. Fasst jemand die Handschuhe an, ertönt eine Klingel. Nach und nach lässt der Künstler, der bis 1975 in der Gehirnforschung bei Hoffmann La Roche in Basel arbeitet, die Malerei ganz weg und erschafft die Ästhetik seiner Werke nur noch mit elektronischen Bauteilen. International findet er mit seiner Mischung aus Kunst und Technik immer mehr Beachtung, stellt in Tokio, Paris oder New York aus. Nur in Freiburg fühlt sich Vogel nie richtig gewürdigt, erzählt Baumgarten, obwohl selbst das Museum für Neue Kunst Werke von ihm sammelt. 2004 erhält er sogar den Reinhold-Schneider-­ Preis der Stadt. Die zweite große Würdigung aus der Region wird der Künstler nicht mehr entgegennehmen: Eine Woche vor seinem Tod gab Offenburgs Oberbürgermeisterin Edith Schreiner bekannt, dass Vogel den mit 10.000 Euro dotierten Oberrheinischen Kunstpreis erhält. Er wird am 22. Oktober posthum verliehen.

Fotos: © Ute Schöler, Courtesy Galerie Baumgarten

DER FREIBURGER KÜNSTLER PETER VOGEL HAT MIT SEINEN WERKEN ZUM SPIELEN ANIMIERT / IM MAI IST ER VERSTORBEN


LOLA MARSH

INDIE BOY

Universal Music Group

Eigenvertrieb

REMEMBER ROSES

INDIE BOY (EP)

DER SOUNDDRECK ... ... zum Popbeauftragten

Man kann es drehen und wenden wie man will: Pop ist mein Lieblingspalindrom. Popmusik ist mal so und mal so, aber ein Popbeauftragter ist eine Contradictio in adjecto oder einfach nur unnötig wie ein Kropf oder das neue Doppel­ album von Helene Fischer.

Zarte Romantik

Ab „Indie“ Disko

(tbr). Was für ein passender Titel für dieses Debütalbum: Yael Shoshana ­Cohen und Gil Landau haben mit „Remember Roses“ eine wunderbare Überschrift für ihre Songs gefunden. Songs, die oft zart und leicht wie Rosenblätter daherkommen, die romantisch und dezent nostalgisch sind, die wunderbar in den Frühsommer passen. Ganz unbekannt ist die Musik des Duos aus Tel Aviv nicht mehr. „You’re mine“ hat es bereits auf Spotify-Plays im zweistelligen Millionenbereich gebracht. Der spielerische Song beginnt ganz leicht mit Gitarre und Handclaps, die den Background zu Cohens harmonischer Stimme bilden, um dann in einen sehr sweeten Pop-Opener überzugehen. Es ist ein Muster, das sich durch viele der elf Tracks zieht: ein softer Start, oft nur mit sanft gezupften Akustikgitarren, wie bei „Bluebird“ oder „Stranger“, bevor dann ein lässiger Elektro-Beat einsetzt. Manch ein Stück, etwa das bereits bekannte „Wishing Girl“, ist dabei eine Spur zu poplastig geraten und droht in der Masse der radiotauglichen Songs unterzugehen. Schade. Denn nur einen Track später zeigt das Duo, dass es auch ganz anders kann: So ist etwa „She’s a rainbow“ ein theatraler Song, der alles andere als 0815 ist. Ein wunderbarer Erstling, perfekt als Soundtrack für romantische Sommerabende – auch ohne Rosengarten.

(tln). Schwarzer Hut, dunkle Brille, weißes Shirt. So elegant kommt Jona­ than Rietsche alias Indie Boy daher. Sieht nicht nach Indie aus. Und klingt nur bedingt so. Denn den Freiburger Popakademie-Studenten hat offenbar das Diskofieber gepackt. Auf seiner EP gibt der Sänger und Gitarrist Einblick ins neue Repertoire. Das geht in die Beine. Hochgetaktete Drums treiben verzerrte Riffs und die wiederum die Stimme des Boys. Der beweist auch in hohen Lagen Treffsicherheit, was so manches Damenherz springen lassen dürfte. Als Project Mojo gewann er mit Gitarrist Darius Lohmüller und Drummer Robin Birmele 2016 den Nachwuchscontest „Rampe“. Damals mit unverblümtem Indie-Gitarren-Pop. Dann der neue Name: Der Boy rückte sich mehr nach vorne. So klingen die drei – mit neuem Drummer – jetzt mehr nach Blitzlicht, Diskokugel und Tanzekstase. Textlich geht’s nachdenklich zu. Indie Boy fordert in „Stop Talking“ Funkstille, erzählt von Verlorenheit in „This is not your Party“ und frustrierten Momenten ohne seine Freunde („Friends“). Wenn er seine Leiden­ schaft lebt, ist aber alles „Beautiful“. Mit der neuen Platte ist er da auf gutem Wege. Releaseparty ist am 22. Juni bei der hKDM-Jam im Auditorium (ehemals Schmitz Katze).

Pop braucht keinen Beauftragten, ist kein Verwaltungsvorgang, keine Frage von Angebot und Nach­frage. Aber sollte der Gemeinderat in Freiburg nun unbedingt einen Popbeauftragten installieren wollen, dann kann dieses Amt ja wohl nur von der örtlichen Geschmackspolizei adäquat bekleidet werden – Ende der Durchsage. Ein Geschmacksbeauftragter wäre da wohl viel dringlicher, denn hier liegt doch am meisten im Argen. Nicht nur in Freiburg, nein, keinesfalls, einen Bundesgeschmacksbeauftragten fordern wir schon lange und stünden auch für diesen Posten zur Verfügung. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, entweder etwas ist gut oder eben schlecht, dazwischen gibt es nicht viel und so verhält es sich auch mit dem Popbeauftragten, ergo schlecht. Wo kommen wir denn hin oder sind wir schon irgendwo, wo wir gar nicht hin wollten. Geschmacksverirrungen allerorten, gerade der Sommer bietet da allein optisch schon so einiges, ganz zu schweigen vom Klassiker „Sandale an weißer Socke mit Dreiviertelhosenbeilage“. Zurück zum Pop. Wir beauftragen hiermit uns, die Geschmacks­polizei, den Popbeauftragten zu benennen, ihn auf Geist und Geschmack zu prüfen und bei Nicht­eignung auch sofort wieder vor die Tür zu setzen und den Scheiß dann selber zu machen. Punkt.

PoPulistisch, für Ihre Geschmackspolizei Freiburg, Ralf Welteroth


MUSIK

Eucalypdos .7. spielt am 10 F M Z auf dem

Jammen zwischen Schamanen FREIBURGER GITARRENDUO TOURT NEUN MONATE DURCH SÜDAMERIKA

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von Till Neumann

Auf und davon: Bendedikt Grundberger (links) und Frederik Schmid haben in Peru Konzerte gespielt und an Songs gefeilt. Und dabei jede Menge Abenteuer erlebt.

58 CHILLI CULTUR.ZEIT JUNI 2017

benteuer mit dem Bollerwagen: Das Gitarrenduo Eucalypdos ist im September nach Südamerika aufgebrochen. Für ihre Straßenmusik-Tournee hatten die zwei Freiburger Frederik Schmid (26) und Benedikt Grundberger (29) satte 80 Kilo Gepäck dabei – verstaut in einem Bollerwagen. Nach 9 Monaten und 40 Gigs landen sie nun wieder in Freiburg. Entkräftet, aber mit neuen Songs für ein ganzes Album. Der Plan war, keinen zu haben. Frederik Schmid und Benedikt Grundberger wollten einfach losziehen. Südamerika entdecken, Spanisch lernen, Musik machen. Im Gepäck: zwei Gitarren, eine Cajón-Trommel, Mikros, Stative, ein Verstärker, eine Kamera. Genug Technik für kleine Konzerte und ein mobiles Studio. So starteten sie im September nach Lima. Die ersten zwei Nächte waren in einer Jugendherberge gebucht. Der Rest komplett offen. „Wir hatten eine Wahnsinns-Anfangseuphorie, haben alles aufgesogen, sind in jedes Museum, zu jeder Sehenswürdigkeit“, schwärmt Schmid. Sie waren am Titicaca-

see, in der Ruinenstadt Machu Picchu, im Surferparadies Huanchaco. Sie jammten mit Einheimischen, drehten zwei Musikvideos, lernten Telenovela-Stars kennen. Sie strichen durch den Urwald, wurden spontan als Badehosenmodel gebucht und spielten als Headliner auf einem Neujahrs-Festival in den Anden. „Das war das abgefahrenste Konzert unserer Tour“, erzählt Grundberger. Wer eines der 500 Euro teuren Tickets fürs Heavenon-Earth-Festival hatte, tauchte mit Yoga, Saunagängen und Schamanen in spirituelle Sphären ab – die Südbadener als Headliner mittendrin. „Freiburg ist schon ziemlich eso (esoterisch), aber das ist ein Scheiß dagegen“, erinnert sich Schmid und lacht beim Skype-Interview aus Kolumbien. Sieben heilende Zeremonien versprach der Veranstalter – darunter Meditation, Blumenbäder und eben Musik –, „krasser Shit“, wie der immer gut gelaunte Schmid es nennt. Am Ende hätten alle einen Kreis um Eucalypdos gebildet. Arm in Arm. In voller Trance. Die Singer-Songwriter-Gitarristen spielten ihren südländischen Indie-­ Pop. Wurden gefeiert.


REISEN Wie meditativ ihre Musik sein kann, zeigt das Video zum Instrumental-Stück „Balsam“. In der Abendsonne der peruanischen Küstenstadt Barranco sitzen sie Gitarre spielend auf Felsen, im Hintergrund rauscht das Meer, Möwen fliegen durch die Luft. Darunter die beiden, vertieft in ihre Kunst. „Medicinal Music“ nennen sie das. Rund 40 Konzerte haben sie gespielt. Mal auf der Straße, mal in einem Club, mal in Bars. Gute Locations zu finden, war gar nicht so einfach. An den Tourispots seien oft Bands gewünscht worden, die Bon Jovi oder „Wind of Change“ covern. Und vor mittellosen Indios auf Hut zu spielen, schmeckte ihnen auch nicht so recht. Also blieb mehr Zeit zum Komponieren. „Wir haben wahnsinnig viel geschrieben“, erzählt Grundberger. Genügend Songs für ein Album seien entstanden – und sollen nun in Deutschland aufgenommen werden. Gleich sieben neue südamerikanische Instrumente haben sie dafür im Gepäck. Sieben Monate waren sie in Peru. Drei in Kolumbien. Mit 9000 Euro haben sie das Ganze finanziert. Zurück in Freiburg sind sie seit dem 10. Juni. Früher als geplant.

Ein Dieb beklaut sie, doch das Wichtigste ist noch da

Fotos: © facebook/eucalypdos

Ursprünglich wollten sie nach einem Jahr Bilanz ziehen, jetzt haben sie nach neun Monaten die Zelte abgebrochen. Warum so früh? „Wir haben gefühlt alle Ziele erreicht“, sagt Schmid. Sie hätten Spanisch gelernt, Songs geschrieben, Shows gespielt. Zudem sei die Anfangs­ euphorie verflogen. Unter anderem auch, weil sie bestohlen wurden. Ein Dieb klaute ihnen unter anderem ein Handy, einen Laptop und die Kamera. „Das Wichtigste haben wir aber noch: die Kompositionen“, sagt Grundberger und lacht. Den Optimismus kann ihnen keiner nehmen. Dabei kam’s noch dicker. Schmid bekam Dschungel­ fieber und hatte einen Parasiten. Vierzehn Kilo verlor er dadurch. Dank Sonne und südamerikanischer Lebensfreude sei jedoch auch das überstanden. In Freiburg wollen sie sich nun erst mal gründlich durchchecken lassen – und freuen sich auf ein kühles Bier auf dem Balkon.

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KINO

Im Netz der Liebe GROSSES GUTE-LAUNE-KINO MIT PIERRE RICHARD IN EINER „MÉNAGE-À-TROIS“-KOMÖDIE

Monsieur Pierre geht online Deutschland, Frankreich, Belgien 2017 Regie: Stéphane Robelin Mit: Pierre Richard, Yaniss Lespert, Fanny Valette u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 99 Minuten Start: 22. Juni 2017

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er kennt ihn nicht, den genialen Komödianten und Grandseigneur des französischen Films: Pierre Richard. Bereits in den 1970er Jahren verzückte er in der Agentenkomödie „Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh“ sein Publikum auf kaum zu übertreffende Weise mit seinem Charme und Witz und rührte uns mit seiner Situationskomik zu Tränen. Nun ist Richard wieder auf die Leinwand zurückgekehrt, als verwitweter Rentner Pierre, der sein tristes Leben als Griesgram in einer Pariser Wohnung bei Dosenravioli und den alten Filmaufnahmen seiner verstorbenen Frau Madeleine fristet. Das ist jedoch seiner Tochter Sylvie ein Dorn im Auge. Sie will ihren zunehmend verwahrlosenden, greisen Vater wieder ins Leben zurückholen, mittels Internet. Zumindest virtuell könnte Pierre doch endlich wieder einen Fuß vor die Tür setzen und zurück ins Leben finden. Da hat sie eine Idee: Alex, ein junger, erfolgloser Schriftsteller und der neue Freund ihrer Tochter Juliette, soll sich nützlich machen und dem alten Herrn Computerunterricht erteilen. Sylvie erhofft sich, dass sie dann mit ihrem Vater skypen könnte, außerdem kann sich Alex so nützlich machen und ein Taschengeld dazuverdienen. Der Freund der Tochter wird als Internetlehrer vorgestellt. Pierre ahnt nichts von der Beziehung seiner Enkelin zu dem jungen Mann. Das soll auch so bleiben, denn Pierre hängt sehr am Exfreund von Juliette. Das ungewöhnliche Lernduo tut sich anfangs schwer miteinander, aber nach kurzer Zeit macht Pierre Fortschritte mit seinem neuen digitalen Spielzeug. Es dauert nicht lange, bis er in einem Datingportal landet. Beim Erstellen seines eigenen Profils wird unwesentlich geschummelt: er nennt sich Pierrot98, Geburtsdatum

Foto: © Neue Visionen

1984. Auf einer Datingseite stolpert er über das Profil der jungen flora63. Die hübsche 31-jährige Physiotherapeutin, die ihn sehr an seine geliebte Frau Madeleine erinnert, erobert er im Nu – mit seiner stilvollen, charmanten Art zu korrespondieren. Es dauert nicht lange, da schlägt Flora ein erstes Treffen vor. Einen Haken hat die Geschichte allerdings: Pierre hat ein Foto von Alex als Profil­bild online gestellt. Damit die Romanze nicht auffliegt und somit auch endet, muss Alex sich mit der jungen Frau treffen. Pierre will zu diesem Rendezvous im fernen Brüssel allerdings mitkommen und Alex nicht aus den Augen lassen. Eine verzwickte, ungewöhnlich schräge Dreierbeziehung beginnt. Immer wieder endet die Story in köstlichen Missverständnissen. Vor allem Sylvie und Juliette sind mehr als skeptisch über diesen zweiten Frühling des (Groß)Vaters und misstrauen der Lage. Und auch Alex’ Doppelleben droht jeden Moment zu kippen ... Regisseur Stéphane Robelin sorgt mit „Monsieur Pierre geht online“ erneut für einen Gute-Laune-Film jenseits aller Altersgrenzen. Nach dem Film „Und wenn wir alle zusammenziehen?“ punktet dieses herrliche Lustspiel erneut mit jeder Menge unverbrauchter Pointen. Die saloppe Erzählweise sorgt für Lach-Tiraden in dieser hinreißenden Komödie der Irrungen. Michaela Moser


KINO DER WUNDERBARE GARTEN DER BELLA B.

INNEN LEBEN

SOMMERFEST

Foto: © NFP

Foto: © Weltkino

Foto: © X-Verleih

Großbritannien 2016 Regie: Simon Aboud Mit: Jessica Brown Findlay, Tom Wilkinson, Andrew Scott u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 101 Minuten Start: 15.6.2017

Belgien / Frankreich / Libanon 2017 Regie: Philippe van Leeuw Mit: Hiam Abbass, Diamand Abboud u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 85 Minuten Start: 22.6.2017

Deutschland 2017 Regie: Sönke Wortmann Mit: Lucas Gregorowicz, Anna Bederke u.a. Verleih: X-Verleih Laufzeit: 92 Minuten Start: 29.6.2017

Heilungsort für Neurosen

Die Schrecken des Kriegs

Jugendliebe im Revier

(ewei). Bella Brown ist einsam. Sie leidet unter Zwangsneurosen, lässt niemanden in ihr kleines gemietetes Vorstadthäuschen, in dem immer alles akribisch aufgeräumt, jeder Gegenstand an seinem Platz ist; selbst die Mahlzeiten, die sie sich aus penibel gestapelten Dosen zubereitet, sind stets nach dem gleichen Muster symmetrisch auf dem Teller arrangiert. Sie hält sich nur in dieser überschaubaren Welt aus, in der es für jeden Tag eine Zahnbürste gibt, in der ihre Kleider in exakt bemessenem Abstand und nach Farben geordnet im Schrank hängen – an lauter gleichen Bügeln. Ihr Kontakt mit der äußeren Welt beschränkt sich auf seltene Vorratseinkäufe in übersichtlichen Geschäften – und auf ihre tägliche Arbeit in einer wohlgeordneten Bücherei. Den verwahrlosten Hausgarten meidet sie: Die Unvorhersehbarkeit der Natur macht ihr Angst, bedroht ihre Sicherheit, ja, ihr Leben. Doch dann wird dieser Garten zum Ort ihrer Heilung, dem Ort, an dem sie leben lernt. Und lieben. Fantastisch!

(ewei). Oum Yazan hat sich mit ihrer Familie und ein paar Nachbarn in ihrer noch unbeschädigten Wohnung in einem Mietshaus in Damaskus verschanzt. Draußen wütet der Krieg, lauern Scharfschützen, explodieren Sprengsätze. Verzweifelt versucht die resolute Frau, den Familienalltag aufrechtzuerhalten, ihren Nächsten einen sicheren Hafen zu bieten, das Dröhnen der Bomben und Maschinengewehre auszublenden. Es gelingt ihr nicht: Die Einschläge kommen näher; die Beschaffung von Wasser und Lebensmitteln ist lebensgefährlich, einer der Bewohner wird niedergeschossen, als er den Hof überquert. Aus der oberen Etage sind die Schritte von Plünderern zu hören, zwei Männer verschaffen sich über den Balkon Zugang zur verbarrikadierten Wohnung. Die Bewohner schließen sich in der Küche ein. Und werden in Todesangst Zeugen der fürchterlichen Geschehnisse vor der Tür. Ein bestürzendes und eindringliches Plädoyer für ein kriegsfreies Leben; Publikumspreis der Sektion Panorama bei der Berlinale 2017.

(ewei). Stefan ist ein ziemlich mittelmäßiger Schauspieler: Im Münchner Theater hat er es nie über Nebenrollen hinausgebracht, erwartungsgemäß wurde sein Vertrag nicht verlängert. Zwar hat er eine Einladung zum Casting für eine TV-Vorabendserie, doch eigentlich keine Lust auf Soap. Auch im echten Leben nicht, auch wenn ihm das noch nicht klar ist, als er Hals über Kopf nach Bochum fährt. Nach Hause. Als ihn nämlich nach seinem letzten Auftritt die Nachricht vom plötzlichen Tod seines Vaters erreicht, stürzt er in den nächsten Zug in die Stadt, die er vor zehn Jahren verlassen hat. Und trifft dort nach und nach all die fertigen, schrulligen, chaotischen, vor allem aber herzlichen und liebenswerten Leute wieder, die zu seinem damaligen Leben in der Bergmannssiedlung gehörten. Und wird von allen gefragt, ob man ihn als Schauspieler kennen muss. Und wie Veronica Ferres denn privat so sei. Und ob er schon Charlie angerufen habe. Ein köstlicher Film über Heimat, Ruhrpott und (Jugend)Liebe.


KINO EIN CHANSON FÜR DICH

AUF DER ANDEREN SEITE IST DAS GRAS VIEL GRÜNER

Foto: © Nachweis

Belgien / Luxemburg / Frankreich 2016 Regie: Bavo Defurne Mit: Isabelle Huppert, Kévin Azais u.a. Verleih: Alamode Laufzeit: 90 Minuten Start: 6.7.2017

Foto: © NFP

Deutschland 2016 Regie: Pepe Danquart Mit: Jessica Schwarz, Judy Winter u.a.

Verleih: NFP Laufzeit: 100 Minuten Start: 13.7.2017

Vom Fließband zur Bühne

Ereignisreicher Ausflug in eine Zwischenwelt

(ewei). Liliane lebt ein gleichförmiges Leben: Tag für Tag arbeitet sie in einer Wurstfabrik, garniert und verpackt dort apathisch die für die Feinkost­ abteilungen der Supermärkte in ganz Frankreich bestimmten Pas­teten. Abend für Abend zappt sie sich in ihrer bescheidenen Wohnung durch die Fernsehprogramme. Und trinkt. In der Betriebskantine sitzt sie meist allein am Tisch. Bis sich der junge Aushilfsarbeiter Jean zu ihr gesellt – und eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Sängerin Laura feststellt, die vor etwa 20 Jahren beim Grand Prix d’Euro­ vision de la Chanson für Frankreich sang. Und keinen Erfolg hatte. Und danach völlig in Vergessenheit geriet. Sein Vater, sagt er ihr, habe damals für sie geschwärmt – zum Missfallen seiner eifersüchtigen Mutter. Liliane will nichts mehr mit Laura zu tun haben, lässt sich dennoch zu einem einmaligen Auftritt beim Sommerfest bei Jeans Boxverein überreden. Mit unabsehbaren Folgen. Isabelle Huppert überzeugt auch ungeschminkt und mit Haarnetz.

(ewei). Pepe Danquart bringt wieder eine Literaturverfilmung in die Kinos. Doch anders als bei Uri Orlevs „Lauf Junge lauf“ (2013) handelt es sich dabei um eine Romantik-Komödie, ein für ihn eher ungewöhnliches Genre: Bisher hat der Filmemacher, dessen Karriere in der Freiburger Medienwerkstatt begann, vorwiegend Dokus gedreht, hat mit Sportfilmen wie „Höllentour“ oder „Am Limit“ von sich reden gemacht. Und natürlich mit dem Kurzfilm „Schwarzfahrer“, für den er 1994 den Oscar gewann. „Auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner“ heißt die auf dem gleichnamigen Roman von Kerstin Gier beruhende Geschichte, die der Regisseur in knapp vier Wochen in Frankfurt und Umgebung drehte. Und man merkt dem Film nicht an, dass Danquart sich dabei auf Neuland bewegte: Routiniert, mit guten Ideen, einem unverstellten Blick fürs Detail und mit einem in bester Spiellaune agierenden Team hat er einen überraschend witzigen Streifen produziert, der einige Tiefen und Untiefen zwi-

schenmenschlicher Beziehungen aus­lotet, ohne sie jedoch zu bewerten oder unter die Gürtellinie zu gehen. Es ist die Geschichte der Agenturangestellten Kati, die nach einer Blinddarmoperation aus der Klinik flieht und dabei aus Schusseligkeit den Arzt Felix über den Haufen fährt – und sich rasend und rasend schnell in ihn verliebt. Und er sich gleichermaßen in sie. Sie werden zum Traumpaar – bis Felix Oberarzt wird, keine Zeit mehr für Kati hat und diese sich immer öfter bei ihrer sehr lebenserfahrenen Krankenhauszimmergenossin Frau Baronski (hinreißend: Judy Winter) ausweint. Und schließlich den charmanten Künstler Mathias kennenlernt, der mehr Augen und Aufmerksamkeit für sie hat als der Ehemann. Als sie vor der Entscheidung für oder gegen eine Affäre mit Mathias steht, hat sie einen Unfall, der sie um fünf Jahre ihrer Lebenszeit zurückversetzt – und in die gleiche Klinik, in der damals alles begann. Doch dieses Mal will sie nicht die gleichen Fehler machen, will selbst Schicksal spielen.


DVD LA LA LAND USA 2016 Regie: Damien Chazelle Mit: Ryan Gosling, Emma Stone u.a. Studio: Studiocanal Laufzeit: 127 Minuten Preis: ca. 14 Euro

EMBRACE

GLEISSENDES GLÜCK USA 2016 Regie: Taryn Brumfitt Dokumentarfilm Studio: TCF Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 10 Euro

Deutschland 2016 Regie: Sven Taddicken Mit: Martina Gedeck, Ulrich Tukur u.a. Studio: Wild Bunch Germany Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Himmelhoch jauchzend ...

Kreative Botschaften

Kämpfe mit Dämonen

(ewei). Er war der umjubelte Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Venedig 2016: Singend, tanzend und mit ganz großen Gefühlen auf der Leinwand erzählt er die Geschichte von zwei talentierten, aber unerkannten Künstlern, die versuchen, sich in der Glamourwelt Hollywoods zu behaupten. Mit Emma Stone und Ryan Gosling hat Damien Chazelle ein Traumpaar gefunden, das seine Vision lebhaft und emotional überzeugend zu verkörpern vermag – und mit unbändiger Spiellaune. Sechs Oscars 2017!

(ewei). Body-Image-Aktivistin Taryn Brumfitt geht auf Weltreise, um herauszufinden, warum so viele Frauen mit ihrem Körper unzufrieden sind. „Embrace“ ist ein mutiger Film, der sich für ein positiveres Körperbild einsetzt und sich als Plädoyer für mehr Selbstakzeptanz versteht. Er verkommt dabei aber nicht zum deprimierenden Tränendrücker oder gar zur versteckten Anleitung zum Abnehmen. Sondern vermittelt seine Botschaften unterhaltsam, frisch und mit Hilfe kreativer visueller Einfälle.

(ewei). Schon lange stellt sich Helene in schlaflosen Nächten die immer gleiche Frage danach, wie ihr das Glück abhanden kam – und was es eigentlich ist. Längst hat sie resigniert, erträgt auch die unglückliche Ehe mit Christoph. Bis sie eine Radiosendung des Lebensberaters Eduard E. Gluck hört, von seiner Glückstheorie hingerissen ist, auf Erlösung hofft und Kontakt zu ihm aufnimmt. Doch als sie sich nahe kommen, bemerkt sie, dass er mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat.

DIE HABENICHTSE Deutschland 2016 Regie: Florian Hoffmeister Mit: Julia Jentsch, Sebastian Zimmler u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 104 Minuten Preis: ca. 18 Euro

BARON NOIR Frankreich 2016 Regie: Ziad Doueiri Mit: Kad Merad, Niels Arestrup u. a. Studio: Studiocanal komplette erste Staffel, 3 DVDs Preis: ca. 18 Euro

THE SALESMAN Iran / Frankreich 2016 Regie: Ashgar Farhadi Mit: Shahab Hosseini, Taraneh Alidoosti u.a. Studio: Prokino/Eurovideo Laufzeit: 119 Minuten Preis: ca. 16 Euro

Aus dem Gleichgewicht

Schatten im Politikgeschäft

Verhängnisvolles Vertrauen

(ewei). Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 markiert eine Zäsur im Leben von Jakob und Isabelle, die einst in Freiburg zusammen studierten und sich nach vielen Jahren gerade erst wiedergefunden haben: Dort stirbt ein gemeinsamer Freund, der bei einer Geschäftsreise für Jakob einsprang. Eine ungewöhnlich starke Verfilmung von Katharina Hackers gleichnamigem, mit dem deutschen Buchpreis prämierten Roman über die Beeinträchtigung des Privaten durch das Weltgeschehen.

(ewei). Die Präsidentenwahl in Frankreich ist gelaufen; der umjubelte Sieger zum Tagesgeschäft übergegangen. Im Vorfeld der Wahl gab es im französischen Fernsehen die von Kritikern hochgelobte Politserie „Baron Noir“, in der es um unsaubere Finanzdeals, Machtmissbrauch, Verrat, vernichtete Karrieren, Racheaktionen und ganz und gar kriminelle Machenschaften geht. Die erste Staffel dieser hochkarätig besetzten Serie ist nun in synchronisierter Fassung auf DVD zu haben. Sehr spannend!

(ewei). Als Emad und Rana ihre Wohnung in Teheran wegen akuter Einsturzgefahr verlassen müssen, stellt ihnen ein Bekannter eine leerstehende Wohnung zur Verfügung. Als Rana im Badezimmer von einem Unbekannten überrascht wird, erfahren sie, dass die Vormieterin außer persönlicher Habe auch einen zweifelhaften Ruf hinterlassen hat. Das junge Paar verstrickt sich in ein Geflecht aus Scham und Schuldzuweisungen, an dem es zu zerbrechen droht. Oscar 2017 als bester fremdsprachiger Film. JUNI 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 63


LITERATUR

Mittlerin zwischen den Sprachen RAGNI MARIA GSCHWEND MUSS ZUWEILEN AM TEXT REGELRECHT ACKERN

von Erika Weisser

Verfahren eingestellt von Claudio Magris Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend Hanser 2017 398 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro

Lesung mit Ragni Maria Gschwend Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr Stadtbibliothek Freiburg, Münsterplatz 17 In der Reihe „Freiburger Andruck“

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Zwei Extrembeispiele menschenverach­ tenden Handelns – der Handel mit versklavten Schwarzafrikanern und die Vernichtung jüdischer Europäer – sind die wesentlichen Komponenten des wort- und bildgewaltigen Epos. Und sie vereinen sich in einer der beiden Hauptfiguren: in Luisa Brooks, der Tochter einer italienischen Holocaust-Überlebenden und eines afro­ amerikanischen Besatzungssoldaten. Sie, die mit Namen und als Ich-Person auftritt, setzt das Erbe des zweiten Hauptprotagonisten um, der indessen nur als „Er“ in Erscheinung tritt. Den aber, im Gegensatz zu Luisa, gab es wirklich: Diego de Henriquez, der in Magris’ Heimatstadt Triest ein „Kriegsmuseum im Dienste des Friedens“ einrichten wollte, dann aber bei einem mysteriösen Brand ums Leben kam. In den Flammen gingen offenbar auch die Notizbücher Henriquez’ verloren. Darin hatte er Namen notiert, die Häftlinge der Risiera di San Sabba in eine Wand dieses einzigen, nahe Triest gelegenen NS-Konzentrationslagers in Italien geritzt hatten und die nach der Räumung des Lagers gekalkt worden waren: die Namen von italienischen Denunzianten, Kollaborateuren, Henkern und Geschäftemachern. Diese Namensliste, die Unmöglichkeit, den Namensträgern den Prozess zu machen, bildet den roten Faden durch das Buch. Das besagte Museum gibt es inzwischen wirklich, sagt Ragni Maria Gschwend und zeigt ihre Eintrittskarte. Im September

2015, als sie mit der Übersetzung von „Non luogo a procedere“ begann, hatte sie es besucht. Die 81-Jährige, die seit etwa 50 Jahren mit großem Engagement als „Mittlerin zwischen den Sprachen“ tätig ist, reist „immer, wenn es sich einrichten lässt“, zu den Originalschauplätzen. Durch die Anschauung, so ihre Erfahrung, kann sie Details besser einordnen, hat sie Bilder vor Augen, die ihr die Arbeit fließender machen. Foto: © Erika Weisser

D

ie für ihre Arbeit vielfach prämierte literarische Freiburger Übersetzerin Ragni Maria Gschwend hat gerade ein Buch vom Italienischen ins Deutsche übertragen, das nicht eben zur leichten Sommerlektüre zählt. Im Gegenteil: Der Roman „Verfahren eingestellt“ von Claudio Magris ist ein schweres und schwer verdauliches, vielschichtiges Werk, das einige der dunkelsten Epochen der Menschheitsgeschichte zum Thema hat.

„Verfahren eingestellt“: Ragni Maria Gschwend hat das wort- und bildgewaltige Epos übersetzt.

Dennoch muss sie manchmal „regelrecht ackern an einem Text“. Da sie es mit der Übersetzung sehr genau nimmt und sich nicht nur in der Interpretation von Sprache und Schreibstil, sondern auch bezüglich historischer Fakten sicher sein will, recherchiert sie viel – und ist froh, dass dies mit den modernen Medien so unkompliziert geht. In der Zusammenarbeit mit Claudio Magris hat sie zudem das „große Glück“, dass er fließend deutsch spricht und deshalb ihre Übersetzungen beurteilen kann: Der Autor, der auch in Freiburg studierte, war Germanistik-Professor an der Universität Triest. Er wisse außerdem, was es bedeutet, seine komplexen Werke in eine andere Sprache zu übertragen. Und er achte ihre Arbeit sehr: So habe er unlängst, bei einer Lesung in München, nur das Original als sein Werk bezeichnet, die Übersetzung hingegen als ihres. Das hat sie „natürlich sehr gefreut und geehrt“.


FREZI

MEINE GESCHICHTE OHNE DICH

DIE PHILOSOPHIE DES GÄRTNERNS

TRIADENSPIEL

von Gonzalo Torné aus dem Spanischen von Petra Strien Verlag: DVA, München, 2017 380 Seiten, gebunden Preis: 21,99 Euro

von Blanca Stolz (Hg.) Verlag: mairisch Verlag, 2017 224 Seiten, gebunden Preis: 18,90 Euro

Das Glück, es wohnt woanders

Lust am Buddeln und Zupfen

Realpolitische Fiktion

(dob). Was soll Joan-Marc auch machen? Zwei Ehen sind kaputt, das Geld ist knapp, das Leben als Mittvierziger in einem krisengeschüttelten Land ist mehr als lausig, die Freunde von früher, die man via Facebook ausgegraben hat, sind auch nur verkrachte Existenzen. Und der Versöhnungssex, den er mit seiner ersten Frau – einer einst umwerfenden, dann aber in Suff und Melancholie abgedrifteten US-Amerikanerin – praktizieren wollte, gerät auch zur Farce. Gonzalo Torné, 1976 in Barcelona geboren, übt in seinem dritten, dem ersten auf Deutsch vorliegenden Roman „Meine Geschichte ohne dich“ scharfe Kritik an der katalanischen Bourgeoisie, erforscht seelische Abgründe und seziert männliche Befind­ lichkeiten – ohne dem Selbstmitleid zu verfallen. Das spanische Feuilleton hat das 2013 unter dem Namen „Divorcio en el Aire“ erschienene Buch gefeiert als kompromissloses Plädoyer gegen die Institution der Ehe. Es ist mehr als das. Auf 380 Seiten nimmt uns Torné, der in seiner Heimatstadt Philosophie studierte, in Spanien zahlreiche Preise erhielt und bei renommierten Verlagen arbeitete, mit auf eine feinsinnig komponierte Reise zwischen Rausch und Lebensüberdruss. Es ist ein nüchtern-gefasster Abgesang auf die Hoffnung. Es ist große Literatur, wenn auch nicht immer erbaulich.

(tbr). Spontane Assoziationen zum Thema „Garten“: Bäume. Blumen. Rasen. Wer selbst einen hat, dem fallen vielleicht noch Begriffe wie „Arbeit“ oder „Erholung“ ein. Aber wer hat sich schon mal Gedanken über die Metaphysik des Gartens gemacht? Darüber, welche Rolle „Race, Class und Gender“ beim Gärtnern spielen? Oder wie sich mit Urbaner Permakultur die Probleme der Welt lösen lassen? In „Die Philosophie des Gärtnerns“ legen zwölf Autoren ihre Sicht auf das Gärtnern dar – sei es aus kultureller, politischer, soziologischer oder ästhetischer Sicht. Manche Beiträge behalten das große Ganze im Auge: So ist sich etwa die Autorin Sarah Thelen sicher, dass man beim Gärtnern sein Verhältnis zur Welt ausdrückt. Andere Texte gehen ins Detail, wie das „Plädoyer fürs Unkraut“ der Agrarwissenschaftlerin Brunhilde Bross-Burkhardt oder der Blick auf die Gartenschauen als „Inszenierung des Urbanen Grüns“ der Historikerin Kristina Vagt. Und so reicht auch die Bandbreite von richtig schwerer Kost bis hin zu humorvollen, leichten Lesestückchen. Von den Theorien Platons, Kants oder Hegels bis hin zu Skurrilem aus dem Schrebergarten. Eine – gerade wegen dieser Vielfalt – lesenswerte Anthologie, ausgezeichnet mit dem Deutschen Gartenbuchpreis.

(ewei). Der chinesische InformatikStudent Wang Yuhai wird in seinem WG-Zimmer nahe der Westarkaden tot aufgefunden. Stranguliert und mit merkwürdigen Hautritzungen auf der Brust. Der mit dem Fall betraute Hauptkommissar Grabowski steht vor einem Rätsel: Es gibt kaum Spuren, Wang schien keine näheren Kontakte gepflegt zu haben, die im Smartphone gespeicherten Daten helfen nicht weiter. Die einzige Gewissheit: Der Vater des Toten ist ein Vizeminister in China. Widerwillig und ein wenig umständlich macht Grabowski sich an die Ermittlungen; mit der Hilfe eines zwar geschwätzigen, doch mit den inneren Verhältnissen des Landes bestens vertrauten Sinologie-­ Professors und eines aufgeweckten Übersetzers findet er dann doch einige Zusammenhänge heraus, kann den Fall schließlich aufklären. Volkmar Braunbehrens geht es auch in seinem zweiten Freiburg-­ Krimi weniger um einen spektakulären Plot. Er gibt Einblicke ins Wesen und Funktionieren des chinesischen Staatsapparats und baut seine handfesten Informationen über Machtmissbrauch, Korruption, illegale Geldtransfers und geheime Triaden mit mafiösen Strukturen so geschickt in die fiktive Handlung ein, dass diese sich zu einem fesselnden realpolitischen Roman verdichtet, der weit über einen gewöhnlichen Krimi hinausgeht.

von Volkmar Braunbehrens Verlag: Gmeiner, 2017 412 Seiten, Paperback Preis: 16 Euro

JUNI 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 65


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