chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 10/18 8. Jahrgang

Strohmann & Kauz

Idil Nuna Baydar

Hans Well & die Wellbappn

Uta Köbernick

22.1.–3.2.2019

Friedemann Weise

Junge Junge

Alte Mädchen

Marc Weide

Leinwand

Bühne

Politik

Snowboard-Freaks drehen Potatoheads

Die groSSe Welt der Kleinkunst in Freiburg

Bürgermeister von Kirchbach im Interview


Kultur

Kein blaues Auge Interview mit Kultur-Bürgermeister Ulrich von Kirchbach

F Foto: © bar

reiburgs Kultur- und Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach ist im Januar vom Gemeinderat in seine dritte Amtszeit gewählt worden. „Das war für mich persönlich das emotional stärkste Ereignis des Jahres, eine Bestätigung meiner Arbeit“, sagt der Sozialdemokrat. Spricht aber auch über Intensivtäter, harte Verhandlungen und das 900-Jahr-Jubiläum.

Freut sich auf 2020: Ulrich von Kirchbach.

cultur.zeit: Herr von Kirchbach, inwiefern haben der durch einen Flüchtling verübte Sexualmord an einer Studentin und die Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen durch mehrheitlich Syrer Einfluss auf die Arbeit als Integrations-Bürgermeister? von Kirchbach: Zum Glück müssen wir derzeit kein neues Flüchtlingsheim bauen. Das subjektive Sicherheitsgefühl hat gelitten, die Integration der hier lebenden Flüchtlinge (insgesamt mehr als 5000, d. Red.) aber nicht, weil die meisten Freiburger unterscheiden können. Die meisten Flüchtlinge fallen nicht auf. Es gibt aber eine kleine Anzahl von Intensivtätern, die nicht integrierbar sind, die das Bild von Freiburg in der Öffentlichkeit kaputtmachen.

von Lars Bargmann cultur.zeit: Bundesweite Schlagzeilen erhoffen Sie sich auch 2020 bei der 900-Jahr-Feier. Wie bewerten Sie den bisherigen Projektstand, der angedachte Dreisam-Boulevard ist zu teuer, sagen die einen, es fehle eine Leitidee die anderen ... von Kirchbach: Wir alle werden nur einmal im Leben so ein Jubiläum erleben. Das sollte jeden begeistern. Leitmotive heißen mal so und mal anders, das brauchen wir nicht. Der Boulevard ist an sich eine gute Idee, aber nicht im Festjahr, weil eine gesperrte B31 hier und im Umland Ärger auslöst. Wir müssen pragmatisch rangehen und ein Fest mit einem festen Budget von drei Millionen Euro organisieren, für alle Freiburger. Beim Projektleiter Holger Thiemann liegen 460 Projektanträge, die 15 Millionen Euro kosten und 8,7 Millionen Zuschussbedarf haben. Da wir dafür aber nur 1,5 Millionen haben, versuchen wir, Sponsorengelder zu bekommen. So planen wir etwa eine Kampagne, bei der 900 Bürger je 900 Euro bringen könnten. cultur.zeit: Was will Freiburg vermitteln? von Kirchbach: Wir wollen die Vielfalt unserer Stadt feiern. Unsere Vergangenheit darstellen, die Gegenwart, die Zukunft. Die europäische Idee spielt eine zentrale Rolle, deswegen sprechen wir mit unseren französischen und Schweizer Nachbarn. Die Vielfalt muss auch von der Bürgerschaft kommen, von den Vereinen, von den Stadtteilen und Ortschaften.

haushalts. Von 340 Millionen Euro, die die Dezernenten neu angemeldet hatten, mussten mehr als 100 Millionen verschoben werden. Wie schmerzhaft war das? von Kirchbach: Ein blaues Auge habe ich nicht. Die Punkte, die mir ganz wichtig sind, sind im Haushalt drin ... cultur.zeit: ... etwa? von Kirchbach: Der Ausbau der Quartiersarbeit, mehr Personal im Seniorenbüro, mehr Geld für kommunale Beschäftigungsprogramme, den Ausbau der Schul- und Jugendsozialarbeit. cultur.zeit: Und in der Kultur? von Kirchbach: Mittel für den letzten Bauabschnitt im Augustinermuseum, den Umzug des Stadtarchivs an die Messe und das neue „Haus der Demokratie“ mit dem NS-Dokumentationszentrum im Rotteckhaus. cultur.zeit: Steht die Entscheidung? von Kirchbach: Wir verhandeln derzeit mit dem Land, denn der Einzug der Landeszentrale für politische Bildung ist das A und O, weil das Haus für uns allein zu groß ist. Das wäre eine herausragende Kombination, die es so noch nicht gibt.

cultur.zeit: Wird es Bleibendes geben? von Kirchbach: Die Stiftungsverwaltung wird einen Spielplatz sponsern. Eine private Stiftung gibt 100.000 Euro für zwei inklusive Spielplätze.

cultur.zeit: Was ist die wichtigste Entscheidung, die 2019 bevorsteht? von Kirchbach: Der Bürgerentscheid über Dietenbach. Davon bin ich als Sozialbürgermeister am meisten betroffen. Wir brauchen in den nächsten 15, 20 Jahren 15.000 neue Wohnungen. Wir können nicht noch zehn Wohnheime für Bedürftige bauen, haben 3700 Menschen in der Notfallkartei für Wohnungssuchende. Wenn wir soziale Stadt bleiben wollen, führt kein Weg an Dietenbach vorbei.

cultur.zeit: Da ist noch Luft nach oben, anders als bei Einbringung des Doppel-

Das komplette Interview mit Ulrich von Kirchbach lesen Sie unter chilli-freiburg.de

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Bühne

Kontakthof der Kleinkunstszene Fotos: © Lieven Dirkx, André Wirsing, Haus am Gern, Ellen Schmaus

Die 31. IKF ist die Premiere für Susanne Göhner

Darfs ein bisschen bunter sein: Marana-Performance, umrahmt von Piegon on Piano und der Formation URHU.

V

orhang auf für die 31. Internationale Kulturbörse Freiburg (IKF) heißt es am 20. Januar, wenn die bedeutendste Kleinkunstmesse in Deutschland, der Schweiz und Österreich mit der traditionellen Opening-­ Gala ihre Pforten öffnet. Es ist die erste, die Susanne Göhner verantwortet, die den Job vom langjährigen Mister Kulturbörse Holger Thiemann geerbt hat. „So vielseitig wie die IKF ist nichts im deutschsprachigen Raum“, sagt die neue IKF-Chefin. Bei Göhners Premiere reisen 473 Künstler aus 36 Ländern an, 400 – teils zum Inventar zählende, teils neue – Aussteller aus 13 Nationen; 200 Liveauftritte auf fünf Bühnen gibt es fürs internationale Fachpublikum, fünf für jedermann (siehe Infobox). Es gibt Varieté und Straßentheater, Zirkus und Poetry-Slam, Comedy und Kabarett, Musik und Mimik, Artistik und Figurentheater, die drei Wettbewerbe (Darstellende Kunst, Musik und Straßentheater) um die Freiburger Leiter – und das kleinste Konzerthaus der Welt. Die IKF ist so etwas wie der Kontakthof der Szene: Hier finden Künstler Agenturen, Agenturen Veranstalter, Locations und Festivalmacher neue Typen, alte ­Hasen mit neuen Programmen und innovative Formate für ihre Bühnen. Zum Opening entern die vier Akkordeonisten

von Danças Ocultas, Martin Frank, Shootingstar der bayerischen Kabarett­ szene, die Luftkünstlerin llona Jäntti, die Poetry-Slammer Fatima Moumouni & Laurin Buser und der neuseeländische Slapsticker Trygve Wakenshaw die Bühne, auf der Timo Wopp pointiert und temporeich durchs Programm führt. Das Finale am 23. Januar ist dem Varieté vorbehalten: Acht internationale Solisten und Duos mit ungewöhnlichen, atemberaubenden Nummern entführen in eine Welt fernab des Alltags. Göhner will nicht gern verraten, was ihre persönlichen Highlights sind, aber Danças Ocultas zählen dazu, Ilona Jäntti, die Clownin Cris-is, Fabuloka – pardon, jetzt habe sie doch schon zu viel erzählt. Man merkt ihr an, dass sie sich selber schon auf die geballte Ladung freut, die den Besuchern Augen und Ohren verzaubern wird. Die IKF ist wie ein Fenster, in dem sich die aktuellen kulturellen Strömungen in der großen Kleinkunst in Europa spiegeln. Oder zumindest die, die sich in diesem Fenster zeigen wollen, sich beworben haben und von den drei Fachjurys ausgewählt wurden. Und wenn am späten Abend der letzte Vorhang fällt, dann wird sich Göhner mit ihrer kleinen Crew schon an die Planung für die Nummer 32 machen. Denn ein Jahr lang, so lange dauern die Vorbereitungen für die Börse. Bis der Vorhang wieder aufgeht. Lars Bargmann

Susanne Göhner

Info Open House Sonntag, 20.1., 20 Uhr: Eröffnungsgala im Theatersaal 1 Tickets ab 24/19 Euro Montag, 21.1., 20.30 Uhr: OZMA-Filmkonzert, Theatersaal 1 Tickets ab 15/13 Euro Dienstag, 22.1., 20 Uhr: Poetry Slam, Theatersaal 3 Tickets ab 14/12 Euro Dienstag, 22.1., 20 Uhr: Vocal Night, Music Hall Tickets ab 20/16 Euro Mittwoch, 23.1., 20 Uhr: Varieté-Abend im Theatersaal 2 Tickets ab 24/21 Tickets: www.reservix.de, noch mehr Info: kulturboerse.de

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Kultur

Schräges im Scheinwerferlicht Grenzenlos-Festival in Feierlaune

Z

von Stella Schewe

Jodeln wie die Yankees, ein kommunistisches Känguru und Geschichten aus dem Schwarzwald gehören zu den Highlights – präsentiert von Bea von Malchus, dem Figurentheater Marotte und Kabarettist Martin Wangler alias Fidelius Waldvogel (v.o.n.u.).

um 20. Mal geht im Januar das Freiburger Grenzenlos-Festival an den Start. Vom 20. Januar bis zum 3. Februar präsentieren das SWR-Studio Freiburg, das Vorderhaus und Vaddi Concerts gemeinsam ein schräg-schrilles Programm aus Kabarett, Comedy, Lesungen und Konzerten an unterschiedlichen Spielorten – Kleinkunst vom Feinsten, unterstützt von der Freiburg Wirtschaft, Touristik und Messe GmbH. „Hilfe, ich werde erwachsen!“, „Ich bin noch nicht fertig“ und „God save the Spleen“ – nicht nur diese Programmpunkte passen perfekt zum Festival, das zum 20. Mal Anlass zu grenzenlosem Vergnügen bietet. Ein Fall zum Feiern, finden die Macher, wie etwa Martin Wiedemann vom Vorderhaus: „20 Jahre, das ist schon eine Strecke.“ Gefeiert wird mit der bewährten Mischung aus „verstörend Irritierendem und Dingen, bei denen man sich entspannt zurücklehnen und gut unterhalten lassen kann“. Das Schräge habe man auf jeden Fall wieder entdeckt, verspricht er.

Fotos: © Britt Schilling, Veranstalter

Zum Jubiläum gibt’s 21-mal Kleinkunst vom Feinsten

Info 20. Freiburger Grenzenlos-Festival 20. Januar bis 3. Februar 2019 Karten: www.reservix.de Mehr Info: freiburg-grenzenlos-festival.de

Auftakt des Festivals ist erneut die „Opening Gala“ auf der Messe (siehe Seite 53), mit der gleichzeitig die 31. Internationale Kulturbörse Freiburg (IKF) eröffnet wird. Sie gab den Anstoß fürs Festival, das im Jahr 2000 erstmals an den Start ging: „Der Gedanke war, die Kulturbörse in die Stadt hineinzuholen“, erklärt die neue IKF-Chefin Susanne Göhner. Nur einige Highlights sind der Auftritt der Musik-Kabarettistin Uta Köbernick (26. Januar, Vorderhaus), die „noch nicht fertig“ ist und die Welt mit ihrem Programm nicht beschönigt, aber schöner macht; Singer-Songwriterin Pe Werner (2. Februar, SWR-Studio) nimmt das Publikum „Beflügelt von A nach Pe“ mit und das Figurentheater Marotte bringt „Die Känguru-­Chro­ niken“ auf die Bühne – ein ebenso bissig-­

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anarchischer wie liebevoll-ironischer Angriff auf die Lachmuskeln. Geburtstag gefeiert wird beim Frühschoppen am 27. Januar im SWR-Studio, für den Kabarettist Martin Wangler ein Fass Rothaus-Bier mitbringt und gleichzeitig als „Fidelius Waldvogel“ unterhält – eine Einladung der Festivalmacher, bei der Eintritt und Bier gleichermaßen frei sind. Für Klaus Gülker vom SWR-Studio ist es übrigens das letzte Festival, er geht im Februar in den Ruhestand, doch für den künftigen Studioleiter Christoph Ebner steht fest: „Wir sind wild entschlossen, das Festival weiterzuführen.“ Gute Nachrichten – auch in Zukunft wird das Schräge und Schrille in Freiburg seinen Platz haben. Das Grenzenlos-Festival mag erwachsen geworden sein, aber fertig ist es noch lange nicht.


Film

Fotos: © Max Wildenmann, Markus Männle

„Als wären wir lebensmüde“ Freiburger Snowboard-Crew filmt wahnwitzige Sprünge

L

ässige Musik, abenteuerliche Action, entspannte Jungs. Mit dem Konzept hat die Snowboard-Crew „Kartoffelpack“ gerade ihren sechsten Film herausgebracht. Der Streifen mischt halsbrecherische Moves mit Witz und Kartoffeln. Gedreht vor allem im Schwarzwald.

Mögen’s oldschool: Robert Wildenmann und sein Bruder Max (oben rechts) „Von außen sieht es aus, als seien wir lebensmüde“, sagt Robert Wildenmann. Der 29-jährige Filmemacher betont: „Das Risiko ist abschätzbar.“ Mit seinen Kollegen springt er über meterhohe Zäune, durch Strommasten oder von Häuserdächern. Mal geht’s knapp zwischen zwei Bäumen hindurch – oder frontal dagegen. „Manchmal übertreibt man es, dann passiert auch mal was.“ Doch alle Fahrer wüssten, wo ihre Grenzen liegen. „Wir sind

von Till Neumann gottfroh, dass es bisher keine schlimmen Verletzungen gab“, sagt Wildenmann. Zweimal sei es beim Dreh zuletzt knapp gewesen, Brüche kämen hin und wieder vor. Meist blieben aber nur blaue Flecken, Schrammen und Verrenkungen. Der Spaß macht das locker wett. Nur ein paar Minuten des 40-minütigen Streifens mit dem Titel „Potatoheads“ unterstreichen das: Es wird ­gejubelt, geschrien und gefeiert – gestandene Sprünge bekommen Szenenapplaus. Und der ist hart erarbeitet, wie Wildenmann berichtet. Die Crew fährt ausschließlich abseits von Pisten, aber ohne Helikopter oder Bullys wie in Profifilmen mit Riesenbudgets. Ihre Sets bieten dennoch spektakuläre Bilder. „Professionelle Ama­teu­re“ nennt sich die Crew. „Von zehn Sprüngen landet man im Tiefschnee meist nur einen für die Kamera“, sagt Wildenmann. Der Zeitaufwand ist enorm: 35 Drehtage stecken im Film. Unzählige Stunden verbringen die Fahrer mit dem Suchen der Spots, dem Bauen von Kickern (Schanzen) und dem Immer-wieder-Raufsteigen – denn Lifte gibt’s nicht. Neben atemberaubenden Landschaften bietet „Potatoheads“ auch ungewöhnliche Dreh­orte: Die Fahrer schippen Schnee in einen Hausflur, holen Schwung mit einem Gummiseil und springen aus der Balkontüre raus.

Die meisten der rund zehn Fahrer kommen aus Freiburg und Umgebung. Dreh- und Angelpunkt ist Robert Wildenmann. „Er kennt sich mittlerweile verdammt gut aus“, lobt sein Bruder Max, der für Kamera und Schnitt zuständig ist. „Robert hat ein

„Wir wollen keine Geldund Materialschlacht“ gutes Gespür, wo und wann wir Aufnahmen sammeln können. Er schaufelt auch mal wie ein Verrückter Spots, die er gar nicht fährt.“ Robert gibt das Lob zurück. Sein Bruder nehme sich zwei Wochen frei, um den Film zu schneiden. Das Video zeigt eine eingeschworene Crew, die auch mal einen Joint rollt oder Bier trinkt. „Wir wollen keine Geld- und Materialschlacht“, betont Robert Wildenmann. Das größte Kompliment für ihn sei das Prädikat: Der Film ist oldschool. Lacher sind garantiert. Nicht nur wegen der vielen halbierten Kartoffeln im Video, sondern auch wegen der Kommandos: Ist der Fahrer ready, ruft er „Kartoffel“. Der Kameramann bestätigt mit einem schallenden „Salat“.

Den Film gibt’s kostenlos auf grtsq.com

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Musik

FatCat

12 Tracks des Jahres

Otto Normal

chilli kürt Freiburgs beste Songs

W

er hat 2018 die besten Tracks der Stadt geliefert? Wer hat die schönste Stimme? Die dickste Bassline? Den ausgefeiltesten Text? Die chilli-Musikredaktion kürt zum zweiten Mal Freiburgs „12 Tracks des Jahres“. Neben den großen Bands haben es auch ein paar Newcomer ins Ranking geschafft.

Malaka Hostel Unduzo

Anhören Alle Soundfiles zum Nachhören gibt’s auf chilli-freiburg.de Juliaacoustic Duo

Otto Normal

Fotos: © Felix Groteloh, Promo, Desiree Weber, Sebastian Igel, Toby Krahl, Phillip Hinke, David Hulik, Fran Bale, Juliacoustic Duo

in Flammen Lange haben Otto Normal ihre Fans aufs Album warten lassen. Nach dem geplatzten Sony-Deal haben die Musiker im Mai 2018 geliefert: Ein Highlight ihrer Pop-Rap-Platte ist „In Flammen“. Ein politischer Song, der von NSU über Waffenindustrie bis zu Geflüchteten einmal durch die Knautschzonen der Welt brettert. Mit Gänsehaut-Beat, geschliffenen Vocals und der heiser gehauchten Hook von Lina Maly.

Malaka Hostel Made for Living Die Vagabunden der Freiburger Bandlandschaft sind 2018 durchgestartet. Ihren Style nennen sie Black Forest Neo Brass – ein Cocktail aus Ska, Polka, Balkan und Reggae. Im Headquarter in der Vauban brüten die selbsternannten Kojoten an Songs wie „Made for Living“. Allein schon wegen der Mundharmonika ist das weit weg vom Standard. Eine knallbunte Kapelle, die man nicht nicht mögen kann.

the deadnotes

Flecha Negra

Deadnotes

FatCat Candlelight Let’s get funky: Fatcat sind Freiburgs Nummer-EinsFunk-Kapelle. Die acht Musiker machen weit über Freiburg hinaus von sich reden. Zum Jahresende ist ihre Single „Candlelight“ erschienen: Sänger Kenny gibt den Schürzenjäger, der im Kerzenlicht rumknutschen will. Ein Track mit Gute-Laune-Garantie und einem Drama am Ende des Videos. Doch auch das schaukelt Kenny gekonnt, Musiker müssen eben improvisieren können.

Al Jawala Zykloop surfers

cling to you 2011 als Schulband entstanden, spielen Darius, Jakob und Yannic noch heute als the deadnotes. Für „Cling to You“ sind die drei Indie-Punker bis nach Leeds getingelt. Auch auf ihren Touren durch den Ostblock ist ihnen kein Weg zu weit. Was sie zu „Cling to you“ sagen? „In dem Song geht es darum, Glückseligkeit nicht durch den Kauf von materiellen Dingen zu erlangen – außer es ist Band-Merchandise.“ 64 chilli Cultur.zeit Dezember 2018 / Januar 2019

Die Veteranen der Freiburger Musikszene haben sich 2018 zurückgemeldet: Die Balkan-Beat-Truppe „Al Jawala“ schlägt mit dem Album „Lovers“ neue Töne an – Saxofonistin Stefanie singt jetzt. So auch in „Zykloop Surfers“. Eine lässige Gitarre trifft da auf griechische Klänge und indischen Groove. Multi-Kulti-Sound, der in die Beine geht – und so message-stark daherkommt wie nie. Sich treu bleiben, aber neu erfinden – die „Jawalas“ haben’s geschafft.


jahresrückblick Zweierpasch Fessengau

Qult

Bildung statt Bitches, Kultur statt Koks, Halbmast statt Habibi: Die Zwillinge Till und Felix stehen für Hip-Hop in Deutschland und Frankreich. Genau dazwischen liegt das AKW Fessenheim. Mehrfach wurde die Schließung des maroden Meilers versprochen. Die Region wartet noch heute darauf. Mit scharfer Zunge, Reimen und Reggeaeinflüssen rücken die Rapper dem Reaktor auf die rissige Pelle.

Flecha Negra Freiburg Girl Totengeläut Al Jawala

Die „Flechas“ haben dieses Jahr gleich zwei Mal das Jazzhaus gefüllt. Wer sie live gesehen hat, weiß, dass da die Hütte brennt. Mit ihrem Mestizo-Sound stehen sie für Vielfalt und Party. Zum Track „Freiburg Girl“ haben die Latino-Charmeure am Opfinger See performt. Eine Laidback-Reggae-Nummer zum Mitsingen. Wer kein Spanisch kann, hört trotzdem ein Freiburger Flüsschen raus.

Juliaacoustic Duo Michael Oertel Zweierpasch

Unduzo

Heart and Mind Mit ihrem sensiblen Zusammenspiel aus Gitarre, Gesang und Schlagzeug sowie dem Debütalbum „Sense“ sind die beiden Freiburger Julia und Felix dieses Jahr durch Deutschland gezogen. Höhepunkt der Akustik-Scheibe ist „Heart and Mind“. Mit verspielten Melodien und einfühlsamen Texten haben es die beiden Freunde damit auch auf die achte Ausgabe der Freiburg Tapes geschafft.

Liebeslied Die A-cappella-Formation Unduzo macht aus wenig viel: Fünf Stimmen formen eine Band. Die Sounds sind ausgefeilt, die Texte so alltagsnah, dass sich viele drin wiederfinden. Mit ihrem „Liebeslied“ haben die fünf einen Track rausgehauen mit simpler Botschaft: Dieses Lied hat uns alle gern. Im Video auf der längsten Couch der Welt entdeckt man aber doch ein Instrument. Und ein Huhn.

Totengeläut Ashes Die Sängerin Nogood Luna stimmt mit Produzent Björn Peng auf „Aleppo“ ernste Töne an und versucht, den syrischen Bürgerkrieg in Text und Ton zu fassen. Das Dark-Wave-Werk erzählt von zerstörten Krankenhäusern und zeichnet neben elektronisch reduzierten Arrangements starke und düstere Bilder. Das Album ist auch die Verarbeitung ihrer Eindrücke mit syrischen Kriegsgeflüchteten im türkischen Grenzgebiet.

Michael Oertel Band Loving Arms Ohne Millionenbudget, dafür mit einigen Freundschaftsdiensten und viel Wartezeit ist 2018 Michael Oertels Debütalbum „Soul Sailor“ erschienen und schlägt gleich Wellen. Der Mix aus Pop, Blues, Soul und Folk ist facettenreich, klingt nach viel Gefühl und musikalischem Knowhow. Ausgangspunkt seiner Karriere war eine Blechtrommel, die Michael vor fast 30 Jahren unterm Weihnachtsbaum fand.

Qult So viel mehr Ein Comeback hat auch Jens Gläsker gefeiert. Der Rapper war abgetaucht, jetzt ist er mit Band im Rücken gereift zurück. „So viel mehr“ heißt die erste Single, ein Track mit smoothem Beat und tiefen Einblicken in Höhen und Tiefen. Ein Rapper, der sich mit einer Kuckucksuhr vergleicht – das gibt’s nur im Schwarzwald. Dezember 2018 / Januar 2019 chilli Cultur.zeit 65


e n g a a n ... r F 4 Dirk Dietrich von ddd-music

The Matt Woosey Band

John Legend

Blues

Jazz

Live in Gallaghers Nest

A Legendary Christmas

Foto: © tln

„Rock ’n’ Roll ist tot“

Aus dem Nest

Jazzige Idylle

30 Jahre lang war das Musikgeschäft ddd-music in Freiburg eine Institution. Am 22. Dezember macht es dicht. Inhaber Dirk Dietrich (54) erzählt im Interview mit Till Neumann, warum der Laden zuletzt keinen Spaß mehr gemacht hat.

(tln). Dreimal war er für den britischen Blues-Award nominiert. Zehn Alben hat er veröffentlicht. Das jüngste Werk hat Matt Woosey in seiner neuen Heimat Ettenheim aufgenommen. Im Ortsteil Münch­ weier hat er mit seiner Frau ein kleines, feines Kulturzentrum aufgebaut: Gallaghers Nest. Wo regelmäßig Talente ihre Skills zeigen, hat der Brite im August selbst gespielt. Mit seiner Band lud er zum Live-Recording seiner Platte ein. Alle 90 Zuschauer sind mit Namen auf der Hülle verewigt. Mal laut und kratzig, mal sanft und einfühlsam spielen sich die fünf durchs Repertoire. Ob Woosey besser singt oder Gitarre spielt? Schwer zu sagen. Beides beherrscht der Lockenkopf auf hohem Level. Begleitet wird er vom Freiburger Michi Oertel, von Ralph Küker, Lukas Steinmeyer und Big Dave Small. Das Ergebnis ist eine runde Sache geworden. Doch voller Ecken und Kanten. Denn Schmerz und Leidenschaft sind stets zu spüren. Manchem mag das nicht poppig und trendy genug sein, zu sehr nach Musik für Erwachsene klingen. Spätestens wenn Woosey in „Little Red Rooster“ alle ­menschenerdenklichen Töne aus seiner Stimme kitzelt, reißt das aber auch die Nicht-Blues-Fans vom Hocker.

(tas). Entweder man liebt sie oder man hasst sie: Bei Weihnachtsliedern sind die Lager klar definiert. Während die einen „Last Christmas“ in Dauerschleife hören, bekommen die anderen schon beim Startakkord heftige Kopfschmerzen. John Legends „A Legendary Christmas“ könnte etwas für beide Extreme sein. Zugegeben: Ohne instrumentale Unterstützung von Glöckchen, Tamburin und Blockflöte kommt selbst der mit Emmy, Grammys, Oscar und Tony ausgezeichnete Sänger nicht aus. Und auch in den Texten lässt Legend pure Weihnachtsidylle aufkommen, wenn er von klingenden Silberglöckchen, über dem offenen Feuer röstenden Kastanien oder Schneeflocken in der Luft singt. Trotzdem ist seine Platte erfrischend anders: jazzig, lässig, wunderbar oldschool. Der Sänger und Songwriter versucht gar nicht erst, die Klassiker – von „Merry Merry Christmas“ bis „Please come home for Christmas“ – in ein modernes Mäntelchen zu kleiden. Stattdessen bleibt er der Originalstimmung treu. Dafür holt er sich sogar einen Originalinterpreten – Stevie Wonder – für den Opener an die Seite. Damit gelingt ihm nicht der ganz große Wurf, keine Platte mit Wow-Effekt, aber ein Weihnachtsalbum, an dem man sich nicht so schnell satthört.

Herr Dietrich, warum schließen Sie? Das Aus hat sich über Jahre abgezeichnet. Früher war das eine spannende, ja erotische Branche. Heute geht es immer weniger um das Produkt, sondern vor allem um Businesspläne und Online-Preiskämpfe. Das ist unerotisch geworden. Der Ladenverkauf ist schwierig? Ja. Die Margen als Einzelhändler schwinden. Der Job macht mir aus mehreren Gründen sukzessive weniger als keinen Spaß mehr. Pleite bin ich entgegen mancher Gerüchte aber ganz und gar nicht. Für die Schließung gibt’s zwei Primärfaktoren: die Lieferanten und eine „Amazonisierung“. Wo genau klemmt es? Immer mehr Hersteller bieten ihren Plunder auf ihrer Seite oder bei Amazon an. Am gleichen Tag wollen sie dir die Hütte vollstellen. Dabei gibt’s die Sachen anderswo 10 bis 20 Prozent billiger. Sie nehmen einen jedes Jahr in die Mangel. Macht man nicht mit, gibt’s schlechtere Konditionen. Und die Kunden? Manche kaufen aus Prinzip im Laden – auch wenn es mehr kostet. Viele lassen sich aber stundenlang beraten und bestellen dann irgendwo für ein paar Cent weniger. Musiker haben weniger Auftrittsmöglichkeiten. Also können sie nichts mehr investieren. Rock ’n’ Roll ist tot, ich bin raus.


The Bevis Frond

Zaz

Rock

Chanson / Pop

We’re Your Friends, Man

Effet miroir

Der Sounddreck ... ... zum Ende vom Anfang und dessen Ende Es ist früher Abend in der Geschmackspolizeizentrale an der Martin-Horn-Schneise. Im neu geschaffenen Dieter-Salomon-Stüberl herrscht der alljährliche weihnachtliche Katzenjammer und Beamtenfrust. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist noch niedriger als das Wahlergebnis der SPD bei der jüngsten Landtagswahl, dazu die selbstverordnete Umstellung auf E-Zigaretten und Energydrinks, sodass die Laune sich bei unter Null eingependelt hat.

Alte Freundschaft

Gebrochener Spiegel

(pt). Ein halbes Jahrhundert lang haben Gitarren die populäre Musik beherrscht. Heute schreiben Gitarrenhersteller rote Zahlen und Plattenfirmen gerne Verträge für Sounds aus dem Computer. Die britischen Altrocker The Bevis Frond wirken da mit ihrer Bandkarriere von mehr als 30 Jahren und annähernd so vielen Alben wie ein frischer Wind. Auf „We’re Your Friends, Man“ zelebriert die Band das etwas aus der Mode gekommene Musikinstrument mit einer fulminanten Mischung aus Rock, Grunge, Blues und Folk. Auch die Albumlänge geht mit 20 kurz gehaltenen Stücken gegen den Trend zu wenigen, aber dafür überlangen Tracks. Nur einen Acht-Minuten-Song erlaubt sich die Band mit „Lead on“, versumpft aber nicht in überlangen Riffs und eintönigen Soli. Auch der Rest ist griffig und angenehm abwechslungsreich: Auf das melodische Geschrammel von „Pheromons“ folgt in „Little Orchestra“ zurückhaltendes Gezupfe. Mit viel Gefühl zeichnet der 65-Jährige Rock-Rentner Nick Saloman dabei immer wieder Bilder zwischen die Ohren seiner Hörer und nimmt sich nicht zu ernst: „The twenty-somethingth swingin’ disc. The last thing on your christmas list“. Zumindest bei Gitarrenliebhabern dürfte das nicht stimmen und die Scheibe unterm Baum zu finden sein.

(tln). Mehr als vier Millionen Alben hat Zaz verkauft. Die Sängerin schaffte den Durchbruch 2010 mit ihrer Anti-Establishment-Hymne „Je veux“. Acht Jahre später wagt sie den Blick zurück: „Effet Miroir“ (Spiegeleffekt) heißt ihr viertes Studioalbum, die Französin erzählt darauf von Höhen und Tiefen turbulenter Jahre. Die Chansonnière setzt auf ein Potpourri an Sounds. Das Album startet mit dem wunderbar traurigen Liebeslied „Demain c’est toi“ – zu Piano und Geige haucht Zaz die Wörter dahin und schafft mit großer Kunst intime Momente. Doch nicht alles klingt so chansoniesk. Mit der Albumsingle „Que vendrá“ stimmt Zaz massentauglichere Töne an: Auf Deutsch und Spanisch erzählt sie zu Latino-Klängen von ihren Reisen. Noch radiokompatibler wird’s in „On s’en remet jamais“ oder „Toute ma vie“. Der Abwechslung mag das guttun, der Unverwechselbarkeit nicht. Jeder Mensch hat viele Facetten, sagt die Künstlerin – und will das auch in ihren Liedern zeigen. Diese erzählen auch von Zerrissenheit, wie das eigene Bild im gebrochenen Spiegel. Von tanzbar bis Slam, von Disco bis Dub, von afrikanischen Klängen bis Blues ist alles drauf. Roter Faden bleibt ihre Stimme. Und die schillert in vielen Farben – egal wie gebrochen das Glas ist.

Seit gefühlt zwölf Monaten sind die Beamten pausenlos auf den Beinen, diese wiederum schwer wie das verbrauchte Kühlwasser des altersschwachen AKWs in Fessenheim, die Augenringe nehmen langsam olympische Ausmaße an, Hörsturz folgt auf Hörsturz, bis es tiefer nicht mehr geht. Tonträger stapeln sich bis unter die Schädeldecke, eine Recherche im Darknet wird zur Geduldsprobe, da der Server so verlässlich zusammenbricht wie die Deutsche Bahn Verspätung hat. Von draußen vom Glühweindrogenstraßenstrich dringt unaufhörlich eine gemeingefährliche Weihnachtsliederkakophonie. Kurzzeitig machen sich Gewaltphantasien im präfrontalen Cortex der bemitleidenswerten Staatsdiener breit. Geschmackspolizeiobermeister Burgey verzweifelt gerade daran, den Kollegen Welteroth mit Lametta einigermaßen festlich zu dekorieren, während dieser versucht, sich mit Kerzenwachs die Gehörgänge notdürftig zu versiegeln. Im Hintergrund laufen die Ballermann-Hits 2018: Ole ohne Kohle mit „Du kannst mir die Nudel putzen“, gefolgt von Dorfrocker „Hey Schakkeline, wo ist die Vaseline?“. Erst stützen sie sich gegenseitig noch so gut es eben geht, bevor sie total erschöpft zu Boden sinken, schließlich dahinschlummern und erst weit nach Neujahr wieder aufwachen werden, um sich dann erneut dem Kampf gegen Geschmackswindmühlen zu widmen. In diesem Sinne, pssst, GeschPo schläft! Ralf Welteroth


kino

Diebische Solidarität Der Gewinnerfilm der Goldenen Palme zeigt die Ränder der Leistungsgesellschaft von Erika Weisser

Shoplifters Familienbande Japan 2018 Regie: Hirokazu Kore-eda Mit: Lily Franky, Sakura Ando Mayu Matsuoka, Kirin Kiki u.a. Verleih: Wild Bunch Germany Laufzeit: 121 Minuten Start: 27. Dezember 2018

Fotos: © Wild Bunch Germany

D

ie Dunkelheit des Abends legt sich mit klirrender Kälte über die Stadt. Auf den leeren Straßen eines Wohngebiets sind zwei Menschen unterwegs: Osamu Shibata und sein Sohn Shota, die nach einer erfolgreichen Ladendiebstahlstour auf dem Weg nach Hause sind. Sie freuen sich auf die Wärme der armseligen und engen Behausung, die sie sich mit Osamus Frau Nobuyo, deren Schwester Aki und der Großmutter Hatsue teilen. Als sie die Liste der erledigten „Einkäufe“ checken, bemerken sie ein kleines Mädchen, das allein und frierend auf einem Balkon sitzt; die Tür zur Wohnung ist verschlossen. Sofort spürt Osamu die Einsamkeit und das Leid des Kindes; der sonst so fröhliche und sorglose Mann beschließt, es für ein warmes Essen mit nach Hause zu nehmen. Doch die anderen Familienmitglieder sind nicht begeistert von dieser Idee – insbesondere Nobuyo. Zwar tut ihr das völlig verschüchterte und irgendwie schuldbewusst, ängstlich und unterwürfig wirkende Mädchen leid, zumal es nicht viel mehr sagen kann als seinen Namen: Yuri. Doch sie fürchtet, dass Yuris Eltern ihre Tochter als vermisst melden und die Polizei einschalten könnten – und diese dann bei ihnen aufkreuzen würde. Zwar entdeckt Nobuyo Brandwunden und andere Spuren von Misshand-

lungen an Yuris Armen, doch das hält sie nicht davon ab, sie zurückzubringen. Als sie aber mit dem Mädchen vor dessen Wohnhaus steht und hört, wie der Vater brüllt und seine Frau schlägt, weigert sie sich, das Kind wieder dieser Gewalt auszuliefern und nimmt sie kurzerhand in die Familie auf. Obwohl sie weiß, dass es schwierig wird, ein weiteres Familienmitglied zu ernähren: Ihr bescheidenes Büglerinnen-Gehalt, Hatsues kleine Rente, Osamus geringe Einkünfte aus gelegentlichen Aushilfsjobs auf dem Bau und Akis spärliche Einnahmen aus ihrer Arbeit in einem Stripclub reichen nicht einmal für die bisher fünfköpfige Lebensgemeinschaft. Dennoch gehört Yuri von nun an dazu – und sie blüht sichtlich auf in der Familie, deren Angehörige solidarisch miteinander umgehen, alles miteinander teilen und denen es an allem mangelt, nur nicht an Liebe. Yuri ist glücklich – und geht bald mit Shota auf die täglichen Streifzüge durch die Geschäfte. Doch irgendwann wird klar, dass es bei den Shibatas Geheimnisse und Selbstbetrügereien gibt. Und bald darauf bricht das ziemlich wackelige Kartenhaus zusammen. Ein schöner Film über die Würde und den Zusammenhalt der Menschen, die von der gnadenlosen Leistungsgesellschaft an den Rand gedrängt werden. Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele in Cannes 2018.


KINO

Iran 2018 Regie: Jafar Panahi Mit: Behnaz Jafari, Jafar Panahi u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 100 Minuten Start: 26. Dezember 2018

USA 2018 Regie: Peter Hedges Mit: Julia Roberts, Lucas Hedges u.a. Verleih: Tobis Laufzeit: 103 Minuten Start: 10. Januar 2019

Yuli

Foto: © Piffl

Ben is back

Foto: © Tobis

Foto: © Weltkino

Drei Gesichter

Spanien, Kuba 2018 Regie: Icíar Bollaín Mit: Carlos Acosta, Santiago Alfonso u.a. Verleih: Piffl Laufzeit: 110 Minuten Start: 17. Januar 2019

Hindernisreiche Suche

Extreme Anspannung

Weltstar wider Willen

(ewei). Die Teheraner Schauspielerin Behnaz Jafari erhält eine rätselhafte Videobotschaft aus einem Bergdorf im Norden des Landes. Darin spricht das Mädchen Marziyeh von ihrem Traum, Schauspielerin zu werden und fleht sie um Hilfe an. Und da es am Ende des Videos nach einem Suizid aussieht, macht sich Jafari Hals über Kopf auf die Suche – gemeinsam mit Regisseur Jafar Panahi. Auf der Reise in die entlegene und archaische bäuerliche Welt, die nur über eine kurvenreiche, unbefestigte und obendrein einspurige Bergstraße zu erreichen ist, kommt es zu überraschenden Begegnungen: Eine alte Frau liegt in einem ausgehobenen Grab Probe, ein alter Mann gibt ihnen die Vorhaut seines soeben beschnittenen jüngsten Sohns als Glücksbringer mit. Im Dorf angekommen, treffen Jafari und Panahi auf Mariyehs Familie, die dort wegen ihres Berufswunschs gemieden wird und überdies um die spurlos verschwundene Tochter bangt. Und kommen dem Rätsel auf die Spur. Intelligentes Kinovergnügen.

(ewei). Als Holly am Heiligabend­Nachmittag mit ihren drei Kindern von der letzten Krippenspiel-Probe nach Hause zurückkehrt, traut sie ihren Augen nicht: Vor der Tür steht der knapp 20-jährige Ben, ihr Ältester, der schon seit einiger Zeit an einem anderen Ort wohnt und mit dessen Auftauchen niemand gerechnet hat. Während Bens Schwester Ivy und Hollys Mann Neal eisig reagieren, sind die beiden jüngeren Kinder und der Hund restlos begeistert. Holly will es auch sein, kann es aber nicht: Ben ist trotz langer Unterbringung in einer Therapieklinik immer noch drogenabhängig und sollte der Familie eigentlich fernbleiben: Zu oft hat er sie schon belogen, betrogen, bestohlen, enttäuscht. Mit extremer Anspannung schafft es die innerlich zerrissene Mutter, den Hausfrieden bis nach der Rückkehr aus der Kirche einigermaßen aufrechtzuerhalten. Doch dann ist der Hund verschwunden – ein Racheakt ehemaliger Dealerkollegen. Die Ereignisse überstürzen sich. Spannend und erschütternd.

(ewei). Carlos hat keine Lust auf klassisches Ballett, will keine Strumpfhosen und Spitzenschläppchen tragen. In der Schule und in den Straßen Havannas, wo er Fußball spielt und König der Breakdance-Szene ist, wird der 8-Jährige von den anderen Jungs deswegen zunehmend gehänselt und als Schwuchtel bezeichnet. Doch sein Vater Pedro, dessen Großmutter noch als Sklavin auf einer Zuckerrohrplantage arbeitete, hat das außergewöhnliche Tanztalent seines Sohnes früh erkannt und zwingt ihn – auch mit Schlägen – zum Weitermachen. „Yuli“ nennt er ihn, nach einem Kämpfer des afrokubanischen Kriegsgotts Ogun, und er will ihn aus dem scheinbar ewigen Kreislauf der Benachteiligung schwarzer Menschen herausholen. Es gelingt ihm – wegen Yulis Talent, und auch, weil die Hautfarbe in Kuba tatsächlich keine Rolle mehr spielt. Yuli wird als erster schwarzer Romeo ein Weltstar – und baut in Kuba eine avantgardistische Ballettschule auf. Ein ganz und gar mitreißender Film.


kino

USA 2018 Regie: Felix van Groeningen Mit: Steve Carell, Thimothée Chalamet u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 112 Minuten Start: 24. Januar 2019

USA 2018 Regie: Peter Farrelly Mit: Viggo Mortensen, Mahershala Ali u.a. Verleih: Entertainment One Laufzeit: 115 Minuten Start: 31. Januar 2019

Frühes Versprechen

Foto: © Camino

Green Book

Foto: © Entertaiment One

Foto: © NFP

Beautiful Boy

Frankreich 2018 Regie: Eric Barbier Mit: Charlotte Gainsbourg, Pierre Niney u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 131 Minuten Start: 7. Februar 2019

Kleine Hoffnungsfunken

Unverhoffte Annäherung

Genie aus Gehorsam

(ewei). David ist ein engagierter ­Vater, der bei einem Arzt Aufklärung über Drogenabhängigkeit sucht. Sein Sohn Nic – früher ein aufgeweckter, liebenswerter Junge – hat sich dadurch nämlich drastisch verändert: Zusehends entfernt er sich von seiner früheren Welt und sackt immer tiefer in die Suchtfalle. Keine Entziehungskur, keine Therapie zeigt dauerhaft Wirkung; jeder kleine Hoffnungsfunken erlischt bald wieder. Irgendwann sieht David ein, dass er Nic loslassen muss, um ihm, sich selbst und seiner Familie noch eine Chance zu geben. Zehn Jahre kämpfen sich die beiden durch die Niederungen verlorener Lebensperspektiven, unterwerfen sich der alles zerstörenden Wucht der Sucht nicht – und schreiben, jeder für sich, ein Buch darüber. Diese Biografien von David und Nic Sheff nimmt Felix van Groeningen als Grundlage für seinen ausgezeichnet umgesetzten Film, dem es nicht um eine sentimentale Geschichte geht. Sondern um die Existenz zahlloser Menschen – aus allen Schichten.

(ewei). Widerwillig heuert der latent rassistische Italo-Amerikaner Tony Lip, der gerade seinen Türsteher-Job verloren hat, als Chauffeur bei dem begnadeten New Yorker Pianisten Don Shirley an, der sich auch noch als Afro-Amerikaner entpuppt. Der einfache Mann, der seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs verdient, soll den wohlhabenden und höchst gebildeten Musiker mit den feinen Manieren auf einer Konzert-Tournee in den tiefen Süden begleiten. Das ist im Jahr 1962 ein ziemlich heikles Unterfangen, denn hier herrscht noch immer strenge Rassentrennung. Ihre Unterkünfte finden die beiden ungleichen Weggefährten denn auch nur mit dem „Negro Motorist Green Book“, dem bis 1966 erscheinenden Reiseführer mit einer Liste der wenigen Gasthäuser, in denen dunkelhäutige Menschen geduldet wurden. Trotz aller Gegensätze freunden sich die beiden Männer an, das diskriminierende Verhalten gegenüber Don widerspricht Tonys gesundem Menschenverstand. Vergnüglicher Antirassismus-Film.

(ewei). Roman muss alles können: Seine in prekären finanziellen Verhältnissen lebende alleinstehende Mutter Nina verlangt von dem Jungen außer Bestleistungen in der Schule, dass er ein Instrument spielt – und Französisch spricht. Denn für die junge Frau, die sich und ihren Sohn im polnischen Wilna der 1920er-Jahre mit einer Schneiderei und allerhand Aufschneidereien über Wasser hält, ist ein Leben in Frankreich der Lebenstraum schlechthin. Der Junge merkt bald, dass Widerstand zwecklos ist: Er fügt sich, will sich ihrer überbordenden Liebe als würdig erweisen, glaubt bald selbst an ihre Prophezeiungen – und tut alles, um sie zu erfüllen. Denn Nina opfert ihm ihr ganzes Leben, verzichtet auf neue Lebensbeziehungen; alles, was sie tut, dient nur dem Zweck, ihrem Sohn das Leben zu ermöglichen, das er verdient. Als sie schließlich nach Frankreich gelangen, wird aus Roman Romain – und später fast alles, was sie ihm versprochen hat: Befreiungskämpfer, Dichter, Diplomat.


DVD DrauSSen in meinem Kopf Deutschland 2018 Regie: Eibe Maleen Krebs Mit: Samuel Koch, Nils Hohenhövel u.a. Studio: Salzgeber Medien Laufzeit: 99 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Die kanadische Reise Frankreich, Kanada 2016 Regie: Philippe Lioret Mit: Pierre Deladonchamps, Gabriel Arcand u.a. Studio: Edel Germany Laufzeit: 95 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Madiba Kanada 2017 Regie: Kevin Hooks Mit: Laurence Fishburne, Michael Nyqvist u.a. Studio: Justbridge Entertainment Laufzeit: 270 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Ein schwieriger Patient

Der unbekannte Vater

Ansichten eines Lebenswegs

(ewei). Sven leidet an Muskeldystrophie, einer Krankheit, die seine Muskeln zersetzt und ihn seit langem ans Bett fesselt. Er lebt in einem Pflegeheim und ist selbst für die kleinsten Tätigkeiten auf Hilfe angewiesen. Sein neuer Helfer ist Christoph; er hat gerade voller Enthusiasmus sein Freiwilliges Soziales Jahr begonnen. Doch er ist bald verstört von der Hilflosigkeit und der Barschheit Svens, der zwar mit seiner Krankheit zu leben gelernt hat, doch zusehends an ihr zerbricht.

(ewei). Als Mathieu, der mit seiner Familie in Paris lebt, von einem Freund seines ihm bis dahin unbekannten leiblichen Vaters von dessen Tod erfährt, reist er nach Kanada. Einerseits treibt ihn die Neugier auf die andere Familie und auf seine Halbbrüder. Andererseits will er auch wissen, was der Inhalt der rätselhaften letzten Hinterlassenschaft des Verstorbenen an ihn ist, von der dieser Freund am Telefon sprach. Nach und nach kommt indessen eine ganz andere Wahrheit ans Licht.

(ewei). Madiba wirft einen Blick auf die frühen Bindungen, die Nelson Mandela, den Apartheidgegner und ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas, geprägt haben: Seine engen Freundschaften, die familiären Beziehungen, politische Bündnisse und die Verbindung zu den Männern, die während seiner dunkelsten Tage und größten Triumphe an seiner Seite standen. Enthüllt wird ein Nelson Mandela, den wir so noch nie gesehen haben. Beeindruckendes Porträt zum 5. Todestag und 100. Geburtstag.

In den Gängen Deutschland 2017 Regie: Thomas Stuber Mit: Franz Rogowski, Peter Kurth, Sandra Hüller u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 120 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Candelaria

Wildes Herz

Kolumbien, Kuba 2017 Regie: Jhonny Hendrix Hinestroza Mit: Alden Knight, Veronica Lynn u.a. Studio: Universum Film Laufzeit: 87Minuten Preis: ca. 12 Euro

Deutschland 2017 Regie: Charly Hübner & Sebastian Schultz Mit: Jan „Monchi“ Gorkow, Kai Irrgang u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Gabelstaplerwalzer

Beflügelte Fantasie

Das Herz schlägt links

(ewei). Christian ist neu im Großmarkt; Bruno, der Lebens- und Gabelstaplererfahrene Leiter der Getränkeabteilung nimmt den linkischen, schüchternen jungen Mann unter seine Fittiche. Das ist auch gut so, denn zunächst beäugen die Kollegen den freundlichen Neuling ziemlich misstrauisch. Doch das legt sich bald – und als Christian sich von der forschen Süßwaren-Marion den Kopf verdrehen lässt, fiebert der ganze Laden mit ihm, bewegen sich nicht nur die Stapler wie zu Walzerklängen.

(ewei). Anfang der 90er-Jahre, heißt es im Vorspann, habe Kuba wegen des Zerfalls der UdSSR und der anhaltenden US-Wirtschaftsblockade „die dunkle Zeit der Sonderperiode“ erlebt. Und da es auch Candelaria und Victor Hugo an allem fehlt, müssen sie auch mit Mitte 70 noch arbeiten: Er als Zeitungsvorleser in einer Zigarrenfabrik, sie als Waschfrau im Hotel. Im Alltagstrott ist wenig Zeit und Sinn für die Liebe – bis eine Videokamera aus dem Wäschesack fällt und ihre Fantasie beflügelt.

(ewei). Mitreißend und voller Energie porträtiert der Film „Feine Sahne Fisch­filet“, die Punk-Rockband aus Mecklenburg-Vorpommern. Er ist indessen viel mehr als eine Musikdoku für Fans: Er zeigt den alarmierenden Rechtsruck – und wie sich die Band um den Frontmann Jan „Monchi“ Gorkow mit Neonazi-Gewalt, AfD-Wahlerfolgen und perspektivlosen Jugend­ lichen nicht nur musikalisch aus­einandersetzt. Er zeigt auch, dass linker Kampfgeist und Lokalpatriotismus kein Widerspruch sein müssen.

Dezember 2018 / Januar 2019 chilli Cultur.zeit 71


Ein Almanach der Träume Die Bücher des Jahres von Freiburger Promis und Kennern

W

as haben Freiburger Prominente im vergangenen Jahr besonders gern gelesen, was war ihr Buch des Jahres? Das hat die chilli-Redaktion kurz vor Weihnachten prominente Vertreter aus Politik und Kirche, aus Wissenschaft und Wirtschaft, aus dem Sport und der Kultur gefragt. Es

geht um Barbaren, Jesuiten und Physiker, um Schelmenromane und europäische Träume. Und um den letzten Otto-­Katalog. Während man den eher nicht für Freunde unter den Weihnachtsbaum legt, taugen die anderen empfohlenen Werke dafür sehr wohl. Wir wünschen anregende Lektüre.

Stephan Burger, Erzbischof von ­Freiburg

Hans-Jochen Schiewer, Rektor der Universität Freiburg

Der Kardinal der Einheit Clemens Brodkorb, Dominik Burkard (Hrsg.), Schnell & Steiner 2018, 512 Seiten, Hardcover, 49,95 €

Marlow Volker Kutscher, Piper 2018, 528 Seiten, Hardcover, 24 €

Mein „Buch des Jahres“ ist einem großen Sohn unserer Freiburger Erzdiözese gewidmet: dem Jesuiten Augustin Bea (1881–1968), dem „Kardinal der Einheit“, der aus Ried­ böhringen stammte. Das Buch befasst sich in 16 Beiträgen mit Herkunft und Prägung sowie Werken und Bedeutung des Kardinals, der durch sein Wirken Entscheidendes für die Ökumene bewirkt hat – aus der wir in Freiburg ja bis heute Gewinn ziehen. Mir gefallen besonders die große Bandbreite der Texte und die Blicke in so manche wenig bekannte Archive, die einen faszinierenden Menschen und eine spannende Zeit für die Kirche lebendig werden lassen. 72 chilli Cultur.zeit Dezember 2018 / Januar 2019

Der neue Band der Krimiserie um Kommissar Gereon Rath, deren erster den Start zur „Babylon Berlin“-Filmserie gab, verwebt mehrere Erzählstränge zu einer packenden Beschreibung des Berlin der 30er Jahre. Im Roman geht es um den Unterwelt-König Marlow, Morphium und verdächtige Todesfälle. Rath ermittelt, dass Gestapo-Chef Hermann Göring von der SS ausspioniert wird. Und auch Raths Familie wird in den Strudel politischer Intrigen gezogen. Mir als Mediävist gefällt Kutschers exakter, sprachlich stringenter Schreibstil, der die historisch fundiert recherchierten Handlungsstränge zu einem fulminanten Ende führt. Lesenswert.

Fotos: © Unsplash, Erzbischöfliches Ordinat, Silvia Wolf, privat, tln, Wissing, Britt Schilling, Stadt Freiburg, Achim Keller

Literatur


Lesetipps Hanna Böhme, ­Geschäftsführerin der FWTM GmbH

Laura Bärtle, Lyrik-Preisträgerin aus Freiburg

Gott der Barbaren Stephan Thome, Suhrkamp 2018, 719 Seiten, gebunden, 25 €

Nichts, was uns passiert Bettina Wilpert, Verbrecher Verlag 2018, 168 Seiten, Hardcover, 19 €

2018 gab es viele Kinderbücher und wenige Erwachsenenbücher für mich – so fiel die Auswahl leicht: Der Roman spielt im 19. Jahrhundert in China, als die Westmächte sich mit Kanonen Handelsrechte sicherten und bei der Taiping-Rebellion bis zu 30 Millionen Menschen starben – eine grausame Episode der Menschheitsgeschichte. Thome hat mir, die viele Jahre in Ostasien leben durfte, mit seinem für den deutschen Buchpreis nominierten Roman interessante Stunden beschert.

Anna behauptet, Jonas habe sie vergewaltigt. Er bestreitet. Bettina Wilpert richtet die Perspektivenscheinwerfer von Täter, Opfer, Bekannten und Freunden auf die Situation und beleuchtet die Wahrheit von allen Seiten. Das bringt die Leser unaufdringlich dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was es für sich selbst und das Umfeld bedeutet, Opfer oder Täter zu sein – und auch, dass Grenzen oft nicht einfach zu erkennen sind. Ein Buch für alle, die die Fähigkeit des Perspektivwechsels auf die Probe stellen möchten!

Torang Sinaga, Verlagsleiter Rombach

Peter Carp, Intendant des ­Freiburger Theaters

Sortiment Frühjahr/Sommer 2019 Otto Katalog, Otto-Versand 2018 656 Seiten, Broschur, kostenlos

Heimkehr Thomas Hürlimann, S. Fischer 2018, 528 Seiten, gebunden, 25 €

Was der „Brockhaus“ für das Wissen der Welt war, sind die Otto-Kataloge für die bundesdeutsche Konsumlandschaft: Opulente Zeitzeugnisse, auf Papier verewigte Momentaufnahmen ihrer jeweiligen Epoche. Der Otto-Katalog blieb uns länger erhalten als der „Brockhaus“ – jetzt ist auch für ihn Schluss. Was bleibt, sind Erinnerungen: Das mühsam zusammengesparte Mountainbike. Oder die Bikinis vom Frühjahr 91. „Otto“ wird uns fehlen. Nicht als Versandkatalog, aber als Almanach unserer fast vergessenen Träume.

Mit großer Freude habe ich zuletzt „Heimkehr“, den neuen Roman von Thomas Hürlimann gelesen. Ich kenne ihn seit vielen Jahren hauptsächlich als Theaterautor und habe vier Texte von ihm inszeniert – im Theater Freiburg war „Das Gartenhaus“ zu sehen. Umso mehr hat es mich gefreut, einen kräftigen, lebensprallen ‚Schelmenroman‘ von Hürlimann zu lesen, der mit Genres und Klischees jongliert. Der Roman ist eine rasante Achterbahnfahrt voller Lebensgier.

Martin Horn, ­Oberbürgermeister von Freiburg

Alexander Schwolow, Torwart des SC Freiburg

Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte Aleida Assmann, C.H. Beck 2018, 208 Seiten, Klappenbroschur, 16,95 €

Eine kurze Geschichte der Zeit Stephen Hawking, Rowohlt 2011, 271 Seiten, Taschenbuch, 9,99 €

Gerade in Zeiten erstarkender Nationalismen und Kritik an der europäischen Idee ist die Lektüre empfehlenswert. Eine Erinnerungskultur, die sich selbstkritisch mit unserer Vergangenheit auseinandersetzt, ist eine der vier Lehren aus der Geschichte. Gemeinsam mit Friedenssicherung, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte können sie als die Prinzipien gelten, mit denen wir Europäer einen „europäischen Traum“ und ein verbindendes Leitbild mit Strahlkraft für die Zukunft entwerfen können.

Das Buch wurde zwar geschrieben, bevor ich geboren wurde, trotzdem ist es mein Buch des Jahres, denn Hawking ist im März gestorben. Dieser Mann, der im Rollstuhl sitzen musste und später die Fähigkeit zu sprechen verlor, hat mich schon immer fasziniert. Mit dem Urknall und schwarzen Löchern konnte ich in der Schule nicht so viel anfangen und habe Physik in der zehnten Klasse abgewählt. „Eine kurze Geschichte der Zeit“ hilft aber auch Nicht-Physikern, das Universum besser verstehen zu können. Dezember 2018 / Januar 2019 chilli Cultur.zeit 73


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