chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 6/18 8. JAHRGANG

Kultur

Musik

Literatur

900 JAHRE FREIBURG: RINGEN UMS JUBILÄUM

MALAKA HOSTEL TREIBEN‘S BUNT

PREISTRÄGER DATH BEI GRETHER NACH(T)LESE


KULTUR

Nicht nur Feuerwerk GEMISCHTE REAKTIONEN AUF DIE PLANUNGEN FÜRS STADTJUBILÄUM – ZANKAPFEL DREISAMBOULEVARD

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reiburg 2020 – 900 Jahre jung“ lautet das im Juli oder eine Welt­meisterschaft der Motto des Stadtjubiläums. Erste Eck­ „Lebenden Statuen“. Ergänzt wird das durch Veranstaltungen punkte des Jubiläumsjahrs hat die Pro­ jektgruppe um den Ersten Bürgermeister der Bürger. Noch bis Ende Juli können Ein­ Ulrich von Kirchbach und Leiter Holger zelpersonen, Vereine oder Unternehmen Thiemann nun vorgestellt. In den meis­ Projektanträge stellen, die nach den Som­ ten Fraktionen, die für die Feierlichkei­ merferien auswertet werden. „Die Projekte ten drei Millionen Euro springen lassen, müssen etwas mit Freiburg zu tun haben“, stoßen diese Vorschläge auf Zustimmung. gibt Thiemann vor, „ansonsten ist eine brei­ von Tanja Senn Kritische Stimmen werden hingegen bei te Palette möglich.“ den Unabhängigen Listen laut, die innovative Ideen vermissen. Das sieht auch Simon Walden­ Stadtschreiber und lange Tafel spuhl (Die Partei) so, der eine ei­ gene Alternative plant. Doch schafft solch ein Reigen von Ver­ anstaltungen tatsächlich „über das Jubilä­ Der Startschuss soll bereits am 22. Kein einmaliges Spektakel: Stadt umsjahr hinaus einen nachhaltigen Nut­ November 2019 fallen: Dann wird die plant Veranstaltungen übers ganze zen“, wie es der Gemeinderat vorgegeben Ausstellung „Freiburg. Archäologie. 900 Jahr und in allen Stadtteilen. hat? „Der ausdrückliche Wunsch unserer Jahre Leben in der Stadt“ eröffnet. Foto: © tln Durch das Jubiläumsjahr selbst werden Gruppe ist, nicht nur ein Feuerwerk los­ sich zahlreiche Veranstaltungen ziehen: zulassen und das war’s dann“, bestätigt Ein Neujahrsempfang „der etwas ande­ Thiemann. „Wir können uns viele Mög­ ren Art“, eine Lichtinstallation in der lichkeiten vorstellen, wie sich das errei­ Innenstadt, ein großes Festwochenende chen lässt. Zum Beispiel die Gestaltung 60 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2018


KULTUR eines Platzes oder einer Fassade sowie ein Ansonsten fehle dem Jubiläum die Leit­ neues Festival, das seinen Ausgang im Ju­ idee, monieren die beiden Mitglieder der biläumsjahr hat.“ Vorstellen könne er sich gemeinderätlichen Begleitgruppe. Ihren auch einen Stadtschreiber, wie ihn man­ Einfluss sehen sie begrenzt: „Die Begleit­ che Städte schon haben – meist Schrift­ gruppe dient nur dazu, die Fraktionen auf steller, die für Geld und Logis eine Weile dem Laufenden zu halten. Die wesentli­ chen Entscheidungen werden in der De­ in der Stadt leben und arbeiten. Auch von Kirchbach freut sich auf ein zernenten-Runde gefällt, das halten wir „hochkarätiges, breit angelegtes Programm für schlecht.“ In den anderen Fraktionen zeigt man für alle Zielgruppen“. Um die – wortwört­ lich – alle an einen Tisch zu bekommen, sich zufrieden mit den Planungen. Die könnte er sich unter anderem eine Mittsom­ Freien Wähler, CDU, SPD, Grüne und mernachtstafel vorstellen, wie es sie 2009 FL/FF freuen sich vor allem, dass der und 2011 schon in Freiburg gab: „Das kam Leitgedanke, ein Jubiläum für, von und damals unheimlich gut an und ich finde, mit den Bürgern zu gestalten, eine zentra­ für ein Jubiläum ist so eine Aktion fast le Rolle bei den Planungen spielt. Lediglich „Die Partei“ spart nicht mit schon Gesetz.“ Angetan zeigt er sich auch vom Vorschlag Kritik. Hier befürchtet man, dass das Jubi­ der Freiburger Architektenschaft. Die sorg­ läum zu einer „Mischung aus Schlossberg­ te mit ihrer Idee, für einige Wochen einen fest XXL und einem überraschungsarmen Dreisamboulevard aufzubauen und die B31 Kultur-Programm“ wird. „Bisher hört sich zeitweise zu sperren, für ei­ nigen Wirbel. Auf Wunsch „Hätte etwas Außergewöhnliches erwartet“ der Projektgruppe füllen die Architekten ihre Idee gerade mit Inhalten: Wo könnten Bühnen das alles sehr nach Standard an“, bemän­ und Freisitze hin? Welche Veranstaltungen gelt Waldenspuhl. „Der ist in Freiburg na­ würden herpassen? „Unser Beitrag zum Ju­ türlich sehr hoch, das wollen wir gar nicht biläum soll ein Blick in die Zukunft sein: bestreiten, aber ich hätte etwas Außerge­ Welches Potenzial steckt in der Stadt, wenn wöhnliches erwartet.“ Ihm sei es etwa wichtig, auch einen kriti­ der Tunnel mal da ist“, fragt Manfred Saut­ ter, Vorsitzender der Kammergruppe Frei­ schen Blick auf die Stadt zu wagen. Nichts, burg. Er ist sich sicher: Trotz des schmalen das Thiemann nicht auch auf dem Schirm Budgets lasse sich hier „mit etwas Kreativi­ hat: „Wir wollen die Stadt in ihrer ganzen Breite zeigen, mit ihren Stärken und Schwä­ tät“ einiges realisieren. Diesbezüglich zeigt sich auch der Kultur­ chen.“ Waldenspuhl plant dennoch ein al­ bürgermeister zuversichtlich, den jedoch ternatives Jubiläum, das das offizielle Pro­ ein ganz anderer Punkt quält: So habe Land­ gramm ergänzen soll. Wie genau das rätin Dorothea Störr-Ritter den Vorschlag aussehen wird, will er noch nicht verraten. Wo es angekündigt wird, steht aber schon „kategorisch abgelehnt“ mit dem Verweis, dass der Verkehr dann die Umlandgemein­ fest: Im März vergangenen Jahres hatte sich den belaste. „Das müssen wir genau abwä­ der Stadtrat „die digitale Hoheit über das gen“, gibt von Kirchbach zu bedenken. „Wir Stadtjubiläum gesichert“, wie Die-Partei-­ wollen schließlich mit der ganzen Region Sprecher Lennart Lein in einem Video-­ feiern und nichts gegen Widerstand des Kommuniqué verkündet. Dafür hat Wal­ Landes durchsetzen.“ Entscheiden müssten den­s puhl vier Internet-Domains samt über die Sperrung das Regierungspräsidi­ zugehöriger Facebookseiten gekapert, dar­ um und Freiburgs neuer Oberbürgermeis­ unter die Adressen stadtjubiläum-­freiburg.de ter Martin Horn. Der arbeitet sich laut Rat­ oder 900Jahre-Freiburg.de. In der Planungsgruppe lässt man sich haussprecherin Petra Zinthäfner aktuell deswegen keine grauen Haare wachsen. noch in das Thema ein. Bei den Unabhängigen Listen Freiburg „Wir haben eine wunderbare Adresse (UL) stößt der Dreisamboulevard auf gro­ und das ist die freiburg.de“, winkt Thie­ ße Zustimmung: Es sei die „einzige inno­ mann ab. „Da wird unterschätzt, was vative Idee“, die bisher bekannt wurde passende Domains bewirken können“, und solle den „örtlichen und inhaltlichen kontert Waldenspuhl. Abgeben will er Schwerpunkt des Jubiläumsprogramms“ sie daher nicht – „außer gegen ein exor­ bilden, so Atai Keller und Irene Vogel. bitantes Angebot“.

Neues Festival oder Gestaltung eines Platzes: Holger Thiemann wünscht sich eine Wirkung über 2020 hinaus.

INFO Die ausführlichen State­ ments der Fraktionen gibt’s auf chilli-freiburg.de

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MUSIK KULTUR

Literarisches Kleinod DIE „BUCHHANDLUNG ZUM WETZSTEIN“ FEIERT 40. GEBURTSTAG

von Stella Schewe

Von Hand geschriebene Gedichte gehören zu den Besonderheiten des Wetzstein. Susanne Bader (rechts) leitet die Buchhandlung mit viel Know-how und Leidenschaft.

kann“, sagt sie, „aber wir sind heute so vie­ len Reizen ausgesetzt, kommen nicht zur Ruhe, da haben es Bücher schwer. Denn Lesen erfordert Muße.“ So tut die passionierte Bücherfrau viel, um ihre Kunden an sich zu binden, lädt sie regelmäßig zu Abenden mit Au­ toren oder Verlegern ein und schreibt jeden Monat einen persönlich gehalte­ nen „Wetzsteinbrief“ mit aktuellen Emp­ fehlungen.

„Die Kirschen werden reif und rot, die süßen wie die sauern ...“ Erich Kästners Gedicht, handgeschrieben und gerahmt, ist das erste, was an diesem Sommertag im Schaufenster unter der blauen „Wetz­ stein“ Markise ins Auge fällt. Gelegen an der belebten Freiburger Salzstraße ist die Buchhandlung ein Ruhepol. Blauer Teppichboden dämpft die Schritte, im Hintergrund läuft Klassik, Kronleuchter und alte Holztische mit Buch-Empfeh­ lungen prägen die ganz eigene Wetz­ stein-Atmosphäre. Seit dem Tod ihres Mannes Thomas Ba­ der vor vier Jahren leitet Susanne Bader die Buchhandlung „in seinem Sinn, aber auf meine Art“. Sie hat den Sachbuchbereich vergrößert und die Räume offener gestal­ tet. „Ich wollte die Schwellenangst, die mancher vielleicht verspürt haben mag, abbauen, nicht aber die Qualität.“ So bestellt Bader nicht die „Bestsellerlis­ ten rauf und runter“, sondern versteht die Buchhandlung als verkäufliche Privatbiblio­ thek: „Alles, was Sie hier finden, könnte auch bei uns zu Hause im Regal stehen.“ Dazu gehören ganze Reihen wie etwa die liebevoll gestalteten kleinen Bände der Insel Bücherei, viele von Autoren handsignierte Exemplare, eine große Auswahl an Literatur über das Judentum sowie eine philosophi­ sche Abteilung, ein Antiquariat und die bei Kunden sehr beliebten Gedichte in der ge­ stochenen Handschrift ihres Mannes. Kann man damit in Zeiten einer schwä­ chelnden Buchbranche überleben? „Man

Den Anstoß für die Gründung der Buch­ handlung hatte die Eröffnung des Rom­ bach-Center 1978 gegeben, in dem einzel­ ne Filialen des Hauses zusammengefasst wurden. Zwei davon hatte Thomas Bader zuvor geleitet, doch ein „Buchkaufhaus“ sei seine Sache nicht gewesen: „Stattdes­ sen nahmen wir all unseren Mut zusam­ men und eröffneten, ganz bewusst am Tag des Sturms auf die Bastille, unsere kleine Buchhandlung. Quasi eine Revolution ge­ gen die Vereinheitlichung und die Größe“, so Bader. Womit sie es immerhin in den Bildband „Die schönsten Buchhandlun­ gen Europas“ geschafft haben.

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Fotos: © Julia Rumbach

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m 14. Juli, dem Tag der Französischen Re­ volution, wird die Freiburger Buchhand­ lung zum Wetzstein 40 Jahre alt. Damit ist sie zwar nicht die älteste der Stadt – die Buchhandlung Rombach wurde 1970 er­ öffnet und Herder als „Literarische An­ stalt“ sogar schon 1849. Aber sie ist eine ganz besondere, sowohl was ihr Sortiment als auch ihre Erscheinung angeht. Nicht umsonst zählt sie zu den 20 schönsten Buchhandlungen Europas.


TRIREGIO

Künstler-Trio Singende Orte BROLLIET, NASH UND DIE VERGÄNGLICHKEIT

ZUM 25. MAL IM DREILÄNDERECK: STIMMEN-FESTIVAL

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Foto: © Fondation Fernet-Branca

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s kann durchaus faszinierend sein, wenn der Wer­ degang eines Kunstsammlers anhand seiner er­ standenen Werke und seiner Sammelleidenschaft greifbar wird. Und so zeigt die Fondation Fer­ net-Branca in Saint-Louis jetzt erstmals Werke aus der Sammlung David Brolliets.

Neben seiner Begeisterung für die zeitgenössische Kunst ist der aus Genf stammende Sammler für sein politisches Engagement, als Filmproduzent, Schauspieler und Sänger bekannt. Die Retrospektive präsentiert den Sammler, seine Vorlieben, seine Vielseitigkeit und sein Engagement. Die Werke erzählen nebenbei auch die Geschichte seines Le­ bens als ambitionierter Kunstkenner. Der Rundgang be­ ginnt bei einem Objekt, auf das er in der renommierten Genfer Galerie Pierre Huber – als damals 18-Jähriger – ge­ stoßen war: eine Skulptur des Künstlers Jean-Philippe Au­ banel. Von dort an zeichnet sie den Weg nach. Neben der Ausstellung „40 Jahre Sammelleidenschaft und ein 60-minütiger Dokumentarfilm“ ist in der Fondati­ on Fernet-Branca auch das Werk des britischen Bildhau­ ers und Zeichners David Nash zu sehen. Nash setzt sich seit jeher mit „lebenden“ Materialien auseinander: Er be­ schäftigt sich mit den Veränderungen in der Natur, den Verwitterungserscheinungen, den Jahreszeiten – und mit der Zeit an sich. Zu sehen sind Säulen, Spitzen, Berge, Rümpfe und Stämme, gefertigt aus Bäumen, die Nash mit der Kettensäge oder dem Gasbrenner bearbeitet. Die dritte Ausstellung zeigt Werke von Léa Barbazan­ ges, Céline Cléron, Marie Denis, Stéphane Guiran und Philippe Lepeut und spiegelt den Begriff der Vergäng­ lichkeit wider. Allesamt verstehen sie diese Vergänglich­ keit nicht als Endlichkeit, sondern vielmehr als eine sich stetig verändernde Welt. vas

s war im August 1994, als die Stadt Lörrach zu einer ungewöhnlichen Open-Air-Konzertbühne wurde: Unter dem Titel „Stimmen“ kamen an verschiedenen Orten zwölf höchst unterschiedli­ che Konzerte zur Aufführung – und legten den Grundstein für ein Musikfestival, das nun zum 25. Mal stattfindet und heute zu den bedeutendsten in Deutschland gehört. Das ist dem breit gefächerten stilistischen Spektrum und dem fein ausgearbeiteten Programm mit handverlese­ nen Musikern zu verdanken – aber auch der Tatsache, dass das Festival über Grenzen geht und die trinationale Region am Oberrhein zusammenbringt: Die Konzerte werden in Südbaden, der Nordschweiz und im Elsass ge­ geben – an ziemlich pittoresken und klangvollen Orten. Außer dem Burghof, dem Marktplatz und dem Rosenfels­ park in Lörrach gehören auch das Théâtre La Coupole in St. Louis, die historische Reithalle in Riehen und der Domplatz in Arlesheim dazu. Eröffnet wird das 25. Stimmen-Festival am 17. Juli im Burghof von Jazzsänger Jeff Cascaro, dessen Quartett emotionale Musik mit viel Groove spielt. Danach gibt es täglich Konzerte, die von Rock, Indie und Folk bis zu mo­ derner und klassischer Klassik reichen. Unter den Teil­ nehmern sind einige Newcomer, aber auch Künstler mit berühmten Namen: Am 28. Juli gibt es einen Auftritt von Dweezil Zappa, der es spielend schafft, die enigmatische Musik seines Vaters Frank zu dechiffrieren. Und tags da­ rauf kommt Robert Plant, der legendäre Sänger von Led Zeppelin, mit seiner aktuellen Band. Und singt. ewei

INFO Stimmen-Festival Lörrach Mit Konzerten in Lörrach, Riehen, Arlesheim, St. Louis 17. Juli bis 5. August 2018 Info: www.stimmen.com Zauberhafte Stimmung auf dem Domplatz in Arlesheim. Foto: © Stimmen Festival Lörrach

INFO Fondation Fernet-Branca, 2, Rue du Ballon, Saint-Louis Geöffnet von Mittwoch bis Sonntag, 13 bis 18 Uhr Ausstellungsdauer: bis 30. September JULI/AUGUST 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 63


MUSIK

VIRTUOSE VAGABUNDEN MALAKA HOSTEL LASSEN KOJOTEN HEULEN

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von Till Neumann

lack Forest Neo Brass nennen die fünf Frei­ burger von Malaka Hostel ihren Sound. Und der ist bunter als eine Blumenwiese: Ska, Swing, Polka, Balkan oder Reggae sind nur fünf Genres, die die Band auf die Büh­ ne bringt. Viele Fans haben sie damit in den vergangenen Monaten zum Tanzen ge­ bracht – jetzt wartet das ZMF-Spiegelzelt auf die „Malakas“. In der Zwischenzeit neh­ men die „Kojoten“ mit Headquarter im Ökoviertel Vauban ihr erstes Album auf.

„Was uns live auszeichnet? Eskalation auf der Bühne und davor“, sagt Bassist Werner im neuen Video der Band. Darin stellen sie sich und ihr jüngstes Projekt vor: eine Crowdfunding-Kampagne fürs Album. Auf einer durchgerockten Couch sitzen sie da mit Strohhut in der Vauban, reiten auf einem Steckenpferd, fahren mit dem Tretroller durchs Bild und spie­ len Mundharmonika neben einem riesi­ gen Kuscheltier-Tiger.

„Disco Fatale“ soll das De­ Früher spielten sie in der bütwerk heißen. Wer die „Ma­ Wagenburg, jetzt auf dem ZMF lakas“ schon mal live gesehen hat, weiß, dass die Disko-Post Alternativ ist bei den „Malakas“ Pro­ abgeht: So brachten die Musiker um Frontmann Viktor Myron Wagner im ver­ gramm. Der Bandname hat seine Wurzeln gangenen Jahr nicht nur das Fürstenberg­ in der WG von Sänger Viktor Myron Wag­ zelt des ZMF ordentlich zum Kochen. Mit ner (32) und Mundharmonikaspieler Hol­ Texten auf Spanisch, Deutsch und Eng­ ger Guirisberger (42) über der Susi-Bar lisch, sauberen Stilbrüchen und jeder Men­ der Vauban: „Hier sind viele durchgereist, ge Interaktion reißen die Jungs ihr Publi­ haben bei uns auf der Couch gepennt“, er­ kum fast wöchentlich mit. Nicht nur das innert sich Wagner. Untereinander hat man sich für gewöhnlich „Malaka“ ge­ ZMF-Publikum feiert da ausgelassen. 64 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2018


WORLD BEAT Wild und frei wie Kojoten wollen die fünf sein. Ihr Logo zeigt den Kopf des Steppen­ wolfs – mit einer orangenen Augenklappe. Ein bisschen Pirat, ein bisschen Gauner, ein bisschen Traumtänzer. „Somos clientes que no pagan“, singen sie. Also „Kunden, die nicht zahlen“. Dass sie knapp bei Kasse sind, liegt nahe. Die Crowdfunding-Kampagne soll nun hel­ fen, die Albumproduktion zu stemmen. Und so den nächsten Schritt zu machen: „Keiner hier will Superstar werden“, sagt Viktor My­ ron Wagner. Ziel sei vielmehr, in eine Liga zu kommen, in der es funktioniert, Musik und Freizeit in Einklang zu bringen.

Der einäugige Kojote jault live lautstark mit Sein Traum ist, „eine souveränere Tour“ spielen zu können, bei der viele in die Clubs kommen, um mit den „Malakas“ zu feiern. Wagner weiß: „Dafür müssen wir nochmal ordentlich arbeiten, es ist ein großer Batzen bis dahin.“ Guirusberger ist zuversichtlich, dass es klappen kann: „Es soll natürlich kommen, nicht mit einem großen Sprung.“ Er wünscht sich einen organischen Prozess und findet: „Die Pflanze wächst gut.“ Bei ihrem ZMF-Konzert 2017 haben sie eindrucksvoll bewiesen, wie man Party macht. Somit haben sie den Sprung vom New­comer-­Konzert im Fürstenbergzelt ins bezahlte Programm des Festivals geschafft. Dieses Jahr spielen sie im Spiegelzelt und versprechen ein paar Überraschungen. Si­ cher ist: Die Kojoten werden wieder heu­ len. Denn zu gerne jaulen sie gemeinsam mit dem Publikum um die Wette. Wer auch immer im Video zu „Coyotes de l’Amor“ zu Grabe getragen wird – ihre Mu­ sik ist es sicher nicht.

LIVE Malaka Hostel spielen am 15. Juli im Spiegelzelt des ZMF. „Dirty Ska meets World Beats“ lautet das Motto. Los geht’s um 21.45 Uhr.

Fotos: © Tobi Krahl & Till Neumann

nannt. Ein böses griechisches Schimpf­ wort, das auch als kumpelhafte Ansprache genutzt wird – etwa wie „Alter“ im Deut­ schen. So auch in den quietschbunten Ma­ laka-Hostel-Sphären. Die fünf bunten Vögel teilen eine Geistes­ haltung: „Wir sind alle Weltenbummler und Vagabunden“, erklärt Wagner. Die weit Gereisten mit teils bewegter Vergangenheit haben sich 2015 zusammengefunden. „Wir waren damals ein Pool von Leuten, die Bock hatten, Musik zu machen“, erzählt er. Eine Geigenspielerin mischte mit, genau wie Mundharmonika-Mann Guirisberger. Kon­ zerte gab’s unter anderem in der Wagenburg „Kommando Rhino“, in der Wagner lebte. „Wir haben viel spontan gejammt“, erinnert sich der Mann mit den langen Dreadlocks. Nach einigen Shows zog es die Geigerin in die Ferne. Parallel entstand die Idee, ein Demo aufzunehmen. Rund um die ersten Aufnahmen vor drei Jahren for­ mierte sich dann zum ersten Mal eine fes­ te Gruppe. „Anfangs war es ein Hin und Her, seit der ersten Platte ist es stabil“, erzählt Guirisberger. Malaka Hostel war geboren. Eine Truppe virtuoser Vagabun­ den mit Musik in der Blutbahn. Mit Nachdruck feilen die Musiker seit­ dem an Songs und Shows. Die meisten ­Ideen bringt Wagner ein, erzählen er und Guirisberger bei einem Kaffee vor der Su­ si-Bar. Gemeinsam werden aus Skizzen Tracks gemacht, neuerdings gibt’s sogar ei­ nen Walzer im Programm. „Da ist viel Herz­ blut drin, alle stecken 100 Prozent Energie rein“, schwärmt Guirisberger. „Jeder ist rich­ tig krass am Start dafür, das hätten wir frü­ her nicht gedacht“, ergänzt Wagner. Einen großen Schritt hätten sie so zuletzt gemacht, seien deutlich tighter geworden. Natürlich gewachsen sei das, so Guiris­ berger. Er ist mit seiner Mundharmonika ein echter Exot. „Wenn wir Black Forest Neo Brass machen, bin ich am meisten Neo im Brass“, sagt der Betreiber eines Musik­ studios und lacht. Als Teil der Bläsersection fungiere er – irgendwo zwischen Klarinette, Posaune und Akkordeon. Wie blendend sich das Instrument in den Bandsound einfügt, zeigt ihre erste Single „Coyotes de l’Amor“ aus dem ver­ gangenen Jahr. Wie ein staubiger Western eröffnet es den Song, der sich plötzlich zu einer ausgelassenen Partynummer wan­ delt. Mit einem Sarg zieht die Band durch die Felder, um am Ende ausgelassen ums riesige Lagerfeuer zu tanzen.

Feuer und Flamme: Tatán González Luis ist Trompeter der Band. JULI/AUGUST 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 65


e n g a a n r F ... 4

FAVELA & STEAMBOAT

NAMIKA

Rap

Hip-Hop/Rap

STEEZY

QUE WALOU

... Marc Oßwald von vaddi Concerts

Foto: © Klaus Polkowski.

KOFFERRAUM VOLL SCHAMPUS

Gras, Golf und Girls

Ohrwurm-Potenzial

30.000 Fans jubelten Anfang Juli Iron Maiden in Freiburg zu. Die Weltstars gebucht hat Marc Oßwald (53) von Vaddi Concerts und dem ZMF. Wie kriegt man Musiklegenden in den Breisgau? Im Interview mit Till Neumann erzählt Oßwald von Schampus, Erpressung und dem nächsten Coup.

(tln). „Wer sind einzigen Rapper in Freiburg mit Klasse?“ Die Frage ist für Favela und Steamboat schnell beant­ wortet: sie natürlich. Schließlich ha­ ben die Jungs „jeden Tag einen Hit in der Dropbox“. So zu hören im Titel­ track ihrer EP „Steezy“. Eine Sirene jault, die Hihat trommelt nervös, die Stimmen klingen heiser. Untergrund-Rap aus dem Freibur­ ger Westen schallt hier durch die Bo­ xen. Die zwei Rapper skizzieren in vier Trap-Tracks ihre Traumwelt: Kiffen, Mädels aufreißen, im 3-er-Golf ab­ hängen, Musik machen. So ungeho­ belt wie ihre Ansprüche ans Glück kommt auch der Sound daher: Brach­ ial klingen die Beats, rotzig die Texte, unpoliert die Produktion. Ihr Handwerk beherrschen die Jungs zweifelsohne und treiben das Proletending so auf die Spitze, dass es Comedy-Wert hat. Wer sonst würde bei klarem Verstand einen ganzen Song einem 3er-Golf widmen? „Wir feiern unser Leben“, sagen die beiden zur Eskalation auf vier Rädern. Ein weiterer Track heißt „Viele Frau­ en“. Das Autotune-getränkte Stück er­ zählt die gleiche Geschichte: zu viele Drogen, zu viele Girls, zu wenig Plan im Leben. Unterstrichen wird das von verplanten Anrufbeantworter-­Ansagen der beiden. Jugendfrei ist das nicht. Dafür aber energiegeladen, witzig und rotzfrech.

(iba). Mit ihrem Hit „Lieblingsmensch“ schaffte es Namika 2015 an die Chart­ spitze. Die Frankfurterin hat damit ei­ nen echten Ohrwurm abgeliefert – auf YouTube gab es rund 78 Millionen Klicks. Danach war es lange Zeit ziem­ lich ruhig um sie. Drei Jahre später ist nun ihr zwei­ tes Album mit dem Titel „Que Wa­ lou“ (Gern geschehen) erschienen. An den 16 Tracks hat die marokka­ nisch-deutsche Sängerin anderthalb Jahre geschrieben. Der Druck, noch­ mals einen Ohrwurm wie „Lieblings­ mensch“ abzuliefern, ist da. Und Na­ mika liefert: Die erste Single „Je Ne Parle Pas Français“ hat das Zeug, der nächste Sommerhit zu werden. Auch weitere Songs der CD über­ zeugen: Die Melodie von „Alles was zählt“ animiert zum Summen und Mitschunkeln. „Ok“, „Programm“ oder „Zirkus“ könnten der 26-Jährigen wie­ der einen Charterfolg bescheren. Unverkennbar ist die inhaltliche Nähe zu ihrem Debütalbum: Hanan Hamdi, so ihr bürgerlicher Name, stellt erneut sich und ihre Geschichte vor. Mit sanften Tönen erzählt sie über Lie­ be, Herkunft und Vorbildfunktionen. Namika kombiniert gefühlvoll Ge­ sang und Rap mit Einflüssen aus Pop, marokkanischer Tanzmusik und Soul. Erneut schafft sie es, mit ihren tief­ gründigen Texten zu berühren. Mit­ singen garantiert.

Herr Oßwald, wie holt man Stars nach Freiburg? Viele Faktoren spielen eine Rolle: Geld, ein passender Termin, technische Voraussetzungen, die Kompaktheit der Location. Am Ende braucht man die bestmögliche Schnittmenge aus allen. Haben Stars Extrawünsche fürs Catering? Ganz viel teuren Champagner – so was gab’s früher. Höchstens Newcomer, die hochgeschossen werden, kommen mit solchen Forderungen an. Wir erlauben uns dann auch mal den Hinweis, dass sie das gerne selber zahlen können. Ob es aber 8 oder 20 Flaschen Wein sind, ist egal. Die stellen wir hin. Was war der ausgefallenste Wunsch? Anfang der 2000er hat uns Nigel Kennedy erpresst: Er wollte den Kofferraum seines Autos mit Champagner gefüllt haben. Wir haben das zähneknirschend gemacht. Iron Maiden sind lange im Geschäft, die haben sowas nicht nötig. Welche Weltstars haben Sie sonst noch an der Angel für ein Konzert in Freiburg? AC/DC. Da habe ich es immer wieder versucht. Einmal waren wir knapp davor. Oder Metallica. An denen sind wir immer noch dran. 2019 kann an der Freiburger Messe wegen Bauarbeiten nur in kleinerem Rahmen gespielt werden. Die nächste Gelegenheit wäre 2020. 66 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2018


DIRK MAASSEN

COMPILATION

Neo Klassik

Rap & Breakbeat

AVALANCHE

GOLDEN HITS

DER SOUNDDRECK ... ... zum Junggesellen-Abschied

Leiser Schneefall

Blasmusik und Bonbons

(tas). Eine Lawine – englisch: Avalan­ che – stellt man sich heftiger vor. Der Opener „Eclipse“ startet mit sanften Tastenanschlägen eines einzelnen Pi­ anos. Mehr leiser Schneefall als roll­ ende Massen. Trotzdem ist der Titel des Albums nicht falsch: Dirk Maas­ sen hat mit seiner neuesten Platte tatsächlich eine kleine Lawine los­ getreten. Die ersten drei Singleaus­ kopplungen „Gravity“, „Eclipse“ und „Falling Stars“ wurden auf Spotify & Co. bereits viele hunderttausend Mal abgerufen. Der Ulmer Komponist zählt damit weltweit zu den meist be­ achteten deutschen Komponisten für postmoderne Klaviermusik. Für „Avalanche“ hat er sich berühm­ te Unterstützung an seine Seite geholt: Lorenz Dangel, Träger des Deutschen Filmpreises, und das Filmorchester Babelsberg sind mit von der Partie. So bilden die drei Titel mit Orchester eine schöne Ergänzung zu den klaren Klängen des Solo-Pianos. Bei „Alle­ wind“ gesellen sich fado-artige Gitar­ rensequenzen hinzu, bei „Helios“ un­ termalen Streicher die kontemplative Stimmung. Überladen sind die Stücke auch mit Orchesterunterstützung nie – im Ge­ genteil: Was sich wie ein roter Faden durch die zehn Stücke zieht, sind die zurückhaltenden, reduzierten Klän­ ge, die dazu einladen, sich einfach in die Musik fallen zu lassen.

(tln). Goldene Hits des Münchner Hip­ hops – da denkt man an Blumentopf, Main Concept oder Creme Fresh. Doch die sucht man hier vergeblich. ramp-Records-Chef Tobias Kirmayer veröffentlicht bewusst Tracks, die kei­ ner kennt. Sie als „Goldene Hits“ zu bezeichnen, ist gewagt. Doch seine Compilation liefert wahr­ lich Edelmetall. Auf 28 Tracks schillert die HipHop-Kultur der 90er-Jahre in allen Farben: Lässiger Deutschrap trifft auf brodelnde Breakbeats, au­ genzwinkernde Battletracks auf baye­ rische Blasmusik, Münchner Unter­ grund-Acts auf HipHop-Legenden. Kein Geringer als Masta Ace ist als Feature der Crew „Primatune“ zu hören. „Riesen Himbeer Bonbon“ heißt ein Track – der auch Album­ titel sein könnte. Trap, Gangsterrap oder Autotune sind auf dieser liebevoll zusammen­ gestellten Old-School-Compilation nicht vertreten. Dafür derber Stoff für Nostalgiker der Golden Era des Deutschrap: Boom-Bap-Beats zum Kopfnicken gibt’s genauso wie feine Scratches und ausgefeilte Texte. Die Auswahl überzeugt mit einem Mix aus Textlastigem und Instrumen­ tals. epi.kur, Blockboy oder Mike Sen­ se dürfte außerhalb Münchens kaum einer kennen. Nach dem Durchhören der Jubiläums-Platte fragt man sich: Warum eigentlich?

„Abschied ist ein scharfes Schwert“ metapher­ te und sang leider auch dereinst Roger Whittaker, unser fünftliebster Schlagerbrite nach wem auch immer. Wenn Abschied nun ein scharfes Schwert ist, was ist dann aber erst der Junggesellen- wie auch Junggesellinnen-Ab­ schied? Gartenhäcksler, Kettensäge, Fallbeil oder doch eher alles zusammen gleichzeitig? Handelt es sich doch dabei um junge, heirats­ wütige Menschen, die marodierend durch unsere Innenstädte ziehen und verbrannte Erde respektive Körperausscheidungen verschiedenster Art und Konsistenz als auch extremster olfaktorischer Impertinenz hinterlassen. Musik spielt dabei wieder einmal eine nicht zu unterschätzende, ungute Rolle – der Alkohol assistiert selbstlos als Katalysator. Beispielhaft der „ Popo-Song“ vom Album „Junggesellenabschied- Party bis die Glocken läuten“: „Oh oh oh, oh oh oh, zeig doch mal dein Popo, wir woll’n den Popo seh’n, denn dein PoPo ist so schön, Popopolitik, Popopoesie, zeig doch mal dein Popo“ – da hilft nur die PoPopolizei. Erwähnenswert noch die Seite ­Jungesellenabschied.net, wo man selten lustige Accesoires ordern kann, wie zum Beispiel eine Penis-Brille, Penis-Strohhalme oder die Sexpuppe mit drei ... den Rest ersparen wir Ihnen und uns.

In diesem Sinne, Schwerter zu Handschellen. Für die Freiburger PoPoPolizei, Ihr Ralf Welteroth


KINO

Coexister KOMÖDIANTISCHES „HIMMELFAHRTSKOMMANDO“ von Michaela Moser

Ein Lied in Gottes Ohr Frankreich 2017 Regie: Fabrice Eboué Mit: Fabrice Eboué, Audrey Lamy, Ramzy Bedia u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 89 Minuten Start: 26. Juli 2018

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M

usikproduzent Nicolas, der schon lange keinen Erfolg mehr verzeich­ nen kann, wird durch seine neue Konzernche­ fin unter Druck gesetzt. Er soll seine neue Band innerhalb von sechs Monaten an die Spitze der Charts führen – sonst ist er raus.

Auf der Suche nach neuen Talen­ ten, die die Musikwelt noch nicht ge­ hört hat, legt er los: Vom schwulen Vorstadt-Rap über Bikini-Pop bis hin zur depressiven Gitarrenballade wüh­ len sich Nicolas und seine gewiefte Assistentin Sabrina durch allerlei Me­ lodien. Doch was die Popkultur so hergibt, ist alles schon mal da gewe­ sen. Erst eine abgefahrene Kostüm­ party bringt Nicolas auf eine gewitzte Idee: ein Rabbi, ein Priester und ein Imam sollen es richten – eine seltene wie verwegene Bandkombination. Gerade die aufgeheizte Stimmung im Land, so glaubt Nicolas, gibt das richtige Klima her für die Verbindung dessen, was unvereinbar scheint. Und nicht umsonst ist wohl jede Religion auf eines ganz sicher angewiesen: das gemeinsame Singen. Was Nicolas und Sabrina nicht ah­ nen, ist, dass sich in den religiösen Kul­ turen so einiges an musikalischen Ku­ riositäten tummelt. Auf der Suche nach den geeigneten Protagonisten ihrer Band stolpern sie über ruppig rappende Rabbis, abgrundschief predigende Pfarrer und sehr aufgedrehte Imame. Es scheint, die Idee ist gut, doch die re­ ligiöse Welt noch nicht bereit. Nach einigen Unwägbarkeiten ge­ lingt es ihm und seiner Assistentin je­ doch, aus den drei Himmelsdienern Rabbi Samuel, Pater Benoît und dem Imam Moncef eine Band zu formen.

Fotos: © Neue Visionen

Schnell haben sie die gewünschten ersten Erfolge, doch Nicolas, Sabrina und die Musiker haben unterschätzt, wie viel Konfliktpotenzial die Vereini­ gung der drei Religionen in sich birgt. Die Zankereien zwischen den Bandmit­ gliedern eskalieren und Nicolas wirft das Handtuch. Doch da vertragen sich die drei komödiantischen „Himmels­ fahrtskommandisten“ und wollen das Projekt nicht scheitern lassen … Passend zur Debatte über religiöse Toleranz drehte Regisseur Patrice Eboué eine launige Musikkomödie, in der ein Rabbi, ein Priester und ein Imam eine Boygroup-Band gründen und sich singend zusammenraufen. Mit scharfkantigem Humor wird über antisemitische Verschwörungstheo­ rien, den Holocaust, den Zölibat, pä­ dophile Priester oder den IS gewit­ zelt. Mit ihrem Gemeinschaftswerk „Coexister“ gelingt ihnen eine Feel­ good-Pop-Hymne, die sich mit Stär­ ke gegen die Spaltungen der Gesell­ schaft stemmt.


KINO 303

GUTE MANIEREN

Foto: © Alamode

Deutschland 2018 Regie: Hans Weingartner Mit: Mala Emde, Anton Spieker u.a. Verleih: Alamode Laufzeit: 145 Minuten Start: 19. Juli 2018

Foto: © Salzgeber

Brasilien 2017 Regie: Marco Dutra & Juliana Rojas Mit: Isabel Zuaa, Marjorie Estiano, u.a. Verleih: Salzgeber Laufzeit: 135 Minuten Start: 26. Juli 2018

GRENZENLOS

Foto: © Submergence SARL

Deutschland 2018 Regie: Wim Wenders Mit: Alicia Vikander, James McAvoy u.a. Verleih: Warner Laufzeit: 112 Minuten Start: 2. August 2018

Bezaubernde Annäherung

Gefährlicher Vollmond

In der Abwärtsspirale

(ewei). Jule und Jan sind unterwegs. Beide sind 24 Jahre alt, studieren in Berlin und haben ein Ziel: Jule, die ge­ rade eine Prüfung vermasselt hat und schwanger ist, will zu ihrem Freund nach Südportugal. Jan, dessen Weiter­ studium wegen eines abgelehnten Sti­ pendiumantrags unsicher ist, will zu seinem in Nordspanien lebenden Va­ ter. Sie reist in ihrem alten Daimler-­ 303-Wohnmobil, er als Tramper. Als sich ihre Wege kreuzen, nimmt sie ihn kurzerhand ein Stück mit. Al­ lerdings nur ein kleines: In ihrem an­ geregten Disput über Gott, die Welt, den Kapitalismus und die Chemie der Gefühle geraten sie bald in Unstim­ migkeiten; Jule wirft Jan aus dem Auto, fährt allein weiter. Unter dramatischen Umständen kommen sie wieder zu­ sammen, setzen die Fahrt durch male­ rische Orte und Landschaften ge­ meinsam fort – lebensmutig, neugierig, philosophierend, die Geheimnisse des anderen erahnend. 145 Minuten dau­ ert diese bezaubernde Annäherung auf 2500 Kilometern – und dürfte gerne länger gehen.

(ewei). Als Clara den künftigen Kin­ dermädchenjob bei der schwangeren Ana bekommt, ist sie zunächst erleich­ tert: Für die schwarze Frau, die eine Krankenschwesternausbildung nicht zum Abschluss gebracht hat und in prekären Verhältnissen lebt, ist die Ar­ beitssuche nicht einfach; die Möglich­ keit, sofort bei der wohlhabenden wei­ ßen Frau einziehen und als Haushaltshilfe und Schwangerschaftsbe­ gleiterin arbeiten zu können, löst eini­ ge akute finanzielle Probleme. Bald entwickelt sich eine Freund­ schaft, ja, eine Liebesbeziehung zwi­ schen den beiden Frauen, die nur durch Anas seltsames Verhalten bei Vollmond belastet wird. Und auch nur für Clara: Ana kann sich morgens nicht an ihre nächtlichen Unterneh­ mungen erinnern. Als sie bei der Ge­ burt ihres Sohnes Joel stirbt, kümmert sich Clara um ihn – und versucht, aus dem kleinen Werwolf einen sozialver­ träglichen Menschen zu machen – mit viel Liebe, streng vegetarischer Kost und striktem Anketten in Vollmond­ nächten. Feinfühliger Horror.

(ewei). Danny ist Meeresbiologin; sie erforscht die allertiefsten Zonen der Ozeane auf Lebensformen, die selbst in vollkommener Finsternis noch funktionieren – und möglicherweise für das Überleben der Erdenmen­ schen wichtig sein könnten. Auf ih­ ren riskanten Forschungsauftrag in einer Tiefseetauchkapsel bereitet sie sich in einem kleinen exklusiven Ho­ tel in der Normandie vor. Dort trifft sie auf den Wasserbauingenieur James, der gleich-falls eine schwieri­ ge Mission vor sich hat. Dass dieses Vorhaben nichts mit ei­ nem Brunnen- und Bewässerungssys­ tem in Kenia zu tun hat, verschweigt er ihr: In Wahrheit ist James ein briti­ scher Geheimagent, der in Somalia ein Ausbildungslager für islamistische Selbstmordattentäter aufspüren soll. Um einen klaren Kopf zu behalten, wi­ dersetzt er sich zunächst seiner aufkei­ menden Liebe zu Danny. Vergeblich. Später, als er schwer geschunden in einem finsteren Verlies dieser bruta­ len Gotteskrieger liegt, wird ihn diese Liebe am Leben halten.


KINO AUS NÄCHSTER DISTANZ

Foto: © Studiokanal

voll von der Rolle

DAS GEHEIMNIS VON NEAPEL

Jasmin bekommt Besuch: Sommernacht mit Marianne Sägebrecht und Jack Palance

Out of Harmonie (ewei). Kein Sommer ohne Freiluftkino – und schon gar nicht ohne das handverlesene Filmangebot, das die Betreiber der Friedrichsbau-, Harmonie- und Kandelhofkinos sechs Wochen lang jeden Abend im lauschigen Innenhof des Schwarzen Klosters präsentieren. Da gibt es eine Rückschau auf die Highlights der vergangenen zwölf Kinomonate, Premieren brandneuer Streifen, Filme, die auf dem Weg sind, Klassiker zu werden – und, natürlich, zwei, die es schon sind: Klasse Klassiker. Heuer gibt es in dieser Kategorie unter dem Sternenhimmel über dem Schwarzen Kloster Wim Wenders’ Fantasy-Drama „Der Himmel über Berlin“ aus dem Jahr 1987 zu sehen (2.8., 21,30 Uhr). Und, als besonderes Schmankerl, „Out of Rosenheim“, das aus dem gleichen Jahr stammende, abgefahrene und Kult gewordene Lustspiel-Drama um die gewichtige, von Marianne Sägebrecht genial verkörperte Oberbayerin Jasmin Münch­gstettner, die in einem heruntergekommenen Motel im kalifornischen Ödland eine diametral gegensätzliche Lebensfreundin findet – und einen alten Hippie als neuen Liebhaber (16.8., 21 Uhr). Zum Programm des Sommernachtskinos gehört natürlich auch der Freiburger Überraschungserfolg „Weit – die Geschichte von einem Weg um die Welt“; seit März 2017 läuft diese von Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier gedrehte sehr persönliche Reisedokumentation im Friedrichsbau und wird denn auch gleich zweimal gezeigt (27.7., 21.30 Uhr & 27.8., 21 Uhr). Ein ganz neues, einfach hinreißendes und ebenfalls reiselustig machendes Road-Movie gibt es mit dem Spielfilm „303“ am vorletzten Abend (31.8., 20.45 Uhr). Außerdem gibt es ein Wiedersehen mit den „Hidden Figures“, mit „Lady Bird“, mit der „Verlegerin“ – und Begegnungen mit künftigen Berühmtheiten. Info: www.sommernachtskino.de

70 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2018

Foto: © NFP marketing & distribution

Deutschland/Israel 2017 Regie: Eran Riklis Mit: Golshifteh Farahani, Neta Riskin u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 93 Minuten Start: 9. August 2018

Foto: © Prokino

Italien 2018 Regie: Ferzan Ozpetek Mit: Giovanna Mezzogiorno, Alessandro Borghi u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 113 Minuten Start: 16. August 2018

Verdeckte Identitäten

Zu viele falsche Spuren

(ewei). Während die seit zwei Jahren „schlafende“ israelische Geheim­ agentin Naomi in ihrem schicken Tel Aviver Appartement von ihrem ehe­ maligen Mossad-Kontaktmann be­ sucht wird, spielt sich an der Küste vor Beirut eine dramatische Szene ab: Die enttarnte libanesische Infor­ mantin Mona wird von Mossad-Leu­ ten mit einem Schnellboot in letzter Minute vor dem Zugriff der libanesi­ schen Befreiungsarmee gerettet. Sie wird nach Hamburg gebracht, einer Gesichtsoperation unterzogen und soll nach der Genesung mit neu­ er Identität nach Kanada ausreisen. Und Naomi, die als Claudia Berger nach Deutschland reist, soll sie in dieser Zeit beschützen. Oder bewa­ chen: Lange ist beiden Frauen näm­ lich nicht klar, ob sie sich – und den immer wieder auftauchenden kons­ pirativen Verbindungsleuten – über­ haupt vertrauen können. Trotz allen Misstrauens kommen sich Mona und Claudia näher und versuchen, das komplexe Geheim­ dienstspiel zu entwirren.

(ewei). Als die Neapolitanerin Adria­ na auf einer Party dem ihr unbekann­ ten Andrea begegnet, ist sie sofort elektrisiert von dem deutlich jünge­ ren Mann. Er scheint ihre Faszinati­ on zu spüren – und zu erwidern: Die beiden verbringen eine leidenschaftli­ che Nacht, können gar nicht genug voneinander bekommen. Und zu Ad­ rianas Überraschung scheint es nicht bei diesem einen Mal zu bleiben: Am Morgen schlägt Andrea ihr vor, sich abends zu treffen. Voller Vorfreude wartet sie auf ihn. Doch er kommt nicht. Sie sieht ihn erst am nächsten Morgen wieder, als seine Leiche auf dem Tisch des Insti­ tuts liegt, wo sie als Gerichtsmedizi­ nerin arbeitet. Zumindest glaubt sie, dass es sich bei dem Ermordeten um Andrea handelt; der Tote hat die glei­ che Tätowierung wie er. Adriana ist schockiert, versucht herauszufinden, wie es zu der Tat kam. In verborgenen Gassen und Winkeln Neapels verfolgt sie viele falsche Spuren, glaubt, ihn in der U-Bahn zu sehen – und wird tief in den Mordfall verwickelt.


DVD THREE BILLBOARDS USA 2017 Regie: Martin McDonagh Mit: Frances McDormand u.a. Vertrieb: TCF Home Entertainment Laufzeit: 112 Minuten Preis: ca. 13 Euro

LIEBER LEBEN Frankreich 2016 Regie: Grand Corps Malade Mit: Pablo Pauly, Soufiane Guerab u.a. Vertrieb: good!movies Laufzeit: 111 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Mitten im Kleinkrieg

Nichts geht mehr – oder doch?

(ewei). „Bei der Vergewaltigung er­ mordet“, „Und immer noch keine Fest­ nahmen?“, „Wie kann das sein, Polizei­ chef Willoughby“: Das lässt Mildred Hayes auf drei Werbetafeln am Orts­ eingang der Kleinstadt Ebbing schrei­ ben. Monate sind vergangen, seit ihre jugendliche Tochter getötet wurde. Der Täter wurde nicht gefasst; die trauernde Mutter vermutet, dass die Polizei lieber Schwarze vermöbelt. Der Sheriff will den Kleinkrieg mit Mildred vermeiden. Doch die ist nicht mehr aufzuhalten.

(ewei). Mit viel Humor und ohne fal­ sche Sentimentalitäten erzählt der französische Rapper Grand Corps Ma­ lade in seinem Regiedebüt seine eige­ ne Geschichte: Nachdem er sich ei­ nen Halswirbel gebrochen hat, landet er zuerst in einem Rollstuhl und dann in einem Reha-Zentrum. Dort erhält er die entmutigende Nachricht, dass er für den Rest seines Lebens ge­ lähmt sein wird. Doch er lacht sein Unglück aus, verliebt sich in die schö­ ne Samia – und feiert mit ihr jeden Millimeter Bewegungsfreiheit.

MANIFESTO Deutschland 2016 Regie: Julian Rosefeldt Mit: Cate Blanchett Vertrieb: Universum Film Laufzeit: 95 Minuten Preis: ca. 15 Euro

WELTWEITE FREUNDSCHAFTEN

WIR TÖTEN STELLA Österreich 2017 Regie: Julian Roman Pölsler Mit: Martina Gedeck, Matthias Brandt u.a. Vertrieb: eye see movies Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Künstlerische Textkollage

Dem Abgrund entgegen

(ewei). Cate Blanchett in ungewöhn­ licher Performance: Leidenschaftlich präsentiert die zweifache Oscar-­ Gewinnerin zwölf eindrückliche State­ ments zu verschiedenen modernen Kunstströmungen, etwa zum Dadais­ mus, zum Futurismus, zu Pop Art, zur Künstlergruppe DOGMA 95. In ver­ schiedenen Rollen: als Brokerin, kon­ servative Mutter, Geschäftsführerin, Grabrednerin, Punk, Tanz-Choreogra­ phin, Lehrerin, Fabrikarbeiterin, Jour­ nalistin, Puppenspielerin, Wissen­ schaftlerin – und als Obdachloser.

(ewei). Die unerfahrene 19-jährige Studentin Stella geht ahnungslos auf ihren Untergang zu. Sie wird von dem erfolgreichen Scheidungsanwalt Rich­ ard verführt – und dabei von dessen Ehefrau Anna beobachtet. Kalt und wie versteinert sieht sie den beiden zu – und beschließt, den idyllischen Au­ ßenschein der längst zerrütteten klein­ bürgerlichen Ehe mit allen Mitteln zu wahren: Als die schwangere Stella sich der von Richard erzwungenen Abtrei­ bung verweigert, kommt es zu einem Verkehrsunfall.

Deutschland 2018 Regie: Bülent Gençdemir Dokumentarfilm Vertrieb: Südfilm Freiburg Laufzeit: 83 Minuten Preis: ca. 5 Euro

Freiburger Partnerstädte (ewei). Es begann vor knapp 60 Jah­ ren: Am 6. Juni 1959 unterzeichne­ ten der damalige Freiburger Ober­ bürgermeister Josef Brandel und sein bisontiner Amtskollege Jean Minjoz die Partnerschaftsurkunde zwischen den gerade 160 Kilometer voneinan­ der entfernten Städten Besançon und Freiburg – und besiegelten damit auch auf kommunaler Ebene das Ende der deutsch-französischen Erb­ feindschaft. Die historische Fotografie von der Unterzeichnung des Vertrags ist in einer der ersten Sequenzen der knapp 90-minütigen Dokumentation über die inzwischen 12 Partnerstädte Frei­ burgs festgehalten, die der Filmema­ cher Bülent Gençdemir unlängst ins Kino brachte und die jetzt als DVD in der Bürgerberatung des Rathauses zu haben ist. Über ein Jahr lang war Gençdemir immer wieder unterwegs; er bereiste drei Kontinente, knüpfte Kontakte, sprach sowohl mit Reprä­ sentanten als auch mit Bewohnern der jeweiligen recht unterschiedli­ chen Orte – und stellte fest, dass „Frei­ burg überall einen guten Ruf hat“. JULI/AUGUST 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 71


LITERATUR

Preisträger des kritischen Denkens DIETMAR DATH BRINGT UNVERÖFFENTLICHTE TEXT ZUR GRETHER NACH(T)LESE

von Erika Weisser

Karl Marx von Dietmar Dath Reclam, 2018 100 Seiten, Taschenbuch Preis: 11 Euro

Bei dieser von Grethergelände und Buch­ handlung Jos Fritz organisierten kleinen Reihe sind stets Schriftsteller* und Über­ setzer aus der Region zu Gast. Darunter sind immer wieder auch Autoren, die weit über Freiburg hinaus bekannt sind und es mühelos schaffen würden, größere Räume als den kleinen Innenhof mit literaturneu­ gierigen Menschen zu füllen. In diesem Jahr ist mit Dietmar Dath wie­ der so einer dabei – und nach Auskunft von Grether-Mitarbeiter Thomas Hohner sind die Veranstalter „begeistert“, dass es end­ lich klappt: „Schon seit vielen Jahren“ sind sie hinter dem Autor her, der Chefredak­ teur der Zeitschrift „Spex“ war, seit langem als Feuilleton-Redakteur bei der FAZ arbei­ tet, regelmäßig in verschiedenen Medien Beiträge zu gesellschaftlichen und popkul­ turellen Themen veröffentlicht und fast je­ des Jahr ein Buch schreibt. Zuletzt, im Mai 2018, erschien in der Reihe „Reclam 100 Seiten“ eine gut ver­ ständliche, sehr persönliche und den­ noch fundierte Einführung in die Lehren von Karl Marx und deren Nachwirkung. Zwei Monate zuvor bekam der 48-Jährige den ersten Günther-Anders-Preis, den die gleichnamige Gesellschaft seit diesem Jahr „für kritisches Denken“ verleiht. Dath, der am Rotteck-Gymnasium sein Abitur gemacht und in Freiburg studiert

72 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2018

Lauschen im lauschigen Innenhof: Grethers Nach(t)lese bietet Literatur in heimeliger Atmosphäre.

hatte, ist aus beruflichen Gründen „viel sel­ tener in Freiburg, als mir recht ist“, hofft aber, dass sich das in absehbarer Zeit viel­ leicht wieder ändert und hat vorsorglich seine Wohnung nie aufgegeben. Im vergan­ genen Oktober stellte er beim Freiburger Literaturgespräch seinen futuristischen Roman „Der Schnitt durch die Sonne“ vor, jetzt freue er sich auf die Grether Nach(t) lese am 26. Juli. Und bringt eine bisher un­ veröffentlichte Geschichte aus dem Buch mit, an dem er gerade schreibt, nach seiner Einschätzung aber „dieses Jahr wohl nicht mehr fertig wird“ und noch keinen Titel hat, „den man schon verraten könnte“. Indessen verrät er Titel und Inhalt des Tex­ tes, den er bei Grethers zur Uraufführung bringt: „Beweise fürs Leben“ heißt er und es handelt sich dabei um eine Science-Ficti­ on-Story mit politischem Hintergrund, in der es um „das Verhältnis zwischen einerseits Erkenntnis und andererseits Leben im psy­ chologischen, sozialen und politischen Sinn“ geht. Um eine Art Krimi-Rätsel, in dem „je­ mand verschwindet, keine Spuren hinter­ lässt und gefunden werden muss.“ Man darf gespannt sein. Grether Nach(t)lese Do., 26.7., 2.8. & 9.8., jeweils 20.30 Uhr Kleiner Grether Innenhof, Adlerstr. 12 www.grether.syndikat.org

Fotos: © Grethegelände, intellectures Verbrecher Verlag

E

igentlich ist der kleine Grether-Innenhof kein wirklich öffentlicher Raum. Anders als das benachbarte Gelände jenseits der ehemaligen Gießereihalle, wo sich die Mietshaus-Syndikats-Bewohner den Hof mit Strandcafé, Radio Dreyeckland, Rast­ haus, einer Kita und anderen Gruppierun­ gen und Initiativen teilen, geht es hier eher privat zu. Manchmal gibt es jedoch Aus­ nahmen. Zu diesen gehören seit 2007 drei Sommerabende im Juli und August, an de­ nen der zauberhaft begrünte Ort zur Büh­ ne für die Grether Nach(t)lese wird.


FREZI

NEBEN UNS DIE SINTFLUT

von Stephan Lessenich Verlag: Piper, 2018 240 Seiten, Broschur Preis: 11 Euro

DAS FELD

KLEINS GROSSE SACHE

von Robert Seethaler Verlag: Hanser, 2018 240 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

von Daniela Engist Verlag: Klöpfer & Meyer, 2017 384 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro

Der Preis der Kaffeekapseln

Der Friedhof spricht

Ein Mann ohne Eigenschaften

(ewei). Auf den riesigen, den Wäl­ dern abgerungenen Feldern Südame­ rikas werden unter massivem Chemi­ kalieneinsatz Sojabohnen produziert. Diese dienen jedoch nicht der Ernäh­ rung der örtlichen Bevölkerung, son­ dern landen als Mastfutter in den Ställen Europas und Nordamerikas, bei den in Massentierhaltung zusam­ mengepferchten Fleischlieferanten der dortigen Bevölkerung. In Deutschland werden pro Jahr rund zwei Milliarden Aluminium-­ Kaffeekapseln der Nestlé-Tochter Nes­ presso geleert – das ergibt zwei Milli­ onen Kilo Kaffeekapselmüll. Für die Gewinnung eines Kilogramms Alu­ minium aus dem vorwiegend in Brasi­ lien unter verheerenden Arbeits- und Umweltbedingungen abgebauten Rohstoffs Bauxit werden 14 Kilowatt­ stunden Strom benötigt und acht Kilo Kohlendioxid freigesetzt. Die Liste, die der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Essay aufmacht, lässt sich fortführen: Ob Palmöl aus Malaysia, Baumwolle aus Indien, Di­ amanten aus Afrika − immer profi­ tiert der Globale Norden von den Le­ bensgrundlagen zerstörenden und ausbeuterischen Produktionen im Globalen Süden. Ein gut lesbares Buch, das drastisch den ja schon be­ kannten, aber offenbar verdrängten Zusammenhang von hiesigem Wohl­ stand und dortiger Armut veran­ schaulicht – und bestenfalls zur Än­ derung des Konsumverhaltens bei­tragen könnte.

(dob). Was würden die Toten erzäh­ len, wenn sie denn könnten? In Robert Seethalers neuem Roman „Das Feld“ berichten sie. Etwa der verrückte Pfarrer Hoberg, warum er die eigene Kirche abfackeln musste. Der spielsüchtige Gärtner Len­ nie Martin, wie er wegen der Automa­ ten seine Frau verlor. Heide Friedland, wie es mit den 67 Männern war, die sie hatte und von denen sie nur einen lieb­ te. Oder der Bürgermeister, auf dessen Grab sich die Kleinstadtjugendlichen nun betrinken, von seiner Korruptheit. Es sind fein gesponnene, einfühlsam erzählte Geschichten vom Ende her. Alle die, die hier ihre Leben Revue pas­ sieren lassen – die kleinen Triumphe und Glückseligkeiten, die Katastro­ phen, die Erfüllung, die Leere und die Einsamkeit –, sie liegen auf „dem Feld“, wie die Paulstädter ihren Friedhof nen­ nen. Paulstadt, das ist ein kleiner Kos­ mos des Daseins, in einer halben Stun­ de ist man von einem Ende zum anderen gelaufen, eine Straßenbahn sollte mal hin, kam aber nicht, und das Einkaufszentrum am Stadtrand stürzte ein und begrub drei Menschen unter sich. Hier laufen die Stränge zusam­ men. Und die Frage lautet: Hätte das Leben ganz anders sein können? Und wenn ja, wie und mit wem. Der Österreicher Seethaler, der mit „Ein ganzes Leben“ und „Der Trafi­ kant“ den Durchbruch schaffte, wird immer mehr zum ernsten, zum nach­ denklichen Erzähler. Das ist nicht un­ bedingt eine schlechte Nachricht.

(ewei). Harald Klein kommt aus be­ scheidenen Verhältnissen, er ist ein durchschnittlicher, unauffälliger Typ. Zwar verfügt er über eine schnelle Auffassungsgabe und ein ordentli­ ches Schreibtalent, doch das – und das eben abgeschlossene Philoso­ phiestudium – garantiert ihm keine geldsorgenfreie Zukunft. Seine wohlstandgewohnte Freun­ din hat ihn denn auch gleich nach dem Examen ausgemustert; sie will keinen Mann, der weniger als 8000 Euro nach Hause bringt. Aus Rache will Klein reich wer­ den – und bekommt prompt den mit 120.000 Franken Jahreslohn dotier­ ten Job im Management eines Schweizer Chemieriesen, für den er sich ohne große Erwartungen be­ worben hatte. Von nun an pendelt der anpassungsfähige Parvenu von Freiburg nach Basel, wo er zu sei­ nem Arbeitsplatz gelangt, indem er nur die Straße vor dem Badischen Bahnhof überquert. Dort bastelt er derart an seiner Karriere, dass er für die von ihm hochverehrten Chefs gefällige Textbausteine verfasst, mit denen sie ihre Bilanzen rhetorisch aufpeppen und den Mitarbeitern die Illusion der Zugehörigkeit zu et­ was ganz Besonderem vermitteln können. Der Erstling der Freiburger Auto­ rin über Verteilungskämpfe auf ho­ hem Niveau ist gut geraten: messer­ scharf beobachtet, bissig seziert, trefflich geschrieben. JULI/AUGUST 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 73


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