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Showtime – Vorhang auf für kinoreifen Videoschnitt

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Zum Geleit

Impressum Ausgabe 010 vom 31. Dezember 2008. Anschrift: cınearte Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg.

Liebe Leser,

Redaktion: Peter Hartig (verantwortlich), Tel. 0951-2974 6955. Anzeigen: Michael WespBergmann (verantwortlich), Tel. 089-5529 8563. Redaktionsschluß ist vier Wochen vor Erscheinen der Ausgabe. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung. Namentlich gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion. Nachdrucke, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Gerichtsstand ist Bamberg. Es gilt die Anzeigenpreisliste 8 vom 1. Januar 2009. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Henner Besuch, Jan Fedesz, Sabine Felber, Christoph Gröner, Silvia Hallensleben, Nadja Klier, Elisabeth Nagy, Max Romero, Michael Stadler, Ian Umlauff, Carlo Vivari, Karolina Wrobel. Soundtrack bei der Erstellung dieser Ausgabe: St Germain »Tourist« (Emi, 724352620128); Godley Creme: »Freeze Frame« (Polydor, 2383555); Barry Manilow: »The Best of Barry Manilow« (Arista, 1C06461754). Layoutkonzept: Jana Cerno, www.cernodesign.de. Druck: Creo-Druck, 96050 Bamberg Vertrieb Einzelverkauf: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf

Foto: Sabine Felber

cınearte XL erscheint viermal jährlich und wird herausgegeben von Peter Hartig in Kooperation mit www.crew-united.com. Der Einzelverkaufspreis beträgt 5 Euro. Diese Ausgabe wird allen Mitgliedern der Filmberufsverbände BVK und SFK im Rahmen ihrer Mitgliedschaft ohne besondere Bezugsgebühr geliefert. Keine Haftung bei Störung durch höhere Gewalt. cınearte XL wird gefördert von der Kulturwerk der VG Bild Kunst GmbH, Bonn.

Frank Miller bin ich vor 16 Jahren begegnet. In einem kleinen Comic-Laden in New York. Ich hatte ein Comic gekauft, und neben der Kasse saß er und signierte sein neues Werk. Mir war er unbekannt, aber da wir beide nun schon mal hier waren, er einen Kuli hatte und mir die Bilder in seinem Büchlein auch recht gefielen, nahm ich mir halt eins, damit er es unterschriebe. Das folgende Fragment einer gescheiterten Konversation sollte mir erhalten bleiben: Frank Miller: »Hi, wie geht’s?« Ich: »Äh, gut.« Als mir die folgende Pause irgendwann peinlich wurde, fügte ich hinzu: »Ich habe ein Comic gekauft.« »Das ist gut«, sagte Miller zögernd, sein Blicke deutete auf das Gegenteil. New Yorker müssen wachsam sein, wenn sie Fremden begegnen. Vor allem solchen, die in einem Comic-Laden vor ihnen stehen und erklären, sie hätten ein Comic gekauft. Um unsere knospende Konversation in Gang zu halten, zeigte ich ihm meinen Einkauf, als könnte ihn das interessieren: Ein Buch von Will Eisner. Ebenso gut hätte ich Mick Jagger bei einer zufälligen Begegnung meine Schwanensee-Platte präsentieren können. Also nickte Herr Miller höflich und sagte: »Good Stuff.« Und weil uns allmählich der Gesprächsstoff auszugehen drohte, verabschiedete ich mich ebenso höflich und besitze heute eine signierte Erstausgabe von Sin City. Gerne würde ich glauben, daß diese mißglückte Begegnung der Auslöser war. Aber natürlich war Millers »Good Stuff« nicht bloß eine höfliche Floskel. Jedenfalls hat sich der Autor von Comics, die als Filmvorlagen für 300, Sin City und The Dark Knight dienten, nun selbst in den Regiestuhl gesetzt und verfilmte den Spirit, Will Eisners legendäre Krimiserie aus den 40ern, die bezüglich Skurillität und überraschende Wendungen auch viele gefeierte heutige US-Serien in den Schatten stellt. Was die Bildgestaltung angeht, sowieso. Und so ist unser Produktionsbericht auch die Geschichte zweier Arten, Geschichten in Bildern zu erzählen. Herzlichst, Ihr

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Inhalt

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Dumme Fragen Erwin Wagenhofer hat sich einiges vorgenommen: Sein Dokumentarfilm zeigt, wie Geld arbeitet. Jedenfalls bis vor kurzem noch.

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Geisterstunde Wenn der Orson Welles des Comics vom Quentin Tarantino des Comics auf die Leinwand gebracht wird, dann könnte das schon interessant aussehen.

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Schreiben lernen Angeblich gibt’s ja zu wenige gute Drehbücher im Lande. An den Angeboten, das zu ändern, sollte es nicht liegen.

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Das Ende der Romantik Wenn ein Opernregisseur ein historisches Stück inszeniert, wird bestimmt kein Kostümschinken daraus. Sehen Sie mal, was Patrice Chéreau in der Bartolomäusnacht anstellte.

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Auf einen Klick Vor zehn Jahren wollte Nadja Klier noch auf der anderen Seite der Kamera stehen. Zum Glück hat sie es sich anders überlegt. Sonst gäbe es eine Standfotografin weniger.

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Unterwegs nach Irgendwo Emily Atef bewegt sich durch viele Kulturen. Warum sollte es ihren Heldinnen da anders gehen?

Der Spirit sei der Citizen Kane des Comics, behauptet die New York Times. In Wirklichkeit ist es genau andersherum.

Foto: Sony

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TEAMS & TECHNIK

Vermischtes 03 03

Zum Geleit Impressum

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Wege zum Ruhm Produktion Technik Weite Welt

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Auf der Couch Gesetze der Serie

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Letzte Bilder Vorspann Mein Arbeitsplatz Statistik Lexikon Lesen – Sehen – Hören Tip 5 Rätsel


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Vorspann | Wege zum Ruhm

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Foto: Elisabeth Nagy

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Vorspann | Wege zum Ruhm

Visuelles Gespür Gut, um die »Kunst der Kinematografie« geht es letztlich jedem Festival. Das polnische Camerimage nimmt sich den Anspruch aber besonders zu Herzen. Weshalb einerseits die Bildarbeit mit der Kamera im Mittelpunkt steht, anderseits aber auch die anderen Filmkünste immer mehr gewürdigt werden und so in den Fokus der Bildgestaltung rücken. Sonderpreise für ein »besonderes visuelles Gespür« verteilt das Festival inzwischen nicht nur an Regisseure, sondern auch für Montage und Szenenbild, von denen man solch ein Gespür eigentlich als selbstverständlich voraussetzen sollte. Oder an Produzenten von »Filmen mit herausragender Bildsprache«. Sogar einem Schauspieler kann diese Ehre zuteil werden – wie Anfang Dezember. Auf dem Sofa im Großen Theater von Lodz sitzt Viggo Mortensen (rechts) mit Andrew Dunn, seinem director of photography, nach der Vorführung von Good, der Verfilmung des Theaterstücks von Cecil Philip Taylor, über einen Professor, der sich von den Nazis einspannen läßt. Es ist die obligatorische Fragestunde nach den Wettbewerbsfilmen, bei denen die Kameraleute von ihrer Arbeit erzählen. Mortensen empfahl sich aber nicht durch seinen Filmauftritt für den Preis, sondern für eine ganz andere Leidenschaft. Den Schauspieler zieht es nämlich, wenn er nicht gerade malt, Gedichte schreibt oder Musik macht, immer wieder hinter die Kamera. Zwar nur für unbewegte Bilder, aber das ist immerhin schon ein Unterschied zur Mehrheit der Kollegen, die ins Regiefach streben. Da kann nach Dreharbeiten am anderen Ende der Welt außer einer Fantasy-Trilogie auch schon mal ein Fotoband über Neuseeland herauskommen. Mehrere Bücher mit seinen Werken hat Mortensen bereits veröffentlicht – zuletzt mit Bildern und Gedichten von Bäumen. c

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Kindheitstraum

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Piraten der Karibik? Alter Hut. Der deutsche Abenteuerfilm entdeckt die eigenen Helden wieder. Da macht es auch nichts, wenn die in deutscher Manier tragisch endeten. Aus dem richtigen Blickwinkel lassen sich auch hinter der gescheitertsten Biografie die lustigen Seiten erkennen. Siegfried und die Sieben Zwerge hatten es vorgemacht, nun stapft Klaus Störtebeker wieder auf die Planken. Zwölf Meter ohne Kopf hat die Hamburger Wüste Film ihre Geschichte vom Nordseeräuber betitelt, der gegen Ende des Mittelalters die Hanse ärgerte, bis diese ihn um einen Kopf kürzte. Drehbuchautor Matthias Pacht und Regisseur Sven Taddicken nehmen’s locker: Weniger als großes Seefahrer-Epos ist das Stück inszeniert, sondern als »Piraten-Buddy-Tragikomödie«. Was Tradition hat im neueren deutschen Film – so richtig ernst bleiben kann er noch nicht, wenn’s ans Kostümieren geht. Abgesehen von den eingangs erwähnten Zwergen und Drachentötern schlagen sich zur Zeit noch anderthalb Ritter durchs Kino. Der neue Störtebeker (Ronald Zehrfeld) steckt in einer Sinnkrise. Mit sowas kennen sich die beiden Autoren aus. Pacht und Taddicken, beide Absolventen der Ludwigsburger Filmakademie, hatten schon am gefeierten Langfilmdebüt des Regisseurs Mein Bruder, der Vampir zusammengearbeitet, Pacht widmete sich unter anderem mit Das wahre Leben, Taddicken mit Emmas Glück leicht ironisch den Sorgen der Gegenwart. 40 Drehtage dauerte die Reise in die Vergangenheit. Der Aufwand war beträchtlich. Szenenbildner Peter Menne hatte sich um insgesamt 44 Motive zu kümmern, darunter historische Koggen, Kostümbildnerin Nicole Fischnaller kleidete neben der prominent besetzten Darstellerriege auch 30 Stuntleute und massenhaft Statisten ein – bis zu 700 Komparsen seien gecastet worden. c

Foto: Warner Brothers, Wüste Film, Britta Krehl

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Vorspann | Produktion

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Foto: Rosco

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Vorspann | Technik

Kleine Leuchten So war das ja eigentlich nicht gedacht. Vor wenigen Jahren leuchteten LED noch brav als rote und grüne Pünktchen an Videorekordern und ähnlichem, nur um zu zeigen, ob wieder mal einer vergessen hatte, abzuschalten. Inzwischen erobern sich die kleinen Leuchten ganz neue Aufgabenfelder. Weil sie noch weniger Strom als Platz brauchen und auch sonst schon recht helle sind. Wer solche Ambitionen hat, den zieht es irgendwann auch zum Film: Die britische Firma Rosco, nach eigenen Angaben weltgrößter Hersteller von Farbfiltern und Gobos, hat seit rund zwei Jahren ihre Lite Pads auf dem Markt und denen mit neuen Varianten noch eins draufgesetzt: »HO« steht für »high output«, was heißt, die Lampen sind um ein Drittel heller, »DL« für Daylight – die Lampen haben die gleiche Farbtemperatur von rund 6000 Grad Kelvin wie echtes Tageslicht. Und weil so eine LED klein, schmal und leicht ist, läßt sie sich nahezu überall einsetzen, wo konventionelle Lichtquellen nicht passen – geschätzte 60.000 Stunden lang. Denn bei allen Fähigkeiten genügt den gerade mal acht Millimeter dicken Licht-Plättchen ein normaler Zigarettenanzünder im Auto als Stromversorgung, und neben den Standardversionen können sie in allen möglichen Formen hergestellt werden. Außerdem entwickel sie kaum eigene Hitze, weshalb sie auch direkt an Menschen, Tieren, Lebensmittel und Pflanzen angebracht werden können. Die Preisrichter auf der Filmtechnikmesse Cinec im vorigen Herbst konnten die kleinen Lämpchen mit ihren Talenten jedenfalls beeindrucken. Darum bekamen die Lite Pads einen der »Cinec Awards« für herausragende technische Entwicklungen. Und das ist umso besser, wenn man sonst immer nur gucken durfte, ob der Videorekorder auch wirklich abgeschaltet ist. c

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Der Zeit voraus

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Soll keiner sagen, das Kino hätte uns nichts mehr beizubringen. Vor kurzem war Bernard Madoff noch eine Lichtgestalt der Wall Street, ehrenwerter Herr über Milliarden-Dollar-Ströme, die die Weltwirtschaft in Bewegung hielten. Dann platzte die Blase und mit ihr ein 50 Milliarden teures Lügengebilde. Seitdem ist der 70jährige der Finstermann der neuen Krise, in der sich der Kapitalismus wähnt, und hat Hausarrest. In seinem Sieben-Millionen-Dollar-Appartement in Manhattan vertrieb sich Madoff die Zeit bis zu den bevorstehenden Gerichtsverfahren, indem er seine persönlichen Vermögensverhältnisse auflistete. Währenddessen ließen andere sich vom Kino inspirieren. Kurz vor Weihnachten drangen Unbekannte auf Madoffs Anwesen in Florida ein und entwendeten eine 10.000 Dollar schwere Kupferstatue am Swimming Pool, berichtete die New York Post. Zum Jahreswechsel tauchte das Kunstwerk in einem Gebüsch wieder auf – versehen mit der Notiz: »An Bernie (den Betrüger). Lektion: Gib gestohlenes Eigentum an die rechtmäßigen Eigentümer zurück. Gezeichnet – die Erzieher.« Das Vorbild für die Tat hatte die Boulevardzeitung auch gleich erkannt, allerdings Probleme, den Inhalt richtig wiederzugeben: Die Täter seien wohl durch einen deutschen Film über junge Linksradikale inspiriert worden, die einen Tycoon entführen und ermorden. Tatsächlich werden Hans Weingartners Helden in Die fetten Jahre versehentlich zu Entführern, die ihr Opfer beinahe zu Tode diskutieren, begnügen sich sonst aber damit, friedlich die Möbel in fremden Villen umzuräumen, ehe sie ihre Botschaften hinterlassen. Freuen kann man sich, wenn das Beispiel Schule macht: In seinem folgenden Film Free Rainer hatte Weingartner dem Elend im Fernsehprogramm den Kampf angesagt. c

Originalfoto: Y3 Film | Grafik: cınearte

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Interview | Erwin Wagenhofer

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Foto: Delphi Film

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Interview | Erwin Wagenhofer

e Dumme e Fragen 15

Daß ihn die Filmhochschule damals nicht nehmen wollte, wurmt Erwin Wagenhofer immer noch ein bißchen. Andere aber noch viel mehr, denn jetzt dreht er Dokumentarfilme zu unquemen Themen.

Interview Silvia Hallensleben

Herr Wagenhofer, Sie haben drei Jahre an Let’s Make Money gearbeitet. Jetzt hat die Tagesaktualität Sie eingeholt. Verschafft einem das auch ein bißchen ein Triumphgefühl, wenn man so unverhofft ins Recht gesetzt wird? Eher nicht, so lustig ist das ja alles nicht. Und daß die Krise kommen mußte, haben ja alle Experten vorausgesehen. Es wußte nur niemand, wann das passiert. Nein, ich fühle mich da nicht bestätigt, gar nicht. Der Film beschäftigt sich ja auch nicht mit der aktuellen Bankenkrise, sondern mit einem Systemfehler, der zur Finanzkrise führt. Er kritisiert ein Wirtschaftssystem und ein Geldsystem, das aus dem Ruder gelaufen ist. Sie und Ihr Film haben es bis in die Tagesschau geschafft, das ist für einen Dokumentarfilm eher ungewöhnlich. Hat man als Filmemacher nicht auch Angst vor


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Interview | Erwin Wagenhofer

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»Experten sind empfindlich, wenn Laien dumme Fragen stellen. Doch das habe ich mir zum Prinzip erklärt. Wenn ich wie ein kleiner Bub, der sich überhaupt nicht auskennt, auf die Welt schaue, dann kommt vielleicht ein guter Film dabei heraus.«

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Kontrollverlust, wenn die Marketinglawine über einem losgeht? Vom Marketing her gibt es zwei Sichtweisen. Die einen sagen, das ist super, was Besseres kann nicht passieren, was den Verkauf betrifft. Die anderen sagen, vielleicht haben die Leute die Schnauze schon so voll, daß keiner mehr hingeht. Wir werden sehen. Natürlich funktionierten auch Filmverleih und Produktion wie eine Investmentbank. Aber gegen Marketing hab ich nichts: Ich bin der Meinung, das Wichtigste im Kino sind nicht die Filme, sondern die Leute, die sie sich anschauen. Wenn man so etwas sagt, gerät man gleich in den Verdacht, ein Kommerzmensch zu sein. Doch der Satz stammt von Godard, und natürlich hat er recht. Was soll der beste Film, wenn kein Mensch ihn sich anschaut? Sie selbst sind ja kein Finanz- oder Wirtschaftsfachmann, was bedeutet das für ihren Zugang zum Sujet? Ich war ja bei We Feed the World auch kein Ernährungsexperte. Aber ich finde, das ist genau das Spannende. Ich habe ja eine technische Ausbil-

dung hinter mir, und Experten sind empfindlich, wenn Laien dumme Fragen stellen. Doch das habe ich mir zum Prinzip erklärt. Am Anfang stehen Fragen. Ich finde, Filmemachen hat viel mit Fragenstellen zu tun. Während der Produktion versuche ich dann, Antworten zu finden – für mich selbst und die Leute, die den Film anschauen. Das ist meine Herangehensweise, ganz naiv. Wenn ich wie ein kleiner Bub, der sich überhaupt nicht auskennt, auf die Welt schaue, dann kommt vielleicht ein guter Film dabei heraus. Auberginen und Brot waren ein anschauliches, sinnliches Thema. Geld ist abstrakt. Gab das Probleme bei der filmischen Umsetzung? Das gab enorme Probleme. Alle haben mich gefragt, ob ich geistesgestört bin, daß ich das angehe. Aber es war natürlich auch eine Herausforderung. Der Geldschein ist ja keine Tomate, der man hinterherreisen kann, das wäre kindisch. Wie also kann man ein abstraktes Thema so rüberbringen, daß die Leute am Schluß doch eine Wut haben und sagen, da muß man was tun? Man kann die Auswirkungen zeigen, oder die Personen, die mit

»Was macht die Bank mit unserem Geld?« fragte Erwin Wagenhofer und verfolgte die Finanzströme rund um den Globus. Bald darauf hatte die Wirklichkeit seine aberwitzigen Beobachtungen, wie hier in Indien, sogar noch überholt.


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Foto: Allegro Film

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dem Geld umgehen. Dann muß man daraus einen Mix machen, wodurch das Publikum zwar eine kräftige Portion Information aber keine Überdosis bekommt. Das war nicht einfach, besonders gegen Schluß, wo sich bestimmte Dinge nur sehr wortreich erklären lassen. Da hatte ich große Angst – im Endeffekt funktioniert es aber gut. Können Sie ein Beispiel nennen? Zum Beispiel, den Washingtoner Konsens zu erklären. Das ist mühsam. Das ist Kopf, das ist Sprache. Das sind für mich die eigentlich schwierigen Sachen. Ich könnte das als Textinsert in den Film schreiben. Jetzt lasse ich es von einem Fachmann in einem Londoner Taxi erklären. Ich hatte bessere Ideen, aber die haben leider nicht geklappt. Wie ist das Verhältnis von Planung und Unvorhergesehenem bei Ihrer Arbeit? Erstmal versuche ich, ein klares Konzept zu haben: Welche Geschichte will ich erzählen, mit welchen Mitteln? Und dann geht man hinaus und trifft auf die Realität, und die stellt sich oft ganz anders dar: Manchmal ist es besser, als man erwartet hat. Oft aber erfüllt die Wirklichkeit die Erwartungen überhaupt nicht und dann muß man andere Wegen suchen. Deshalb gehe ich immer auf mehren Wegen gleichzeitig los. Welchen Stellenwert hat dabei die Recherche nach Gesprächspartnern? Das ist das Schwierigste. Natürlich gibt es auch hier ein Drehbuch oder Konzept. Doch während man beim sogenannten fiktionalen Film dieses Papier einfach umsetzen kann, gilt es bei einem solchen Film, eine Gleichung mit vier Unbekannten einzulösen. Die lautet: Am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein, die richtige Person vor der Kamera zu haben, die womöglich auch noch das Richtige sagt. Das ist das Schwierigste bei dieser Art von Filmen, darum braucht man auch so lange. Man ist ständig auf der Suche nach den Leuten, die das machen könnten, und den Situationen, wo sie es tun könnten und wo dann auch noch etwas rüberkommt, intellektuell und emotional. Wie geht es dann weiter? Dann hat man 130 Stunden Material, von dem man das Meiste wegschmeißen muß, weil es nur zwei Stunden werden dürfen. Die Technik ist heute zum Glück so handlich, daß ich sie bei mir im


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Bei zehn Cent Erlös pro Huhn braucht man ganz schön viele Küken, um Profit zu machen, rechnete Wagenhofer vor drei Jahren vor. We Feed the World nahm die Logik der Lebensmittelindustrie aufs Korn und ist der erfolgreichste österreichischen Dokumentarfilm aller Zeiten.

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kleinen Atelier bearbeiten kann. Also schaue ich mir die ersten Muster gleich selbst an, und wenn ich Lust habe, fange ich auch gleich an zu montieren und schaue, ob das funktioniert. Das ist dann ein Riesenpuzzle, groß wie ein Tisch. Irgendwo muß ich anfangen, und irgendwann ist das Bild fertig. Dabei gibt es jede Menge Fehlgriffe und Dinge, die überhaupt nicht funktionieren. Oft hat man einen Drehtag, da macht man nur acht oder neun Minuten. Und dann gibt es zehn Drehtage, die man komplett wegschmeißen kann. Ich war zweimal in China, lange Reisen, und hab nicht einen Kader verwendet. Erzählen Sie mehr… In China findet die größte Völkerwanderung der Welt statt. voriges Jahr 180 Millionen Menschen, die vom Land in die Städte ziehen. Und einmal im Jahr können Sie diese Völkerwanderung miterleben, zum Chinesischen Neujahr, wenn die Chinesen traditionell nach Hause fahren. Das wollte ich drehen, das hatte schon lange festgestanden. Aber es ist einfach nicht organisiert worden. Eröffnet wurde mir das kurz vor Weihnachten… Von den Chinesen? Nein, von unseren Leuten. Ich wollte bei einer Familie beginnen, dann diese Völkerwanderung drehen und dann irgendwo ankommen in einer Vorstadt in Peking. So war das Konzept. Das war aber nicht zu organisieren, das habe ich noch nie gehabt. Weil wir bei We Feed the World so erfolgreich

waren, hatten wir von der Produktion eine bekannte Journalistin an die Seite gestellt bekommen. Die hat dann aber, wie sich herausstellte, ein Jahr lang gar nichts gemacht. Der Feind im eigenen Bett! Hat sich der Erfolg von We Feed the World für Sie auch positiv ausgewirkt? We Feed the World war ein billiger Film, der hat 200.000 Euro gekostet und ich weiß nicht wie viele Millionen im Kino eingespielt. Ich bekomme 8 Prozent davon, da kommt einmal im Jahr die Abrechnung, so kann ich das ungefähr einschätzen. Das Geld kommt wie immer in Europa aus Fördertöpfen, das System ist ähnlich wie in Deutschland. Es gibt da eine Filmförderung, die nennt sich »Nichtrückzahlbares Darlehen«: Wenn der Film keinen Erfolg hat, muß es nicht zurückgezahlt werden, hat er Erfolg, schon. Bei We Feed the World haben wir alles zurückbezahlt, und trotzdem hat sich der Produzent noch ein neues Haus gebaut, und ich konnte mir ein paar neue Schuhe kaufen. Das Geld kassieren andere. Und sie haben jetzt ein größeres Budget? Ja, wir konnten mehr reisen und hatten eine bessere Technik. Aber wir sind immer noch das selbe kleine Team. Ich arbeite immer noch in meinem 53-Quadratmeter-Atelier, da entstehen die ganzen Filme. Ich habe eine Assistentin, Lisa Ganser, die ist mit einer meiner Töchter gemeinsam in die Schule gegangen und interessiert sich sehr für


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Interview | Erwin Wagenhofer

Fotos: Delphi Film

»Eindrucksvolle Bilder herzustellen ist eine der einfachsten Sachen. Den Zusammenhang herzustellen, ist die Kunst.«

Film. Mit der realisiere ich meine Filme. So behalte ich die Produktionsbedingungen weitestmöglich unter Kontrolle. Wie kam es zur Chance für We Feed the World? Der Film ist eigentlich nur entstanden, weil der Produzent Referenzmittel übrig hatte von einem anderen Film. Doch er war gerade dabei, einen Riesenfilm zu produzieren und konnte das kleine Geld nicht brauchen. Also hat er gedacht: Warum soll dann nicht der Depp mit seiner Assistentin seinen Film über das Essen machen? So ist das entstanden. Der Riesenfilm, ein Fünf-MillionenProjekt mit dem Titel Der Henker, wurde übrigens ein großer Flop. Gibt es in ihren Filmen Beschränkungen durch das kleine Budget? Ich hab’ damit kein Problem. Vor jedem Projekt stelle ich mir einige grundlegende Fragen: Was soll der Film leisten? Welche Dinge haben wir zur Verfügung? Wenn wir uns daran orientieren, machen wir automatisch viel originellere Filme. Warum sollen wir Tricks nachäffen, die nur irgendwelche Studios in London kennen? Warum soll ich einen Ritterfilm machen? Wie bitte?

Eine Ausstattungsorgie, wo es für jede Stuntszene drei Kameraleute gibt und fünfzehn Special-Effect-Leute und so weiter. In der Architektur gibt es einen schönen Satz, der heißt »Form follows function«. Bei manchen Filmen habe ich aber den Eindruck: Form follows form. Können Sie ihre Kritik konkretisieren? Es gibt ja so genannte Kunstfilme, auch für viele Studenten ist es das Wichtigste, daß sie schon am ersten Tag große Künstler sind. Ich kann mit dem Begriff nichts anfangen, für mich ist Film erstmal Handwerk, Arbeit. Und gewisse sogenannte künstlerische Sachen in der Filmerei sind sehr einfach: Es ist leicht, spektakuläre Schauplätze zu finden und sie formal gut umzusetzen, indem ich mit mehreren Kameras hingehe. Eindrucksvolle Bilder herzustellen ist eine der einfachsten Sachen. Den Zusammenhang herzustellen, ist die Kunst. Schwierig und unangenehm zu drehen sind auch die Gespräche mit Wirtschaftsfürsten wie Mirko Kovats oder Peter Brabeck von Nestlé: Das ist unangenehm und gar nicht lustig. Das sind abgehobene Leute, die runterzubrechen, das ist eine wirklich schwierige Sache. Noch einmal: Beeindruckende Bilder zu machen, ist das ein-

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fachste, das es gibt, mit Steadicam und Super Sound: Wumms und Brumms, da staubt’s und raucht’s! Ärgert Sie der Erfolg solcher Effekthascherei? Über den Steinbruch in Burkina Faso einen Film zu machen, der preisgekrönt wird, wäre nicht schwer. Ich habe selbst in einer Jury gesessen und der meiner Meinung nach schlechteste Film hat den Hauptpreis bekommen, weil die anderen Jurymitglieder so beeindruckt waren von solchen Vorgängen, wie ich sie gerade geschildert habe. Ich hab die gefragt: Worum geht es denn da? Was erzählt uns der Film? Glaubt ihr das? Ich glaub das nicht. Ich selbst kann mit dem Erfolg solcher Filme gut leben. Aber die ausgezeichneten Filmemacher glauben dann natürlich, sie seien die Größten und machen den nächsten schlechten Film. Haben Sie auch ein Gegenbeispiel? Mich beeindruckt Andreas Dresen mit Halbe Treppe. Das wäre ein Vorbild: Wenige Schaupieler, ein kleines Budget, eine kleine Kamera. Und dafür länger arbeiten können, nicht einen Tag, sondern einige Wochen, zeitintensiv mit vielen Proben. Natürlich ist beim Ergebnis dann nicht alles schön... Bei Dresens neuestem Film Wolke 9 ist die Qualität der Bilder oft an der Grenze des Erträglichen. Den kenne ich noch nicht, aber ich hätte auch Halbe Treppe technisch besser gemacht, weil ich aus dem Metier komme. Einen 35-Millimeter-Film

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falsch zu belichten gelingt ihnen im Vollrausch nicht. Aber bei einer kleinen Digital-Kamera kann eine Blende drunter oder drüber verheerende Folgen haben. Was meinen Sie mit »aus dem Metier«? Spielen Sie damit darauf an, daß Sie ihre filmische Laufbahn mit Industriefilmen begonnen haben? Ja, ich bin damals mit 19 Jahren aus der österreichischen Provinz nach Wien gekommen mit einem einzigen Wunsch: Ich wollte Film studieren. Dann bin ich an der Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule gescheitert – die einzige Prüfung in meinem Leben, die ich nicht bestanden habe. Das hat mir viele Jahre gekostet. Das hatte also nicht funktoniert. Also bin ich direkt in die Branche gegangen und habe da alle möglichen Positionen besetzt: Ich war Fahrer, Regieassistent, Kameraassistent, alles mögliche. Dann habe ich Industriefilme gemacht, viele, viele, 180 insgesamt, für alle möglichen Auftraggeber. Das war meine Akademie, dort habe ich gelernt, das war das Schwierigste überhaupt. Wegen der hohen Ansprüche der gut zahlenden Auftraggeber? Nein, weil sie dort das undankbarste Material haben. Zum Beispiel einen Film für eine Maschinenfabrik, die Drehbänke herstellt. Film funktioniert aber immer nur emotional, auch ein Industriefilm. Wenn die Leute dranbleiben sollen, geht das nur über Emotionen. Da haben sie eine Drehbank,

»Einen 35-Millimeter-Film falsch zu belichten gelingt ihnen im Vollrausch nicht. Aber bei einer kleinen Digital-Kamera kann eine Blende drunter oder drüber verheerende Folgen haben.«


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ein rostiges Stahlding, und daraus sollen sie eine Emotion erzeugen. Das ist die Herausforderung. Rückblickend weiß ich heute, daß ich das Handwerk dort gelernt habe. Die ersten eigenen Filme, die sie dann gemacht haben, waren Künstlerporträts… Nicht nur, aber auch. Und der erste lange Film, den ich gemacht habe, war ein Porträt des serbischen Schriftstellers Alexander Tisma. Der heißt Der Gebrauch des Menschen, wie auch ein Buch von Tisma. Auf einer Recherchereise bin ich dem Herrn Tisma begegnet, der hat mich unfaßbar beeindruckt. Und so hab ich den Film begonnen, völlig ohne Fördermittel. Ein Film über einen Schriftsteller: Das heißt, im Zentrum steht das Wort. Im Film gibt es lange Passagen, die schwarz sind, wo aus dem Off ein Schauspieler Textausschnitte von Tisma liest. Da war überhaupt kein Geld da, ich habe gar nicht versucht, bei der Filmförderung einzureichen. Warum nicht? Meine erste Förderung war der Kurzfilm Limes, da war ich 39 Jahre alt. Wie ich schon erzählt habe, war ich bei der Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule durchgefallen, das war ein unfaßbarer Schlag ins Gesicht. So heftig, daß ich – ich unterrichte jetzt ja selbst an einer Kunsthochschule – in meinen Vertrag reinnahm, daß ich nicht bei der Aufnahmeprüfung dabei sein muß, weil ich das für unerträglich halte. Man kann nicht in einer Woche feststellen, ob jemand eine künstlerische Karriere eingeht oder nicht, das ist Blödsinn. Was wäre die Alternative? Die Alternative wäre, erstmal alle aufzunehmen, und nach einem halben Jahr sind nur noch die da, die es interessiert. Damals bei mir an der Wiener

KATE WINSLET RALPH FIENNES DAVID KROSS LENA OLIN

BRUNO GANZ

ALEXANDRA MARIA LARA

KAROLINE HERFURTH

HANNAH HERZSPRUNG

Der Vorleser E I N F I L M VO N

S T E P H E N DA L D RY ( T H E H O U R S , B I L LY E L L I O T )

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BERNHARD SCHLINK „DER VORLESER ist ein ernster Anwärter für den Oscar®.“ LOS ANGELES TIMES

Fotos: Allegro Film

Wenn in Spanien eine Immobilienblase platzt oder in Burkina Faso Baumwollbauern den Boden unter den Füßen verlieren, dann hängt alles igendwie

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zusammen. Wagenhofers neue Dokumentation erklärt die gegenwärtige Krise der Wirtschaftswelt. Obwohl die Idee schon vor drei Jahren entstand.

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Interview | Erwin Wagenhofer

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Vor Wagenhofers Kamera haben die Herren des Geldes keine Hemmungen: Der Fondsmanager Mark Mobius (rechts) leitet in Singapur Geld in die Entwicklungsländer, Jerseys Finanzminister Terry le Sueur (links) erklärt, wie die Kanalinsel zur Steueroase wurde.

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»Der Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm sind nur Etiketten: Die Figur heißt Industrieller – also suche ich einen. Ich würde mir viel Mühe ersparen, wenn ich das mit Schauspielern besetze. Denn der hat einen Vertrag unterschrieben, kommt pünktlich und merkt sich seinen Text.«

Filmhochschule kamen 70 zur Prüfung, 30 in die engere Auswahl, und von denen wurden 15 genommen. Das dauerte eine Woche. Und am Ende der Woche hängen zwei Zettel an der Wand, da sind 30 Namen drauf, bis fünfzehn haben sie genommen. Drei Tage später hat ein Mädchen aufgehört, nach vierzehn Tagen schon zwei… Wie auch immer, ich hab mir dann eine Kamera gekauft, das Telefonbuch aufgeschlagen, F wie Filmproduktion gesucht, da stand ein Name, bin dort hingefahren, und die haben mich sofort genommen. Dann bin ich aber ständig in Konkurrenz gestanden zu den Leuten von der Akademie. Und die haben die Förderung gekriegt und ich nie. So bin ich ins Fernsehen und in die Industrie. Für die Kinoleute ist das Fernsehen ja das Letzte. Das ist auch etwas, was mir bei Dresen gut gefällt, der kennt da keine Berührungsängste. Ist es im nachhinein ein Glück im Unglück, nicht bei der Schule aufgenommen worden zu sein?

Da ich jetzt selbst schon lange an einer Kunsthochschule unterrichte, weiß ich, was die Vor- und die Nachteile sind. Der größte Vorteil einer Hochschulausbildung ist meiner Meinung nach die Möglichkeit, fünf Jahre mit Gleichgesinnten an die Sache zu gehen. Ist das ein starker Jahrgang, beflügeln die sich gegenseitig. Das ist ein Riesenpotential und das Allerwichtigste. Das Nächstwichtige ist dann, beim Rausgehen das ganze Wissen in die Mülltonne zu schmeißen und bei Null anzufangen. Verstehen Sie sich als Dokumentarfilmer? Ich versuche, mit den Mitteln, die ich habe, eine Geschichte zu erzählen über den Zustand der Gesellschaft. Am Beispiel Umgang mit Geld, am Beispiel Umgang mit Nahrung. Aber als nächstes will ich einen Spielfilm drehen. Mein Großvater war Schuhmacher, ich bin ein Filmemacher. Jetzt habe ich diese Art von Schuhen gemacht, als nächstes versuche ich nochmal, andere zu machen.


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German Society of Cinematographers

Würden sie der These zustimmen, daß es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm gibt? Der sogenannte Dokumentarfilm ist nur eine Etikette: Nestlé-Chef Brabeck spielt sich selbst. Ich hätte auch einen fiktionalen Film machen können über das Essen, wie Louis de Funes das machte, Brust oder Keule. Dann nehmen wir einen Schauspieler, und der spielt den Nestlé-Chef. Nehmen wir an, wir haben noch einen Drehbuchautor, der den Blödsinn aufschreibt, den der gesagt hat. Die Leute gehen dann raus und sagen, gottseidank war es nur eine Komödie, eine ausgedachte Geschichte. Bei einem Dokumentafilm gehen sie raus und sagen: Das ist echt. Es ist immer wieder das Gleiche: Welche Geschichte will ich erzählen und welche Mittel verwende ich dafür? Für manche Geschichten ist es eben authentischer, mit echten Leuten zu arbeiten. Mein Filmverleiher in Wien zum Beispiel hat geglaubt, ich hätte bei Let’s Make Money für den Economic Hitman John Perkins einen Schauspieler genommen. Jetzt muß Stefan Schulmeister, ein anerkannter österreichischer Ökonom, das absegnen, daß Perkins echt ist und ich keinen Schauspieler genommen habe. Soweit sind wir schon. Das ist eine schöne Geschichte! Wie gesagt, die Etiketten sind der Unterschied. Ich mache das auch so: Die Figur heißt Industrieller, und ich schaue, mit wem ich sie besetze. Dann suche ich einen Politiker. Ich würde mir viel Mühe ersparen, wenn ich die Leute mit Schauspielern besetze. Wenn ich statt einem echten Mirko Kovats oder Hermann Scheer in dem Film einen Schauspieler nehmen würde, der den Hermann Scheer spielt, wäre es viel einfacher. Denn der hat einen Vertrag unterschrieben und kommt pünktlich. Der Hermann Scheer kommt nicht pünktlich, der merkt sich seinen Text nicht. Aber dem müssen Sie seinen Text nicht schreiben, das ist doch auch ein Vorteil. Das stimmt nicht, ich hab’ ihm alles genau aufgeschrieben, das haben wir alles in einem Vorgespräch abgeklärt. Ich habe ihm gesagt, ich brauche einen Politiker, der mir dies und das sagt. Und der Scheer hat das natürlich auch gerne getan,

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»Im Schneideraum ist der Film endlich bei sich selbst. Ich glaube nicht, daß Filme erst hier entstehen, aber mit Montage Zusammenhänge herzustellen, ist ein originär filmisches Ding.«

sammenhängen für ihre Art des Filmemachens hat. Welche Rolle spielt dabei die Montage? Ich bin da bei Stanley Kubrick: Wenn man ein Drehbuch schreibt, ist man sehr nah an der Literatur, wenn man dann mit den Schauspielern probt, ist man nah am Theater, und wenn man mit dem Kameramann die Szene einstellt, ganz nah an der Fotografie. Doch im Schneideraum ist der Film bei sich selbst. Ich glaube nicht, daß Filme im Schneideraum entstehen, aber mit Montage Zusammenhänge herzustellen, ist ein originär filmisches Ding. In meinen letzten beiden Filmen habe ich versucht, damit zu arbeiten. Man kann das journalistisch nennen. Ich habe da keine Berührungsängste. Um hier anzuknüpfen: Ihre beiden letzten Filme waren strukturell und auch inhaltlich sehr ähnlich. Sie hatten vorhin schon angedeutet, sie hätten jetzt einmal Lust, etwas ganz anders zu machen. Was dürfen wir erwarten? Ich habe vor, als nächstes einen Liebesfilm zu machen. Das Drehbuch ist schon fertig, der Arbeitstitel heißt Black Brown White. Das ist einerseits etwas ganz Neues, Anderes. Aber wenn der Film zustande kommt und Sie ihn zu sehen bekommen, werden Sie sofort sehen, wo er herkommt. Da sind alle meine bisherigen Themen wieder drin. c

>> Zur Person. Erwin Wagenhofer wurde 1961 im niederösterreichischen Amstetten geboren. Nach einem Studium der Nachrichtentechnik und Elektronik an der TGM (Technisches Gewerbemuseum) in Wien war er drei Jahre als Entwickler bei Philips Österreich tätig. Parallel drehte er erste Kurzspielfilme. Ab 1983 arbeitete er als Regie- und Kameraassistent bei verschiedenen Spiel- und Dokumentarfilmproduktionen des ORF. Seit 1987 ist er freischaffender Filmemacher in eigener Sache und realisierte neben Dokumentarfilmen für das Fernsehen auch einige Kurzspielfilme. 2005 wurde sein erster langer Kinodokumentarfilm We Feed the World – Essen Global der erfolgreichste österreichische Dokumentarfilm der Filmgeschichte. Seit 1997 hat Wagenhofer auch Lehraufträge, erst in Krems, seit 2002 an der Universität für angewandte Kunst in Wien.

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weil er es schon in seinem Buch geschrieben hatte. Da gab es genaue Anweisungen, wir haben ihm vorher das Script geschickt. Natürlich sagt er es dann in seinen eigenen Worten, aber der Inhalt war vorgegeben. Wie weit gehen ihre Absprachen generell? Dem Kovats kann ich nichts vorsagen, der sagt, was er will. Aber ich kann vermuten, was kommt, ich hab’ den vorher zwei, drei Mal in Wien getroffen. Ab dem zweiten Treffen weiß ich, der redet gern über dies oder jenes. Und dann hocke ich mich mit ihm ins Auto und gebe die Stichworte vor. Nach We Feed the World gab es beonders im Vergleich mit Geyrhalters Unser täglich Brot den Vorwurf, Ihr Film sei zu journalistisch? Trifft Sie das? Warum sollte mich das treffen? Mein Naturell ist, politische Dinge aufzugreifen, Dinge, die mich aufregen. Ich will das für mich wissen. Ich bin der Meinung, der Sinn des Lebens ist, zu den eigenen originären Wurzeln zu kommen. Was Frau X und Herr Y kann, kann ich nie. Und was ich kann, können Herr X und Frau Y nicht. Jedes Naturell ist anders. Und ich finde das gut, daß es das parallell gibt. Sie haben vorhin schon einmal von der Bedeutung gesprochen, die das Herstellen von Zu-


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Das Auge frißt mit Kein Film zu kritisieren, aber wieder zu viel Zeit. Stadler und Gröner reden – über leckere Leinwandwerke. Und ganz ohne Popcorn, Nachos und Chips. 25

Text Michael Stadler und Christoph Gröner Es ist angerichtet in der Schreibstube von Stadler und Gröner. Beide haben einen Artikel für die Cahiers du cinéma verfaßt: »Chaude ou froide? La température emotionale de la cuisine dans le cinéma contemporaine.« Geruch von harter Arbeit. Zwei Hirne kochen. Die letzte Prise fehlt. Stadler (schaut auf den Computerbildschirm): Das Ende ist fad. Gröner: Wieso? Ich finde »Bon Appetit« super! Stadler: Wo ist da der Überbau? Gröner: Bitte nicht noch ein Deleuze-Zitat. Stadler: Pourquoi pas? Gröner: Ich dachte, das ganze sollte leicht wie ein Souflee sein. Stadler: Ich denke, das Ende ist Banane. Gröner: Aber der Rest ist doch schön. Wie du Brust oder Keule als Fanal der Industralisierung

des Eßprozesses beschrieben hast. Das war so delikat. Stadler: Wie Louis de Funes nach dem Essen die Warzen ins Gesicht schießen, da kam mir diese geniale Idee. Stadler schmort im eigenen Saft und gibt Gröner Zucker. Stadler: Aber deine Ausführungen zu Kinetik und Cuisine in Ratatouille – das hat Pfeffer! Gröner: Wie die Ratte durch die Küche rennt, da kam mir… Stadler: …die Erinnerung an deine Heimat? Gröner: Ratte. Stadler: Ach, Mäuschen, ich kriege Lust auf was Warmes. Gröner: Massage? Stadler: McDonald’s! Gröner (blickt auf Stadlers Bauch): Supersize Stadler?


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Stadler (schaut auf Gröners Doppelkinn): Gröner und die Schokoladenfabrik. Gröner (streckt den Kopf): Einmal Naschen am Tag muß erlaubt sein. Der Rest sind Vitamine. Komm, wir gehen zum Veganer. Stadler: Wer kocht da? Spock? Gröner: Spack. Ich möchte wetten, du kennst keinen einzigen Film mit vegetarischem Einschlag? Stadler: Louis und seine Außeridischen Kohlköpfe. Großartige Dialoge! »Die Kohlsuppe dringt einem durch die Därme direkt bis ins Gehirn – Dudldudldud.« Gröner: Bravo Stadler! Äußerst flatulent, deine Abführungen.Komm, laß uns endlich essen gehen. Stadler: Fleisch ist mein Gemüse! Gröner: Quatsch. Auch die Engel essen Bohnen. Stadler: Der Himmel kann warten. Gröner: Denk an deine Gesundheit. Wer fetter ißt, ist früher tot. Stadler: Beim Sterben ist jeder der Erste. Gröner: Amen. Dann laß uns was bei Luigi bestellen. Stadler nickt, Gröner geht zum Telefon und drückt auf die Wahlwiederholung. Gröner: Ciao Luigi. Si. Das Übliche. Grazie. Gröner legt auf. Stille. Stadler: Italienisches Essen. Immer noch das Beste. Gröner: Das große Fressen. Stadler: Einer meiner Lieblingsfilme. Gröner: Opulent bis zum Kotzen. Die Essen sich zu Tode, der Film stirbt in Schönheit. Stadler: Eben. Die Grundlage des Lebens ins Gegenteil verkehrt. Gröner: Stadler, du und deine intellektuelle Völlerei. Stadler: Du und dein Magerquark. Plötzliches Erschrecken Es klingelt zweimal an der Tür. Stadler öffnet schnell. Zum Glück nur der Pizzamann. Es ist ein Neuer. Pizzammann (tritt ein): Ciao! Einmal FitneßSalat mit Joghurt-Dressing und Sojakernen… Gröner: Yup!

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Pizzamann:…und einmal Spaghetti Carbonara mit doppelt Schinken und Extraportion Sahne. Stadler: Yep! Stadler und Gröner stürzen sich auf die Mahlzeiten. Der Pizzamann wartet. Ungeduld. Schmatzen. Stadler (mit vollem Mund zum Pizzamann): Kennen Sie, Moment… können wir uns duzen? Pizzamann: Nein. Stadler: Kennen Sie diesen Film mit Patrick Dempsey, wo er einen Pizzalieferanten spielt, der mit ganz vielen Frauen, ich meine… Gröner (nagt an einem Salatblatt): Loverboy. Pizzamann: Ja, das totale Klischee. Da hat mir Mystic Pizza mit Julia Roberts viel besser gefallen. Stadler: Was von meinen Nudeln, Gröner? Gröner: Ausnahmsweise, aber nur einen Bissen. (Zum Pizzamann) Der Boden bei dem Film war etwas dünn, finden sie nicht? Pizzamann: Leichtigkeit ist eine Kunst. Stadler: Sie mögen wohl auch Spaghettiwestern. Stadler und Gröner kichern. Pizzamann: Sie meinen den Italowestern? Natürlich, er hat das Genre revolutioniert. Freßszenen gab’s da, aber keine Spagetthi Gröner und Stadler hören zu und merken nicht, daß sie ein und dieselbe Nudel essen, jeweils an einem Ende, sie nähern sich… Pizzamann (sieht die beiden): …ganz anders als bei Susi und Strolch. Stadler und Gröner saugen an der Nudel. Ein Kuß. Scham. Ekel. Gröner (wischt sich den Mund): Das ist ja widerlich. Stadler (empört): Nicht einmal die Zähne geputzt. Gröner: Rasier dich mal, Strolchi! Stadler: Heulsusi. Pizzamann: …aber mein liebster Film über das Essen ist Big Night. Wie am Ende in einer einzigen langen Einstellung ein Omelette zubereitet und dann brüderlich geteilt wird.


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Gröner: Das erste Morgenmahl! Stadler: Das Ei als Keimzelle der Versöhnung! Pizzamann: Ganz anders bei Eine Frau unter Einfluß von Cassavetes. Da werden am Anfang Spaghetti zubereitet – und dann wird der häusliche Frieden aufgerollt. Gröner (leise zu Stadler): Er kennt sich ganz schön aus. Stadler (leise zu Gröner): Laß’ ihn. Vielleicht vergißt er, daß wir noch zahlen müssen. Pizzanmann: Kennt ihr die widerlichste EssenSzene aller Zeiten? Stadler: Die 120 Tage von Sodom. Menschen, die Scheiße essen müssen Gröner: Indiana Jones II. Aufgeschlitzte Schlangen und offene Affenschädel. Pizzamann: Wobei es ja vielleicht ganz gut tut, wenn man mal ein wenig Hirn ißt. Wenn man es schon nicht hat… Pizzmann lacht. Stadler (leise zu Gröner): Ich glaube, er lacht dich aus. Gröner (leise zu Stadler): Er schaut die ganze Zeit auf deinen Affenschädel. Pizzamann: Eine Szene darf man nicht vergessen: Wie Nicolas Cage in Vampire’s Kiss eine Kakerlake ißt. Er erzählt heute noch davon, wie er sich dabei gefühlt hat. Gröner: Kakerlaken sollen ja viel Eiweiß haben. Stadler: Auch gut fürs Hirn? Pizzamann: Und die schönste Essensszene der Filmgeschichte? Stadler: Babettes Fest. Das große Festmahl. Ein bißchen viele Kalorien. Aber eine tolle Kamera… Pizzamann: Schöne Kamerafahrten aus der Vogelperspektive über die Mahlzeit. Gröner: Langsam und genußvoll, damit das Auge mitessen kann.

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Pizzamann: Die Verführung ist ja eine Spezialität des Kinos – und der belle cuisine! Der Hunger nach frischen Bildern, wird er je gestillt? Gröner (leise zu Stadler): Schreib das auf. Das bauen wir ein. Stadler (leise zu Gröner): Was heißt Verführung auf Französisch? Pizzamann: Séduction. Ich habe das gehört. Zitieren kostet extra. Stadler: Nix extra. Da fällt mir ein: Haben wir nicht eigentlich auch Leber bestellt? Gröner: Dazu Fava-Bohnen und einen ausgezeichneten Chianti. Pizzamann: Die Hannibal-Lecter-Nummer, sehr witzig. Der Kannibale gehört zu den Filmfiguren, die eine Ur-Sehnsucht des Menschen verkörpern, und zwar den Körper des anderen ganz in sich aufzunehmen. »Ich habe dich zum Fressen gern« – den Satz sagen Liebende. Und der Kannibale verwirklicht ihn. Gröner (leise zu Stadler): Schreib auf. Schnell. Stadler (leise zu Gröner): Kannibale – auf Französisch? Pizzamann: Hören sie, ich muß los. Wer bezahlt jetzt? Gröner zeigt auf Stadler. Stadler: Immer muß ich zahlen! Gröner: Du ißt auch am meisten. Pizzamann: 15 Euro. Stadler (gibt dem Pizzamann 15 Euro): Stimmt so. Pizzamann: Na danke. (Zeigt auf Gröners Teller) Da ist uebrigens noch ein Salatblatt. (Zeigt auf Stadlers Backe) Und da ist noch eine Nudel. Stadler nimmt die Nudel von der Backe und reicht sie Gröner. Gröner hält ihm das Salatblatt hin. Stadler: Für dich. Gröner: Friede. Pizzamann: Bon Appetit!

Stadler und Gröner sind Filmkritiker. Böse Zungen behaupten, sie sähen aus wie Quentin Tarantino und Philipp Seymour Hoffman. Das finden Stadler und Gröner überhaupt nicht. Aber sie versuchen, damit zu leben. Ein letztes Pfefferminzblättchen lehnte sie am Ende dieser Folge ab.

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Seit Hollywood seine Leidenschaft für Comics entdeckte, wurde so ziemlich jeder Superheld auf die Leinwand geholt. Bis auf einen. Für sein erstes Regie-Solo wagte sich der Comic-Künstler Frank Miller an das Werk, das schon vor einem dreiviertel Jahrhundert das Erzählen in Bildern radikal veränderte.

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Produktion | Der Spirit

Das Originaltitelbild eines Spirit-Comics zeigt, wie Will Eisner mit grafischen Elementen und Männerfantasien spielte: Dieses Heft sei nichts für kleine Jungs, erklärt die Dame im Original.

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Illustration: Carlsen Verlag


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Als Comic-Autor hat Frank Miller (oben, mit Hut) die Vorlagen für Sin City, 300 und den runderneuerten Batman geliefert. Die höchste Hürde hat er sich für sein

Der Spirit sollte, um als Blockbuster zu taugen, ab 13 sein. Mit computergenerierten Kulissen versucht Miller, die Ästhetik der Comic-Vorlage nachzuempfinden – der komplette Film entstand daher vor Greenscreen.

Fotos: Sony | Lionsgate

erstes Regie-Solo daher selbst aufgestellt:


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Text Carlo Vivari Es ist nur wenig mehr als ein Jahrhundert her, daß sich die Art, Geschichten zu erzählen, radikal veränderte. Und dann gleich zweifach: Das Kino und der Comic-Strip entstanden fast zur selben Zeit. Beide sind sie die ersten Medien einer Massenkultur, die ihre Botschaft nicht in Wörtern, sondern in Bildern weitertrugen. Das klingt nach Ironie der Geschichte. Jahrtausendelang werden Romanzen und Abenteuer in Worten weitergegeben – ob als mündliche Erzählung am Lagerfeuer oder zwischen zwei Buchdeckeln. Und plötzlich, just zu der Zeit, als eine Welt sich anschickt zum Sprung in die Moderne, immer mehr Menschen lesen lernen, da erst entdeckt man die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen, indem man einfach Bilder aneinanderreiht. Aber vielleicht ist das gar nicht so paradox. Sondern liegt einfach daran, daß die eine Entwicklun schneller verlief als die andere: Die Industrielle Revolution ließ im 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahlen der Städte explodieren. Wo immer mehr Menschen auf immer mehr Raum zusammendrängten, veränderte sich auch das öffentliche Leben. Waren Kultur und Kommunikation nicht mehr nur Sache der gebildeten Schichten, sondern wurden zu Angeboten für die Massen – in abgewandelter Form zumindest. Wer 16 Stunden am Hochofen steht oder Wäsche kocht, hat selten am Abend Kraft, Geld oder Sinn für schwere Dramen. Erst recht, wenn nicht nur das Lesen noch Mühe macht, sondern die ganze Sprache. Das erklärt auch, warum sich gerade im Schmelztiegel USA diese neuen Medien am aufregendsten entwickelten. Die stummen Filme und die Comic-Strips verstand der Bauernsohn aus dem Westerwald ebenso gut wie die irische Witwe oder der Jude aus Galizien, die gerade mit dem Schiff aus Europa eingelaufen waren und nichts weiter kannten als einen seltsamen Dialekt ihrer ehemaligen Heimat. Um in der neuen richtig anzukommen, brauchte es noch eine weitere Generation, die hier aufwuchs. Früher als gegen Ende der 20er Jahre hätte der Tonfilm vermutlich keine Chance gehabt.

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Eindeutig Noir. In Comic wie Film erinnert die Bildgestaltung an deutschen Expressionismus und Hollywoods Schwarze Serie. Im

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Kino und Comic blühten in diesem Babylon auf. So wie überall Filmpaläste ihre Tore öffneten, hatten Tageszeitungen ihre Comic-Strips, die nicht weniger populär waren. Die Traumfabrik Hollywood wurde in den 20er Jahren selbst zur Traumwelt voller Stars und Helden, auf den Zeitungsseiten erlebten Superman, Prinz Eisenherz, Tarzan und Flash Gordon ihre Abenteuer. Sonntags mitunter sogar ganzseitig und in Farbe. Nur selten aber berührten sich die beiden Welten. Deshalb ist es noch so eine Merkwürdigkeit, daß beide sich nach gut einem halben Jahrhundert fast gleichzeitig von den Konventionen des Erzählens lösten: Beim Film wird da gerne Orson Welles als Schlüsselgestalt angeführt – bei den Comics ist es Will Eisner. Den »Citizen Kane des Comics« nannte ihn darum die New York Times in ihrem Nachruf vor drei Jahren, was nicht nur sprachlich schief ist: Eisner war zuerst da. Als er am 3. Januar 2005 mit 87 Jahren starb, hatte er in dieser Zeit das Genre zweimal revolutioniert. Nicht, daß allzu viele etwas davon gemerkt hätten. Während Hollywood zum Kulturträger der Weltmacht wurde und das Kino zum wichtigsten Freizeitvergnügen, konnten sich die Comics nie so richtig vom Nimbus des Kinderkrams und der

Massenverdummung lösen. Obwohl Eisner es beinahe geschafft hätte. Das erste Mal 1940: Eisner selbst war gerade mal in seinen 20ern, als er dem Massenmedium der Zeitungscomics eine neue Welt eröffnete: Zwischen die unbesiegbaren, muskelbepackten und kostümierten Superhelden schob sich eine verknitterte Gestalt mit Hut und Anzug, Handschuhen und Krawatte, bei der gerade mal eine lächerliche Augenmaske seine wahre Identität verbarg. Er war weder Millionär noch Außerirdischer, nur ein einfacher Polizist, der von den meisten für tot gehalten wurde. Seine einzige übermenschliche Kraft bestand allerdings darin, sich stundenlang zu prügeln und verprügeln zu lassen und doch immer wieder aufzustehen. So gesehen, war der Spirit erwachsener als seine Kollegen und verkörperte mehr als diese den Zeitgeist. Mit einem schrägen Sinn für Humor, einem Blick fürs andere Geschlecht und unbeirrbarem Hang zu seiner fiktiven Stadt spukte der Spirit durch Central City wie Batman durch Gotham City, für das ebenfalls Eisners Heimat New York Pate gestanden hatte. Aber eher als ein Superheld schien der Spirit geradewegs Hollywoods Schwarzer Serie entstiegen zu sein. Bloß daß er für deren Antihelden zu jung und gutaussehend war und beim Umgang mit

Fotos: Sony | Lionsgate

Film wirkt das mitunter nostalgisch.


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Bei Bildern wie diesen zeigt sich Millers Herkunft vom Superhelden-Comic: Heroisch die Haltung, grafisch die Krawatte, die er zu einer Art Markenzeichen seines Helden stilisiert.

dem anderen Geschlecht etwas unbeholfen. Letzlich hatte Eisner die Superhelden-Comics mit dem Film noir gekreuzt und alles mit einer gehörigen Dosis Ironie versehen. Der Spirit erschien als wöchentliche Zeitungsbeilage, deren Geschichten sich über sechs bis acht Seiten erstreckten. Damit eröffnete er die Entwicklung von den drei bis vier Bilder langen Strips zu eigenständigen Heften. Die eigentliche Revolution war aber die grafische Aufbereitung der Geschichten, durch die nicht nur die Krimis von Dashiell Hammett und Raymond Chandler, sondern immer auch ein Hauch von John Steinbek wehte. Eisner hielt die Abenteuer mit einem cineastischen Blick fest, mit Bildkompositionen und ungewöhnlichen Perspektiven, die tatsächlich an Citizen Kane erinnern – bloß, daß der später entstand. Jede Folge begann mit einem großen Tableau, in das der Titel eingearbeitet war. Der Schriftzug »Spirit« konnte als Mietshaus erscheinen oder als Papierschnipsel, der über den Bordstein wehte. In den folgenden Bildern entspann sich ein Spiel von Licht und Schatten, verschränkten sich Einstellungen und Szenenbild, wie es das Kino selbst sich nur in Ansätzen auf die Leinwand zu bringen traute. Das Publikum liebte den Spirit.

Trotzdem dauerte es fast ein dreiviertel Jahrhundert, bis er seinen Weg auf die Leinwand fand. Superman und Batman, Tarzan und Flash Gordon, Prinz Eisenherz und selbst weniger bekannte Helden wie das Phantom hatten unterdessen ihren Auftritt gehabt, die meisten nicht nur einmal, viele sogar in Serie. Nur der angeblich beste nicht. Und wer den Spirit kennt, wird sich fragen, ob überhaupt jemand den Geist fassen kann, den Will Eisner damals rief. Michael Uslan bezeichnet sich als »lebenslangen Comic-Enthusiasten«. Seine Filmografie liest sich jedenfalls, als hätte er sich in einem Comicladen verirrt: Er war ausführender Produzent bei allen Batman-Verfilmungen und Catwoman und produzierte die Comic-Adaption Constantine. In seiner nicht weniger umfangreichen Bücherliste (natürlich über Comics) findet sich auch das erste Lehrbuch zum Thema. Den Einstieg in die Filmindustrie fand er allerdings als Anwalt bei United Artists. 1992 hatte Uslan die Rechte am Spirit von Eisner gekauft. Das war gerade drei Jahre, nachdem er Tim Burtons Batman produziert hatte, der Comic und Kino in ein neues Verhältnis zueinander brachte. Angeblich bekam er den Zuschlag durch ein einfaches Versprechen: »Ich schwor Eisner,

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Sex and the City ohne Schuhekaufen. Die Leinwand gehört den Frauen. Sie haben fantasieanregende Namen wie Sand Saref, Plaster of Paris, Lorelei, Silken Floss, Morgenstern. Ebenso beeindruckend sind sie besetzt: Mit dem Spirit spielen Eva Mendes, Paz Vega, Jaime King, Scarlett Johansson und Stana Katic. Vertrauen kann er ihnen auf keinen Fall.

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kündete Uslan. Del Prete sah ihn an: »Erzähl mir nicht, Du hast die Rechte am Spirit?« Und Uslan blickte zum Himmel und dachte: »Mama, ich bin zu Hause!« Uslan: »Sie war die erste, die den Spirit kannte. Es war ein magischer Moment.« Nach dieser romantischen Begegnung stellten sich alsbald aber ganz praktische Fragen. Wer in aller Welt sollte sich daran wagen, aus einer gut 15 Jahre lang erschienenen Legende ein Drehbuch zu machen? Ganz oben auf der Auswahlliste stand angeblich Frank Miller, was man sogar glauben mag. Denn zum einen ist Miller nach Meinung vieler der zur Zeit einflußreichste Comic-Künstler, zum anderen hat er bereits selbst Set-Erfahrung und ist damit die Idealbesetzung für den Brückenschlag zwischen Kino und Comic. Außerdem war er mit Eisner gut befreundet. Künstlerisch und intellektuell ist Miller seinem Freund sicherlich ebenbürtig in seinem Schaffen – aber doch zugleich 50 Lichtjahre von ihm entfernt. Wenn Eisner der Orson Welles des Comics ist, wäre

Fotos: Sony | Lionsgate

daß niemand den Spirit anrühren werde – keine Firma, kein Mensch, wenn sie nicht bereit wären, seine Eigenart zu respektieren.« Man darf also gespannt sein, ob der Spirit nach Kinostart in Schnellrestaurants als Aufziehmännchen in der Junior-Tüte steckt. Fast ein Jahrzehnt dauerte es, bis Uslan seine Partner gefunden hatte. »Ich wollte schon immer einen Comic verfilmen. Mit Comics habe ich gelernt, eine Geschichte in Bildern zu erzählen«, behauptet Deborah Del Prete, die seit Jahren mit Gigi Pritzker die Produktionsfirma Odd Lot Entertainment betreibt. »Wir sind Independent-Filmemacher, wir können unsere Projekte selbst entwickeln. Ich hatte nach dieser Art Film gesucht.« Trotzdem verlor man sich aus den Augen. Erst 2004, Uslan war von seiner vergeblichen Suche immer noch frustriert, pitchte er die Geschichte noch einmal bei Del Prete. Nach der Produktionslegende hört sich die Begegnung so an: »Ich bringe Dir das größte Werk, das die Comic-Industrie in den letzten 70 Jahren hervorgebracht hat«, ver-


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Miller der Quentin Tarantino. Mit The Dark Knight hatte er Batman eine neue Richtung gegeben, die Wiederbelebung des Fledermaus-Rächers im Kino wäre ohne diese Vorlage kaum möglich gewesen. Sin City, sein dunkelschwarzes Comic noir erfreute die Pulp-Fiction-Gemeinde, und selbst das ästhetisierte Spartaner-Gemetzel 300, bei dem Miller als Koregisseur dabei war, hat das Genre in den USA maßgeblich beeinflußt. Miller erzählt hoffnungslose Epen einer Welt voller Gewalt und Schatten – bedeutungsschwanger und ernst. Die Ironie, die leichten Zwischentöne sind seine Sache nicht. So einen auf den Spirit loszulassen ist zumindest eine tollkühne Idee. Das sah Miller wohl genauso. Er lehnte ab. Dann rief er zurück: »Ich kann keinen anderen daran lassen.« Eisner sei eine seiner frühesten und größten Inspirationen, gibt Miller zu. »Ich bin seinen Comics zum ersten Mal begegnet, als ich 13 war, und hielt ihn für den kommenden Star. Seine Arbeit war 40


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Will Eisner hielt die Abenteuer seines Helden mit einem cineastischen Blick fest. Die Bildkompositionen und ungewöhnliche Perspektiven erinnern an Filme wie Citizen Kane – der freilich später entstand. Die Filmbilder von Frank Miller und DoP Bill Pope versuchen das nachzuempfinden.

Jahre alt, aber sie sah frischer und neuer aus als alles, was ich bis dahin gesehen hatte.« An dieser Stelle muß man kurz innehalten, und erwähnen, wie Eisner das Metier ein zweites Mal umkrempelte. 1952 hatte er den Spirit eingestellt, als durch den »Comic Code«, ein Auswuchs der McCarthy-Jahre, das Medium sich quasi selbst zensierte. Eisner schloß sein Studio und betrieb einen Schulbuchverlag, bis ihn fast zwei Jahrzehnte später ein paar Underground-Künstler zurückholten. Eisner war ein wenig befremdet wegen des Rummels, der da um ihn gemacht wurde, aber auch immer noch angetan vom Zeichenbrett. Er verkaufte den Verlag und begann wieder zu zeichnen. Aber kein Comic im klassischen Sinne: »Graphic Novel«, grafischer Roman, stand selbstbewußt auf dem kleinen Büchlein, das er Ende der 1970er Jahre mit einer winzigen Auflage herausbrachte: Ein Vertrag mit Gott hatte mit MickyMäusen und Supermännern wenig gemein. Am Schauplatz eines Mietshauses in New York der 20er Jahre erzählte Eisner die Geschichten und

Schicksale einfacher Leute – von irischen Witwen und galizischen Juden und von deren Kindern, die bereits hier aufgewachsen waren. Sprachlich war der illustrierte Roman dem literarischen Gegenstück ebenbürtig, grafisch ging Eisner noch weiter: Er löste sich von den Begrenzungen des Comic-Strips mit seinen Rahmen und entwickelte einen atemberaubenden Erzählrhythmus. Mit weiteren Werken setzte er das fort, andere Künstler folgten dem Vorbild. Graphic Novels lieferten bereits die Vorlagen für einige beachtete Verfilmungen: Sam Mendes’ Road to Perdition etwa oder David Cronenbergs A History of Violence. Auch Millers 300 und Sin City gehören letztlich in diese Reihe. Miller arbeitete schon im ComicMetier, als er Eisner auf einer Party in New York zum ersten Mal begegnete. Er schrieb und zeichnete gerade seine erste Ausgabe von Daredevil für Marvel, erinnert er sich: »Eisner sah sich die Eröffnungsseite an und sagte mir sofort, was damit nicht in Ordnung war. Wir stritten über den Einsatz der Bildunterschrift, und damit begann eine

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Diskussion, die noch 25 Jahre andauern sollte – wie man Comics macht und wie sie funktionieren. Wir hatten ein sehr anregendes Verhältnis und eine sehr herzliche Freundschaft. Ich habe viel von ihm gelernt.« Miller umgab sich mit Eisners Zeichnungen, als er sich an das Drehbuch setzte, »Ich dachte zuerst wie ein Romanschriftsteller, wie ein Raymond Chandler, und beabsichtigte, auch so zu schreiben«, berichtet er. »Aber dann merkte ich, daß Chandler das völlig falsche Vorbild war, daß Eisner viel mehr von einem O. Henry hatte. Er erzählte eine Reihe von Kurzgeschichten, von denen viele wunderschön waren. Ich entschied mich für meine Lieblingsgeschichte, ein Zweiteiler über Sand Saref, und entwickelte von da aus die Geschichte.« Die sexy Juwelendiebin Sand Saref ist nur eine von vielen bezaubernden Damen, die Eisner für den Spirit schuf. Weiterhin treten auf: Ellen Dolan,

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liebreizende Tochter des Polizeichefs von Central City, die exotische Sängerin Plaster of Paris, die so kühle wie geniale Silken Floss und der Unterwasser-Todesengel Lorelei. »Was ich einfangen wollte, war bereits in Eisners Werk enthalten«, erklärt Miller. Mit ihren schillernden Namen erinnern die Damen an Holly Goodhead und all die anderen aus dem Harem von James Bond. Nur daß auch dazwischen Welten liegen. Der Spirit war zwar selbst »ein bißchen ein Gauner«, wie Miller einräumt (»Während er mit Ellen Dolan zusammen war, hatte er immer ein Auge für die Ladys«), und zwischen seinen Einsätzen für das Gute bleibt ihm immer noch Zeit für das eine oder andere Rendezvous – doch dabei ist er sichtlich überfordert. Er kann nie sicher sein, ob sie ihn wirklich lieben oder doch nur gerade gebrauchen oder gar umbringen wollen. Oder alles zusammen. Die SpiritGirls ließen jeden James Bond blaß aussehen. Sie sind Femme fatales wie aus dem düstersten Werk

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Der Spirit als Papierschnipsel im Rinnstein oder als rostiger Ladenschild – Eisner setzte den Titelschriftzug gerne als Element ins Bild und gab dabei schon das Thema der Geschichte vor.

Wenn er sich an die Vorlage hält, wäre Der Spirit also ein Frauenfilm, beinahe wie George Cukors Klassiker Die Frauen, in dem kein Mann auftritt. Richtige Männer spielen auch hier keine Rolle: ein miesepetriger Polizeichef kurz vor der Pensionierung, ein durchgeknallter Bösewicht mit geklonten Schergen und ein Held, der nicht mal selber

weiß, ob er überhaupt lebt. Die Frauen machen sichtlich die bessere Figur. Folglich ist der Spirit selbst mit dem noch recht unbekannten Gabriel Macht besetzt. Für seine weibliche Seite haben die Produzenten ein beeindruckendes Ensemble versammelt: Scarlett Johansson, Eva Mendes, Jaime King und Paz Vega verkörpern mehr oder weniger böse Männerträume mit den fantsieanregenden Namen, Sarah Paulson gibt die treue Seele Ellen Dolan, die für die moderne Fassung noch einen Doktortitel verliehen bekam.

Will Eisner 1941: Den »Citizen Kane des Comics« nannte ihn die New York Times, meinte damit aber eigentlich irgendetwas anderes, denn Eisners Citizen Kane hieß Der Spirit, und Eisner selbst könnte also höchstens der »Orson Welles des Comics« sein. Richtiger wäre allerdings, Welles als den »Will Eisner des Films« zu bezeichnen. Das muß man jetzt aber nicht unbedingt verstehen.

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der Schwarzen Serie, die um die gleiche Zeit entstand wie der Spirit. Selbst Ellen, die brave Dauerverlobte des Helden und Tochter des Polizeichefs, enthüllt bisweilen ungeahnte Seiten.


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spannend

kraftvoll Gute

leise Eisner hatte seinen Helden für seine Zeit gezeichnet. Miller hielt sich ans Vorbild. Dennoch verpaßte er dem »zeitgenössischen« seinen eigene Note, indem er Design-Elemente aus verschiedenen Epochen mischte. Mit Kostümbildner Michael Dennison (Chaplin, Starship Troopers) beschwor Miller eine Welt, in der die Frauen piekfein gekleidet sind, Männer Anzug und Hut tragen und Taxis elegante Limousinen aus den 50ern sind. Es ist aber auch eine Welt mit Mobiltelefonen, Splitterschutzweste und Klontechnik. Der Film hat eine Ebene von Abgeklärtheit und Gewalt, die eher aus dem 21 Jahrhundert als aus den 1940ern stammt. Dennison entwarf stilisierte Kostüme, die die Charaktere, ihre Geschichte und Stimmungen widerspiegeln. Für den Octopus griff er tief in die Schublade mit all den Symbolen, die die Populärkultur so für dunkle Bedrohungen zu bieten hat – vom Archetypus des Schurken im Western bis zum tödlichen Samurai und selbst einem Nazi. Dagegen schuf er eine abwechslungsreiche Garderobe für die überwältigende Damenriege: Abendkleider, Kostüme, Kleider und mehr, die sich an die femininen Umrisse aus der Mitte des 20. Jahrhunderts anlehnen und zugleich modern wirken.

Filme kommen komisch nicht gefühlvoll von ungefähr.

laut tragisch Weiterqualifizierungen auch für Filmschaffende.

...

unterhaltend In der Stadt der Berlinale - von Profis für Profis.

isff-berlin.eu Institut für Schauspiel, Film- und Fernsehberufe


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Samuel L. Jackson verkörpert »Octopus«, den bösen Gegenspieler, mit Hang zu Theatralik. Der Schauspieler ist angeblich ein

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Die Ausstattung des Spirit wiederum verlangte einfache, klare Teile. Dennison änderte nur wenig, um den Charakter in die heutige Zeit zu transportieren. »Der Original-Spirit trug einen Anzug«, sagt Dennison. »Wir reduzierten das auf Hemd, Hose, Krawatte, Gürtel, Turnschuhe, Trenchcoat und Hut.« Mehr war der Effekte wegen auch nicht möglich: Das Trenchcoat, eigentlich gar nicht mehr modern, ist wie das Cape der richtigen Superhelden – es weht, es fliegt, verhüllt und wickelt sich um die Figuren, erklärt Dennison. Miller braucht das in seinen Bildern als Gestaltungselement. So sehr, daß er selbst seinen 300 nackten Spartanern rote Umhänge verpaßte. Der Hut des Spirit erlaubt Schattenspiele in jeder Situation, und die scharlachrote Krawatte dient als grafisches Bild, eine Art Markenzeichen. Der Plot ist simpel: Denny Colt ist ein junger Polizist, der bei einem Einsatz ermordet wird und als geheimnisvoller maskierter Rächer wiederkehrt. So oder ähnlich verhält es sich in vielen Superhelden- und Rächergeschichten, doch abgesehen davon, daß Eisner einer der ersten war, versagte er seinen Lesern auch eine vollständige Erklärung. So blieb über alle Folgen immer ein Rest Unsi-

cherheit, ob der Spirit wirklich ganz Mensch ist. Zumal Eisner gerne mit Phänomenen und Übersinnlichem spielte, wenn es hilft, die Konventionen des Genres durcheinanderzubringen. Der Octopus etwa, der stellvertretend für all die anderen von Eisners Bösewichten im Film auftritt, wird im Original nur durch ein weißes Paar Handschuhe dargestellt. Miller zeigt den ganzen Kerl natürlich ein Psychopath, der nach der Weltherrschaft oder Ähnlichem strebt. Das kennt man – wie die heroischen Posen, die Millers Spirit einnimmt. Bei Eisner hatte es das nicht gegeben. Sein Spirit trug Anzug statt Unterhosen, und machte den Superhelden-Comic erwachsen. Frank Miller macht ihn wieder zum Superhelden. Der unterschwellige Humor, der unverzichtbarer Teil von Eisners Universum ist, sollte trotzdem auf die Leinwand übertragen werden. Auch technisch hatten sich die Filmemacher einiges vorgenommen. Wie schon die Adaption von Millers eigenem Comic 300, sollte Der Spirit komplett vor Greenscreen gedreht und dann am Rechner bearbeitet werden, um auch ästhetisch das Hybrid zwischen Film und Comic zu erzeugen. Miller hatte erste Erfahrungen beim Dreh seines Sin City gesammelt, wo er als Koregisseur von Ro-

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großer Comic-Fan, und das nicht erst, seit er solch eine Rolle in M. Night Shamayalans Unzerbrechlich gespielt hatte.


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Louis Lombardi spielt den bösen Klon Phobos. Die Produzenten köderten den Schauspieler, daß seine Figur 50 Mal zu Tode kommt. Als Frank Miller erklärte, auf welche Weise das geschieht, konnte er es gar nicht mehr abwarten, zu drehen.

bert Rodriguez fungierte – und die neue Technik lieben lernte: »Was da passiert, paßt ideal zu jemanden wie mir, der Geschichten mit Bildern erzählt«, schwärmt er. »Was immer man sich vorstellt, kann realisiert werden. Und so sehr diese Technik auf die Zukunft gerichtet ist, kann sie genauso gut die Qualitäten der Vergangenheit wiederbringen. Nicht nur die comicartigen Eigenheiten einer seltsam wirkenden Stadt, sondern auch die eines klassischen Film noir. Ich wollte, daß der Spirit den harten, beängstigenden Look dieser alten Filme hat.« So wählte Del Prete auch die Crew aus. Alle sollten eine Beziehung zu Millers Comics haben. Und Eisner und den Spirit kennen. Zum Beispiel DoP Bill Pope, der die jüngsten beiden SpidermanAbenteuer und die komplette Matrix-Trilogie fotografiert hatte. Oder Stu Maschwitz, Herr über die Visuellen Effekte und Gründer des Postproduktionhauses The Orphanage, der Iron Man, Nachts im Museum, Superman Returns und Harry Potter und der Feuerkelch zu ihren Bildeeffekten verholfen hatte. Pope sprang direkt auf das Angebot an. »Frank Miller ist ein Meister in einem anderen visuellen

Medium. Da will man doch sehen, was er macht.« Schon bei Matrix hatte sich Pope unverkennbar an Millers Zeichnungen orientiert. Maschwitz fungierte auch als Regisseur der Second Unit. Und wies Miller während der Produktionsvorbereitungs-Phase in die Visuellen Effekte des Films ein. Gemeinsam erarbeiteten die drei ein abenteuerliches visuelles Konzept. »Wir wollten den Spirit noch stilisierter, mehr in der Art von Franks Zeichnungen machen, als das selbst Rodriguez [mit Sin City] getan hatte«, erklärt Pope. »Stu und ich waren seine Gefolgsleute, in dem Sinn, daß wir Frank Miller und seine Vorstellungen verstanden. Unser Job war, das, was er sich in seinen Zeichnungen vorstellte, in die technische Welt zu übersetzen. Frank ist kein Techniker, seine Stärke ist, den Moment zu finden, dieses gewisse Gefühl, das in jeder Szene steckt.« Der Spirit wurde wie ein zeitgenössischer Film noir gestaltet, in dem die Farbe eine sehr zielgerichtete, starke Rolle spielt. Die Farbpalette wurde beim Drehen festgelegt – über Licht, Kostüme, Szenenbild und anderes. Und in der Postproduktion weitergeführt. Der Film sollte nie schwarzweiß sein, erklärt Pope. »Also überlegten wir, was die thematischen Farben waren. Etwa die Szene

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Der Spirit spukt durch seine fiktive Heimatstadt Central City wie Batman durch Gotham City. Für beide hatte Eisners Heimat New York Pate gestanden.

Greenscreen-, einem Blackscreen- und einem Stunt-Set umgestaltet, der von Grün auf Schwarz verändert werden konnte. Währnd der 48 Drehtage waren über 100 Schauspieler und Stuntmen beschäftigt. Für die Schauspieler und Schlüsselabteilungen erstellte Miller Notizbücher mit den originalen Eisner-Stories, auf die sich der SpiritFilm stützte. Und der Zeichner begann jeden Tag mit Storyboards, die allen Beteiligten helfen sollten, die Szenen des Tages zu visualisieren.

Der Ort der Handlung entstand erst in der Postproduktion. Die VFX-Abteilung erschuf »das Central City meiner Träume – so modern und so nostalgisch, wie man will«, schwärmt Frank Miller (Mitte).

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mit dem jungen Denny und der jungen Sand auf der Veranda. Ich wußte, daß sie ein Medaillon öffneten. Das konnte golden sein, die Erinnerung konnte eine ›goldene‹ Erinnerung sein. Und Sand ist materialistisch. Also wurde Gold die Farbe.« Die Dreharbeiten begannen am 8. Oktober 2007 in Albuquerque im US-Staat New Mexico – was den Spirit zum ersten Spielfilm macht, der in den dortigen neuerrichteten Studios gedreht wurde. Die Hallen 7 and 8 wurden zu einem riesigen


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Nach Drehschluß wurde The Orphanage in Nordkalifornien zum Zentrum der Arbeit. Von hier aus lenkte Maschwitz ein VFX-Team von über 200 Leuten in zehn Postproduktionshäusern rund um die Welt. Für ihn und seine Kollegen war es fast das Gegenteil üblicher VFX-Arbeit: »Meistens nehmen wir eine Aufnahme, die bis auf ein winziges Teil komplett ist, und bringen dieses Detail ins Bild. Beim Spirit hatten wir ein kleines wichtiges Element, die Darstellung, und fügten den gesamten Hintergrund dazu.« Währenddessen stieß in Los Angeles der Schnittmeister Greg Nussbaum zum Postproduktionsteam. Er hatte mit Maschwitz an Werbespots und Musikvideos gearbeitet und war schon einer der Cutter bei der Prävisualisierung gewesen. »Die Schwierigkeit an dieser Art Film ist, daß der Cutter für die Montage nur Schauspieler vor Greenscreen hat. Er muß wirklich ein großes Vorstellungsvermögen haben, um zu verstehen, was die da tun«, sagt Maschwitz. Miller und seine Produzentin verbrachten unterdessen ihre Zeit mit Musikhören und Treffen mit den Komponisten. Die Wahl fiel schließlich auf David Newman (Anastasia, Ice Age, Das Phantom). Mit Del Pretes Worten klingt es einfach: »Frank wollte eine Mischung aus 40er-Jahre-Jazz und Heldenmusik mit einem Hauch von SpaghettiWestern. David konnte das.« Wahrscheinlich hat die Produzentin damit die ganze Produktion auf den Punkt gebracht: Der Spirit ist nicht die unmögliche Verfilmung des legendären Comics. Sondern einfach eine Hommage Frank Millers an sein Vorbild. Mit seinem eigenen Stil. c Der Spirit USA 2008 Regie und Drehbuch Frank Miller Literarische Vorlage Will Eisner Bildgestaltung Bill Pope Montage Gregory Nussbaum Kostüm Michael Dennison Musik David Newman Besetzung Tricia Wood, Jennifer Smith Darsteller Gabriel Macht, Eva Mendes, Sarah Paulson, Dan Lauria, Paz Vega, Jaime King, Stana Katic, Louis Lombardi, Scarlett Johansson, Samuel L. Jackson Produzenten Deborah del Prete, Gigi Pritzker, Michael Uslan.

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Schreiben, das kann ich auch! Angeblich gibt’s ja zu wenige gute Drehbücher im Lande. Das ist seltsam, weil es doch so viele Bücher gibt, die erklären, wie’s geht. Und noch mehr Seminare. Was lernt man da eigentlich?

Text Karolina Wrobel | Fotos Sabine Felber

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SZENE 1 AUSSEN/TAG Es ist ein warmer Nachmittag, die Sonne in Berlin scheint wie lange nicht mehr. Am Helmholtzplatz, dem Szene-Viertel im Prenzlauer Berg, sitzen gutaussehende junge Menschen, »Bionaden-Bohème« nennt man dieses schick und gewollt abgegriffen gekleidete Volk in jedem Alter von Zwanzig bis Vierzig, in Wahrheit alle alterslos und mit geübter Geste den Kaffee umrührend, gerne mit laktosefreier Milch. Hier möchte man in der Regel dazugehören, selbst wenn das elegante Sitzen auf Holzkisten oder Liegestühlen einige Übung verlangt, aber andere Sitzmöglichkeiten gibt es ohnehin nicht. Nur ein paar Schritte davon entfernt hat sich eine Traube von Menschen gebildet. Sie stehen und sehen dabei irgendwie erwachsener aus, nachdenklicher. Auch sie möchten dazugehören, deshalb sind sie hier. Die geöffneten Glastüren der grün berankten Fassade des Altbaus stehen offen, drinnen mutet der Seminarraum eher wie ein Salon an, obwohl er für den Lernzweck in moderner Schlichtheit hergerichtet wurde – die Schüler erwarten sachliche Metall-Stühle mit glatten hölzernen Flächen zum disziplinierten Sitzen. Man verweilt noch einen Moment vor der sonnenbeschienenen Fassade und redet von der Angst vorm Ersten Akt. Keiner hier scheint unter Dreißig, jeder von ihnen arbeitet in seinem eigenen Beruf, von denen die wenigsten mit Film zu tun haben. Sie alle jedoch teilen den einen Traum vom Filmemachen. Sie wollen Drehbücher schreiben lernen. Heute tragen sie in der Drehbuchschule von Wolfgang Pfeiffer zum ersten Mal eine Handlungsskizze vor – ein ganzer Film in einem Dutzend Sätzen, das war die Vorgabe ihres Lehrers.


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Auch in der Drehbuchschule gibt es manchmal Frontalunterricht, wenn Wolfgang Pfeiffer die Handgriffe erklärt. Derweil schwingt sich hinter ihm an der Tafel die Geschichte schon von Höhepunkt zu Höhepunkt. Selbstverständlich in drei Akten.

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SZENE 2 INNEN/TAG Birgit Vogt* [VOGT] sitzt in dem Kreis aus Tischen gleich gegenüber von Wolfgang Pfeiffer [PFEIFFER], der am Kopf der Runde thront. Sie hört der Diskussion um ihre Handlungsskizze gespannt zu, während PFEIFFER, nach hinten gelehnt, ebenfalls das Gespräch von seinen Schülern leiten läßt. [EINE TEILNEHMERIN] Birgit, mach’ draus großes Kino! SCHNITT AUF [PFEIFFER]: PFEIFFER selbst ist eine imposante Erscheinung, ein Filmemacher in Übergröße. Man möchte den 55jährigen nicht wütend erleben, wenn sich sein Körper zur Übermacht aufbäumt und er seine sonore Stimme durch den Raum peitscht. Tatsächlich scheint der vierfache Vater die Ruhe selbst zu sein, so wie er vor der Gruppe im Stuhl versinkt. Sein Gesicht ist verschlossen, es wirkt ein wenig humorlos, sogar teilnahmslos. Man möchte ihm trotzdem nicht widersprechen. Die ausdrucksstarken Gesichtszüge, die Hakennase und das haarlose Haupt sind wie geschaffen für das stilisierte Porträt, mit dem sich PFEIFFER zu eigenen Werbezwecken als Logo inszeniert, wohl mit Absicht nicht unähnlich dem von Alfred Hitchcock. Alles, was er mache, beruhe auf Erfahrung, erzählt PFEIFFER vor Kursbeginn. Er will das Drehbuchschreiben als kreativen Prozeß begriffen wissen, weniger ein Handwerk, das aus den Bauelementen Einstellung, Szene und Akt, Handlungsbogen und Figurenkonstellation besteht. Kostenkalkulation der Umsetzung, Aufwand der Szenerie und Besetzung werden in Pfeiffers Seminaren marginal behandelt.

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[PFEIFFER] Im Alltag hilft das rationale Denken einzukaufen und unser Leben in Ordnung zu halten. Auch beim Schreiben schlägt man deshalb gerne den gewohnten Weg ein. Solche Drehbücher kann man in die Tonne treten. Deutsche Drehbuchautoren seien in der Regel zu kopflastig und angstgesteuert, er dagegen bilde »gute Anarchisten« aus. PFEIFFER leitet seine Autoren eher mit Metaphorik an als mit konkreten Handlungsanweisungen – sagt Sätze wie »Handlung ist immer konkret« oder spricht vom »Schaffen einer Wirklichkeit«, zugleich setzt er zur großen Geste an, manchmal zeichnet er Bögen auf die Klappschiebetafel hinter ihm, oder malt einen Pfeil in ein Strichmännchen, um die Erzählabsicht für eine Figur zu erläutern.


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[PFEIFFER] Einfachheit ist das Ziel, sie macht aber auch jeden Autor angreifbar. Der Filmemacher war in erster Linie Produzent, er hatte aber auch Regie geführt, früher. Da wurde er für sein Dokumentarfilmdebüt Joe Polowsky – ein amerikanischer Träumer 1986 auf der Berlinale ausgezeichnet. In den 30 Jahren seiner aktiven Schaffenszeit produzierte er Stilles Land von Andreas Dresen und sagt nicht ohne Stolz, er habe ihn entdeckt. Dresen hätte seinen Erfolgsfilm Sommer vorm Balkon gleich hier um die Ecke gedreht, wirft er noch ein, diese Referenz soll für sich sprechen. Mitproduziert hat Pfeiffer auch Kinder der Natur, von Fridrik Thor Fridriksson, der 1991 für den »Oscar« nominiert wurde. Heute schreibt der Filmemacher manchmal an einem Drehbuch mit, meistens coacht er ehemalige Schüler. Am Schreibtisch sitzen, erzählt PFEIFFER, sei gar nicht sein Ding. Deshalb ging er in den 1990ern für drei Jahre ins afrikanische Simbabwe, um die dortigen Autoren in einem Unesco-Projekt bei der Drehbuchentwicklung zu fördern. Er kam erst nach sieben Jahren zurück – mit dem Einfall, auch in Deutschland eine Schule einzurichten, die »Ars Dramatica«. Bis heute hat er um die 300 Autoren ausgebildet und führt eine Skriptagentur zur Verwertung dieser Stoffe. Der Zulauf neuer Aspiranten ist groß, die Geschäftsidee hat sich ausgezahlt, und PFEIFFERs Drehbuchschule zog mittlerweile von der Kollwitzstraße an den Szene-Kiez. Schließlich werden in der Filmbranche allerorten gute Drehbücher gesucht, und viele lockt eine romantisierte Vorstellung des Drehbuchschreibers, einige die künstlerische Profilierung und manche auch das Geld. Nicht wenige sagen deshalb: Schreiben, das kann ich auch! SCHNITT AUF [VOGT]: Birgit Vogt schmeichelt der Einwurf, ihre Idee könnte auch großes Kino sein. Dabei geht ihre Handlungsskizze thematisch so gar nicht mit der Schüchternheit einher, die bei der jungen Frau zu bemerken ist. Erst als sie von ihrer Sitznachbarin kameradschaftlich in die Seite geboxt wird, lockert sich ihre Haltung, ihr Blick streift neugierig über die noch zum Lesen gesenkten Köpfe. Dann kann sie ihr schelmisches Lächeln doch nicht verbergen, nämlich als die Tischnachbarin fragt, ob sie denn schon ihre Fingerabdrücke abgegeben habe? Eigentlich ein unerhörter Verdachtsmoment, doch suchen Autoren oft einen authentischen Recherchezugang. Das kriminalistische Gespür der Tischnachbarin geht trotzdem in die falsche Richtung: Nicht Fingerabdrücke, sondern DNA-Spuren initiierten bei der Autorin VOGT die Idee für ein Drehbuch. Es handelt sich um das genetische Material einer authentischen Frau, die durch Deutschland zieht und dabei raubt

*Name geändert

Vor der Greenscreen geht ein Licht auf. Wolfgang Pfeiffer benutzt selbst gerne Metaphern. Ansonsten ist das Ambiente, in dem die Ideen beleuchtet werden, betont sachlich gehalten. Romantische Vorstellungen vom Schreiben für den Film gibt es ja so schon genug.

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Der Nachwuchs kommt aus allen Richtungen: Elke Bader (vorne) ist Radio-Journalistin, Frank Schlosser (dahinter) Finanzwirt und zufällig in den Kurs geraten. Der Sozialpädagoge und Yoga-Lehrer Mathias Gleich (rechts) hat seine erste Idee für eine Fernsehserie aufgegeben – da seien die Chancen größer. 48

und mordet – für die Polizei ist sie seit 15 Jahren ein Phantom. Zuletzt war sie an einem Polizisten-Mord in Heilbronn beteiligt. Mal hinterläßt sie am Tatort einen abgebissenen Keks, ein anderes Mal sind es Blutspuren, für die Polizei ist sie vor allen Dingen der mysteriöseste Fall der deutschen Kriminalgeschichte. Für VOGT bildet die Unbekannte eine Folie für ihre provokante Idee: Eine Serienkillerin legt mit dem ersten Mord ihr Gewissen ab. Und beschließt, fortan jeden Monat wahllos einen Menschen umzubringen – für sie wird das Töten identitätsstiftend. [VOGT] Macht Töten Spaß? Oder sogar süchtig? Welche innere Motivation hat eine Frau, die tötet? Ich interessiere mich für diese Lücke der authentischen Figur, von der man nichts weiß, außer, daß sie eine Frau ist. VOGT hat die Leerstellen mit dem unbedingten Willen eines zwanghaften Charakters gefüllt. In der Handlungsskizze spricht die junge Frau vom Töten als Abenteuer und wie ihre Figur zum Morden kam: Weil sie in Mietrückstand gerät, ist es der Vermieter, der als erster dran glauben muß. [EIN TEILNEHMER] Das kann ja ein Versehen sein – und sie entdeckt da ein schönes Gefühl… Andere spielen eben Fußball… [Lachen] [EINE TEILNEHMERIN] Das ist mal was anderes – tiefenpsychologisch auch interessant. So viele weibliche Serienkiller gibt es ja nicht!


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[ANDERE TEILNEHMERIN] Weibliche Aggression, sonst richten die Frauen das gegen sich selbst, ja das ist durchaus interessant. VOGT hat viele Skizzen gemacht, was bedeutet, daß sie noch viele Möglichkeiten für ihre Figur sieht. Eine steht aber schon fest – der Handlungsbogen endet mit der Verhaftung. Und löst vor allem bei den Teilnehmerinnen des Kurses heftige Sympathiebekundungen aus. Andere Teilnehmer überschlagen sich mit Filmzitaten und erkennen in der Idee schon mal John Waters’ Serial Mom. Wie man sich in das triebhafte Verhalten von Mördern hineindenken kann – und was nicht in den nüchtern in der Zeitung berichteten Kriminalfällen herauszulesen ist – das sei schon in Der freie Wille von Matthias Glasner zu sehen gewesen, meldet sich wiederum jemand anderes zu Wort. Da sei es ja auch gut gewesen, die Vergewaltigungsszene in dieser realistischen Brutalität zu zeigen. PFEIFFER hört der heftigen Debatte ruhig zu und setzt den Schlußpunkt: [PFEIFFER] Der Stoff ist schwierig. Für das deutsche Fernsehen ist das nichts. [VOGT] Nicht, wenn man es Richtung Schwarze Komödie zieht! [PFEIFFER] Die Richtlinie ist: Was erschüttert den Zuschauer? Ob das jetzt eine Komödie wird, kann man noch später entscheiden. Sonst ist das weitestgehend in Ordnung. Du hast das mit der Handlung verstanden und weißt, was Du tust. Die Zustimmung ihres Lehrers gibt auch der jungen Autorin Zufriedenheit. Seit März treffen sich die rund zwanzig Seminarteilnehmer zum Intensivkurs und erzählen, sie müssen sich zu Hause manchmal richtig zwingen, am Schreibtisch zu sitzen. Mittlerweile gehe es aber leichter. Während der neun Monate treffen sie sich dann fünfmal zu einwöchigen Seminaren, in denen Stück für Stück ein präsentierfähiges »First Draft Script« entstehen soll. Das alles kostet die Teilnehmer rund 3000 Euro. Das Genre der Filmidee ist egal, vom Thriller über Komödie bis zum Krimi wird alles entwickelt. Ein guter Film, sagt PFEIFFER, ist ein wirkungsvoller Film. Es gehe um Erlebnisprozesse im Zuschauer und nicht auf der Leinwand. Der Autor muß wissen, was seine Figuren tun und warum. [PFEIFFER] Wie das Material konkret angeordnet wird, das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das ist jetzt das Gerüst. Zuerst wird gezeichnet, dann ausgemalt.

SZENE 3 INNEN/TAG Während die anderen sich in das Verhalten ihrer eigenen Schulzeit zurückversetzen und leer auf den Tisch starren, lockern die kumpelhaften Wortmeldungen von Frank Schlosser [SCHLOSSER] die Gruppe auf. Der 46jährige hat einen wachen Blick, der einen schnell und sehr skeptisch fixiert, als man ihn nach seiner Filmidee fragt. Der Berliner schreibt einen Spielfilm über Wilhelm Reich, den kontroversen österreichischen Psychoanalytiker der vorigen Jahrhundertwende und vermag die Einzelheiten der Reichschen Biographie versiert aufzuzählen. Die durch eine kleine Brille silbern eingefaßten Augen werden dann wieder groß und einnehmend, SCHLOSSER ist fasziniert von dem Thema und bisweilen ein wenig überengagiert in dem Versuch, auch andere damit zu entflammen. Der Zufall habe ihn hierhergelockt, sagt er, ein wenig Schicksalhaftigkeit glaubt man herauszuhören.

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[SCHLOSSER] Ich habe das beim Vorbeifahren gesehen und bin sogar vom Fahrrad abgestiegen. Ich dachte: Warum sollte ich nächstes Jahr nicht ein Drehbuch schreiben? Im wahren Leben ist SCHLOSSER Finanzwirt, seine Kollegen wissen nicht, daß er jeden Abend mindestens für zwei Stunden noch kreative Schreibarbeit leistet, um an seinem Drehbuch zu feilen. [SCHLOSSER] Der Bruch ist einfach zu groß – das ist wie ein überhaupt nicht dazugehöriges, anderes Leben. Ich habe mich in diese Figur detailliert eingelesen und das ist auch im Freundeskreis schwierig zu kommunizieren – diese Ideen, die da kommen und einen bewegen und sogar das eigene Leben verändern… [SCHLOSSER] Ich hatte mich früher auch schon mal an einem Roman versucht und hatte dabei das Problem, daß ich von vorne nach hinten geschrieben habe. So hatte ich das nie zu Ende gekriegt. Der Vorteil beim Drehbuch sei seine Form: Jede Sache, die passiert, ist eine Information, erklärt Schlosser. Insofern sei es gar nicht wichtig, ob das stilistisch sauber formuliert ist. Es gehe um den Informationswert, den Spannungswert.

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SCHNITT AUF [BADER]: Einen Roman, den hatte auch Elke Bader [BADER] versucht zu schreiben. Die Hörfunk-Journalistin aus Frankfurt an der Oder hat zur Zeit Urlaub und damit auch Zeit zum Schreiben, erzählt sie. Die blonde 39jährige wirkt geordnet, das Schreiben kenne sie als Handwerk von ihrem Beruf als Journalistin. Fürs Drehbuchschreiben notiert sie ihre Ideen aber eher aus einem künstlerischen Affekt heraus denn aus journalistischer Sorgfaltspflicht. Meistens tut sie das handschriftlich, das gebe ihr das Gefühl, es aus dem Kopf durch die Hand irgendwie rauszulassen. Oft wirken die Autoren mit ihren Beschreibungen der schöpferischen Arbeit, als ob das auch ein Stück Lebenserschreibung wäre, der Kugelschreiber als Blitzableiter für manches, das stellvertretend zu Ende gedacht wird, was im Beruf oder im Privatleben keinen Platz findet. SCHNITT AUF [GLEICH]: Nicht so beim Sozialpädagogen Mathias Gleich [GLEICH], der ein waschechter Berliner ist, wie er sagt. Gleichzeitig ist er Yoga-Lehrer. Gleich hat mit seiner aufgeweckt neckischen Art zu seinem Drehbuch nur eines zu sagen: [GLEICH] Es wird realisiert. Punkt. Dabei hat er das Thema vor fünf Tagen erst umgeschwenkt. Eigentlich wollte der dynamische 36jährige etwas ganz anderes machen – einen Jugend-Gangster Film in der Vorstadt von Berlin. Jetzt schreibt er an Ein Fall für zwei. [GLEICH] Da ist fast alles vorgegeben. Außerdem habe ich einen Freund, der ist da Kameramann. Man macht es sich dadurch auch leichter, gerade mit der Möglichkeit, das jemandem vorzulegen – also, daß da Kohle rüberkommt – mal ganz simpel ausgedrückt. Geld ist für GLEICH ein ganz entscheidendes Kriterium, geradezu disziplinfördernd, was den Schreibprozeß angeht, lacht er. Dabei kenne er die Serie nur am Rande. [REPORTER] Wie, Sie schauen sich das nie an?


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Report | Drehbuchschule

Deutsche Drehbuchautoren seien zu kopflastig und angstgesteuert, sagt Wolfgang Pfeiffer (rechts). Er will »gute Anarchisten« ausbilden.

[GLEICH] Ne, gar nicht. Aber ich habe Drehbücher von ein paar Folgen gelesen. [REPORTER] Und wie bestücken Sie ihre Geschichte? [GLEICH] Ich komme ja aus dem pädagogisch-therapeutischen Bereich, da habe ich mir diesen Matula, den der Claus Theo Gärtner spielt, angeschaut – welche Ecken und Kanten hat er denn, welche Konstellation hat er bisher vermieden? Ich habe ihn einfach betrachtet wie einen Klienten in einem therapeutischen Gespräch. Falls sein Drehbuch verfilmt werden sollte, wird GLEICH seinen Beruf nicht aufgeben, erzählt der Liebhaber der Serie Six Feet Under – er wolle irgendwann auch so etwas in der Richtung machen. Die meisten seiner Freunde sind in den letzten drei Jahren aus ihren eigentlichen Berufen in den Film abgewandert jetzt sind sie Set-Designer, Regieassistent oder Kameramann. Der Sozialpädagoge will nun mit seinem Lebensentwurf gleichziehen. [GLEICH] Irgendwie bin ich dann auch dazu gekommen, daß mich das interessiert. Noch gehört er allerdings nicht dazu. Es wird einige Zeit dauern – bis Dezember, um genau zu sein. Dann soll das First Draft fertig sein. Wie der Name schon sagt, ist es der erste Entwurf von vielen. Falls GLEICH sein Buch dem Produzenten vorlegt, muß er sich auf Korrekturen, Streichungen und Fristen einstellen, die ihm als Drehbuchautor auferlegt werden. Dann kann er als »guter Anarchist« sogar Karriere machen. Es könnte aber auch sein, daß er sein Buch postwendend im Briefkasten wiederfindet. Soweit muß es aber nicht kommen. Erst muß er seine Angst überwinden, die Filmidee bis zum ersten Akt durchzukriegen. [GLEICH] Ich versuche, die Probleme Schritt für Schritt zu betrachten. Die Angst vor der Schublade kriec ge ich erst, wenn ich auf Seite 70 bin.

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Gesetze der Serie | Heroes

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Gesetze der Serie: Wenn einer fünf Geschichten auf einmal erzählt, sich dafür 1001 Minute Zeit nimmt und trotzdem kein Ende findet, freuen sich die Zuschauer. Fernsehserien wecken Begeisterung wie nur wenige Kinofilme. Warum eigentlich?

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Text Michael Stadler

Vorspann. Besondere Serien über besondere Menschen brauchen besondere Ereignisse als Aufhänger. Eine Sonnenfinsternis bestimmt den Verlauf der ersten Folge von Heroes, ein Moment, der auch immer wieder im Vorspann zu sehen ist, wobei hier die Phänomene visuell reizvoll verschränkt werden: Der blaue Planet dreht sich in der Bildmitte, verwandelt sich in die Sonne, vor der sich bereits der Schatten der Erde schiebt. Der Schriftzug Heroes

entfaltet sich auf der dunklen Kreisfläche, an den Rändern gleißt das Licht, begleitet von der explosionsartigen Eingangsmusik. Eine Korona in Orange bewegt sich von außen auf die dunkle Mitte zu, die sich wiederum nach außen dehnt. Die Sequenz erinnert eher an eine Supernova – oder an ein Auge, in dem sich wie unter Schock die Pupille weitet. Der Vorspann ist sehr kurz. Heroes verspricht rasantes, augenöffnendes Entertainment.

Worum geht’s? Ums Ganze: Menschen in aller Welt entdekken, daß sie über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen. Eine Cheerleaderin in Texas kann ihren Körper nach eigentlich tödlichen Verwundungen regenerieren, ein japanischer Büroangestellter die Grenzen von Zeit und Raum überwinden, ein Polizist in L. A. Gedanken lesen, ein Comic-Künstler in New York kann sich ein Bild von der Zukunft malen. Der indische Wissenschaftler Mohinder Suresh macht sich auf die Suche nach den unverhofften Helden. Diese werden dringend gebraucht, um die Welt, respektive New York, zu retten. Vor einer atomaren Explosion (Staffel 1), einem tödlichen Virus (Staffel 2) – und, natürlich, vor der Langeweile.


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Gesetze der Serie | Heroes

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Worum geht’s wirklich? Der Zeitreisende Hiro faßt Geist und Ziel der Serie zusammen: »Save the cheerleader, save the world!« Nach 9/11 fühlt sich Amerika unter Dauerbeschuß, seine Kultur (die Cheerleaderin) schweben in Gefahr. Man zweifelt an seinen Helden und hat doch Sehnsucht nach ihnen. Hier spricht der Kulturwissenschaftler, doch die Serie legt diese Gedanken nahe: Gleich am Anfang steht Peter Petrelli auf einem Wolkenkratzer, kurz vor dem Sprung in die Tiefe. Am Rand fliegt ein Flugzeug vorbei. Der Pilotfilm beinhaltete in der Urfassung einen Plot, in dem sich Polizist Matt mit muslimischen Attentätern herumschlägt. Zum Bedauern des kreativen Kopfs der Serie, Tim Kring, hielten die marktorientierten Köpfe von Universal das für wenig zuschauertauglich, weshalb der Pilot gekürzt wurde. Die angekratzte amerikanische Seele blieb jedoch erhalten. Selbstheilungskräfte und die Fähigkeit zur Heldentat schlummern im amerikanischen Traum. In jedem könnte ein Superfunkenmariechen stecken! Oder einer, der es rettet.

Stammpersonal. Ein Held reicht schon längst nicht mehr aus, um den Fortbestand der Welt und hohe Quoten zu sichern. Zwölf Hauptprotagonisten zählt die erste Staffel, wobei sich die Autoren bei der Figurenentwicklung stark an der Besetzung orientieren. So sollte der Genetiker Suresh eigentlich ein 55jähriger Professor sein. Da jedoch der junge Sendhil Ramamurthy beim Casting begeisterte, wurde die Figur kurzerhand seinem Alter und seiner Erscheinung angepaßt. Ihrer Rolle können sich die Darsteller dennoch nicht sicher sein – die hohe Zahl an Helden macht Einzelne zum Spielball der Autoren. Manche segnen in der ersten Staffel das Zeitliche. Ursprünglich wollte Tim Kring sogar den ganzen Cast von Staffel zu Staffel austauschen, doch da sich die Helden der ersten Stunde in die Herzen der Fans retteten, blieb ein Großteil des Ensembles erhalten.

Philosophischer Ansatz. »Save the cheerleader, save the world« – so einfach ist das. Wer die Welt retten will, muß beim Einzelnen anfangen. Wobei eine Cheerleaderin ja schon etwas Besonderes ist: Zusammen mit anderen Mädchen tanzt sie und feuert ihr Football-Team an, damit diese gewinnen. Ob man den Spielverlauf des Lebens beeinflussen kann oder seinem Schicksal unwiderruflich ausgeliefert ist, darum geht es in Heroes.

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Zeit und Ort. Zusammen mit Hiro springt die Serie durch Zeit und Raum. Gedreht wurde vornehmlich in Los Angeles, wobei mittels Requisiten und den Tricks der Digital-Effekte-Firma Stargate ferne Orte wie Indien oder Japan als auch amerikanische Städte wie New York oder Odessa, Texas, evoziert werden. Tim Kring läßt sich im AudioKommentar zur ersten Folge begeistert über einzelne Szenarien und Tricks aus – und erzählt von der Erleichterung, wenn Szenen mit dem Cop Matt Parkman gedreht wurden. Hier mußte an der Wirklichkeit nicht gedreht werden – die Figur Parkman lebt in Los Angeles.


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Gimmicks. Heroes orientiert sich visuell als auch in der Erzählweise an Comics. Im Gegensatz zu Lost sind die Staffeln in sich abgeschlossen, wobei der ganz große Zusammenhang im Dunkeln bleibt, um die Spannung zu erhalten. Innerhalb einer Staffel können auch einzelne Handlungsbögen im Sinne eines »Hefts« geschlossen werden, jede Folge ist ein Comic-Kapitel. Drei Hefte waren etwa für die zweite Staffel geplant. Wegen des Autorenstreiks in den USA mußte sich Tim Kring jedoch auf elf Folgen beschränken. Auch die Chronologie der Ereignisse kann in Heroes munter durcheinander gewirbelt werden, in jeder Staffel gibt es ganze Episoden, die eine mögliche Zukunft zeigen. Der Zeitreisende Hiro kann jedoch die Vergangenheit verändern und Kommendes verhindern. Er ähnelt damit den Autoren der Serie, die im Falle der zweiten Staffel auch in den Handlungsverlauf eingreifen mußten, damit das Desaster des Autorenstreiks nicht die gesamte Staffel sprengt.

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Helden. Zu den Supersuperhelden zählt der Krankenpfleger Peter Petrelli. Er besitzt die Fähigkeit, die Kräfte anderer zu absorbieren und kann daher am Ende der zweiten Staffel fliegen, sich unsichtbar machen, durch die Zeit reisen und vieles mehr. Sein Widersacher ist der böse Uhrmacher Sylar, der sich mit ein bißchen Hirnarbeit ebenfalls der Kräfte anderer Helden bemächtigt. Zu den größten Sympathiefiguren zählt der Zeitreisende Hiro. Er ist der einzige Held, der seiner Berufung – die Welt retten! – mit überbordendem Enthusiasmus nachgeht. Mit seinem Sidekick Ando sorgt er für den comic relief. Gespielt wird Hiro von Masi Oka, einem ehemaligen Computermagier von George Lucas’ Postproduktionshaus ILM. Er selbst ist nun ein komischer Special Effect.

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Vorbilder. Heroes bedient sich des Superhelden-Reservoirs der Vergangenheit, von Superman bis zu den X-Men, und fügt ein paar originelle Exemplare hinzu. Comics sind die wichtigste Inspirationsquelle. Der weitsichtige Isaac Mendez ist Comic-Zeichner. Die riesigen Tableaus, die er in seinem Atelier malt, sind im Grunde Storyboards, die später von den gefilmten Bildern eingelöst werden. Auch die Filmgeschichte wird geplündert: Politiker Nathan Petrelli soll nach dem Willen seiner Mutter die Kongreßwahlen gewinnen und später Präsident der USA werden. Frankenheimers Manchurian Candidate läßt grüßen. Wenn Hiro und Ando in Las Vegas im grauen Anzug eine Rolltreppe hinunterfahren, erinnern sie an Hoffman und Cruise in Rainman. Tim Kring nennt im Interview sogar Michel Gondrys Vergiß mein nicht und Pixars Die Unglaublichen als Blaupausen. Unglaublich, aber wahr: ein alter Bekannter vom Raumschiff Enterprise spielt in der Serie mit. George Takei, in Heroes Hiros Vater, gab einst den heldenhaften Mr. Sulu.


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Gesetze der Serie | Heroes

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Visuelle Merkmale. Die Serie wird aufwendig gedreht, wobei die Wahl des Bildausschnitts, die Positionierung der Figuren darin sich am Vorbild amerikanischer Comics orientiert. Für die Bilder des Zukunftsmalers Isaac Mendez sowie die in der Serie vorkommende Comic-Reihe 9th Wonders! konnten die Produzenten Tim Sale gewinnen, einen der Zeichner für die DC-Serie Batman: The Long Halloween. Die Schrift für die fantasievoll auf konkrete Objekte platzierten Episodenkapitel ist Sales Handschrift nachempfunden. Die knallbunten Zukunftsbilder sind für Sale übrigens eine besondere Herausforderung: Er ist farbenblind.

Musik. Wendy Melvoin und Lisa Coleman, kurz Wendy und Lisa genannt und einst mit Prince erfolgreich, komponieren die Musik für jede Folge, vorwiegend am Computer. Der indische Sänger Shankar gibt der Serie mit seiner durch den SynthieWolf gedrehten Stimme noch mehr mystischen Touch. Für viele Figuren gibt es ein eigenes musikalisches Thema. Szenen mit dem Gedankenleser Matt Parkman werden mit rückwärts gespielten Stimmen untermalt, den Inder Mohinder Suresh treibt ein orientalisch klingendes Klavier-Motiv an. Uhrengeräusche und das Klimpern eines alten Klaviers verdeutlichen beim Uhrmacher Sylar: Der tickt nicht richtig.

Suchtfaktoren. Ach, das wäre doch was, wenn man das nur könnte! Die Gedanken anderer lesen, vergangene Sünden ungeschehen machen oder einfach mal von zu Hause wegfliegen. In Heroes findet sich in fast jedem etwas Besonderes, der Zuschauer darf aus einem Pool von Identifikationsfiguren wählen. Wenn das nicht funktioniert, kann man sich an schönen Effekten, schönen Frauen und Männern oder den schön verschlungenen Plots erfreuen.

Zahlen. Das Licht der Fernsehwelt erblickten die Heroes am 25. September 2006 auf NBC. 14,3 Millionen Zuschauer schauten zu – 14,3 Millionen blieben auch im Schnitt bei der gesamten Staffel am Ball. Die Serie wurde in acht Kategorien für die »Emmys« nominiert, ging jedoch leer aus. Zum Trost gab es einen Publikums- und einige weitere Fernsehpreise. In Deutschland zeigte RTL 2 die erste Folge am 10. Oktober 2007, mit einer Quote von beachtlichen 2,9 Millionen. Ein großer Erfolg, doch die Helden schwächeln: Die zweite Staffel lockte in den USA zwar im Schnitt noch 13,1 Millionen vor den Fernseher, bei der dritten sinken die Zahlen merklich.

Einfluß. Die Serie expandiert beständig ihren Wirkungsbereich. Neben üblichen Merchandising-Artikeln wie ActionFiguren und Bettwäsche finden sich im Internet mehrere Webseiten, die nicht nur Informationen zur Serie bieten, sondern sie auch weitererzählen. Heroes Evolutions bietet graphic novels, die jeden Dienstag seit Ausstrahlung der ersten Folge auf der NBC-Webseite veröffentlicht werden. Seit Juli 2008 zeigt die dreiteilige Heroes-Web-Serie Going Postal die Abenteuer eines Briefträgers mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. NBC selbst hat 2006 eine Serien-Parodie namens Zeroes produziert, die auf Youtube zu sehen ist. Inspiriert von der Serie, entdecken zudem immer mehr Menschen in aller Welt, daß sie über besondere Fähigkeiten verfügen. Der Autor dieser Zeilen kann zum Beispiel mit den c Ohren wackeln.

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Nach der Bartholomäusnacht: Eine Szene wie aus einem historischen Gemälde komponierte Philippe Rousselot hier. Die Kadrage haben wir leicht verändert – Rousselot drehte im Seitenverhältnis 1:1,85, das dem »Goldenen Schnitt« der Renaissance-Malerei am nächsten kommt. Zwischen den vielen farbenprächtigen Sequenzen, die den Prunk am französischen Königshof widerspiegeln, ist diese hier in der Henkerswerkstatt eher untypisch. Mit ihren entsättigten Farben im Licht des nächsten Tages entsteht eine triste Ästhetik, welche die Stimmung des Augenblicks angemessen ins Bild faßt. Farbigkeit erzeugt nur das Blut auf dem weißen Kleid der zukünftigen Königin. Das Motiv wurde denn auch für die Kinoplakate aufgegriffen.

Das Ende der Die Vorlage schrieb Alexandre Dumas, als es das Kino noch nicht gab, und 1954 wurde La reine Margot, diese Mischung aus historischen Tatsachen und Fiktion, schon einmal verfilmt. Patrice Chéreaus Version von 1994 wurde in Cannes mehrfach ausgezeichnet – wohl auch wegen des Zusammenwirkens aller gestalterischen Positionen.

Text Ian Umlauff

Videostill: DVD »Die Bartholomäusnacht«, Alive, 2008

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Analyse | Die Bartholomäusnacht

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Romantik »Die meisten Filme, die ›Oscars‹ beziehungsweise ›Emmys‹ gewonnen haben, sind Adaptionen. Adaptionen sind der Lebensnerv des Film- und Fernsehgeschäfts.«, meint Linda Seger in ihrem viel gelobten Buch Vom Buch zum Drehbuch (Zweitausendeins). Viele erfolgreiche Filme fanden ihren Ursprung entweder in literarischen Vorlagen oder wurden direkt inspiriert durch Geschehnisse aus dem


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Analyse | Die Bartholomäusnacht

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Die erste Szene des Filmes räumt mit Erwartungen des Zuschauers auf, einen romantischen Film zu sehen. Zu düster und ungefällig sind schon diese ersten Einstellungen.

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Patrice Chéreaus Die Bartholomäusnacht (La reine Margot), eine deutsch-französisch-italienische Koproduktion aus dem Jahr 1994, ist ein weiteres herausragendes Beispiel dafür. Die Zeit der französischen Glaubenskriege während der Renaissance ist ein düsteres und grausames Kapitel in der europäischen Geschichte. Bereits 1545 wurden in Luberon in der Provence etwa 4.000 Waldenser und Hugenotten, französische Calvinisten, wegen ihres Glaubens von Katholiken grauenvoll abgeschlachtet. Und das noch gut siebzig Jahre vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, der al-

leine in Deutschland mehr als ein Drittel der Bevölkerung hinraffte. Hinter den Kulissen der Glaubenskriege tobten in Wirklichkeit oft genug simple Machtkämpfe und wahrlich unchristliche Intrigen. Das Pogrom an französischen Protestanten, das am Vorabend des 24. August 1572 durch die Glocken der Kirche von Saint Germain l’Auxerrois eingeläutet wurde und bei dem abermals mehrere tausend Menschen bestialisch ermordet wurden, war also nicht das erste dieser Art. Trotzdem ging die »Bartholomäusnacht« als Höhepunkt der Verfolgung der französischen Protestanten in die Geschichte ein. Eine Geschichte, die die Menschen schon immer fasziniert hat.

Für seine Verfilmung von Alexandre Dumas’ La reine Margot setzte Patrice Chéreau (hier mit Isabelle Adjani) auch subtil die Mittel von Kamera und Szenen- und Kostümbild ein. Sieht man von dem Grauglas, das er um den Hals trägt, ab, könnte einem dieses Schwarzweiß-Bild suggerieren, der TheaterOpern- und Filmregisseur habe selber mitgespielt…

Foto: Archiv |

wirklichen Leben, sei es aus der Gegenwart oder der näheren oder ferneren Vergangenheit.


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Analyse | Die Bartholomäusnacht

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Der Schauspielerregisseur Chéreau sucht auch bei historischen Stoffen immer Gegenwartsbezüge. In der verfilmten Geschichte wird das Schicksal von Katholiken und Protestanten durch ganz andere als religiöse Interessen bestimmt und von zwielichtigen Gestalten entschieden. Der debile junge König (rechts) wird von ihnen nach Belieben manipuliert.

Die französischen Glaubenskriege und besonders die »Bartholomäusnacht« inspirierten Alexandre Père Dumas (1802-1870) zu dem Roman, der Danièle Thompson und Patrice Chéreau als Vorlage zu ihrem Drehbuch diente. Dumas’ Werke, so romantische Abenteuergeschichten wie etwa Der Graf von Monte Christo und Die drei Musketiere, gelten nicht als ausgesprochene Höhepunkte der französischen Literatur. Zu sehr erschöpfen sich seine Geschichtsromane an der zu seiner Zeit bekannten historischen Oberfläche. Anders als in La reine Margot ist nicht die Gewissheit der heutigen Geschichtswissenschaft enthalten, daß das Pogrom wenige Tage nach der vermeintlichen Versöhnungshochzeit der katholischen Prinzessin Margot de Valois mit dem calvinistischen König Henri de Navarre jahrelang von der Brautmutter, Catherine de Médici, geplant und vorbereitet worden sein muß. Dumas’ Romane zeichnen sich vor allem durch lebendige und mitreißende Schilderungen aus. Wie andere Autoren der Romantik mischte er dramaturgisch sehr geschickt historische Tatsachen mit purer Fiktion. Was Dumas schrieb, waren in erster Linie spannende und bunte Abenteuergeschichten. Das war es, was sie damals wie heute beliebt macht und als Filmstoffe so geeignet erscheinen läßt. Adaptionen von Dumas’ Romanen sind zahlreich. Auch La reine Margot wurde schon einmal verfilmt. Jean Drévilles Film, 1954 von Henri Alekan fotografiert, konzentrierte sich weitgehend auf die

romantische Liebesgeschichte zwischen Jeanne Moreau als Margot und Armando Francioli als la Môle. Die fatalen Folgen intriganter Verwicklungen, der Machtinteressen und religiöse Wahnvorstellungen dienten in erster Linie als dramatische Hintergrundhistorie. Patrice Chéreau, 1944 geboren, als Regisseur im Sprechtheater und beim Film, später auch in der Oper zu Hause, legt gänzlich andere Akzente. 1976 inszenierte er Wagners Ring der Nibelungen bei den Bayreuther Festspielen und verursachte durch seine für damalige Verhältnisse neue Sichtweise einen Skandal, provozierte Zuschauertumulte bei laufender Vorstellung und revolutionierte die gesamten Festspiele. Der Theaterregisseur war damals wie heute ein Schauspielerregisseur, forderte auch von den Opernsolisten glaubwürdige Darstellung, vermenschlichte das Epos aus Wagners Feder. Als Theaterregisseur unserer Zeit ist Chéreau nicht interessiert an bunten Bilderbögen, und mögen sie noch so detailliert erscheinen. Was ihn an Klassikern und historischen Stoffen interessiert, sind Gegenwartsbezüge, die er mit Hilfe menschlicher Schicksale aufzeigt. In Dumas’ Roman fand er dazu ausreichend Ansätze. Verantwortlicher Kameramann war der Franzose Philippe Rousselot, ein Jahr nach Chéreau im Departement Meurthe-et-Moselle geboren. Er begann seine Karriere als Assistent von Nestor Almendros und arbeitete 1970 bei Clair de Terre von Guy Gilles das erste Mal als lichtsetzender Kame-

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ramann. 1987 wurde er für seine Bildgestaltung in Jean-Jacques Annauds Der Bär zum ersten Mal für den »César« nominiert. Für die Kameraarbeit an Robert Redfords Aus der Mitte entspringt ein Fluß bekam er 1991 seinen ersten »Oscar«. Unmittelbar vor seiner Zusammenarbeit mit Chéreau drehte er mit Neil Jordan von 1993-94 Interview mit einem Vampir. 2001 folgten zum Beispiel Der Schneider von Panama (John Boorman) und Planet der Affen (Tim Burton). Zu seinen aktuellsten Filmen zählt Von Löwen und Lämmern (Robert Redford, USA 2007).

Auch bei der Hochzeit aus Staatsräson herrschen dunkle Töne vor. Bei der Analyse traten starke Abweichungen der Bildparameter bei verschiedenen DVD und Kaufvideos zu 60

Tage: Ein weiteres Beispiel für den Leidensweg, den ein Film bei der Videoverwertung gehen kann.

Das gewählte Seitenverhältnis von 1:1,85 schien Regisseur Chéreau und DoP Rousselot der beste Kompromiß zwischen Breitwandkino und Goldener-Schnitt-Bildkomposition zu bieten.

Für Chéreau hat die Renaissance nichts romantisch Verklärtes. Er schildert die Epoche auf eine Art und Weise, die den Zuschauer vor den Kopf stößt, wenn nicht gar erschüttert oder verstört: als düsteres Panoptikum menschlicher Exzesse und moralischer Entartung. Dabei stellt er zahlreiche Bezüge zur Gegenwart her, wie er es von der Bühne gewohnt ist. Auf die Abstraktionen, Verfremdungen, überdeutlichen Brüche und Anachronismen, die auf heutigen Bühnen allgegenwärtig sind und die die filmgestalterischen Konventionen bis heute zu verbieten scheinen, verzichtet aber auch er. Diese Gegensätze der heute gängigen Stil- und Gestaltungsmittel des Theaters und des Films machen es besonders spannend zu beobachten, was passiert, wenn Regisseure von einem Medium ins andere Medium wechseln. Im Fall von Die Bartholomäusnacht scheint es für den Film eine künstlerische Befruchtung gewesen zu sein. Daß Chéreau nicht bereit ist, romantische Erwartungen an eine weitere Verfilmung eines Dumas-Romans zu erfüllen, wird schon in den ersten Sekunden des Films deutlich. Eine Fackel als scheinbar einzige Lichtquelle erhellt die Szenerie nur spärlich. DoP Rousselot hat das farbneutral gefilterte Licht der Fackel nur um ein kaum wahrnehmbares Kopflicht sowie hier und da um ein Seitenlicht ergänzt. Weite Teile des Bilds bleiben gewagt dunkel. Sekundenweise sind die Gestalten kaum zu erkennen. Daß dort jemand eine hölzerne Treppe hinaufsteigt, hört man anfangs mehr, als daß man es sieht. Oft wird die These vertreten, der Ton erzähle vorrangig das Wie, dem Bild bleibe in erster Linie


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das Was vorbehalten. Chéreau und Rousselot demonstrieren hier eindrucksvoll eine Ausnahme dieser Regel. Und wenn man dann endlich ein Gesicht zu sehen bekommt, ist es das derbe, mißtrauisch dreinblickende Antlitz eines einfachen älteren Mannes mit nachlassendem grauen Haar, unrasiert und vor Schweiß glänzend. Ein interessanter, aber durchaus nicht schöner Anblick. Den jungen, gut aussehenden Helden bekommt man erst einmal vorenthalten. Denn er ist einer der drei Figuren, die hier im Dunkeln fast über sich herfallen, nachdem zuallererst einmal das offensichtlich Wichtigste geklärt worden ist: Der eine der Männer ist Protestant, die beiden anderen sind Katholiken. Und schon sind die Klingen zum Gemetzel gezückt. Der Wirt jedoch ermahnt die Hitzköpfe zur Ordnung, worauf sie sich, welch feine Ironie, in ein und das selbe Bett niederlegen müssen. Noch im Dunkeln entbrennt ein kurzer, aber umso hitzigerer religiöser Disput, bevor die beiden sich schließlich wütend voneinander abwenden, wie ein altes Ehepaar nach einem zur absurden Routine gewordenen Ehekrach. Daß dieses Wortgefecht, das uns heute (hoffentlich) umso alberner erscheinen müßte, bei annähernder Dunkelheit stattfindet, steigert noch die Ironie, mit der Chéreau den Zuschauer in das Thema einführt. Die beiden Männer werden sich im Laufe des Filmes immer wieder begegnen, ihr Schicksal scheint auf geheimnisvolle Weise untrennbar miteinander verbunden, bis zu ihrem

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Analyse | Die Bartholomäusnacht

tragischen Ende. Dann jedoch ist es mit der Ironie vorbei. Womit das Unheil scheinbar seinen Anfang nimmt, die Hochzeit der katholischen Prinzessin mit dem protestantischen König, beginnt auch die eigentliche Geschichte. Die Trauung ist eine der wenigen Szenen des Filmes, die Chéreau und Rousselot vermehrt in weiter kadrierten Aufnahmen bis hin zur Totalen aufgelöst haben. Gerade noch beschimpfte de Môle die Prinzessin als »bösartige Hure«, da bekommen wir im Szenenwechsel die Titelheldin in einer Nahaufnahme präsentiert. Es folgen Totalen des königlichen Paares mit zahlreichen (katholischen) Geistlichen, der Hochzeitsgemeinde und dem umstehenden Hofstaat. Die Bilder sind eher düster, wieder beherrscht von dunklen Tönen, die weite Teile der Kadrage ausfüllen. Tatsächlich erinnern die Bilder mit ihrem spärlichen Vorderlicht an die Opernbühne. Ein Effekt, der durch die später einsetzenden Choräle nur noch verstärkt wird. Während die Hauptfiguren wenigstens durch kräftige Lichtkanten herausmodeliert werden, bekommen die umstehenden Komparsen nur ein schwaches Seitenlicht ab. Von der Menge der Geistlichen im Hintergrund sind fast nur die hellen Mitren zu erkennen, eine Metapher für den Klerus, die Religion, die als anonyme finstere Macht hinter all dem zu stehen scheint. Eine ähnliche Beleuchtungsgestaltung kann man auf der Opernbühne häufig zur Akzentuierung der Solisten beobachten.

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Gleichzeitig stellt sich durch die dunkle Beleuchtungsgestaltung ein höheres Maß an Authentizität ein als bei einer helleren Lichtstimmung. Denkt man darüber nach, womit im 16. Jahrhundert auch die großen Kirchen beleuchtet wurden, nämlich durch natürliches Tageslicht, das durch die farbig verglasten Fenster einfiel, sowie durch Fackeln und Kerzen, erscheint die geringe Helligkeit im Bild umso glaubwürdiger. Das metaphorische Dunkel be- und umschreibt erstens die Epoche als solche und zweitens die Umstände dieser Trauung sowie das persönliche Los dieser beiden Menschen, die da aus Gründen der Staatsräson miteinander verheiratet werden.

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Auf ähnliche Weise von selbst stimmig wirkt auch die Gestaltung der Kostüme. Während Moidele Bickel für Isabelle Adjanis Kleid einen Stoff wählte, dessen Helligkeit insgesamt unter der ihres Gesichtes lag, um es Rousselot einfacher zu machen, ihr Gesicht zu akzentuieren, fiel dies bei Daniel Auteuil, der König Heinrich von Navarra verkörpert, umso leichter. Der calvinistische König trägt Schwarz, ganz so, wie es seine Konfession vorschreibt. Beiden Kostümen gemein sind die Kragen, eine calvinistisch bescheidene Kröse bei ihm, ein sehr viel breiterer flach aufgespannter Spitzenkragen bei ihr. Beide aber in der Form geeignet genug, die Häupter wie auf einem Präsentierteller darzubieten und so die Akzentuierung der Gesichter noch zu verstärken. Später läßt Bickel die spanisch orientierte Renaissance-Mode, die zum Beispiel die Frauen in starre und unbeweglich Kleider zwängte und ursprünglich die feminine Seite negierte, durch provokant tiefe Dekolletés die Lustbetontheit der jungen Frauen, auch Margots, unterstreichen. Dies ist nur eines der Zeichen für die Verdorbenheit und Scheinheiligkeit des damaligen Katholizismus, der Absolution gegen Bares verschacherte und dafür vor allen möglichen Exzessen die Augen verschloß. Der Gegensatz zu den strikt, ja fanatisch, lebensunlustigen Vorstellungen der Calvinisten und Hugenotten wird einem ständig vor Augen geführt. Gemeinsam haben beide Gruppen, daß die Männer allesamt ungepflegt und

Der August 1572 war ein extrem heißer Monat. Die hohen Temperaturen gaben Chéreau Anlaß zu seiner Blut-und-SchweißOptik, die der Renaissance ihre Romantik zu nehmen hilft.

schmierig erscheinen, ständig vor Schweiß glänzen, die Haare strähnig verklebt, die Hemden verschwitzt und dreckig sind. Die jungen (katholischen) Frauen wirken im Gegensatz dazu meist sauber und völlig unbehelligt von jeglicher Transpiration. »Im Make-up und in der Ausleuchtung gab es laut Vertrag zwei Gruppen von Schauspielern: die Männer und Virna Lisi, die wir in Blut-und-Schweiß-Optik darstellen konnten – und Isabelle Adjani. Wenn man Isabelle besetzt, muß man die Erwartungshaltung der Zuschauer befriedigen. Sie ist ein Star und muß als solcher behandelt werden […] Ihr Aussehen hat natürlich einen anderen Stellenwert für sie als zum Beispiel für Virna Lisi, die die Catherine als mörderische alte Frau spielte«, erläutert Chéreau auch die kommerziellen Zugeständnisse,


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die Rousselot und er ästhetisch machen mußten, die aber gestalterisch stimmig legitimiert erscheinen. Offen tragen die jungen Frauen ihre sinnlichen Reize zur Schau, ewig auf der Suche nach Männern, die ihre Lust befriedigen. Die Katholiken lassen sich das gerne gefallen, und auch die Protestanten nehmen es nicht immer so genau mit den Regeln ihrer Konfession, wie sie vorgeben. »Heute Nacht, oder nie, Mon Senior!«, bietet sich die junge Charlotte de Sauve (Asia Argento), wieder auf Betreiben von Catherine (Virna Lisi), Margots Mutter, dem gerade vermählten König für seine Hochzeitsnacht an. Aber auch Margot ist kein Kind von Traurigkeit. Die 19jährige Prinzessin, die abwechselnd mit ihren drei Brüdern, einem Geliebten und je nach Lust auch mit anderen Männern das Bett teilt, würde man heute getrost promisk nennen. Schon während der Hochzeitsszene beginnt Chéreau in dem zu schwelgen, was er auf der Bühne vermissen muß: Nahaufnahmen. Fast der ganze Film ist in Halbnah- bis Halbgroßaufnahmen aufgelöst, was für das Szenen- und Kostümbild undankbar erscheinen mag. Aber das Hauptinteresse des Schauspielerregisseurs Chéreau liegt auf den Charakteren, nicht auf Schauwerten, die die Ausstattung bietet. »Auf keinen Fall hatte ich ein Historienepos voller schöner Tableaus vor Augen, sondern ich wollte die Geschichte so zeitgenössisch wie möglich wirken lassen. Bei Close-ups kann der Zuschauer im Gesicht der Figuren das Geschehen miterleben, ihre Bewegung empfinden. Es gibt nur drei Szenen, die auch in Totalen funktionieren und vorher in Storyboards durchorchestriert wurden:

Inszenierung durch Spiel und Licht: Als der König dazu gebracht wird, die Ermordung der Hugenotten zu befehlen, kommen die hellen Fenster ins Spiel. Mutter und Brüder bewegen sich vor der hellen Fensterseite des Raumes, und Charles hockt gegenüber in einer dunklen Ecke auf dem Boden.

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die Hochzeit im Dom, die Jagd und das Massaker selber«, erklärte Chéreau in Cinema, Oktober 1994. Das geht so weit, daß selbst die Komparsen, die den Dom füllen, in der Mehrzahl nicht zu ebener Erde in Kirchenbänken sitzen, sondern auf steilen, sehr hohen Rängen, die zwischen den wenigen sichtbaren Säulen des Doms angeordnet sind, die Trauung verfolgen. So gibt es überhaupt nur wenige Bilder, auf denen etwas von der Architektur des Sakralbaus zu erkennen ist. Stattdessen füllt Chéreau das Bild mit anonymen Massen, die wie gebannt das Geschehen vor dem Altar verfolgen. Wieder erinnert diese Anordnung an Opernbühnenbilder, wo große Chöre auf hohen und steilen Rängen die Bühne auch in der Höhe füllen und so häufig das Bild prägen.

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Das Pogrom enthält diverse Szenen hoher Brutalität. Sie sind aber wichtig für die charakterliche Entwicklung Margots: Das grausame Erlebnis läßt sie schlagartig reifen. Viele der Opfer werden zuvor entblößt, Vergewaltigungen aber nur angedeutet. Am Ende sind die Straßen übersät mit nackten Leichen.

Chéreaus Hauptinteresse für die Figuren zieht sich durch den ganzen Film. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten gibt es irgendwo im Louvre, damals Sitz der französischen Könige, eine heftige Diskussion darüber, ob man Flandern in einem Krieg gegen die Spanier beistehen soll. Wieder ist die Lichtstimmung eher dunkel. Das wenige Licht scheint durch ein Fenster zu kommen, das Rousselot jedoch penibel aus dem Bild hält. Die Figuren bekommen das Licht ausschließlich seitlich ab, wobei die unbeleuchtete Gesichts- und Körperhälfte abermals im Dunkeln liegt. Die Wände sind mit eher dunklem Holz getäfelt, und das wenige Licht wurde weitestgehend von ihnen ferngehalten. Die einzige zusätzliche Lichtquelle ist ein wahrscheinlich großflächiger, nach allen Seiten abstrahlender Apparat irgendwo an der Decke des Raumes, der für etwas Zeichnung in den Gesichtern sorgt. Die dem Fenster abgewandte Seite der Figuren bleibt jedoch immer im Schatten liegen. So bekommt der ohnehin nicht allzu große Raum etwas Höhlenartiges. Es ist ein dunkles Loch, in dem hier von düsteren Gestalten Politik gemacht wird. Und auch hier kommt die »Blut-und-SchweißOptik« zum Tragen. Glycerin oder Glanzgel läßt die Gesichter immer schweißnaß wirken, kommt


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es zu Glanzlichtern, die den Kontrast weiter steigern. Dabei vermitteln die engen Ausschnitte und enge Brennweitenwahl nahe der Normalbrennweite dem Zuschauer das unwirkliche Gefühl, unter diesen Menschen zu sein. Rousselot drehte Die Bartholomäusnacht im Seitenverhältnis 1:1,85, was dem Konzept der ausgesprochenen Figurenorientierung in mancher Hinsicht vielleicht eher entgegenkommt als 1:2,35. Tatsächlich gibt es im ganzen Film nur einige wenige Aufnahmen, die das breitere Format sinnvoll gemacht hätten. Vielleicht zeigt sich auch hier der Einfluß der Bühnenarbeit, aus der zumindest der Regisseur das Arbeiten mit den hohen Portalöffnungen der althergebrachten Guckkastenbühnen gewohnt ist. In der Malerei der Renaissance, der Epoche, in der der Film spielt, nahm der Goldene Schnitt mit seinem Seitenverhältnis von 1:1,618 bei der Komposition von Bildern wieder eine große Rolle ein. Und zumindest viele der Innenauf-

nahmen erinnern mit ihren hohen Kontrasten und ihrem seitlich einfallenden Licht an zeitgenössische Gemälde. 1:1,85 ist das Seitenverhältnis, das dem klassischen Ideal am nächsten kommt. Gleichzeitig gilt es als kommerziell vertretbar. Vielleicht erschien es aus diesem Grund ein akzeptabler Kompromiß zu sein. Die Kostüme sind in dieser Szene wieder in dunklen Farben gehalten, die mehrere Lichtwerte unter den Hauttönen gelegen haben müssen. Oft ist die Zeichnung gering. Manchmal helfen nur glänzende Stoffe, die Gestalten durch einige wenige Glanzlichter zu definieren. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit wieder auf die Gesichter gelenkt, die Rousselots Kamera beobachtet wie ein Teilnehmer der Diskussion. Die stabilisierte Handkamera verfolgt das Geschehen in fahrigen, aber nicht gerissenen Schwenks, blickt meist zu dem, der das Wort ergreift. Zwischendurch bleibt

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sie auf Charles hängen, beobachtet, wie der König kaum in der Lage ist, der Diskussion zu folgen, wie seine vorsichtigen Einwürfe übergangen werden, ähnlich denen eines Kindes, das nicht mitreden kann mit den Großen. Durch den engeren und schnell verfolgenden Ausschnitt geht dem Zuschauer mehrmals die Orientierung verloren. Es gibt keine weiter kadrierte Aufnahme, die, wann auch immer, den Raum und die Anordnung der Sitzenden erklärt. Anders als man vielleicht vermuten könnte, stört das nur wenig und wird später noch einmal in einer anderen Szene ähnlich praktiziert. Nach dem Attentat auf Admiral Coligny sitzt die königliche Familie mit ihren Beratern zusammen. Das Attentat war von der Mutter des Königs, Catherine, insgeheim befohlen worden. Gemeinsam mit den Brüdern und den Beratern dringt sie in Henri, bis sie den charakterschwachen und wankelmütigen König dazu gebracht hat, das Massaker an den Protestanten zu befehlen. Was da vorgeht, ist unfaßbar: Allen voran die Mutter des Königs manipuliert ihren Sohn. Sie versetzt ihn so sehr in Angst vor der Rachlust der Protestanten, daß er in einer Mischung aus Raserei und verzweifeltem Wahn die Ermordung »aller«, selbst die seines Ziehvaters Coligny, befielt, damit ihm »später niemand Vorwürfe machen kann«. Diesmal läßt Rousselot die Fenster ins Bild kommen, was eine wirkungsvolle Steigerung bewirkt, selbst wenn er sie nicht gleißend überstahlen läßt. Aber durch dieses Lichtspiel wird die Szenerie zweigeteilt. Während sich die Gruppe derer, die den König beeinflussen wollen, auf der Seite der Fenster befindet und in der Mehrzahl aufrecht steht, so daß sie das helle Licht der Fenster im Rücken hat, kriecht der debile junge König in einer gegenüberliegenden Ecke des Raumes auf dem Boden herum. Während die Gruppe und der Raum um sie herum durch ein Vorderlicht eine deutliche Aufhellung erhalten, scheint der König im Dunkeln zu hocken, aus dem er zu den anderen heraufsehen muß. Und wieder wird der Raum nicht erklärt, sondern der Dialog von Anfang an in Halbnah-

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Inszenierung durch Spiel und Licht: Als der König dazu gebracht wird, die Ermordung der Hugenotten zu befehlen, kommen die hellen Fenster ins Spiel. Mutter und Brüder bewegen sich vor der hellen Fensterseite des Raumes, und Charles hockt gegenüber in einer dunklen Ecke auf dem Boden.


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und Nahaufnahmen geschildert. Dadurch dauert es tatsächlich einen Augenblick, bis man durchschaut, wer in etwa wo und in welcher Höhe sitzt. Aber die Schlüsselszene beginnt so unmittelbarer, wird so getragen durch die Inszenierung, die intensive Darstellung der Schauspieler, daß der Zuschauer direkt hineinversetzt wird in diese nur vermeintliche Diskussion. In Wirklichkeit findet hier eher einer Art Gehirnwäsche statt, die nur Teil einer schnellen Abfolge von Geschehnissen ist auf dem Weg zum geplanten Morden. Chéreau und sein Editor Francois Gédigier nehmen dazu die leichte Irritation in Kauf. Vielleicht erhoffen sie sich davon auch eine Verstärkung des Unbehagens, das sich beim Zuschauer in dieser Szene einstellen soll. Denn hier wird de facto ein Massenmord durchgesetzt. Was folgt, ist das Pogrom, das für den deutschen Verleihtitel sorgte. Chéreau schildert das Massaker als Blutrausch, wie wir Vergleichbares nur aus unserer Zeit zu kennen glauben. Tatsächlich gibt es auch hier öfter Totalen, die den schieren Umfang des Geschehens verdeutlichen. Meist aber kommt Rousselot zu Halbnahen und engeren Ausschnitten zurück. Der Ausschnitt muß dann zwar des öfteren zügig dem Geschehen folgen, Reißschwenks oder gar eine instabile Kamera oder Bewegungsschlieren werden aber vermieden. So kann der Zuschauer das Geschehen im Detail verfolgen. Nichts soll seiner Vorstellung überlassen bleiben. Special Effects Make-Up Artist Kuno Schlegelmilch hat in die Vollen gegriffen: Da werden Klingen in Bäuche gerammt und zahlreiche Kehlen durchgeschnitten. Chéreau steigert die Grausamkeiten langsam. Zuerst bekommt jemand »nur« mit einem Knüppel einen Schlag ins Gesicht, dann wird ein junger Mann mit einem Degen erstochen (Großaufnahme) und schließlich erst einem jungen Mädchen, an den Haaren herbeigezerrt, die Kehle aufgeschlitzt, worauf das Blut aus Mund und Hals in Sturzbächen fließt. Diese bis dahin grausamste Szene ist auch die erste, die Margot von Angesicht zu Angesicht verfolgen muß. Andere Szenen zeigen, wie jungen, er-

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bärmlich schreienden Mädchen die Kleider vom Leib gerissen werden. Ohne Schändungen direkt zu zeigen, demonstriert Chéreau, wie nah hier Sex und Gewalt seiner Ansicht nach beieinander liegen. Das ist einer der wenigen Aspekte, die die Darstellung von filmischen Schilderungen, zum Beispiel der Räumung des Warschauer oder Krakauer Ghettos etwa in Steven Spielbergs Schindlers Liste unterscheiden. Die Entblößung ist für Chéreau augenscheinlich ein wichtiges Motiv. Nicht nur den Frauen werden die Kleider vom Leib gerissen, vielen Männern ergeht es genauso. So steigert er erstens den Eindruck von Wehrlosigkeit, zweitens ermöglicht es im Anschluß an das Massaker Bilder von Straßen (auch hier wieder einige der wenigen Totalen), die übersät sind mit blut- und dreckverschmierten, grotesk zusammengekrümmt und übereinander liegenden nackten Leichen. Die Assoziation zu Mordstätten des letzten Jahrhunderts ist beabsichtigt, genauso bei den mit nackten Leichen beladenen Karren, die an Massengräbern entladen werden, indem man die Körper an Armen und Beinen packt und mit Schwung in eine Grube wirft, in der schon Hunderte von Leichen in grotesker Haltung über- und untereinander liegen. Mit Bedacht wurden hierfür nur schlanke Komparsen ausgewählt. Bergen-Belsen, Auschwitz-Birkenau und Mostar kommen einem in den Sinn. 1994 erhielt Die Bartholomäusncht in Cannes den »Preis der Jury«, Virna Lisi, die die Catherine gespielt hat, die Auszeichung für die beste Darstellerin. Der Film erhielt den »César« in den Kategorien beste Schauspielerin (diesmal Isabelle Adjani), Kamera, Kostüme und jeweils beste Schauspieler in einer Nebenrolle (Jean-Hugues Anglade, der den König spielte, und abermals Virna Lisi). Trotzdem sahen sich den »unappetitlichen« Film weniger Zuschauer an, als es sinnvoll und für den 42 Millionen Mark teuren Film kommerziell notwendig gewesen wäre. Künstlerisch ein Erfolg, schnitt der Film an der Kinokasse enttäuschend ab. Sicherlich unverdient. c

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Bis Mitte 20 wäre Nadja Klier lieber Schauspielerin geworden. »Heute bin ich glücklich, daß ich nicht vor, sondern hinter der Kamera stehe«, sagt sie. Das können wir sehen.

Text Peter Hartig und Nadja Klier | Fotos Nadja Klier


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»Ich hasse Close-ups«, sagte Peter Sorel, immerhin einer der erfolgreichsten Standfotografen in Hollywood. »Beide Darsteller sind gar nicht zusammen im Bild. Die Beziehung zwischen den beiden sieht man nicht. In einem Foto muß man sie aber sehen. Ein Foto braucht eine Geschichte, damit der Betrachter sofort sieht, worum es sich handelt.« Sorel brachte den Unterschied zwischen Fotograf und Kameramann auf den Punkt. Der eine muß im Bruchteil einer Sekunde einfangen, was der andere in einer langen Sequenz, mitunter gar mehreren Einstellungen aufbaut. Und meistens merkt das nicht mal jemand: Von allen Filmkünsten ist die Standfotografie wahrscheinlich diejenige, die am ehesten übersehen wird. Die schönen Fotos vor

ohne Stylist und Assistent. Die Zahl der Setfotografen ist daher überschaubar. Ein Name, der regelmäßig in den Credits auftaucht, ist Nadja Klier. 16 Filme hat die 35jährige seit ihrem Abschluß zum »staatlich geprüften Fotodesigner« beim Berliner Lette-Verein begleitet, die Hälfte davon in den vergangenen drei Jahren. Alles auf Zucker von Dani Levy und Roter Kakadu von Dominik Graf sind darunter, die Berlin-Szenen von Hannes Stöhrs One Day in Europe, und ausstattungsgewaltige Stücke wie Der Rote Baron und Nordwand. Als »aufgeschlossen, dynamisch und manchmal arbeitssüchtig«, beschreibt sich die Fotografin selbst, und das letzte Attribut klingt nicht so, als hielte sie das für einen Fehler. Eher im Gegenteil.

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Die Fotografin ausnahmsweise selbst im Bild: Nadja Klier beim Plakatshooting für

Foto: Ingo von Heland

Alter und Schönheit. Regie: ihr Onkel Michael.

dem Kino, in der Illustrierten? Naja, die sind doch aus dem Film… Das Vorurteil gilt nicht nur für die meisten Zuschauer – auch manche Produktion verläßt sich darauf, daß der talentierte Produktionsfahrer halt ab und zu mal auf den Auslöser drückt. Nur in den Marketingabteilungen weiß man die Kraft der Bilder richtig zu schätzen; auch wenn es den Werbeexperten dabei weniger darum geht, die Geschichte zu erzählen, sondern zugkräftige Stars möglichst oft im Filmambiente abzubilden. Am besten als Close-up. So führen Standfotografen noch immer ein Schattendasein. Was für den Beruf nicht unbedingt ein Nachteil ist. Unauffällig und diplomatisch muß der Fotograf am Set sein, meint Sorel, um die Stimmung einzufangen und die Stars in richtige Licht zu rücken ohne die Aufnahmen zu stören. Also unter den Bedingungen des Dokumentaristen die Ästhetik arrangierter Studioaufnahmen zu erreichen –

Wahrscheinlich ist sie für Ihre Kunst vorbelastet. Zumindest wurde Nadja Klier 1973 in Dresden in eine günstige Umgebung geboren: Vater Musiker, Mutter Regisseurin, Dokumentarfilmerin und Autorin. Was in der damaligen Umgebung wohl doch nicht ganz so günstig war – ein Jahr vor dem Mauerfall wurde die Familie aus der DDR nach Westberlin »ausgebürgert«. Weshalb Klier heute auch den Tonfall und Rhythmus der Hauptstadt hat, wenn sie erzählt. Aufgeschlossen und dynamisch halt. Die Arbeit am Set bringt die Fotografin auch den Gesichtern des neuen deutschen Films näher – Close-ups statt Geschichtenerzählen: 2005 hat Klier am Potsdamer Platz in Berlin ihre erste Einzelausstellung mit großformatigen Porträts deutscher Schauspieler, Sonder-Shootings für Zeitschriften folgen. Zur Zeit arbeitet die Fotografin an einem Buchkonzept. c


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Produktion Verleih Regie Kamera Cast

Next Film Tobis Winfried Bonengel Frank Barbian Christian Blümel Aaron Hildebrandt

Zu meinem ersten Film bin ich zufällig über einen alten Freund gekommen. Er meinte, das Thema des Films könnte zu mir passen und es gäbe noch keinen Setfotografen. Frisch von der Fotoschule, keine Ahnung vom Film und mit einer bescheidenen Mappe bin ich dann zu den beiden Produzenten des Films gegangen. Anscheinend gefielen ihnen meine Sichtweise und die Klarheit der Bilder, und ich bekam eine Chance. Die Geschichte von zwei Jugendlichen, welche die DDR satt haben, abhauen und endlich die Welt sehen wollen und stattdessen im härtesten Knast der Republik landen, interessierte mich. Selbst mit meiner Mutter vor der Wende aus der DDR ausgebürgert, war ich dem Thema des Films auch emotional sehr nah. Rechtsradikalismus und Gewalt bis zum Tod, Freundschaften, die zerstört werden, brutaler Knastalltag – kein leichter Stoff. Verfilmt wurde aber die wahre Geschichte eines bekannten Aussteigers aus der rechten Szene. Ich verbrachte endlose Zeit im Knast Hoheneck/Chemnitz, der mittlerweile nicht mehr in Betrieb und somit auch nicht mehr geheizt war… Ein junges Team, Stunts und SFX, mir gefiel die Arbeit in so einem großen Team. Ich war wahnsinnig motiviert und wollte jeden Augenblick festhalten. Mitgenommen habe ich aus diesem Film: eine Freundschaft zu einem lieben Menschen und die Gewißheit, daß mir die Arbeit und das Leben beim Film Spaß machten.

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Christian Blümel (links) und Aaron Hildebrandt beim Nachtdreh auf den Dächern der stalinistischen Bauten an der Berliner Karl-MarxAllee.

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Das »Blaue Wunder«: Dresdens berühmteste Brücke wurde für einen Tag gesperrt und in die 50er Jahre versetzt.

Jessica Schwarz spielt die junge Dichterin »Luise«, in die sich »Siggi« verliebt.

Max Riemelt am Ku’damm in Berlin.


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Komparsen in vollem Einsatz in der Bar »Roter Kakadu«.

2004

Der Rote Kakadu

Produktion Verleih Regie Kamera Cast

X-Filme X-Verleih Dominik Graf Benedict Neuenfels Jessica Schwarz Max Riemelt Ronny Zehrfeld u.v.a.

Zweieinhalb Jahre nach meinem ersten Film stand ich am Set vom Roten Kakadu, jener berühmten Bar am Weißen Hirsch in meiner Geburtsstadt Dresden. Wieder hatte die Geschichte des Films viel mit meinem Leben zu tun. Es ist die Geschichte meines Onkels, dem Filmemacher Michael Klier, der auch das Drehbuch dazu schrieb. Gespielt von einem großartigen Newcomer, Max Riemelt, unter der Regie von Dominik Graf. Inzwischen hatte ich als Setfotografin Fuß gefaßt, und die Arbeit schien mir eine gute Alternative zu meinem eigentlichen Beruf als Porträtfotografin. Der Rote Kakadu war jetzt mein siebter Film. Ich kann mich noch gut an das Arbeitsklima bei diesem Film erinnern. Ein heißer Sommer. Das 50er-Jahre-Originalset der Bar ohne Klimaanlage. Gefühlte Temperatur 45 Grad. Und rund 150 Komparsen, die das Rock’n’Roll-Tanzen selbst in den Drehpausen nicht lassen wollten. Ich war nicht immer glücklich am Set. Harte und sehr lange Tage – auch die Arbeitsweise des Regisseurs strengte mich manchmal an. Dennoch war ich gebannt davon, wie Dominik Graf es immer wieder schaffte, die Emotionen der Schauspieler zu bündeln und das in einer Einstellung wiederzugeben. Mit Jessica Schwarz verbindet mich seitdem eine schöne Freundschaft, und ich kenne seit diesem Dreh meine psychische Belastungsgrenze besser…

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Für die Luftaufnahmen wurden 16 wunderschöne Flugzeuge designt und gebaut: Der Rote Baron auf dem Weg zu seinem Tridecker.

Matthias Schweighöfer (links) und Joseph Fiennes, der einen kanadischen Piloten spielt.

Matthias Schweighöfer (rechts) als Roter Baron. Volker Bruch spielt seinen Bruder.


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Ich kam aus New York zurück und war gerade mal 48 Stunden in Berlin, glücklicherweise zum Endspiel der Fußball WM, bevor ich wieder nach Prag aufbrechen mußte, es blieb nicht viel Zeit für privaten Kram… Aber offensichtlich wollte ich noch ein wenig woanders sein. In Prag angekommen, stellte ich sehr schnell fest, daß dieser Film allein in technischer Hinsicht superlativ war. Der teuerste Film, an dem ich bisher gearbeitet habe, die größte Greenscreen Europas, Stabumfang zu Spitzenzeiten 150 Mann, und ich habe in zehn Wochen zirka 11.000 Fotos gemacht. Es war meine erste Produktion mit internationalen Darstellern wie Joseph Fiennes oder Lena Headey. Es war wenig Zeit am Set für Fotos, das stellte ich am ersten Tag fest und telefonierte nach New York und bestellte einen Soundblimp. Der war vorher nicht nötig, aber ich dachte schon häufiger darüber nach, ob es meine Arbeit nicht enorm vereinfachen würde. Und das tat es tatsächlich – keiner bemerkte mehr, wenn ich auslöste, man gewöhnte sich schnell an das altmodische Aussehen des Kastens, und ich konnte jeden gedrehten Take mitfotografieren, solange ich als Person den Ablauf nicht störte. Fazit: Ich fotografiere keinen Film mehr ohne Blimp, die Rolle des »Stillen Beobachters« gefällt mir sehr gut.

2006

Der Rote Baron

Produktion Verleih Regie Kamera Cast

Niama Film Warner Brothers Nikki Müllerschön Klaus Merkel Matthias Schweighöfer Lena Headey Joseph Fiennes Til Schweiger u.v.a.

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Nichts als Gespenster

Produktion Verleih Regie Kamera Cast

BoxďŹ lm Senator Martin Gypkens Eeva Fleig August Diehl Maria Simon Fritzi Haberlandt Jessica Schwarz u.v.a.

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Links: Fritzi

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Ina Weisse und Sólveig Arnarsdóttir in der Island-Episode.

Haberlandt in Venedig, freie Arbeit.

Kleifarvatn, Island.

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Dieses Projekt entsprach exakt den Wunschvorstellungen von meiner Arbeit, die ich immer hatte. Der Produzent erzählte mir, es wäre ein Film mit fünf Geschichten, die in fünf Ländern spielen, mit vielen jungen Schauspielern und tollen Locations… und leider wenig Geld. Und ob ich trotzdem Lust hätte, mitzufahren und Fotos zu machen. Er zählte auf: Island, USA, Jamaika und Italien, und beim zweiten Land fiel ich ihm ins Wort: was für eine Frage – natürlich wollte ich mit! Wir wären knapp drei Monate unterwegs und die Fotogage war wirklich schmal, aber ich hatte gleich die Idee, die Schauspieler dort an außergewöhnlichen Orten zu porträtieren und das Material dann verschiedenen Magazinen anzubieten.


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August Diehl in der Amerika-Episode. 78

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Rechts: Jessica Schwarz auf Jamaika,

Salt Flats in Nevada.

freie Produktion.


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Ich schlug den Produzenten geteilte Nutzungsrechte vor, und sie waren gleich einverstanden. Das passiert sehr selten; aber Boxfilm vertraute mir eben, daß ich kein Bildmaterial einfach so rausgebe. Die Schauspieler waren schnell überredet. Hatte ich doch die meisten von Ihnen bereits für meine Fotoausstellung Gesichter des neuen deutschen Films 2005 porträtiert. Ich konnte mir für den gesamte Dreh meine Zeit frei einteilen, und so entstand eine Mischung aus klassischen Standfotos, tollen Arbeitsbildern, wunderbaren Landschaftsfotos und zum Teil sehr eigenwillige Porträts der Schauspieler für mein Portfolio. Ich war glücklich.


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2007

Nordwand

Produktion Verleih Regie Kamera Cast

Dor Film Majestic Philipp Stölzl Kolja Brandt Benno Fürmann Florian Lukas Johanna Wokalek u.v.a.

Bei diesem Film fällt es mir schwer, in nur wenige Worte zu fassen, was alles passiert ist. Ich mochte die Arbeiten des Regisseurs und des Kameramanns; der Film war sehr gut besetzt, hatte ein tolles Szenenbild und wunderschöne Locations. Und so machte ich mir keine Sorgen um gutes Fotomaterial. Wir starteten im April im Salzburger Land, machten kleine Abstecher nach Bayern und Köln und landeten dann Mitte Mai in der Schweiz an der Eiger-Nordwand. Das Berner Oberland ist eine Traumkulisse: Saftiggrüne Wiesen wechseln sich mit schroffen Felsformationen und verschneiten Gletschern ab. Das gesamte Team stand ganz erhaben vor dieser riesigen Wand aus Stein, für viele schwer vorstellbar, daß Menschen freiwillig dieses Massiv besteigen wollen. Jetzt konnte man auch verstehen, warum es technisch unmöglich war, die gesamte Filmhandlung an diesem Berg zu drehen. Das Wetter am Eiger ist so unsicher wie die Lottozahlen. Trotzdem versuchten wir, die Tage dort so effektiv wie möglich zu nutzen. Für mich war es ein Traum, dort mit dem Hubschrauber über den Eiger und die anliegenden Berge zu fliegen.

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Kamera und Regie bei Aufnahmen auf dem Westgrat des Eiger – immer in Begleitung von geschulten Bergführern.

Johanna Wokalek spielt Luise, die Freundin des verunglückten Bergsteigers Toni Kurz.

Schöne Szenerie: die Terasse des Hotels »Bellevue« in den 30er Jahren.


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Und weil dieser Film eben nicht komplett am Berg zu inszenieren war, drehten wir große Teile in einem riesigen Kühlhaus bei Graz. Bei konstanten 13 Grad Minus half den Darstellern auch keine Wärmeunterwäsche mehr, während die Bekleidung der Crew locker ausgereicht hätte, einen kompletten Outdoor-Laden zu bestücken. In den Mittagspausen auf dem Hof saß das Team mehr oder weniger in Unterwäsche vor den Tellern, draußen waren bis zu 35 Grad. Ich hatte mein riesiges Cinema-Display und den Rechner mit nach Graz geschleppt und entkam der Eiseskälte zumindest stundenweise, indem ich fleißig Fotos sortierte und farbkorrigierte. Ich wußte, daß die Idee zu einem Bildband zum Film besteht und wollte schon mal eine Vorauswahl präsentieren. Ich finde es schade, daß dieser Teil des Marketings oft zu kurz kommt; sind doch in einem Pressesatz gerade mal 40 von vielleicht 400 guten Fotos zu sehen. Nach drei Wochen Kühlhausterror, es war nicht nur kalt, sondern auch unheimlich laut, haben wir die letzten Tage am Dachstein auf 3000 Metern verbracht, das Equipment wurde mit Schneemobilen geshuttelt, und für die Raucher im Team waren 500 Meter wie ein Halbmarathon. Aber die wunderbare Natur, und die Ruhe und Kraft, die ein Berg ausstrahlt, entschädigt für die ganzen körperlichen Strapazen. So war es dann auch ein kraftspendender Film.

Benno Fürmann spielt den Toni Kurz mit vollem Körpereinsatz gegen Kälte und Schnee. 82

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Florian Lukas und Benno Fürmann am Dachstein.

DoP Kolja Brandt, Regisseur Philipp Stölzl und 2nd-Unit-Kameramann Franz Hinterbrandner drehen Tonis Tod. 83


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Mads Mikkelsen auf Eis.

2008

Die Tür

Produktion Verleih Regie Kamera Cast

Wüste Film Senator Anno Saul Bella Halben Mads Mikkelsen Jessica Schwarz u.v.a.

Die Anfrage, die Setfotos für Die Tür zu machen, kam von Senator Film, mit denen ich auch schon bei Nichts als Gespenster zusammengearbeitet habe. Zeitgleich traf ich den Regisseur Anno Saul in einer abendlichen Runde bei Jessica Schwarz, die ihm offensichtlich auch schon von meinen Fotos erzählt hatte. Und so hatte ich nach einer sechsmonatigen Pause wieder einen Film.


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Eine schöne Lichtsituation für eine Liebeszene: Jessica Schwarz und Mads Mikkelsen.

Ich hatte Lust, in Berlin zu arbeiten und freute mich sehr darauf, endlich wieder mehr Zeit mit Jessica zu verbringen – und natürlich auf den Hauptdarsteller Mads Mikkelsen, den ich für äußerst begabt hielt und außerdem für wahnsinnig fotogen. Was mir seltsam erschien: daß ich bis auf ganz wenige Drehtage immerzu an einer Location war. Das hatte ich vorher noch nie, und ich dachte, ich würde mich schnell langweilen. Dem war dann überhaupt nicht so, die Darsteller haben alles Maximale rausgeholt und eigentlich wurde wahnsinnig viel am Set gelacht – und das, obwohl es sich hier um einen echten Psychothriller handelt. Aber Anno brauchte das Lachen offensichtlich, um sich nach anstrengenden Takes wieder auf den Boden zu bringen, und es war schön, einfach so zwischendurch loszulassen. Gefreut habe ich mich auch über meinen technischen Neuzugang: die Nikon D3 mit einem Rauschverhalten bei 3200 ASA, welches mit einem ruhig dahingleitenden Bach vergleichbar ist. Das Bild mit dem Schmetterling wurde mit 2000 ASA 1/25sek aus der Hand aufgenommen. Kein Korn! Danach war ich mehr als beeindruckt. Leider paßte die D3 nicht mit allen Objektiven in meinem Soundblimp, der ja für die Nikon D200 gebaut wurde. Doch auch ohne meine Lieblingsoptik waren die Bilddaten sehr überzeugend. Seitdem mache ich wild Reklame für das Ding, obwohl es eine ziemlich schwere Kamera ist.


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Alain Gsponer und Henry Hübchen in der Volksbühne Berlin.

Diesen Film wollte ich erst gar nicht annehmen. Ich war seit Anfang des Jahres ununterbrochen am Arbeiten und hatte nach Dutzenden von Shootings und neun Wochen Dreh zu Die Tür einfach nur das Bedürfnis nach Urlaub und »weg sein…« Aber ich mochte die Arbeiten von Film 1 und dachte: Mensch – ist doch ’n guter Cast. Das wäre jetzt der dritte Film mit Henry Hübchen, der zweite Film mit Daniel Brühl, und mit Hannah wollte ich auch schon immer mal arbeiten. Und es ist wieder in Berlin und Leipzig… Also mach’ es doch einfach! Und ich habe mich schon am ersten Tag gefreut, dabei zu sein. Ich mochte die warme und liebevolle Atmosphäre, in der die Teammitglieder miteinander umgingen. Als Fotograf am Set hat man es grundsätzlich schwer, man wird nur selten ernstge-

2008

Lila Lila

Produktion Verleih Regie Kamera Cast

Film 1 Falcom Media Alain Gsponer Matthias Fleischer Hannah Herzsprung Daniel Brühl Henry Hübchen u.v.a.


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Portfolio | Nadja Klier

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Daniel Brühl und Hannah Herzsprung mußten vier Stunden lang Taxi fahren.

nommen – wenige nehmen wahr, daß deine Arbeit sehr wichtig für die spätere Vermarktung des Films ist. Hier war aber alles leicht, und ich konnte einfach gut arbeiten. Die Energie zwischen Alain Gsponer und seinen Darstellern, besonders Daniel Brühl, war genial. Alle haben davon profitiert. Ich wünsche mir, daß der Film auf der Leinwand genauso rüberkommt, wie ich den Dreh erlebt habe. Alain und Daniel sehen auch nachts um drei noch frisch aus.


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Porträt | Emily Atef

Unterwegs nach Irgendwo 88

Ständig auf der Reise. Und ihren Figuren geht’s auch nicht anders. Wie Filme und Leben der Berliner Franko-Iranerin Emily Atef sich berühren.

Text Christoph Gröner | Fotos Henner Besuch

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Porträt | Emily Atef

Das Fremde in mir beschäftigt die Regisseurin Emily Atef (links, mit Hauptdarstellerin Susanne Wolff). Dafür schickt sie ihre Heldinnen an die entlegensten Orte – oder in eine Depression.

Sie können nicht anders. Die Figuren von Emily Atef treibt etwas an, ganz tief im Inneren, das können sie selber kaum benennen. Eine Sehnsucht nach Liebe vielleicht, die die schwangere Irin Molly bis nach Polen reisen läßt, um den Mann zu finden, mit dem sie nur eine Nacht verbrachte (Molly’s Way), eine unbestimmte Hoffnung auf Rettung, die die junge Mutter Rebecca ihr Haus verlassen läßt in der schlimmsten Depression (Das Fremde in mir). Ihre Intuition verbindet die Charaktere. »Es sind starke Figuren, die sich nicht einfach treiben lassen«, sagt Emily Atef. »Was anderes interessiert mich auch nicht.« Und sie sind noch etwas: Suchende, Reisende. Klassische Filmfiguren also, deren Widersprüche die Regisseurin lebendig werden läßt. Auch Emily Atef, Jahrgang 1971, hat die Reise in ihre Biografie eingeschrieben: Tochter einer Französin und eines Iraners. Geboren in Berlin, mit sieben nach Los Angeles umgezogen, mit 13 zurück nach Europa, in ein ländliches französisches

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Nirgendwo, weil die Eltern keine amerikanische Erziehung wollten. Langeweile in der Provinz, Schauspielerstudium in Paris, Rollen in London, Regiestudium in Berlin. Das sind die Haltestellen eines Lebens, denen die Filemacherin ganz wunderbare Anekdoten hinzufügen kann. Die mit Peter Greenaway ist wohl die schönste: Atef hatte Paris hinter sich gelassen und spielte in London Theater. Sie erfuhr von einem Casting Greenaways, der gerade Achteinhalb Frauen vorbereitete. Atef sollte eine Italienerin spielen, eine Frau, die es liebt, schwanger zu sein – die geborenen Kinder interessieren sie weniger. Bitte bringen sie Arbeiten von sich mit, hieß es aus dem Castingbüro. Viel gab es da noch nicht, richtig gut gefiel es Atef auch nicht. Also entschied sie sich, inspiriert von der Figur, an einem Tag einen Kurzfilm in einer Einstellung zu drehen. Eine Frau preist da in die Kamera ihr neugeborenes Kind zum Verkauf an. Das Casting ging vorbei, einen Tag später kam ein aufgeregter Anruf. Greena-


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Emily Atefs Figuren treibt etwas. Aber treiben lassen sie sich nicht auf ihren unbestimmten Suchen. Die schwangere Molly forscht in einem Land, dessen Sprache sie nicht versteht, nach dem Vater ihres Ungeborenen (rechts). Die junge Mutter Rebecca stürzt aus dem Haus in eine Depression (links).

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way war aus dem Häuschen: Der Kurzfilm hatte ihm fantastistisch gefallen. Die Rolle bekam Atef trotzdem nicht. Aber Greenaway schickte ihr einen Brief, ermutigte sie zum Filmemachen. Sie hat diesen Brief immer noch. Es war ein entscheidender Moment, sagt sie: Der Platz hinter der Kamera schien spätestens da richtig. Sie drehte zuerst No-Budget-Filme in London (über die sie nicht reden will, schmunzelt sie), und entschied sich dann, nach Berlin zurückzukehren. An der DFFB wurde sie angenommen: Schon ihr erster Film dort, die Kurzdokumentation XX to XY Fighting to Be Jake stellte eine starke, völlige entwurzelte Person in den Mittelpunkt: Eine Frau will Mann sein. Im falschen Leben sein, ausbrechen, das bewegt Atefs Figuren künftig immer wieder. Und im Jahr 2005, zwei Kurzfilme später, wagt sie selbst den großen Aufbruch. Der damalige Schulleiter der DFFB, Reinhard Hauff, weist sie zunächst ab, als sie aus ihrem Drittjahresprojekt einen Langfilm machen will. Aber Atef ist sich sicher: Molly’s Way läßt sich nicht kurz erzählen – das Skript über eine schwangere Frau, die in der Fremde ihren Mann und sich selbst sucht, hat das 15-Minuten-Korsett längst verlassen. Hauff bleibt bei seinem »No Way«, bis Atef ihren damaligen Dozent und Projektbetreuer, den dänischen Drehbuchstar Mogens Rukov,

überzeugt hat, sie zu unterstützen. Rukov setzt sich bei Hauff ein, nun heißt es: Ja, aber nur mit selbst gefundenem Koproduzenten. Atef, die sich für Polen als Drehort entschieden hatte, findet Koproduzenten, und als Unterstützerin die Redakteurin Annedore von Donop vom Kleinen Fernsehspiel: der Film wird gedreht; auf dem Filmfest München feiert er Premiere; er reist um die Welt. Atef hat an diese Geschichte geglaubt, an eine geradlinige Heldin, die stark ist in ihren Wünschen, die sich in einer komplett anderen Umgebung nicht aufgibt, sondern schließlich findet. Sie nahm ihre frühere Londoner Bühnenkollegin Mairead McKinley als Hauptdarstellerin mit nach Polen. Für beide wird es eine Entdeckungsreise. Der Mann, nach dem Molly im Film sucht, heißt Marcin. Der Mann, den Atef in Polen während der Dreharbeiten kennenlernt, heißt Marcin Bujski, ihr Set Decorator bei dem Film – und heute ihr Ehemann. Zufall, aber so berühren sich Leben und Arbeit ständig bei Atef: Alles ist Erfahrung, Erfahrung wird Drehbuchidee, und wenn Film nicht zu einer neuen Erfahrung für den Zuschauer wird, dann stimmt etwas nicht. Bei Molly stimmte es: Atef fand Poesie im polnischen Industrieschmutz, der Film gewann zahlreiche Preise.


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Fotos: Ventura Film

Atef ist eine ziemliche Abenteurerin, und sie ist eine Menschenfischerin, die offen auf Leute und Herausforderungen zugeht. Ihr Deutsch ist immer wieder von englischen Wörtern durchsetzt, manchmal schleicht sich ein französisches ein: Sie achtet kaum darauf, sie war Zeit ihres Lebens eine Wanderin zwischen den Kulturen. »Ich war immer zu Gast. Und manchmal war es hart, sich anzupassen«, erzählt sie. Heute gelingt es ihr mühelos, ihren eigenen Weg zu finden. Ihre Charaktere entwirft sie mit ihrer »kreativen Partnerin« Esther Bernstorff, beide schreiben an den Drehbüchern. Aber ist es nicht schwer, Deutsch zu schreiben für eine Frau, die in L. A. und Frankreich aufgewachsen ist? »Ich schreibe auf Englisch, Esther übersetzt meine Szenen mit.« Wer weiß: Vielleicht funktionieren ihre Filme gerade deshalb nicht nur in Worten, sondern auch am Ende der Worte so gut. Die beiden bisherigen Spielfilme unterscheiden sich dabei deutlich: Molly’s Way ist eine fast metaphysische Reise der Heldin, Das Fremde in Mir eher einem schroffen Realismus verpflichtet. Aber in beiden Filmen gibt es intensive Gefühle ohne viel Melodram: Da findet Molly in einer polnischen Pension gerade in den Huren die besten Freunde, und die deprimierte Rebecca lernt fast schweigend zu akzeptieren, daß man sich das Le-

Porträt | Emily Atef

ben heimelig einrichten kann und dann trotzdem daran erstickt und es fast zum Kindsmord kommt. Selten hat sich ein Filmemacher, vielmehr eine Filmemacherin, für dieses Thema derart interessiert. Aber mit dem Label »Frauenfilme« will Atef sich nicht anfreunden. »Ich bin an universellen Themen interessiert.« Bisher standen weibliche Figuren im Mittelpunkt, auch noch jeweils schwangere – aber Atef sagt, sie will ein breites Publikum ansprechen, auch mit einem Film wie Das Fremde in mir. Bei der Premiere in Cannes gab es Applaus, später Lob wie Kritik. Er sei zu langsam am Anfang, hieß es über den Film. Er sei am Ende plötzlich zu didaktisch, kritisierten andere. »Am Anfang bin ich angreifbar«, sagt Atef über ihren Umgang mit solchen Urteilen. Ihre Offenheit aber will sie sich unbedingt bewahren »Es ist so, daß ich sehr viel zuhöre. Ich hoffe, daß sich das nicht ändert.« Wer einen Film über Kindbettpsychose durchsetzt, muß jedenfalls eine gesunde innere Stimme als Wegweiser haben. »So und nicht anders konnten wir den Film machen«, sagt sie heute. So und nicht anders hat ihr Film erneut acht Preise gewonnen, er ging wie Molly’s Way um die Welt. In Argentinien fragt man sie: Ist Deutschland wirklich so kalt im Umgang mit seinen Müttern? In Korea heißt es: Wieso lächelt die Frau ihre Depres-

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Porträt | Emily Atef

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sion nicht einfach weg? Und wieso (die Frage kam in Pusan tatsächlich von einer Frau) ist der Mann bereit, die Frau wieder aufzunehmen? Bei solchen Erfahrungen, darf man annehmen, ist Atef glücklich: Wenn sich über den Film die Kulturen noch aneinander reiben. Auch wenn sich der Verleiherfolg in Deutschland noch nicht eingestellt hat, international ist Atef bereits bestens vernetzt. Der Rummel um die Regisseurin wird künftig größer werden. Nach der Premiere in Cannes wird Das Fremde in mir nun noch einmal im Rahmen der German Films Screenings auf der Berlinale gezeigt. Wohlgemerkt: Ein Abschlußfilm. Atef sitzt in Berlin gemeinsam mit Andreas Dresen und Wim Wenders für den Talent Campus in der Jury. Sie könnte im Moment ständig auf Festivals fahren – aber sie will sich nun auf ihre nächsten Projekte konzentrieren.

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Auch in Zukunft werden das intensive Schauspielerfilme sein. In Das Fremde in mir trieb sie Susanne Wolff zu preiswürdigen Höchstleistungen. Die Regisseurin probt viel, selbst am Drehtag nimmt sie noch ihre Schauspieler zur Seite, stimmt sie ohne Kamera ein. Das Ergebnis ist hochintensiv. Die Kamera ist gerade deswegen eher zurückgenommen, trägt nie dick auf. Trotzdem sind ihre Filme alles andere als kalt, die Figuren pulsieren. Deshalb beginnen auch ungewöhliche Stoffe zu leben. »Das kommt von den Figuren«, sagt sie über ihre Drehbucharbeit mit Esther Bernstorff. Vier Monate haben sie gemeinsam an Molly gearbeitet, zwei ganze Jahre an Das Fremde in mir. Und Töte mich, ihr kommender Film, ist auch so ein Stoff, der ein eigenartiges Leben entwickelt. Wenn Atef darüber erzählt, verwandelt sich eine abseitige Konstruktion in einen glaubwürdigem Film: Ein 13jähriges Mädchen aus dem ländlichen Nirgendwo an der deutsch-französischen Grenze will nicht mehr leben. Als sie einen entflohenen Mörder in der Nähe des elterlichen Hauses findet, faßt sie einen Plan. Sie entwischt mit ihm, er soll sie dafür umbringen. Das Roadmovie wird durch Frankreichs Süden nach Marseille führen – und natürlich ist es nicht abwegig, eine Rückkehr in Atefs eigene Jugend auf dem Land zu vermuten. Aber Atefs Filme sind nie nur autobiografisch. Die

Atef beim Dreh von Das Fremde in mir. Ihre Charaktere entwirft sie mit ihrer »kreativen Partnerin« Esther Bernstorff. Beide schreiben an den Drehbüchern.

Figuren haben zu viel Konturen, nehmen ihre eigenen psychologischen Umwege. Den Stoff hatte Atef schon lange im Kopf, sagt sie, sogar vor Molly’s Way. Aber bis jetzt schien er ihr zu komplex: Ein Roadmovie mit einem Kind, da war selbst das Drama einer Mutter einfacher. Sie geht Schritt für Schritt: 100.000 Euro steckten in Molly’s Way, drei Millionen Euro oder mehr soll Töte mich kosten. Und der nächste Schritt steht offenbar fest: Nachtzug nach Lissabon – die Verfilmung des Bestsellers von Pascal Mercier als internationale Großproduktion. Erneut eine filmische Reise: Kann Sie überhaupt ankommen? Atef schaut aus dem Fenster, in ihrem kleinen Berliner Lieblingscafé »Schwarze Pumpe«: »Ankommen, was ist das? Ich bin zwar hier geboren und jetzt hier. Aber immer hier bleiben – wer weiß?« Sicher ist: Sie wird viel unterwegs sein. Sie kann gar nicht anders. c


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CINEARTE XL 010 WOLLEN SIE MEHR? Wir schauen hinter die Kulissen und den Filmemachern in den Kopf, denn bei uns kommen sie selbst zu Wort. cinearte xl sieht nicht nur höllisch gut aus, sondern bietet ausführliche Hintergrundartikel, Interviews und Produktionsberichte. Für alle, die längere Geschichten und große Fotos mögen. cinearte xl erscheint vier Mal im Jahr mit Texten und Bildern rund um die Filmkunst. Wollen Sie haben? Können Sie kriegen! www.cinearte.net


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Alles über Eva USA 1950 Regie und Drehbuch Joseph L. Mankiewicz Kamera Milton R. Krasner Szenenbild George W. Davis, Lyle R. Wheeler Kostüm Charles LeMaire, Edith Head Maske Ben Nye Montage Barbara McLean Musik Alfred Nawman Produktion Darryl F. Zanuck

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Abspann | Vorspann

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Lange Zeit war der Vorspann nur eine Folge von Texttafeln, die auflisteten, wer am Film so mitgearbeitet hatte. Allmählich erhielten sie mehr und mehr dekorative Elemente. Heute ist ein gelungener Vorspann ein eigener Kurzfilm, der in Stimmung und Stil des Hauptwerks einführt. Das ist das Werk von Spezialisten – genannt werden sie allerdings oft nicht einmal im Abspann. Bis jetzt.

Filmstills: DVD »Vertigo«, Universal 2007

Ein neues Genre


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Abspann | Vorspann

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Als 1955 Otto Premingers Der Mann mit dem Goldenen Arm in die Kinos kam, lag den Filmrollen ein Zettel bei: »Projektionisten – Vorhang vor dem Vorspann öffnen«. Mitte der 1950er Jahre begannen Filme nämlich in der Regel mit einer Reihe von Schrifttafeln, die verrieten, wer hier so alles mitgearbeitet hatte. Das war sicherlich eine wichtige Information, aber so langweilig, daß die Projektionisten es nicht für nötig hielten, den Vorhang vor der Leinwand aufzuziehen. Sie warteten damit ab, bis die ersten richtigen Bilder des Films losflackerten. Bei Premingers Drogendrama war es anders. Und der Regisseur wollte, daß das Publikum auch sieht, was Saul Bass sich zum Thema ausgedacht hatte. Auf den ersten Blick nicht viel mehr als einen stilisierten Arm, der auch als Logo für die gesamte Werbekampagne geführt wurde. Aber es war die Geburtsstunde des Vorspanns als Kunstwerk, und Saul Bass wurde unbestrittener Anführer der Bewegung. Deutlich zeigte sich das in der Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock, welcher seine Karriere selbst als Zwischentitelmaler begonnen hatte. Seinem Titeldesigner verdankt der Regisseur sogar seine berühmteste Szene, wie Storyboards und Skizzen belegen: Den legendären Mord unter der Dusche in Psycho hatte Bass grafisch umgesetzt, der Kameramann John L. Russell drehte sie weitgehend nach den Zeichnungen. Für Vertigo, den wir hier zeigen, gab Bass 1958 sogar dem Wahnsinn ein Gesicht (der Spirograph, den er hier scheinbar so intensiv nutzte, wurde übrigens erst sieben Jahre später erfunden). Mit mehr als 50 Vorspännen hatte Bass aus dem einst lieblos hingeknallten Impressum eine Ouvertüre gemacht und ein neues Filmgenre geschaffen. Jan Fedesz


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Abspann | Mein Arbeitsplatz

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Mein Arbeitsplatz Wie arbeitet man eigentlich für den Film? Wir fragten die Produktionskoordinatorin Sybille Rohde.

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»Mich reizen natürlich bestimmte Stoffe, gerne historische, mit literarischer oder zeitgeschichtlicher Grundlage wie Die Flucht, Mogadishu oder zuletzt The Last Station. Ich mag auch Reiseproduktionen: man ist für sechs Monate mal eben weg, ist auch nicht mehr ansprechbar für Freunde und Verwandte. Das Privatleben steht einfach hinten an. Man lebt dann sehr konzentriert für die Arbeit. Mein Arbeitsgerät ist der Computer und das Internet. Ich habe immer einen Koffer mit, das ist mein mobiles Büro. Da drin ist alles – von der Heftklammer über das Verlängerungskabel bis zum UMTS-Stick. Je nach Aufwand und Budget habe ich ein bis fünf Mitarbeiter. Im Vorfeld der Produktion habe ich häufig die Aufgabe, ein Büro aufzubauen. Meistens stehe ich in leeren Büroräumen: kein Internet, kein Telefon, keine Möbel. Für den Aufbau der Infrastruktur habe ich bis zu zwei Wochen Zeit. Als Koordinatorin bin ich Ansprechpartnerin für alle Abteilungen. Ausstattung und Kostümbild arbeiten ja schon, die Aufnahmeleitung sowieso, genauso der Regisseur und sein Assi. Wichtig sind der Informationsfluß und die Terminlegung. Ich mache eine Wochenplanung, einen Vorproduktionsplan. Der wird bei Bedarf auch täglich geändert und an jede Abteilung verschickt, damit jeder weiß, wer wann wo ansprechbar ist und wann nicht. Ich muß auch Kontakt zu den gecasteten Schauspielern und ihren Agenturen halten. Mir ist wichtig, ein Vertrauensverhältnis im Team zu schaffen. Ein großer organisatorischer Aspekt meiner Arbeit sind Listen, Listen, Listen: Adreßlisten von Stab, Darstellern, Dienstleistern, welches-Drehbuch-hat-eigentlich-wer-Listen, Sperrterminlisten, Vertragslisten (wo sind denn die Verträge, die wir rausgegeben haben?) und Fahrzeuglisten. Wenn wir viel reisen, bedarf es einer »Crew-Movement-Order«, einer Reiseplanung, die der Erste Aufnahmeleiter mit mir erstellt. Reist das Team mit dem PKW, benötigt es eine Wegbeschreibung mit Karte und Ansagen, wer mitfährt. Eine kleine Änderung verbreitet sich wie eine seismografische Welle durch die gesamte Planung. The Last Station wurde an drei verschiedenen Orten in Mitteldeutschland realisiert, wir hatten ein Team von bis zu 150 Leuten, die untergebracht werden wollten. Weit im Vorfeld schaute ich mir die Hotels an und handelte die Konditionen aus. Eine Filmproduktion zu Gast zu haben, bedeutet: Wir brauchen Frühstück ab halb fünf Uhr morgens statt um neun, wir wollen warme Küche bis mindestens 24 Uhr, und die Bar sollte am besten die ganze Nacht geöffnet sein. Mein Arbeitsbeginn ist idealerweise erst um 9 Uhr, ich bin echt kein Frühaufsteher. Doch mobil bin ich immer erreichbar, und bei Dreharbeiten gibt es nicht wirklich ein Arbeitsende, es passiert immer etwas Unvorhergesehenes: Als ich einst im ICE nach Frankfurt mit sechs Papiertickets nach Casablanca saß und der Zug mit Maschinenschaden verendete, konnte ich die Verantwortlichen der Fluglinie vom Zug aus überzeugen, die am Flughafen wartenden Kollegen ohne Ticket mitzunehmen. Alles ist möglich – das ist meine Grundprämisse.« Protokoll und Foto Karolina Wrobel


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Abspann | Mein Arbeitsplatz

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Sybille Rohde stammt aus Salzgitter und studierte Anglistik und Germanistik. Noch bis 1995 ging sie ihrer Leidenschaft für Literatur nach und arbeitete in Göttingen an einer Promotion über den Dichter Lord Byron. Doch bald drehte sie 16-Millimeter-Kurzfilme, unter anderem eine Verfilmung des Marianne-Rosenberg-Hits Marlen, und träumte in der Toskana vom Drehbuchschreiben. Sie beschloß, ihr Leben als Akademikerin an den Nagel zu hängen. Ein Praktikum bei der Produktionsfirma Luna Film ermöglichte den Einstieg in die freiberufliche Arbeit als Produktionskoordinatorin – unter anderen koordinierte sie die Produktion von Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin! und The Last Station von Michael Hoffman, für den sie Helen Mirren Mitte dieses Jahres im brandenburgischen Zossen versenkte. Ihr Organisationstalent, sagt sie, sei erlernt, ebenfalls ihre Gelassenheit. Nicht aber ihr Humor.


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Abspann | Statistik

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Die Welt in Zahlen Zuschauer ab 14 Jahren, die sich für Filmfestspiele interessieren, in Prozent

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Zuschauer ab 14 Jahren, die in den letzten zwölf Monaten im Kino waren, in Prozent (Stand: 2006)

35

Zuschauer ab 14 Jahren, die in den letzten zwei Jahren nicht im Kino waren, in Prozent (Stand: 2006)

48

Eltern von Zwei- bis Vierjährigen, die sich strikt an die Altersfreigabe der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) halten, in Prozent

96

Eltern von Zehn- bis Zwölfjährigen, die sich strikt an die Altersfreigabe der FSK halten, in Prozent

75

FSK für den Fantasy-Film Der Sternenwanderer

12

Altersfreigabe des Films in Großbritannien und Irland 100

0

Zuschauer, die sich »besonders« für Kinofilme interessieren (Stand: 2007)

18

Zuschauer, die sich »nicht so sehr« bis »gar nicht« für Kinofilme interessieren (Stand: 2007)

82

Anteil der Über-14jährigen, die sich »hin und wieder gegen Gebühr DVD« ausleihen, in Prozent

39

Anteil der Über-14jährigen, die sich in den vergangenen zwölf Monaten eine DVD gekauft haben, in Prozent

64

Anteil der Über-14jährigen, die sich »nie« eine DVD ausleihen, in Prozent

65

Platz, auf dem unter den bevorzugten Freizeitaktivitäten »Videos schauen« angeführt wird

17

Platz für »ins Kino gehen«

29

Platz, auf dem »Fernsehen« rangiert

1

Nennung von »ins Kino gehen« in Prozent

3

Nennung von »Fernsehen« in Prozent

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[1] Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse 2007 [2-3] Typologie der Wünsche 2006/2007 [4-5] Eltern, Juni 2008 [6-7] Internet Movie Database [8-9] Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse 2007 [10-11] Allensbacher Computer- und Technik-Analyse 2007 [12] Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse 2007 [13-17] Verbrauchs- und Medienanalyse 08


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Abspann | Lexikon

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Hollywoodland Das berühmteste Ortsschild der Welt ist kaputt. Am Berghang über einem Stadtteil von Los Angeles prangen neun Buchstaben, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatten. Die vier letzten fehlen. 1923 ließ eine Maklerfirma hier 15 Meter hohe Lettern aufstellen, so hoch wie ein vierstöckiges Gebäude. Als »Hollywoodland« bewarb sie die Grundstücke auf den öden Hügeln am Stadtrand. Zwölf Jahre zuvor waren die ersten 16 »Independents« aus New York an der Pazifikküste gelandet – auf der Flucht vor Edisons mächtiger Motion Picture Patents Company. Kalifornien bot ihnen das ideale Klima für Dreharbeiten: Mehr Sonne, längere Tage – es gab noch kein ausreichendes Kunstlicht, man drehte unterm Glasdach oder gleich im Freien. 1915 eröffnete Carl Laemmle die Studiostadt Universal City, der Aufstieg zur Filmmetropole der Welt begann. Mit all dem hatte der Hollywood-Schriftzug noch nichts zu tun, wenn auch die Grundstückhändler ihre Buchstaben anfangs mit 4.000 Glühbirnen beleuchteten. Das Gebilde war als Provisorium für anderthalb Jahre gedacht und darum auch nur aus Telefonmasten, Stoff- und Holzresten zusammengezimmert. Der erste Kontakt mit der Filmwelt war sogar äußerst tragisch: 1932 stieg Peg Entwistle auf den ersten der riesigen Buchstaben und stürzte sich zu Tode. Schon als 17jährige war sie am New Yorker Broadway in eine verheißungsvolle Schauspielkarriere gestartet und wurde sogar von der jungen Bette Davis als Vorbild genannt. Aber immer wieder geschah etwas Unvorhergesehenes, das sie zurück auf Los schickte. Mit 24 Jahren hielt sie es nicht mehr aus. Die bittere Ironie ihres Schicksals: Wenige Tage nach dem Selbstmord kam ein Brief, der ihr die ersehnte Hauptrolle versprach. Die Filmstadt hatte ihren düsteren Mythos – das »Hollywood Sign Girl« machte den Schriftzug bekannt. Trotzdem ging es mit selbigem steil bergab. Die Glühbirnen fielen aus, irgendwann kippte das schicksalsschwere »H« um, die übrigen Buchstaben rotteten vor sich hin. 1949 endlich ließ die Handelskammer von Hollywood den Schriftzug wieder instand setzen – auf die Beleuchtung und die letzte Silbe verzichtete man, schließlich verkaufte man jetzt anderes. Das hielt gerade mal für weitere zwei Jahrzehnte. Eine Charity-Aktion rettete das Wahrzeichen 1973 vor dem Abriß. Doch kaum war die neuerliche Sanierung abgeschlossen, machten sich Brandstifter beim ersten L zu schaffen und Termiten am dritten O, bis es den Hang hinunterkrachte. So bekam Hollywood 1978 ein völlig neues Ortsschild. Die alten Trümmer tauchten erst 2005 bei einer Versteigerung im Internet wieder auf. Der Mythos der Filmstadt brachte da fast eine halbe Million Dollar. Carlo Vivari

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Die Bildermacher des Kinos, heißt es in der Einleitung, sehen sich fast immer in einer »unterstützenden Rolle«. Freilich widerlegt der Buchautor, Thomas Brandlmeier, in vielen Einzelporträts wieder und wieder dieses passive Rollenverständnis, zeigt sie als kongeniale Künstler, Techniker, Urheber. Das Miteinander der Filmindustrie wird seit langem vernachlässigt. So schreibt Brandlmeier hier Skizzen zu einer teils parallel, teils quer laufenden Filmgeschichte der Lichtgestalter. Seit 30 Jahren verwendet er den Begriff der »Kameraautoren«, er steht als ausgebildeter Chemiker, Medienwissenschaftler und Betriebswirt von jeher an der Nahtstelle, die sich für das Ineinander von Technik, Finanzen und Ästhetik besonders interessiert. Die Recherchetiefe seiner 45 essayistischen Porträts ist bemerkenswert: Mit Glossar, umfangreichem Literaturteil und 512 dichten Seiten bietet das Buch einen echten Einstieg in die Kamerawelt. Das erste Fünftel ist ein geschichtlicher Abriß, der die »Geburt des Kinos aus dem Geist der Technik« beschreibt, dann geht es durch die Jahrzehnte, dazwischen mehrseitige Passagen zu Einzelfilmen – kein Buch ausgewogener Prosa, dafür eine kraftvolle Analyse spezifischer Bilderwelten.

Nur ein Beispiel ist die Passage über John Alton, den Paul Schrader als »größten Meister des Noir« beschrieb. Er dreht 1947 für T-Men von Anthony Mann revolutionäre Außenaufnahmen – nachts und ohne zusätzliches Licht. Sein Hauptwerk in Farbe brachte ihm den »Oscar«: Ein Amerikaner in Paris. Hier fotografierte er die Endsequenz – und rettete Vincente Minelli, wie dieser zugab: »Ich wußte, daß er an die Lichtwechsel im Ballett mit der Kühnheit – und dem Wahnsinn – herangehen würde, der nötig war.« Alton mußte gegen alle kämpfen: Ausstatter, Produzent, Schauspieler. Er schmiß einfach den Großteil der 60 vorgesehenen Lampen für die Schlußnummer weg. »Er malte mit Licht«, gab später selbst der Ausstatter zu. Und Produzent Arther Freed sagte: »John, das ist das erste Mal, daß Fotografie einen Film gerettet hat.« Für den genauen Blick muß man das Buch empfehlen. Vor allem Vertreter der westlichen Hemisphäre sind darunter und keine Kamerafrauen (beides spricht der Autor selbst an) – darüber hinaus beschränkt er sich auf Klassiker. Aber Kameraautoren zeigt in über 560 Fotos einen unglaublichen Reichtum der Bilderideen. Christoph Gröner

Thomas Brandlmeier: Kameraautoren | Schüren-Verlag, Marburg 2008 | ISBN 3894724862 | 38 Euro

Fotos: Schüren Verlag | Delphi

Entfesselte Augen


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Jugendtrauma Ruhig gleitet die Kamera über Felder, Straßen, Siedlungen des Mittleren Westens, dazwischen geschnitten bewegen sich Zeiger übers Zifferblatt einer Uhr, zum stillen Fluß der Anfangsbilder, dem nicht zu stoppenden Ticken erklingt eine sacht wandernde Melodie. Violine und Cello gesellen sich zum Klavier, übernehmen das erhabene Thema und färben es pastoral ein: In seinem Regiedebüt Zurück im Sommer erzählt Dennis Lee ein Familiendrama in ländlicher Idylle, dessen Ursprung in Rückblenden freigelegt wird: Als Kind wird Michael von seinem Vater drangsaliert. Jahre später kehrt er an seinen Heimatort zurück, wobei kurz nach seiner Ankunft seine Mutter Lisa (gespielt von Julia Roberts) bei einem Autounfall ums Leben kommt. Im Verlauf der Begräbnisvorbereitungen überfallen ihn Erinnerungen an seine unglückliche Kindheit. Den melancholischen Tonfall des Films unterstreicht Komponist Javier Navarrete mit einem zurückhaltenden Score in vornehmlich kammermusikalischer Besetzung. Hin und wieder ergänzt ein Klarinetten-Solo von Friedemann Seidlitz den brillanten Klang des Vincent-Trios (Klavier, Violine und Cello). Die Streicher der Dresdner Sinfoniker setzt Navarrete behutsam in Schlüsselmomenten

des Films ein, etwa wenn Michael mit Christoph und dessen Schwester Leslie, bewaffnet mit Tennisschlägern, auf die Jagd nach Glühwürmchen geht (Fireflies Blinking). Das Glühwürmchen-Thema durchzieht den Score: Die Musik evoziert Naturbilder und baut eine verträumte Atmosphäre auf, die ungebrochen bleibt, auch wenn der Film Szenen familiärer Gewalt zeigt. Daß sich Michael Jahre später mit seinem autoritären Vater versöhnen wird, daß am Ende die Vergebung steht, legt die tröstlich klingende Musik von Anfang an nahe. In seiner lyrischen Anmutung, dem Einsatz der Klarinette als Soloinstrument und der behutsamen Orchestrierung erinnert Navarretes Komposition an Arbeiten von Gabriel Yared (Der englische Patient) und Michael Convertino (Wrestling Ernest Hemingway). Navarrete erzeugte auch für Guillermo del Toros Pans Labyrinth entrückte Klangbilder, wobei er die Musik dort epischer anlegte und großzügiger orchestrierte. Nach Zurück im Sommer schuf er für den Horrorfilm Mirrors einen Score voll Disharmonien und bläserstarker Schockeffekte. Auch die Musik für Ian Softleys Verfilmung von Tintenherz wird seine Handschrift tragen – Navarrete scheint der Mann für die dunklen Märchen zu sein. Michael Stadler

Javier Navarrete: Zurück im Sommer | Decca | ASIN B0018YD176

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11.01.2009

14:51 Uhr

Seite 104

Abspann | Musik

cınearte

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Achtung, Erdenbewohner, aufgepaßt! Die Welt könnte die Welt eines Tages ein einziger Müllhaufen werden, ohne Menschen, nur mit einem Roboter als letztem Bewohner – immerhin einem, der aufräumt. Eine dunkle Zukunftsvision entwirft das Animationsstudio Pixar für sein Maschinenmärchen Wall-E und hat den Score ökologisch korrekt verpackt: im 100 Prozent wiederverwertbaren Pappschuber. Zeit zum Umdenken ist ja noch, der zweite Track 2815 A.D. ist buchstäblich Zukunftsmusik. Geisterhaft klingt die Harfe, dunkel schwellen die Streicher auf und ab – einer von wenigen Momenten, der nach Science-Fiction klingt. Thomas Newman hat schon für Findet Nemo die Musik komponiert, und auch in Andrew Stantons neuem Abenteuer interessiert er sich vorwiegend für die Motorik der Figuren, ihren individuellen Takt, die Stimmung der Szenen jenseits möglicher Genre-Erwartungen. Ein Hauch von großer Weltraumoper findet sich auf The Axiom, wenn Streicher episch und Bläser heroisch klingen. Ansonsten bleibt Newman den Helden dicht auf den Fersen und unterstützt die Komik mit exotischen Instrumenten wie der Strumming Zebra. Was jedoch ohne die Bilder wenig Hörgenuß bringt. Immer wieder ergeben sich rhythmische Loops, kurze Mo-

tivwiederholung, ohne daß ein größeres Thema sich herausschält. Einige der 38 Tracks enthalten Geräusche aus dem Film, emsiges Fiepen und Quietschen – die Musik der Maschinen. Lässig jazzen die Flöten, zu denen sich der Putzroboter M-O im Kampf gegen den Schmutz bewegt. Down to Earth singt Peter Gabriel, einen Teil der Musik zu diesem Song hat Newman beigesteuert, um gleich ein paar Harmonien daraus für die funkende Beziehung zwischen Wall-E und der Roboterdame Eve zu entlehnen. Wenn die beiden durch den Weltraum fliegen, geben nicht nur ein Feuerlöscher, sondern auch Harfe, elektrischer Baß, Keyboard-Effekte und schwerelose Streicher den nötigen Auftrieb (Define Dancing). Wall-E triumphiert über die Erdanziehungskraft. Und er hat Lust auf Tanzen und Händchenhalten – zwei Songs aus Hello Dolly zeugen von seiner Musical-Begeisterung. Newman erfindet für ihn noch eine verträumte SpieldosenMelodie (Fixing Wall-E), das in Static wiederholt wird. Der Roboter muß mehrmals repariert werden, wobei er am Ende sogar sein einzigartiges Innenleben zu verlieren scheint. Statisches Rauschen hinter Teleskop-Augen droht. Aber man ahnt es schon: Was da so einsam klimpert, das muß doch ein Herz sein. Michael Stadler

Thomas Newman: Wall-E | Walt Disney Records | ASIN B0017LFKMY

Fotos: Walt Disney | Archiv [5]

Maschinenmärchenhaft


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cınearte

11.01.2009

14:51 Uhr

Seite 105

Abspann | Tip 5

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Zipfel der Macht Kein anderer Beruf habe weniger gute Filme inspiriert, meinte ausgerechnet ein Filmkritiker. Aber aus den wenigen kann man immer noch was lernen: Fünf Filme über gute Präsidenten.

Der Kandidat [USA 1964] Politik ist ein schmutziges Geschäft – behauptete John F. Kennedys Schwager Gore Vidal in seinem Bühnenstück. Franklin Schaffner inszenierte die Lektion fürs Kino: Bei der Wahl des Präsidentschaftskandidaten einer Partei prallen zwei Welten aufeinander. Der eine ist ein zögerlicher Intellektueller, der andere ein korruptes, verlogenes, gewissenloses, selbstsüchtiges Übelpaket. Am Ende siegt das Gute durch die Hintertür, weil Intellektuelle auch als Gutmenschen cleverer sind und außerdem dies ein Film ist. Angriffsziel Moskau [USA 1964] Präsidenten müssen schwere Entscheidungen treffen. Eine Falschmeldung löst den Alarm für den Ernstfall aus, schon befindet sich eine Atombomberstaffel auf dem Weg nach Moskau. Um den Dritten Weltkrieg zu verhindern, opfert der Präsdent erst seine Jagdflugzeuge, dann die Bomberpiloten und schließlich New York. Sidney Lumets Vision von der drohenden Apokalypse gab die Stimmung Anfang der 60er Jahre wieder – und ist die ernsthafte Version von Stanley Kubricks Satire Dr. Seltsam, die um die gleiche Zeit entand. Dave [USA 1993] Kein Mensch ist unersetzlich. Als der Führer der freien Welt (übrigens ein korruptes, verlogenes, gewissenloses, selbstsüchtiges Übelpaket), auf seiner Geliebten einen Schlaganfall erleidet, ersetzt ihn der Stabschef (übrigens ein korruptes, verlogenes, gewissenloses, selbstsüchtiges Übelpaket) durch einen Doppelgänger. Den Rest inszeniert Ivan Reitman, als hätte er gerade einen Film von Frank Capra gesehen: Der sympathische Gutmensch Dave saniert nebenbei den Haushalt, deckt eine politische Intrige auf und bezaubert Wähler und Präsidentenwitwe. Hallo, Mr. President [USA 1995] Präsidenten sind auch nur Menschen. Als der verwitwete und gewissermaßen alleinerziehende Führer der freien Welt der netten Umweltlobbyistin begegnet, könnte Rob Reiners romantische Komödie schon vorbei sein. Zum Glück gibt’s genügend Intrigen, in den die beiden einander beistehen müssen, und am Ende hält Mr. President eine capraeske Rede. Drehbuchautor Aaron Sorkin war jedenfalls so hingerissen, daß er aus seiner Idee für zwei Amtsperioden die staatsbürgerkundliche Serie The West Wing machte. Thirteen Days [USA 2000] Ein Präsident ist so gut wie seine Berater. Mit diesem Argument versuchte man vor acht Jahren Zweifel an der Regierungsfähigkeit von George W. zu zerstreuen. Pünktlich zu dessen Amtsantritt kam Roger Donaldsons Dokuspiel über die Kubakrise von 1962 in die Kinos. Die war zwar in den historischen Fakten etwas frei, brachte aber ihre Botschaft an, daß Eigenintelligenz im mächtigsten Amt der Welt auch nicht schadet: Über zwei Stunden lang wehrt sich der Präsident da gegen die Scharfmacher in seinem Sicherheitsrat und verhindert so den Dritten Weltkrieg.

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11.01.2009

14:51 Uhr

Seite 106

Abspann | Rätselraten

cınearte

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Lebensweisheiten 106

Weniger ins Kino gehen und lieber ein gutes Buch lesen? Die Weisheiten des Lebens lauern mitunter da, wo man sie am wenigsten vermutet.

An den folgenden Spruch wird sich der Held in seinen Abenteuern immer wieder erinnern. Was auch an der besonderen Dramatik der Situation liegt, in der sein »Lehrmeister« diesen Satz zum letzten Mal sprach. Eigentlich eine Binsenweisheit, an die offenbar aber gar nicht genug erinnert werden kann:

Wir wollen wissen: Aus welchem Meisterwerk der Kinematografie stammt dieses Zitat? Wenn Sie die Antwort wissen, schreiben Sie sie bitte auf eine hübsche Postkarte und senden Sie das Ganze an: cinearte – Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg. Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung 15 Mal je eine DVD aus der Reihe »Screwball Comedie – Hollywoods schönste Beziehungskomödien«. Einsendeschluß ist der 20. März. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen (das müssen wir schreiben).

Wonach wir in der vorigen Ausgabe gefragt hatten? Trouble ohne Paddel.

Fotos: Verleih | Süddeutsche Zeitung | Montage: cınearte

Aus großer Macht folgt große Verantwortung.


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14.01.2009

0:37 Uhr

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14.01.2009

0:37 Uhr

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Betastr. 5, 85774 Unterföhring Tel › 089 / 42 74 32 - 0 Infos › www.fernsehakademie.de

FERNSEHJOURNALIST /-IN KAMERAMANN /-FRAU CUTTER /-IN VFX-ARTIST TV - PRODUCER /-IN

Infoabend: 17.03.09, 05.05.09 von 18 - 20h Tag der offenen Tür: 14.02.09, 25.04.09, Beginn 10 und 14 h


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