xl012_O_Titel
18.06.2009
3:07 Uhr
Seite 1
012
XL
Juni 2009 | 5 Euro
4
196651
805005
4 196651 805005
90012
90012
Das Magazin f端r angewandte Filmkunst
Join The Club. enJoy Vip QualiTy.
aG-hpX301: ShooT Full hD. WRiTe Full hD. eDiT Full hD. Sie möchten auch das privileg der Master hD produktionsqualität genießen? Mit dem neuen aG-hpX301 panasonic Kamerarecorder haben Sie jetzt die Möglichkeit dabei zu sein! im neuen professionellen Design präsentiert sich der aG-hpX301 mit drei Full hD bildsensoren und einem Wechselobjektivanschluss. Die aufzeichnung im aVC-intra Codec auf p2 Karten in Verbindung mit dem effizienten p2 Workflow ist einzigartig in seiner Klasse. ohne Kompromisse, der aG-hpX301 bietet ihnen die gleiche einmalige aufzeichnungsqualität wie sie bisher nur mit high-end-broadcast Kamerarecordern erzielt werden konnte. access all areas – just join the club. Weil jede einzelheit zählt – entscheiden Sie sich für den aG-hpX301.
eVeRyThinG MaTTeRS
panasonic-broadcast.de
xl012_O_Vorspann
18.06.2009
5:20 Uhr
Seite 3
Zum Geleit
Impressum Ausgabe 012 vom 30. Juni 2009. Anschrift: cınearte Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg. Redaktion: Peter Hartig (verantwortlich), Tel. 0951-2974 6955. Anzeigen: Michael WespBergmann (verantwortlich), Tel. 089-5529 8563. Redaktionsschluß ist vier Wochen vor Erscheinen der Ausgabe. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung. Namentlich gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion. Nachdrucke, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Gerichtsstand ist Bamberg. Es gilt die Anzeigenpreisliste 8 vom 1. Januar 2009. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Christoph Brandl, Jan Fedesz, Sabine Felber, Christoph Gröner, Connie van Opeln, Jim Rakete, Max Romero, Michael Stadler, Ian Umlauff, Carlo Vivari, Karolina Wrobel. Soundtrack bei der Erstellung dieser Ausgabe mit wehmütigem Blick zurück: Peter Fox »Stadtaffe« (Downbeat, B001ET225M); David Bowie: »The Best of« (K-Tel, BLP 81001); Pizzicato Five: »The Sound of Music‹ (Matador, 7567-92622-2). Layoutkonzept: Jana Cerno, www.cernodesign.de. Druck: Creo-Druck, 96050 Bamberg Vertrieb Einzelverkauf: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf
Foto: Sabine Felber
cınearte XL erscheint viermal jährlich und wird herausgegeben von Peter Hartig in Kooperation mit www.crew-united.com. Der Einzelverkaufspreis beträgt 5 Euro. Diese Ausgabe wird allen Mitgliedern der Filmberufsverbände BVK, SFK, BFS und BVB im Rahmen ihrer Mitgliedschaft ohne besondere Bezugsgebühr geliefert. Keine Haftung bei Störung durch höhere Gewalt. cınearte XL wird gefördert von der Kulturwerk der VG Bild Kunst GmbH, Bonn.
Liebe Leser, Na sowas – ein neuer Untertitel für unsere hübsche Zeitschrift? Wo elf Ausgaben lang »Magazin für Filmschaffende« prangte, heißt es nun »Magazin für angewandte Filmkunst«. Keine Panik: Innen ändert sich nichts (zumindest nicht mehr, als wir wollen). Auch diese Ausgabe ist wieder voll von Beispielen für die Sorgen und Freuden der Arbeit für gute Filme. Aber nach außen wollen wir schon ein wenig mehr Offenheit demonstrieren. Als eifriger Leser wissen Sie natürlich, daß cinearte xl nicht nur für für die Praktiker der Branche die erste Wahl ist, sondern für alle, die bewegte Bildgeschichten mögen und es ein wenig genauer wissen wollen – und damit nicht unbedingt den letzten Beziehungstratsch aus Bombay oder Hollywood meinen. Weg mit dem roten Teppich, her mit der Greenscreen! Ein Magazin für Filmschaffende sind wir trotzdem auch: In dieser Ausgabe startet unsere neue Kolumne, die wir dem dokumentarischen Film widmen. Ihr Autor Christoph Brandl ist selbst Dokumentarfilmer und stellt nun regelmäßig Trends und Diskussionen in diesem Genre vor. »Das wahre Leben« beginnt auf Seite 73. Mit dieser Ausgabe haben sich auch der Bundesverband Filmschnitt Editor (BFS) und der Bundesverband Beleuchtung und Bühne (BVB) für cinearte xl als Zeitschrift für ihre Mitglieder entschieden. Das freut uns und macht uns ein wenig stolz und dankbar. Also begrüßen wir alle neuen Leser – und zwar… …herzlichst, Ihr
3
xl012_O_Vorspann
18.06.2009
5:20 Uhr
Inhalt
Seite 4
012 | Juni 2009
12
Am Ort der Wahrheit Bei einem Praktikum geriet Sebastian Thümler in den Schneideraum und fand die Tür nicht mehr. Das hat er nun davon: den »Deutschen Filmpreis«.
22
In der Krisenzone Wenn’s beim Dreh in der Wüste ständig regnet, kann man schon mal verzweifeln. Und trotzdem durchhalten.
42
Melodien für Millionen Wer seinen Film so richtig groovy, funky oder schlicht fett klingen lassen will, merkt schon: Man braucht einen Berater. Nicht nur wegen des Musikgeschmacks.
48
Farbtupfer für die Dramaturgie Vor 15 Jahren erzählte Steven Spielberg eine völlig andere Geschichte aus dem Holocaust. Vor dem Happy End schilderte er gnadenlos den langen Weg in die Vernichtungslager.
58
Heimatfilmer Von wegen, an der Küste ist es nur flach und kühl! Wenn die Filmgemeinde vom Norden schwärmt, schauen wir gerne noch mal genauer hin.
82
Der Geldsucher von Schwabing Vor einem Jahrhundert hat München geleuchtet. Marc Rothemund weiß auch, warum. Deshalb würde er gerne einen Film über die Dame drehen.
Dem Regisseur Detlev Buck gefällt es im Norden. Klar, da kommt er ja auch her. Aber vor der Kamera von Jim Rakete fand er doch noch einen Grund mehr.
Foto: Jim Rakete
4
xl012_O_Vorspann
18.06.2009
5:20 Uhr
Vermischtes 03 03
Zum Geleit Impressum
06 08 10
Produktion Technik Weite Welt
37 73 77
Auf der Couch Das wahre Leben Gesetze der Serie
87 88 90 92 93 94 97 98
Letzte Bilder Vorspann Mein Arbeitsplatz Statistik Lexikon Lesen – Sehen – Hören Tip 5 Rätsel
Seite 5
xl012_O_Vorspann
18.06.2009
5:20 Uhr
Seite 6
Vorspann | Produktion
cınearte
Miniaturkunststück
6
Das sieht nach großem Unglück aus, aber keine Sorge: Hier ist nur eine alte Filmkunst am Werk. Im Vordergrund bringt gerade Emilio Ruiz del Río letzte Pinselstriche an, um die Illusion einer zerstörten Fassade perfekt zu machen. Rechts neben ihm ist ein Teil des Gerüsts zu erkennen, auf dem das Vorsatzmodell sitzt. Durch die entsprechende Kameraperspektive paßt sich das Modell millimetergenau in den Hintergrund ein. Die Einstellung entstand im Sommer 2007 für Die Frau des Anarchisten. Das Bürgerkriegsdrama von Marie Noelle und Peter Sehr läuft zur Zeit im Kino. Für Ruiz del Río war es die letzte Arbeit. Kurz nach den Dreharbeiten war er mit 84 Jahren gestorben. Bis dahin hatte er an über 500 Filmen gearbeitet: Spartacus etwa, Lawrence von Arabien, Patton und vieles andere aus den Sechzigern, als Spanien ein beliebter Drehort für Monumentalproduktionen war. Auch danach blieb er gefragt, etwa von David Lynch für Dune oder zuletzt Guillermo del Toro für Pans Labyrinth. Der Modellbauer hatte nämlich seine Filmkunst vorangebracht wie kaum ein anderer und selbst das Prinzip der Seeschlacht im Film revolutioniert: Statt der üblichen Wasserbecken im Studio ließ er eines vor echtem Meeresblick so anlegen, daß der Beckenrand nicht zu sehen war und die Wasserfläche scheinbar nahtlos in den Horizont übergeht. Die neue Technik hatte aber auch dieser Szene noch etwas beizusteuern. Für den realistischen Eindruck wurden am Rechner noch Feuer im Dachstuhl gelegt, Rauch und Qualm eingesetzt und schuttschaufelnde Menschen in die oberen Stockwerke der Ruine integriert. Das übernahmen die Postproduzenten bei Pictorion das Werk, wo insgesamt 70 Effekteinstellungen für Die Frau des Anarchisten bearbeitet wurden. c
Foto: Pictorion das Werk
XL 012
xl012_O_Vorspann
c覺nearte
18.06.2009
XL 012
5:20 Uhr
Seite 7
Vorspann | Produktion
7
xl012_O_Vorspann
Vorspann | Technik
8
Foto: Bavaria Film
18.06.2009
5:21 Uhr
Seite 8
c覺nearte
XL 012
xl012_O_Vorspann
cınearte
18.06.2009
XL 012
5:21 Uhr
Seite 9
Vorspann | Technik
Einmalige Kulisse So anpassungsfähig ist keine Fluglinie. Als breiter Transatlantik-Jet oder schmale Kurzstreckenmaschine kann die »Bavaria« eingesetzt werden – mit Business- und Economy-Klasse, Küche, Toiletten und einem »vollfunktionsfähigen« Cockpit. Einziger Schönheitsfehler: Fliegen kann das wandlungsfähige Wunderwerk nicht. Das soll es aber auch gar nicht, sondern Filmteams die Arbeit erleichtern. Im März hatten die Bavaria Studios in Geiselgasteig bei München ihre neue Kulisse vorgestellt, die ein alltägliches Problem lösen soll: Ein Wochendendtrip mit dem Flieger nach London mag billig zu haben sein, wenn er im Drehbuch steht, kann er schnell jedes Budget kippen. Erst recht, seit die Sicherheitsauflagen so streng geworden sind. Und mal ganz abgesehen davon, wo eigentlich die Kamera stehen soll, wenn in einem echten Flugzeug gedreht wird. Darum setzt die Bavaria für die feste Kulisse auch auf ein flexibles System: Der 28,5 Meter lange Passagierraum besteht aus jeweils 6 mal 2 Meter großen Modulen, die beliebig kombiniert werden können. Sitzreihen und Außenpanele können verschoben oder demontiert werden – das erlaubt selbst in den bespielbaren Toiletten besondere Kameraperspektiven und Lichtsetzung. Dem Nachbau der Innenausstattung war ein halbes Jahr Recherche und Planung vorangegangen, echte Flugzeugteile wurden besorgt, Kabinenbeleuchtungen, Anzeigen und Acht-Zoll-Monitoren funktionieren, wie es jeder Passagier kennt. Auf das Cockpit ist man besonders stolz, weil hier durch Simulatortechnik realistische Flugaufnahmen möglich seien. Das Cockpit kann wahlweise an die restliche Kabine angedockt werden oder alleine vor einer Greenscreen zum Einsatz kommen. Eine halbe Million Euro hat sich die Bavaria ihr Modellflugzeug kosten lassen. c
9
xl012_O_Vorspann
Vorspann | Weite Welt
10
Foto: Nina Paley
18.06.2009
5:21 Uhr
Seite 10
c覺nearte
XL 012
xl012_O_Vorspann
cınearte
18.06.2009
5:21 Uhr
Seite 11
Vorspann | Weite Welt
XL 012
Freie Kultur Die wilde Symbolik des Trickfilmbilds könnte Nina Paley heute ganz anders deuten, als sie ursprünglich gedacht hatte. Aber der Reihe nach: Ihr Mann war nach Indien gegangen und hatte per EMail mit ihr Schluß gemacht. Die Trickfilmerin vergrub sich in das Ramayana und machte dann ihren ersten Film daraus, indem sie die Geschichte des Mädchens Sita aus dem alten indischen Nationalepos mit ihren neuen Erfahrungen kombinierte. Das gestaltete Paley konsequent als Kultur-Mix: Die 2D-Computergrafik lehnt sich ästhetisch gleichermaßen an klassischer Rajput-Malerei, populärer Gebrauchsgrafik und modernen amerikanischen Comics an, versehen ist das Ganze mit einem Score aus modernen Sitar-Klängen und Liedern der Jazzsängerin Annette Hanshaw aus den 1920er Jahren: Sita Sings the Blues begeisterte auf vielen Festivals. Und da begann Paley Problem. Zwar nicht mehr die Aufnahmen von Hanshaw, aber Text und Noten sind auch nach 80 Jahren noch urheberrechtlich geschützt – 220.000 US-Dollar wären für die Nutzungsrechte zu zahlen. Für 50.000 Dollar konnte Paley schließlich ihren Film wenigstens legalisieren und eine begrenzte Auflage von 4.999 DVD pressen lassen. Paley war seither im Glauben ans Urheberrecht erschüttert. Teuer wurde die Sache nämlich nicht durch etwaige Urheber, sondern Rechteinhaber wie Warner und Sony. So wurde die Künstlerin zu einer Vorreiterin des »Creative-Commons«-Gedanken von der Kultur als Allgemeingut: Seit März singt Sita im Internet als Videostream und wartet darauf, kostenlos heruntergeladen zu werden. Spenden sind freilich willkommen: »Das alte Geschäftsmodell von Zwang und Wucher versagt«, meint Paley. »Neue Modelle entstehen, und ich bin froh, ein Teil davon zu sein.« c
11
xl012_A1_Int_Thümler
Interview | Sebastian Thümler
17.06.2009
21:47 Uhr
Seite 12
cınearte
XL 012
Foto: privat
12
xl012_A1_Int_Thümler
cınearte
17.06.2009
21:47 Uhr
Seite 13
XL 012
Interview | Sebastian Thümler
13
…befindet man sich im Schneideraum, glaubt Sebastian Thümler. Der Editor wurde Ende April mit dem »Deutschen Filmpreis« ausgezeichnet.
Interview Karolina Wrobel
Herr Thümler, Sie haben dieses Jahr für ihre Montage des Films Chiko den »Deutschen Filmpreis« erhalten. Es ist eine der wenigen Auszeichnungen hierzulande, die dieses Filmgewerk herausstellt. Eine weitere wird im Rahmen des Deutschen Kamerapreises vergeben, und da wählten Sie als Jurymitglied gerade zum zweiten Mal die Nominierten aus. Wird der Schnitt unterschätzt? Der Schnitt, die Montage, ist eigentlich unsichtbar. Die erbrachte Leistung ist demzufolge sehr schwer zu sehen. Ich merke, daß es mir so geht, wenn ich eine Montage beurteilen soll, die ich nicht selbst geschnitten habe. Es ist wahnsinnig schwer, sich da reinzudenken. Es braucht viel Zeit und Distanz um zu erkennen, was da eigentlich gemacht wurde. Jetzt war ich ja gerade in der Fernsehfilm-Jury. Da fielen mir Filme auf,
xl012_A1_Int_Thümler
17.06.2009
21:47 Uhr
Seite 14
Interview | Sebastian Thümler
cınearte
XL 012
Chiko ist in seiner Montagesprache schnörkellos: keine Blenden, keine Parallelmontagen. »Die Schnitte gehen im Prinzip fast immer linear nach vorne«, erklärt Thümler. Sein größtes Anliegen war, daß die Zuschauer die kriminelle Hauptfigur (gespielt von Denis Moschitto) genug mögen, um 90 Minuten mit ihm im dunklen Kinosaal zu verbringen.
stimmte Filmsprache erwartet. Das können dann wunderbare Filme sein, aber wir sollten ja, wie es in der Anmeldung heißt, »richtungsweisende Montageverfahren« nominieren. Es gibt natürlich auch mutige und experimentierfreudige Redaktionen, aber die Filme, die auf diesen Sendeplätzen entstehen, werden leider oft in der Kategorie »Kinospielfilm« eingereicht – was ich übrigens für einen Fehler halte. Warum halten Sie das für einen Fehler? Weil ich glaube, daß es gute, kleine, vom Fernsehen koproduzierte Filme gibt, die vielleicht bessere Chancen in der Kategorie »Fernsehfilm« haben. Bei den Kinofilmen ist die Konkurrenz härter. Der Debütfilm Weitertanzen etwa lief auf den Hofer Filmtagen und wurde bei uns als Fernsehfilm eingereicht – und das hat ja dann auch zur Nominierung geführt. Hört man da heraus, daß Fernsehfilme »minderwertiger« sind? In der Kategorie »Kino« werden Filme eingereicht, die mit viel Geld, Aufwand und Zeit produziert
»Der Schnitt ist eigentlich unsichtbar. Die erbrachte Leistung ist sehr schwer zu sehen. Ich merke das, wenn ich eine Montage beurteilen soll, die ich nicht selbst geschnitten habe. Es braucht viel Zeit und Distanz um zu erkennen, was da eigentlich gemacht wurde.«
Fotos: Falcom
14
in die vom Editor viele Ideen eingebracht wurden – viele auffällige Schnitte, Montagesequenzen – und ich hatte den Eindruck, das sieht gut aus und ist auch handwerklich toll gemacht. Aber es ist nicht im Dienste der Figur, der Spannung und der Erzählung. Obwohl das ein fantasievoller und gut gemachter Schnitt ist, kann er noch immer kontraproduktiv sein. Und dafür würde ich dann keine Nominierung aussprechen. Leider waren aber viele der Fernsehfilme sehr gewöhnlich, was am Format liegt. Warum ginge es beim Fernsehspiel nicht mutiger, unkonventioneller? Das liegt glaube ich daran, daß viele der uns eingereichten Fernsehfilme in einem bestimmten Programmschema entstanden. Ein Tatort ist ein Tatort und hat einen bestimmten Ablauf – und der ist nun mal gleich. Das kann auch gar nicht anders sein, weil der Zuschauer das jeden Sonntagabend auch so will. Von diesen fest formatierten Programmplätzen gibt es aber viele. Auf einem Sendeplatz, einem mit viel Gefühl, wird eine be-
xl012_A1_Int_Thümler
cınearte
17.06.2009
21:47 Uhr
Seite 15
XL 012
werden. Dieses Jahr war zum Beispiel Der BaaderMeinhof-Komplex nominiert. Das ist eine starke Konkurrenz. Im Fernsehen erleben wir diesen Einsatz höchstens bei den sogenannten Event-Filmen. Das sieht man ihnen auch an. Ich schildere nur meine Eindrücke. Aber mit einem kleineren Budget ist es nun mal schwieriger, große Bilder herzustellen. Ist der Kinofilm tatsächlich die Königsdisziplin, wie viele meinen? Diese Einstellung soll es geben. Kann das Kino vom Fernsehen lernen? Wenn wir unbedingt zwischen Fernsehen und Kino unterscheiden wollten, dann habe ich es bisher so empfunden, daß die Arbeit am Kinofilm von einer größeren Genauigkeit geprägt war. Erst recht gegenüber der Fernsehreihe oder gar -serie, wo der Sendetermin drängt oder die Mittel ausgeschöpft sind und das dann halt so reichen muß. Andererseits finde ich aber gerade in dokumentarischen Formaten eine andere Art, mit dem Material umzugehen – mehr Freiheit und Frechheit. Da entstehen spannende Dinge, die man mitnehmen könnte für den Film. Und es ist ganz erfrischend, mal auf Youtube zu schauen. Zwischen dem Dilettantismus zeigt sich eine Art, wie man auch Filme machen kann. Da sehe ich echte Neuerungen. Der Actionreißer Crank 2 etwa ist wie ein Beitrag auf Youtube gestaltet. Die Bildgestaltung ist aus dem Reich der Film-Nerds geklaut und fürs Kino adap-
Interview | Sebastian Thümler
tiert. Das sieht zum Teil richtig billig aus. Ist aber clever eingesetzt. Sie arbeiten für Kino und Fernsehen. Wie unterscheidet sich da ihre Arbeit, die Erzählweisen? Es gibt da einen Satz, den ich mag: Kinos soll aufregen, Fernsehen soll beruhigen. Es gibt zwar experimentelle Sendeplätze, aber die Primetime hat nicht den Anspruch, die Zuschauer zu verstören. Das Kino versucht eher mal, in Extreme zu gehen. Wobei freche TV-Formate eher im Dokumentarischen zu finden sind als im Spielfilmbereich. Wie beurteilt man einen »guten Schnitt«? Oje… Wie macht man das? Man versucht, sich die Mittel, die er einsetzt, bewußt zu machen und beurteilt, ob das im Sinn des Films ist. Es hilft nichts, etwas zu machen, das toll aussieht, aber nicht zur Geschichte paßt. Das Schlimme ist, daß man das Wesentliche beim ersten Mal immer übersieht. Weil ein guter Schnitt sich unsichtbar macht. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, zu beurteilen, was am Werk vom Editor kommt. Und dann stellt man sich Fragen: Wie versucht er zu erzählen? Welche Tonart schlägt er an? Ist der Schnitt schnell, stark an der Hauptrolle? Warum nicht? Gibt es nur Totalen? Wo sind die Erzählschwerpunkte? Die Stimmung soll vermitteln, daß der Editor sie bewußt herangeführt hat. Wie lange wird die Spannung aufgebaut, bis Auflösung kommt? Wie ist die Haltung zum Material? All das versuche ich zu beachten, wenn ich in der Jury sit-
15
17.06.2009
21:48 Uhr
Interview | Sebastian Thümler
16
ze. Aber es ist immer wahnsinnig wolkig. Letztlich geht es darum, wie jemand Schnitt und Kamera in den Dienst der Geschichte stellt. Ich glaube nicht, daß ein schlechter Film gut geschnitten sein kann. Ein Schnitt muß den Film gut machen. Und eine guter Film sollte nicht langweilen – zumindest nicht unabsichtlich. Wenn er langweilt, hat der Schnitt versagt. Das ist eine klare Aufgabe. Die Montage ist für die Qualität eines Films also nicht unerheblich. Kann ein guter Schnitt einen Film sogar retten? Ja, hoffentlich. Es ist diese gewisse Magie im Schneideraum, die man nur schwer fassen kann. Es ist mir schon oft passiert, daß man spürt, die Szene funktioniert nicht, weil sie nicht richtig auf dem Punkt ist. Wenn man Glück hat – und Zeit – schafft man es, eine Szene so umzudrehen, daß sie plötzlich genau das ist, was der Film braucht. Das ist ein immenser Einfluß, den man hat. Es gibt natürlich kein Patentrezept. Aber es ist schon erstaunlich, wie stark sich Szenen im Film verändern können. Wenn man genau hinschaut, kann man auch spüren, welche Haltung der Schnitt in einen Film hineinbringt. Er kann komödiantische Elemente betonen, eine Figur ironisieren, er kann Gewalt härter oder weniger hart wirken lassen. Es ist eine große Kunst, die richtige Haltung zu dem richtigen Film zu finden und den Film dadurch am besten wirken zu lassen. Man hat ja so viele Möglichkeiten im Material, ein Editor hat viele Haltungen, die er gegenüber
Seite 16
cınearte
XL 012
seinem Film einnehmen kann. Wenn man allerdings die falsche einnimmt, wird das eben nicht der bestmögliche Film. Wenn ich dann zum Beispiel an Chiko denke, sind im Buch und dem mir später vorliegendem Material ganz verschiedene Interpretationen möglich. Da den richtigen Ton zu finden ist ein Prozeß, der im Schnitt und auch über die Zeit und in der Zusammenarbeit mit dem Regisseur entsteht. Auf welche Weise kann denn eine Geschichte bestmöglich erzählt werden? Ich bin relativ stark auf die Figur und das Schauspiel konzentriert. Ursprünglich habe ich ein Praktikum bei einer Werbefirma gemacht, bevor ich zur Ausbildung als Filmeditor gekommen bin. Da kam es oft darauf an, Bilderwelten zu kreieren, also Stimmungen und Images aufzubauen. Mit solchem Material wußte ich manchmal wenig anzufangen, denn mir fehlte die Geschichte. Wie ahnen Sie, welche Stimmung, Tonart Regisseur anschlägt? Das ist ja unser Beruf als Editor. Wir sind ja nicht einfach die Zuarbeiter des Regisseurs, sondern von uns wird erwartet, das Material richtig zu interpretieren, ihm zu helfen, seine Visionen umzusetzen. Und dazu brauche ich einen eigenen Kopf. Wenn der Regisseur das besser könnte, bräuchte man keinen Editor mehr. Mit den heutigen Schneidesystemen wäre das technisch und theoretisch ja ganz einfach selbst zu bewerkstelligen.
Fotos: Falcom
xl012_A1_Int_Thümler
xl012_A1_Int_Thümler
cınearte
17.06.2009
21:48 Uhr
Seite 17
Interview | Sebastian Thümler
XL 012
»Wir sind ja nicht einfach die Zuarbeiter des Regisseurs, sondern von uns wird erwartet, das Material richtig zu interpretieren, ihm zu helfen, seine Visionen umzusetzen. Und dazu brauche ich einen eigenen Kopf. Wenn der Regisseur das besser könnte, bräuchte man keinen Editor mehr. «
Und Regisseure lassen das zu, daß sie so eigenmächtig mit ihren Geschichten umgehen? Was sollen Sie machen? Beim Fernsehen ist es üblich, daß erstmal ein Rohschnitt gemacht wird. Die Zusammenarbeit beginnt dann. Wenn ich anschließend mit dem Regisseur zusammensitze ist das die spannendste Phase: Ihn zu neuen Ideen anzustiften… sich weiter in den Dialog zu begeben… was ist die Idee der Szene, wie kann das noch besser werden? Was ist mit der romantischen Vorstellung von Regisseur und Editor, die sich tagelang im Schneideraum einschließen, nicht mehr essen und trinken und gemeinsam am Werk feilen… Beim Fernsehen sitzt man erst mal alleine am Film. Ich hörte, daß zum Beispiel Hansjörg Weißbrich und Hans-Christian Schmit die Muster gemeinsam ansehen; dann montiert Weißbrich alleine und anschließend wird das besprochen. Dazu braucht man aber auch die Zeit. Bei Chiko haben wir so gearbeitet. Wie verlief der Prozeß in diesem Fall?
Es gab einen Rohschnitt ohne Özgür Yildirim, den Regisseur. Parallel zum Dreh. Danach sind wir mit sehr viel Zeit den kompletten Film durchgegangen, haben uns die Muster gemeinsam angesehen, jede Szene noch mal zum Teil wirklich neu geschnitten. Der Film ist in seiner Sprache, was den Schnitt angeht, ziemlich schnörkellos. Er ist nicht verspielt – da sind keine Blenden, keine Parallelmontagen, es wird keine Filmmusik eingesetzt. Die Schnitte gehen im Prinzip fast immer linear nach vorne. Es gibt auch keinen assoziativ eingesetzten Schnitt, nichts Symbolhaftes. Es passiert, was passiert. Klar und direkt. Das ist das, was wir im Schnitt entwickelt haben. Diese Haltung war recht schnell klar, als wir zusammengesessen haben. Dann haben wir überlegt, wie wir diese Aggression, diese Härte dimensionieren. Ich hatte zum Beispiel starke Bedenken, daß man diese Hauptfigur nicht besonders mag: den Chiko. Und so haben wir uns im Schnitt sehr intensiv damit beschäftigt, wie bereit man ist, mit dieser Figur 90 Minuten des Films durchzugehen. Eigentlich war
Es ist schon erstaunlich, wie stark sich Szenen verändern können. Der Schnitt kann komödiantische Elemente betonen, er kann Gewalt härter oder weniger hart wirken lassen, und eine Figur völlig neu erfinden, erklärt Thümler. »Es ist eine große Kunst, die richtige Haltung zu finden und den Film dadurch am besten wirken zu lassen.«
17
xl012_A1_Int_Thümler
17.06.2009
21:48 Uhr
Interview | Sebastian Thümler
Seite 18
cınearte
XL 012
»Eine gute Leistung zu bringen, ist das eine. Das andere ist, an die Jobs zu kommen. Das geht über Kontakte. Die Filmhochschule ist ein sinnvoller Ort, die zu knüpfen.«
verfälscht, wenn man bei der Aufnahme dabei ist. Das ist nicht gut für meine Arbeit, auch wenn es schön ist, wenn man mit Team-Kollegen am Set zusammentrifft. Macht es einen Unterschied, auf welcher technischen Grundlage Sie den Film schneiden? Mitunter prallen da sehr unterschiedliche Positionen aufeinander, ich denke da nur an den Glaubenskrieg, ob man auf Film schneidet oder auf einem digitalen Schnittsystem. Heute ist das Geschichte, weil praktisch keine Filme mehr am Steenbeck, also am Filmschneidetisch, montiert werden. Aktuell stellt sich die Frage, ob die Arbeit an unterschiedlichen digitalen Schnittsplätzen also Avid, Final Cut, Premiere... unterschiedliche Filme hervorbringen. Im Prinzip geht es ja darum, ob es mit unterschiedlichem Werkzeug auch unterschiedliche Filme werden. Und ich persönlich glaube daran, daß mit unterschiedlichem Werkzeug auch unterschiedliche Filme entstehen. Wenn ich auf einem Avid schneide, bekomme ich einen anderen Film als am Filmschneidetisch. Das liegt an dem anderen Zugriff auf das Material. Bestimmte Werkzeuge bringen auch bestimmte Ideen hervor, denn
>> Zur Person. Sebastian Thümler hatte während eines Schülerpraktikums zum ersten Mal die Finger am Schneidetisch. 1986 war das im Schneideraum der Cinecentrum. Seitdem hat er sämtliche Arten, die bewegten Bilder zu einer Geschichte zu montieren, ausprobiert und nach einer Cutterassistenz bei VCC in Hamburg die Cutterausbildung beim NDR durchlaufen. Seit 2002 unterrichtet er selbst – zuerst am Aufbaustudiengang Film der Universität Hamburg (heute Teil der Media School) und dann an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Als freier Editor betreute er Serien und Fernsehspiele für verschiedene Sender. Der Kinospielfilm Ganz nah bei dir (Regie: Almut Getto), den Thümler montiert hatte, erhielt im Januar den Publikumspreis auf dem Max-Ophüls-Festival ins Saarbrücken. Beim »Deutschen Kamerapreis«, der auch Kategorien für den Schnitt hat, saß der Editor zweimal in der Auswahl-Jury, in diesem Jahr erhielt er selbst die offiziell höchste Auszeichnung des Landes für sein Filmgewerk: Für das Gangsterdrama Chiko gab es den »Deutschen Filmpreis«.
Fotos: ABP Roman Babirad
18
es mein Hauptanliegen – vom Anfang bis Ende. Wir erleben den Film aus einer Perspektive, und das macht ihn ja so außergewöhnlich, die uns eigentlich fremd ist. Es ist ein Milieu, das man normalerweise nicht kennt. Hatten Sie mal Ärger mit dem Kameramann? Es soll ja Bildgestalter geben, die die Schnittmeister als ihre natürlichen Feinde betrachten. Es ist schon komisch, wie wenige Kameraleute man im Schneideraum trifft, wo wir doch von deren Bildern leben. Und schade, daß so ein relativ geringer Austausch stattfindet, denn es ist interessant, welch anderen Blick sie haben. Der Kameramann beklagt, daß diese eine tolle Kranfahrt nicht drin ist – dem Editor geht es darum, nicht einzelne Momente leuchten zu lassen. Sind Sie selbst am Set? Bei jedem Film einmal, um Hallo zu sagen, aber auf keinen Fall öfter. Ich merke, daß ich danach den Film anders sehe. Ich habe die Stimmung mitgenommen, das gesamte Umfeld und stehe nicht mehr neutral dem Material gegenüber. Das ist ein unangenehmes Gefühl. Der erste Eindruck, den ein Muster hinterläßt, ist nämlich der wichtigste Moment, eines der wertvollsten Dinge. Er wird
xl012_A1_Int_Thümler
cınearte
17.06.2009
21:48 Uhr
XL 012
Seite 19
Interview | Sebastian Thümler
durch die Zugänglichkeit des Materials gestaltet sich der kreative Prozeß anders. Zum Beispiel habe ich die Möglichkeit, beliebig viele Tonspuren während des Schnitts zur Verfügung zu haben. Am Schneidetisch gab es nur zwei Tonspuren. Es ergibt sich eine viel komplexere Komposition zwischen Ton und Bild. Früher mußten alle Zwischenschritte, die mehr Töne beinhalteten, abgemischt werden, jede Veränderung mußte im Tonstudio stattfinden. Das ist die alte Schule am Filmschneidetisch – obwohl man auch hier vieles machen konnte. Man hat immer lange und gründlich überlegt, was man eigentlich will und sich dann entschieden. Der Schnitt, der findet hier ja noch phy-
Dank für gelungene Mühen: Die Arbeit an Chiko brachte Thümler in diesem Jahr den »Deutschen Filmpreis« ein – und den Applaus der Schauspielerin Anna Loos im Hintergrund.
sikalisch statt, im digitalen System ist er virtuell. Da wird nichts verändert. Insofern kannst Du einen Schnitt im selben Take zweihundert Mal machen – immer, immer, immer wieder verändern, verändern, verändern. Im Film konntest du das letztlich nicht ernsthaft wollen. Und obwohl sich der Schnitt an digitalen Schnittplätzen ähnelt gibt es doch Unterschiede in der Software-Ergonomie, man denke nur an die unterschiedlichen Möglichkeiten bei Avid und Final Cut, Material in der Timeline zu bewegen. Ob der Unterschied gerade im Spielfilmbereich am Ende sehr groß sein wird weiß ich nicht. Aber ich frage mich, ob diesen Unterschieden bei der Neuanschaffung eines Schnittsystems, zum Beispiel in Sendeanstalten, genug Rechnung getragen wird. Sie haben am Rechner mit Avid gearbeitet, an der Videobandmaschine und am klassischen Filmschneidetisch. Was bevorzugen Sie? Den Avid, auf jeden Fall. Das ist ein hervorragendes Instrument, das man uns für unsere Arbeit an die Hand gegeben hat. Sie haben in der Praxis gelernt, jetzt lehren Sie an Filmhochschulen in Hamburg und Ludwigsburg. Was ist der Unterschied? Zu meiner Zeit gab es Filmmontage ja noch nicht in Ludwigsburg und Köln. Ich halte das für interessante Studiengänge. Vom eigentlich kreativen Vorgang habe ich im Aufbaustudium in Hamburg gelernt, wo ich viele Studentenfilme geschnitten habe. Ich habe in meiner Ausbildung viel über die technischen Hintergründe bis zum Kopierwerk gelernt. An den Filmschulen wird das Kreative
19
17.06.2009
21:48 Uhr
Interview | Sebastian Thümler
20
stärker betont. Wenn ich heute noch mal die Wahl hätte, würde ich sehr intensiv darüber nachdenken, an eine Filmhochschule zu gehen. Schon wegen des kreativen Austauschs mit anderen Studenten. Das war uns nicht möglich. Zudem entsteht da ein Netzwerk, das extrem wertvoll ist, gerade als Freiberufler. Denn eine gute Leistung zu bringen, ist das eine. Das andere ist, an die Jobs zu kommen. Das geht über Kontakte. Die Filmhochschule ist ein sinnvoller Ort, die zu knüpfen. Das dürfte ja jetzt kein Thema mehr sein. Anfang des Jahres hat Almut Gettos Spielfilm Ganz nah bei dir, den Sie montiert haben, den Publikumspreis auf dem Max-Ophüls-Festival gewonnen. Ende April haben Sie selbst für Chiko den »Deutschen Filmpreis« erhalten. Seitdem klingelt das Telefon wohl ohne Pause. Tatsächlich kam vorige Woche ein Angebot, umsonst einen Kurzfilm zu schneiden. Das fand ich
Seite 20
cınearte
XL 012
sehr schön, und vermutlich kam das durch die »Lola«. Man stellt es sich vielleicht so vor, daß dann wildfremde Leute anfragen, weil man gerade den bedeutendsten Filmpreis der Republik gewonnen hat. Aber so ist es nicht. Die Außenwirkung ist allerdings enorm – ständig werde ich von Freunden und Kollegen auf diesen Preis angesprochen. Und ich glaube, für viele der Leute, die ich eh schon kenne, ist es jetzt leichter mich gegenüber Sendern oder Produzenten als Editor für ihren Film durch zu setzen. Die technischen Formate ändern sich, doch eines bleibt unverändert – jeder Filmeditor braucht Erzählkompetenz. Sie selbst haben eine Weiterbildung an einer Drehbuchschule absolviert… Wie hat ihnen das in ihrer Arbeit genützt? Es ist schwer zu lernen, wie man einen guten Film schneidet. Dramaturgie im Spielfilm ist aber eine
»Wenn ich auf einem ›Avid‹ schneide, bekomme ich einen anderen Film als am Filmschneidetisch. Das liegt an dem anderen Zugriff auf das Material. Bestimmte Werkzeuge bringen auch bestimmte Ideen hervor.«
Fotos: Riva Film
xl012_A1_Int_Thümler
xl012_A1_Int_Thümler
cınearte
17.06.2009
21:48 Uhr
Seite 21
XL 012
Interview | Sebastian Thümler
Der Editor spricht gerne von der »Magie im Schneideraum«, obwohl er die Arbeit am Set nicht minder spannend findet, nur halt weniger magisch. Im Januar gab es den ersten Ruhm, als Almut Gettos Spielfilm Ganz nah bei dir auf dem Max-Ophüls-Festival den Publikumspreis erhielt. Montage: Sebastian Thümler.
Sache, die man lernen kann und lernen sollte – warum etwas im Film nicht funktioniert, und wie es funktionieren könnte. Die Kenntnis der Filmsprache kann da nur hilfreich sein. Mir hat Hark Bohm als Leiter des Filmstudiums in Hamburg da viel nahegebracht. Er ist jemand, der sich mit der Filmsprache auseinandersetzt, stark rationalisiert und auf die Gesetze verweist. Eigenartigerweise gibt es selbst nach mehr als hundert Jahren Filmgeschichte kein allgemeinverbindliches Curriculum, nach dem Schnitt unterrichtet wird. Wie sollte das aussehen? Wenn es um Dramaturgie geht, gibt es viele Bücher, Lehrsätze und Gesetzmäßigkeiten. Kameraleute lernen in ihrer Ausbildung Bildaufbau und wie Bilder wahrgenommen werden. Bei der Musik ist es ähnlich. Nur beim Schnitt heißt es meistens: Das machen wir aus dem Bauch heraus! Ein solches Lehrbuch sollte also ein Querschnitt aus den erwähnten Punkten sein – wie wird welche Wirkung erzielt? Ich kenne keines, das diesen Anspruch erfüllt. Und kommt mir jetzt nicht mit Eisenstein! Die Gesetzmäßigkeiten, die er schon in den 1920er Jahren beschrieben hat, gelten unbestritten immer noch. Aber er ist halt schwere Kost für Editoren. Doch ich war auch nicht an der
Hochschule. Ich nehme an, daß man sich dort mehr mit diesen Fragen auseinandersetzt. Aber da diese Studiengänge noch neu sind, hängt man hinterher. Und vielleicht ist das auch erst heute möglich, weil solch ein Werk wohl gar nicht als Buch funktionieren kann, sondern nur als DVD. Montage besteht aus Zeit und Bewegung. In dem Standardwerk Geschichte und Technik der Filmmontage etwa sind die Sequenzen in unzählige kleine Standfotos zerlegt – das reicht auch nicht. Man braucht bewegte Bilder, um es richtig darzustellen. Das ist jetzt erst möglich geworden. Wer sind Ihre Vorbilder? Vorbilder… Es gibt sicherlich Kollegen, die ich sehr schätze, Filme, die ich sehr bewundere. Auf jeden Fall Patricia Rommel, die ebenfalls für die »Lola« nominiert war: Im Winter ein Jahr ist grandios. Sie hat einen Umgang mit Raum und Zeit, der immer wieder gelingt: Sie versteht es, Emotionen zu montieren, und nicht nur auf die Bewegungsanschlüsse zu gucken. Ihr Schnitt hat eine besondere Leichtigkeit, das fällt mir an allen ihren Filmen auf. Ich wünsche mir, das auch mal so hinzubekommen. Aber so weit bin ich leider noch c nicht.
21
xl012_A2_Waffenstillstand
Produktion | Waffenstillstand
17.06.2009
16:17 Uhr
Seite 22
c覺nearte
XL 012
22
Was Helfer in Krisengebieten erleben. ist mehr als einen Film wert. Nicht weniger aufreibend ist die Geschichte, die sich dann ergibt. Einblicke in eine Produktion, die in die W羹ste ging.
Fotos: Drife Productions
In der
xl012_A2_Waffenstillstand
cınearte
17.06.2009
16:18 Uhr
Seite 23
Produktion | Waffenstillstand
XL 012
Mit allem hatte man gerechnet, nur nicht mit dem Wetter in Marokko. Der Innenhof in Erfoud war aufwendig für den Nachtdreh vorbereitet, der Boden mit Heizlüftern getrocknet, das Licht gesetzt, die Schauspielproben beendet. Dann kam der nächste Regenguß. Heute hat Produzent Florian Deyle wieder Sinn für Ironie und faßt die Zeit als »Trauma von Erfoud« zusammen.
23
Krisenzone
xl012_A2_Waffenstillstand
17.06.2009
Produktion | Waffenstillstand
Letzter Drehtag: In Berlin wurde das ehemalige Airport-Hotel am Flughafen Tempelhof f羹r einen Tag zum Korrespondentenquartier in Bagdad. Hannes Jaenicke (Mitte) spielt einen Nachrichtenkameramann im Krisengebiet. Hinter ihm gibt Regisseur Lancelot von Naso die letzten Anweisungen.
24
Fotos: Drife Productions
16:18 Uhr
Seite 24
c覺nearte
XL 012
xl012_A2_Waffenstillstand
c覺nearte
XL 012
17.06.2009
16:18 Uhr
Seite 25
Produktion | Waffenstillstand
25
xl012_A2_Waffenstillstand
Produktion | Waffenstillstand
17.06.2009
16:18 Uhr
Seite 26
c覺nearte
XL 012
Alle Fotos: Drife Productions, Sebastian Gerret und Marc Schmidheiny
26
xl012_A2_Waffenstillstand
cınearte
17.06.2009
16:18 Uhr
Seite 27
Produktion | Waffenstillstand
XL 012
27
Zum Glück war nicht jeder Höllenkreis, den das Team
In Casablanca wurden die aufwendigsten Action-Sequenzen
durchschreiten mußte, echt: Max von Pufendorf wird in
gedreht. Was natürlich Schaulustige anlockte. Die Polizei
der Maske für seinen Auftritt vorbereitet (oben links).
wollte nicht an jedem Drehort für die Sicherheit garantieren.
Als idealistischer Journalist begleitet er einen Hilfs-
Doch die marokkanische Serviceproduktion fand immer eine
transport – und gerät mitten in die Realität des Krieges.
Lösung (oben rechts).
Beim Dreh in der Nacht liegen die Nerven blank (unten links) – zuviel hat das Team schon durchgemacht, selbst die Ausweichpläne werden immer wieder durch neues Unvorhergehenes durchkreuzt.
xl012_A2_Waffenstillstand
17.06.2009
16:19 Uhr
Produktion | Waffenstillstand
Seite 28
cınearte
XL 012
28
Wenn Lancelot von Naso das Drehkommando »Action!« ausspricht, dann hört es sich nicht Englisch an. Er spricht es Französisch aus, betont auf der zweiten Silbe. Müde hört sich das an und angespannt zugleich – so, als ob er alle Kräfte mobilisiert und mit dem Kopf durch die Wand geht. Es ist der letzte Drehtag von Waffenstillstand, gefilmt wird am Flughafen Tempelhof in Berlin, und Lancelot von Naso ruft immer wieder »Actión!«. Danach sagt er »Das fand ich super!« und »Gleich nochmal!« Wieder und wieder: Der Regisseur geht auf Nummer sicher, will jede Perspektive für den Schnitt. Denn er hat mit seinem Debüt schon viele Drehtage erlebt, die in den Wüstensand gesetzt wurden. Hier läßt er nichts anbrennen: Augen auf den Videoschirm und durch. Die Hallen des geschlossenen Berliner Flughafens Tempelhof werden an diesem Tag zu Bagdad: Gedreht wird ein Briefing, wie es typisch war für die Zeit nach dem Einmarsch der US-Truppen im Irak, nach dem offiziellen Ende des Krieges. Ein US-Militärpressesprecher beharrt darauf, daß es sich bei einer Operation in Falludscha, 50 Kilometer westlich von Bagdad, um eine »Limited Police Action« handelt. Dabei sind schon 5.000 Soldaten in der Stadt, kontert ein Journalist. Kein Kommentar, heißt die trockene Antwort. »Gleich nochmal«, sagt Naso. Der Pressesprecher seufzt. Es ist der 22. März 2009 – fast genau fünf Jahre nach dem ersten Versuch der US-Armee, die Stadt Falludscha zurückzuerobern. Waffenstillstand ist eine Geschichte über Helfer, die in dieser Zeit im Krisengebiet sind, über Westler, die sich wegen des Kicks, wegen Geld, oder einem ausgeprägten Altruismus selbst in Gefahr bringen – ob als Ärzte, Journalisten oder Glücksritter. Waffenstillstand handelt auch von der medialen Wahrnehmung des Krieges, wie Nachrichtenbilder entstehen und was von ihnen übrigbleibt. Naso dreht den ersten deutschen Irak-Film. Drinnen gibt es wieder eine Aufnahme, vor der Tür steht Hannes Jaennicke, der seinen Drehtag schon hinter sich hat. Er spielt den Kameramann Ralf, der mit dem jungen deutschen Journalisten Oliver unterwegs ist, den Max von Pufendorf jung
Fotos: Drife Productions
Text Christoph Gröner
xl012_A2_Waffenstillstand
cınearte
17.06.2009
16:19 Uhr
XL 012
Seite 29
Produktion | Waffenstillstand
29
Entspannung beim Nachsitzen: Bei der Rückkehr nach Marokko blieb Matthias Habich trocken. Zu den ursprünglich kalkulierten dreißig Drehtagen kamen sieben weitere hinzu – Nachdrehs in Marokko und Berlin, Resultat einer Serie von unvorhersehbaren Kleinkatastrofen. In Berlin inszenierte Lancelot von Naso (Foto links, mit David Michael Williamson) die Pressekonferenz der US-Armee.
xl012_A2_Waffenstillstand
17.06.2009
16:19 Uhr
Seite 30
Produktion | Waffenstillstand
und idealistisch spielt. Beide treffen auf Kim (Thekla Reuten), die holländische Mitarbeiterin einer NGO, einer jener »Nichtregierungsorganisationen«, die zusammen mit dem französischen Arzt Alain (Matthias Habich) einen Hilfstransport in ein Krankenhaus in der Kampfzone plant. Es herrscht für wenige Stunden Waffenruhe. Gerade Ralf hält nichts von dem Plan, ein notorischer Pessimist. Schön, daß Jaennicke hier nicht als Haudrauf besetzt ist, obwohl er sportlich wirkt. In der Rolle, mit der Kamera stets auf der Schulter, hat ihm das geholfen. Die Freundschaft zu echten Kriegsreportern, deren Gemeinschaft er den den »BangbangClub« nennt, hat ihm geholfen. »Es gibt da völlig unterschiedliche Typen: Die Vollalkoholiker, die Cowboys, die Engagierten und die bitteren Zyniker«, sagt er über die Reporter. Und welchen Typ spielt er in dieser Rolle? »Meine Figur ist zynisch, weiß aber genau, wie weit sie
cınearte
XL 012
gehen kann. Und dann läßt sich mein Charakter von Oliver einen Schritt zu weit treiben. Ein Schicksalsschritt.« Zwischen 30-Sekunden-Aufnahme und Hotel liegt für die Journalisten die dauernde Gefahr. Und ein bißchen war das auch so mit den Dreharbeiten zum Film: Bis der Tag nicht vorüber war, konnte keiner sagen, was passiert. »Manchmal hat man das Glück der Tüchtigen. Bei uns war das nicht so«, lacht Jaennicke. »Es hat durchgeregnet – in der Wüste! Das hat den ganzen Dreh sehr schwer gemacht. Aber ich denke, es hat sich gelohnt.« Naso und seine Produzenten Martin Richter und Florian Deyle von Drife haben intensiv für den Stoff recherchiert. Das Drehbuch schrieben der Regisseur, Kai Uwe Hasenheit und Collin McMahon, der Erfahrung als Kriegsreporter auf dem Balkan hat. Um die Situation in Falludscha realistisch einzufangen, wurde auch der Tscheche Thomas Etzler eingehend interviewt, der als »Em-
Am Motiv in Salé war genaue Kadrage gefordert: In der Nähe standen die Laster einer US-Großproduktion.
Fotos: Drife Productions
30
xl012_A2_Waffenstillstand
cınearte
17.06.2009
16:19 Uhr
XL 012
Seite 31
Produktion | Waffenstillstand
bedded Journalist« für CNN den Einmarsch der US-Truppen im Irak erlebt hatte. Im Flughafengebäude dreht Naso weiter, man weiß nicht, ob ihm da noch einmal Gedanken an die letzten fünf Jahre durch den Kopf schießen. Dieser Drehtag – er wird noch bis Mitternacht gehen – ist nichts gegen viele Tage in Marokko, wo die Sets für das ausgebombte Falludscha gefunden wurden. Der schlimmste Moment läßt sich im Nachhinein kaum noch ausmachen, alle Beteiligten haben viel zu viele Anekdoten zu erzählen, die sich wild anhören, nach einer Filmproduktion in der emotionalen Krisenzone.
ach) von 1939 zeigten ja, daß es geht. »Für mich war es von Anfang an weniger ein Film über den Irakkrieg. Es geht um Mitteleuropäer in Krisengebieten.« Meist hört man nur von solchen Menschen, wenn sie entführt werden, wenn sie umkommen. Aber von Naso, der vor der Filmschule Politik studiert hat, geht es um das Engagement. »Das ist ein Lebensweg, der mich persönlich interessiert.« Wieviel bleibt vom Idealismus, wenn er auf engstem Raum, in einem Bus zusammengepfercht wird? Die Förderer teilten Nasos Enthusiasmus nicht. An der Kinokasse floppten zu der Zeit wieder deutsche Kinofilme mit Kriegsthematik, die Dreh-
Begonnen haben die Probleme schon 2004. Von Naso hatte mit seinen Kurzfilmen wie Fenstersturz oder The Tourist auf sich aufmerksam gemacht, mit Sinn für Timing und Alltagswahnsinn. Er wollte ein psychologisches Kammerspiel in einem Bus drehen, einen »modernen Postkutschenfilm«. Historische Beispiel wie John Fords Ringo (Stageco-
buchförderung blieb deshalb aus. Das Team schrieb es auf eigene Faust, aber auch für die Produktion ließen sich die Finanzierungslücken nicht schließen: Der Film stand vor seinem Drehbeginn schon vor dem Scheitern. Aber es ist auch typisch für Waffenstillstand, daß es immer wieder weiter ging, daß ein Zufall die Lösung brachte. So saß 31
Schönes Bild, leider anders geplant: Die Wüstentankstelle lag im Matsch. An den Dreh am Schlüsselmotiv war nicht zu denken.
xl012_A2_Waffenstillstand
17.06.2009
16:20 Uhr
Produktion | Waffenstillstand
Seite 32
cınearte
XL 012
Als »modernen Postkutschenfilm« hatte sich von Naso sein Langfilmdebüt gedacht. Hauptdarsteller sind deshalb auch drei weiße Kleinbusse. Die hatte man für Innen- und Außendreh aus Deutschland mitgebracht und entsprechend vorbereitet: Einer wurde mit
sich die Frage. Verrennt man sich oder nicht? Ein bis zwei Jahre schneller wären schön gewesen«, sagen die Drife-Produzenten Deyle und Richter. Sie haben das Projekt schließlich auf die Beine gestellt. Als dritter Koproduzent stieg die Erfftal-Produktion ein, das Projekt fand das Vertrauen des Redakteurs Lucas Schmidt vom Kleinen Fernsehspiel beim ZDF. Vom FFF Bayern kamen 300.000 Euro, vom Deutschen Filmförderfonds noch einmal 100.000 und Referenzmittel aus Kurzfilmproduktionen – insgesamt knapp 1,7 Millionen Euro. »Wir haben mehr privates Geld drin als Fördergeld. Das Gesamtbudget inklusive unserere Gagen, Team-
Fotos: Drife Productions
32
Naso im Herbst 2007 im Flieger nach Zürich und lernte Dario Suter kennen. Der hatte die OnlineCommunity »StudiVZ« mit aufgebaut, Geld zur Verfügung und Lust auf Neues: So gründete Suter mit seinen Freunden Christoph Daniel und Marc Schmidheiny kurzerhand die DCM Mitte Productions, und sie wurden Koproduzenten. Sie sagen, sie wollten einen »Crashkurs im Filmemachen«: Mit Waffenstillstand haben sie ihn dann auch bekommen – in der Wüste Marokkos. »Man geht nicht zu weit, wenn man sagt: Ohne DCM würde es diesen Film nicht geben«, gesteht Richter. Wieso haben die Produzenten eigentlich nicht aufgegeben? »Wir haben an den Stoff geglaubt, Eigenkapital vorgeschossen. Natürlich stellt man
xl012_A2_Waffenstillstand
cınearte
17.06.2009
16:20 Uhr
XL 012
Seite 33
Produktion | Waffenstillstand
der Bohrmaschine mit Einschußlöchern versehen, ein anderer komplett mit einem Rig umbaut, um Licht und Kamera flexibel montieren zu können.
und Schauspielerrückstellungen beläuft sich um die zwei Millionen Euro«, erläutert Richter. Vor dem Dreh gab es weitere Herausforderungen: Wie bekommt man ein Team von gut beschäftigten Schauspielern einen Monat nach Afrika? »Sie für das fertige Buch zu begeistern, war kein Problem«, berichtet Florian Deyle. Zeit zu finden dafür um so schwieriger. Zwischenzeitlich war Heino Ferch für die Rolle des Kameramanns im Gespräch, am Ende wurde es Hannes Jaennicke, der sich auch nicht vom Reisestreß und seinen eigenen Dokumentarfilm-Projektenabhalten abhalten ließ. Für die Rolle flog er von Winnipeg nach Casablanca, dann direkt für einen weiteren Dreh nach Costa Rica. »Es war ein Abenteuer«, sagt er.
Aber er war dabei, bei der Fahrgemeinschaft von Bagdad nach Falludscha, in der die Realität des Krieges immer wieder in pointierten, bitteren Dialogen verhandelt wird. »Wir hatten ein großartiges und leidenschaftliches Team und wunderbare Schauspieler, die trotz der sehr harten Drehbedingungen sehr authentisch spielen«, sagt Deyle über das Schauspielteam, daß ab Anfang Oktober an Drehorten in Erfoud an den südlichen Ausläufern des Atlasgebirges sowie in Casablanca und dem naheliegende Salé vor der Kamera stand. Das Team nahm einiges Equpiment mit aus Deutschland und drei weiße Kleinbusse, die für Innen- und
33
xl012_A2_Waffenstillstand
17.06.2009
16:20 Uhr
Produktion | Waffenstillstand
Seite 34
cınearte
XL 012
Etwas ratlos stehen Matthias Habich und Thekla Reuten unterm Schirm in Erfoud. Wochenlang kämpfte die Produktion mit dem
Außendrehs vorbereitet wurden. Noch in Deutschland bekam einer der Wagen Einschußlöcher mit der Bohrmaschine verpaßt. Ein anderer wurde komplett mit einem Rig umbaut, um Licht und Kamera flexibel zu montieren. Gedreht wurde auf Super 16, dem »idealen Format«, wie Kameramann Felix Cramer sagt. Digitale Lösungen hätten die starken Erschütterungen, Wärme, Staub, und die ständige bewegten Aufnahmen wohl kaum ausgehalten. Im Auto war es immer wieder so voll, als ob es um einen skurrilen Rekord ginge – Regisseur, Kameraabteilung, Ton quetschten sich hinein. Und Felix Cramer schwang sich vorne auf die Motorhaube, um Aufnahmen zu machen. Das Team hatte mit allen Drehsituationen gerechnet, aber nicht mit einem ein Marokko, in dem es gegen alle Wahrscheinlichkeit immer wieder wie aus Kübeln goß. Vier Wochen lang kämpfte das Team mit dem Wetter. »Nach drei Tagen hieß es, 1965 habe es einmal so ein verregnetes Jahr ge-
geben«, erinnert sich Lancelot von Naso. Tage später gab es keinen Vergleichsmaßstab mehr. »Die Zeitungen in Europa schrieben schon von einer Wetterkatastrofe.« Und das Team plante Drehtag um Drehtag um. Die Crew wollte an einer Wüstenstraße drehen – sie war voller Pfützen. Eine Brücke war als Motiv ausgesucht – und brach unterspült ein. Ein entscheidender Drehort war eine Tankstelle in der Wüste – wenn man das Areal betrat, steckte man knietief im Schlamm. Plan A und Plan B, so Naso, funktionierten manchmal einfach nicht. »Bei einem C-Plan ist uns dann die Aufhängung für die Kamera am Auto weggebrochen. Also hatten wir Zeit zur neuen Motivsuche – Plan D.« Man fuhr hinter ein kleines Dorf zu einem möglichen Drehort und blieb mit dem Auto buchstäblich in der Scheiße stecken: Das Grundwasser war gestiegen und hatte die Kloake an die Oberfläche gespült. Am frühen Nachmittag wurde an diesem Tag doch noch gedreht, viel weniger als geplant. Produzent Florian Deyle faßt die Zeit ein wenig iro-
Fotos: Drife Productions
34
xl012_A2_Waffenstillstand
cınearte
17.06.2009
16:20 Uhr
XL 012
Seite 35
Produktion | Waffenstillstand
Wetter. Erst erinnerte man sich eine andere Regenzeit vor über 40 Jahren. Doch bald fehlte jeder Vergleich für die Klimakatastrofe. 35
nisch als »Trauma von Erfoud« zusammen. Als in der Nacht in den Souks der Stadt aufwendig ein Innenhof vorbereitet wurde, die Drehorte abgesperrt waren, der Boden mal wieder mit Heizlüftern abgetrocknet, das Licht gesetzt und die Schauspielproben beendet, kam genau zu Drehbeginn der Regenguß. Matthias Habich und Thekla Reuten standen ratlos unter einem Schirm. Daß an diesem Set einer der Beleuchter einen Unfall hatte, ist bezeichnend: Das Pech ließ die Filmemacher in dieser Zeit nicht los. Salé war später ein anderes Beispiel. Die Stadt hätte eine tolle Vorortszenerie für Falludscha sein sollen. Nur stand am Drehtag das Motiv plötzlich voll mit Lastern. Die US-Produktion Green Zone hatte sich eingemietet. Das deutsche Nachwuchsprojekt hatte keine Chance, gegen die Geldmacht anzukommen. Die Bilder mußten anders kadriert werden. Und Naso soll ziemlich geflucht haben. Ständige Improvisationen gehörten zu dem Dreh, und Menschaufläufe genauso. »Man kann so eine Produktion nicht klein halten«, erzählt Flo-
rian Deyle. Mit den Einheimischen, die Schaulustige abhielten, wuchs das Team schon mal auf 70 bis 140 Leute an. Die Produzenten gaben gelbe Klebestreifen aus, um die Mitarbeiter zu erkennen: »Die Aufkleber haben sich exponentiell vermehrt. Und die Klebstreifen wurden immer dünner«, lacht Koproduzent Christoph Daniel. »Es waren schon extreme Bedingungen, aber immer noch kontrolliert«, ergänzt Florian Deyle. Richtig gefährlich wurde es selten, auch wenn bei manchem Dreh in einem Armenviertel die Polizei nicht mehr für die Sicherheit garantieren wollte. Als einmal eine Kinderschar nicht für den Film, sondern am Set Steine auf das Auto warf, wurde der Dreh unterbrochen. »Auch nach 28 Drehtagen mit viel Auflauf bekommt man es da noch mit der Angst zu tun«, sagt Deyle. Das Team, die Schauspieler hielten durch. Einmal allerdings erwischte Matthias Habich das Fieber, ein anderes Mal wurde Lancelot von Naso krank. »Ich habe noch von der Liege aus versucht,
xl012_A2_Waffenstillstand
17.06.2009
16:20 Uhr
Produktion | Waffenstillstand
Regie zu führen. Aber ich bin in die Knie gegangen. Da wird der Traum vom ersten Film zum Alptraum. Es gab schon viele Momente, in denen wir uns fragten, ob je ein Film daraus wird.« Einen davon gab es im November 2008, als klar wurde, daß das Engagement und die Fähigkeit zur Improvisation nicht reichen würden: Es kamen in den Drehwochen auch vier Negativschäden zusammen. Waffenstillstand konnte nicht abgedreht werden. Zum Glück aber war die Produktion versichert: das Team kehrte im Januar, kaum zwei Monate später, noch einmal zurück. Diesmal war es endlich trocken: Matthias Habich saß als französischer Arzt endlich an einer Wüsten-Tankstelle, die nach Wüste aussah – die letzten Außenmotive waren nach dreißig geplanten und sieben ergänzenden Drehtagen im Kasten.
36
Es fehlte nur noch der 22. März in Berlin. An diesem Tag liegt der Maghreb schon ganz weit entfernt. Rückblickend wird der Horror zum »tollen Erlebnis«. Martin Richter lobt die Serviceproduktion Kasbah Films, die unter schwierigsten Bedingungen immer wieder Lösungen fand, Christoph Daniel erinnert sich daran, wie herzlich die Menschen waren: »Die Leute haben uns beim Nachdreh wiedererkannt«. Der letzte Drehtag ist logistisch kein Problem mehr. Hannes Jaennicke freut sich auf das Resultat. »Es gibt in Deutschland entweder ›Berliner Schule‹ oder Schenkelklopfer. Wir brauchen auch ein Kino, daß intelligent unterhält.« Der Film befindet sich seitdem im Schnitt und der Postproduktion. Im Mai gab es einen ersten Rohschnitt vor kleinem Publikum in München. Es sei schon erstaunlich, wie nahe man doch noch am Drehbuch geblieben sei, sagt Naso. Hotel Ruanda und Im Namen des Vaters nennt der Regisseur als Orientierungspunkte: »Ich will intelligentes politisches Kino machen, ohne das Publikum zu verlieren.« Sein Film ist dramatisch, aber man sieht ihm sein inneres Drama, die ausgestandenen Kämpfe, kaum an. Statt dessen spürt man da eine Kraft in den Dialogen und »Chemie« zwischen den Schauspielern. Waffenstillstand verweigert sich einfachen dramaturgischen Kniffen; will tatsäch-
Seite 36
cınearte
XL 012
lich intelligent unterhalten. Der fünfjährige Weg des Films könnte noch zum Happy End führen. Der letzte Drehtag zeigt noch einmal, wieviel alle Filmemacher gegeben haben. Naso sagt später, er sei total übernächtigt gewesen. Er hat zwei Tage zuvor eine Tochter bekommen. Florian Deyle ist die ganze Zeit am Telefon: Die Kinder, die kurz vor Drehbeginn im Sommer 2008 zur Welt kamen, haben Ohrenschmerzen. Und Martin Richter ist auch Vater geworden in dieser Zeit. Alle knappsen sich Zeit von der Familie ab. Und Max von Pufendorf, der geduldig am Set steht, sagt: »Später kommen noch meine Eltern. Vielleicht.« Nicht, um ihm zum fertigen Dreh zu gratulieren: An der Catering-Station steht ein angeschnittener Kuchen. Das »Happy Birthday« ist kaum noch zu erkennen. Max von Pufendorf ist an diesem Tag 33 geworden. c
Waffenstillstand Deutschland, Schweiz 2009 Regie Lancelot von Naso Drehbuch Lancelot von Naso, Kai-Uwe Hasenheit, Collin McMahon Kamera Felix Cramer Szenenbild Annette Lofy, Oliver Hoese Kostüm Tina Sorge Maske Kerstin Gaecklein, Heiko Schmidt Montage Vincent Assmann SFX Supervisor Claudius Rauch Musik Jonas Bühler Ton Immo Trümpelmann, Martin Frühmorgen, Bastian Huber Sounddesign Immo Trümpelmann, Martin Frühmorgen Redaktion Lucas Schmidt, Barbara Häbe Setaufnahmeleitung Tilman Kolb Herstellungsleitung Martin Richter Produktionsleitung Rainer Jeskulke, Oliver Ratzer Produzenten Florian Deyle, Martin Richter, Philip Schulz-Deyle, Klaus Dohle Besetzung Uwe Bünker Darsteller Matthias Habich, Hannes Jaenicke, Max von Pufendorf, Thekla Reuten, Calvin Burke, Husam Chadat Produktion Drife Productions Koproduktion DCM Mitte Productions, Erfttal Film & Fernsehproduktion, Creado Film, König Invest Serviceproduktion Kasbah-films Tangier Drehzeit 28. September bis 8. November 2008 (Nachdrehs im Januar und Februar 2009), 22. März 2009 Drehorte Berlin, Marokko, Schweiz Format Super-16.
xl012_C1_Couch Trailer
cınearte
17.06.2009
16:32 Uhr
XL 012
Seite 37
Auf der Couch
Jungfrau, männlich… Wieder nichts zu kritisieren und zu viel Zeit: Stadler und Gröner suchen in der Kürze die Würze und entdecken dabei die Liebe als Wunsch und Vorstellung. 37
Text Michael Stadler und Christoph Gröner Die Schreibstube von Stadler und Gröner. Hormonelle Schwankungen. Gröner auf dem Sofa, Stadler am Computer. Stadler versucht sich an einer Kontaktanzeige. Stadler: Ich hab’s jetzt! Genial! Gröner: Laß hören. Stadler: »Filmliebhaber sucht nach einem Happy End.« Gröner: Zu schwülstig. Stadler: Hmm. »Ist dein Leben auch nur eine Projektion?« Gröner: Zu intellektuell. Stadler: »Bin ganz von der Rolle. Einsamer Filmkritiker sucht nach neuer Einstellung.« Gröner: Zu verzweifelt. Stadler: »Ticket für eine Spätvorstellung mit Überlänge zu vergeben.« Gröner: Falscher Film. Schreib doch einfach. »Jungfrau, 40, männlich sucht.«
Stadler: Stimmt doch gar nicht. Ich bin 41. Gröner: Das ist ein Filmtitel. Stadler: Das ist mein Leben. Gröner: Stadler, versuch’s doch mal mit der ehrlichen Nummer. Stadler: Gut. »Wohlsituierter Herr....« Gröner: Nein, nein, nein. Drei Jahrzehnte Filmkritik und du hast immer noch nichts gelernt. Stadler: Wie? Gröner: Ohne Versprechen kriegst du keine rum. Du brauchst einen richtig guten Trailer. Stadler: Einen Wohnwagen? Gröner: Quatsch. Dein Leben in 30 Sekunden. Los. Stadler: »Verhinderter Romantiker hat seit Jahren keine Frau mehr getroffen, dafür viele gesehen: Laß uns unseren eigenen Film leben. Ich kenne jeden Dreh.«
xl012_C1_Couch Trailer
17.06.2009
16:32 Uhr
Auf der Couch
38
Gröner: Stadler, keine Filmmetaphern! Stadler: »Netter Herr...« Gröner: Himmel! Stadler: Was? Gröner: Stell dir mal vor, man würde einen Trailer mit einem »netten« Bild beginnen, sagen wir, einem Pony auf einer grünen Wiese. Stadler: Schön… Gröner: Nein. Der Beginn muß knallen, selbst beim Arthouse-Trailer. Die beginnen oft mit einem Knalleffekt: Bumm! Eingerahmt in Lorbeerzweigen: Cannes, Wettbewerb 2008! Stadler: Bei welchem Wettbewerb war ich denn jemals dabei? Gröner: Na, letztes Jahr, Sackhüpfen in Bad Kroetz! Stadler: Da war ich Letzter. Gröner: Egal, die meisten Filme in Cannes gewinnen auch keinen Preis. Dabeisein ist alles! Stadler: Gut, also: »Ich, passionierter Sackhüpfer in Bad Kroetz...« Gröner: Stop! Geht doch nicht. Bad Kroetz ist nicht Cannes. (denkt nach) Bei vielen Arthouse-Filmen werden Kritiken eingeblendet. Der Trailer von Hunger etwa: ein Klavierton, dazu kurze Szenen aus dem Film, man versteht gar nicht, daß es um einen Hungerstreik in Irland geht. Inhalt egal, das Bild überzeugt. Und dazwischen zig Pressehymnen. Stadler: Wer hat mich denn jemals kritisiert? Gröner: Na ich! Ständig. Stadler: Positiv? Gröner (überlegt): Na, ich finde schon, daß du ganz…nett bist. Stadler (schreibt): »Netter Herr…« Gröner: Halt. Wir müssen das Beste aus dir rausholen. Bei Trailern zu Pixar-Filmen sieht man ja auch erst mal, was sie zuvor gemacht haben: »Von den Machern, die uns Findet Nemo, Das große Krabbeln und Wall-E gebracht haben, kommt nun ein neues Meisterwerk…« Stadler: Soll ich auf meine Eltern verweisen? Gröner: Vielleicht. Und auf deine Geschwister! »Von den Machern, die uns eine kräftige Zahn-
Seite 38
cınearte
XL 012
ärztin und einen rechtschaffenen Rechtsanwalt gebracht haben, kommt nun… Stadler: …ein Kritiker… Gröner: ...ein Mann, der besonders in dunklen Räumen aufgeht…« Stadler: Scharf. Gröner: Also gut, mach was Exzentrisches. Kubricks Dr. Strangelove! Schnelle Schnitte und zwischen den Bildern immer wieder Worte: »How – I – Learned – To – Love – The – Bomb.« Stadler (schreibt): Hallo. Ich. Will. Dein. Doktor. Strangelove. Sein. Ruf. Mich. An. Gröner: Das geht in die falsche Richtung, Dr. Strangestadler. Stadler: Ich glaube, Kubrick bringt uns nicht weiter. Gröner: Vielleicht doch. Diese Trailer sind wirklich kleine Kunstwerke. Als Signatur wurde beim Strangelove-Trailer sogar eine Fotografie von Kubrick hineinmontiert. Stadler: Hey! Ich könnte auch ein Bild von mir hinzufügen! Gröner: Ne, mach das nicht! Stadler: Wieso? Stille. Gröner: Naja, ein Trailer lebt vom Geheimnis, also vom Offenbaren und Verbergen, das flüchtige Bild macht neugierig…Ha, vielleicht sollten wir auch einfach einen Teaser schreiben! Der kitzelt mit Andeutungen bereits Monate vor der Fertigstellung des Films. Stadler: Aber ich bin fertig! Gröner: Bei Jurassic Park war einfach nur eine Stechmücke zu sehen, verewigt in einem Bernstein. Und eine Stimme erzählte, daß die DNA der Stechmücke zur Rekonstruktion der Dinosaurier verwendet wurde. Von den Dinosauriern nichts zu sehen! Die Fans lechzten nach dem ersten Dino-Bild! Stadler: Soll ich ein Kinderfoto von mir verwenden? Gröner: Vielleicht vom ersten Ultraschall? Stadler (grübelt): Wo kriege ich das jetzt her? Gröner (schnell): Hör mal, nur ein Bild reicht vielleicht doch nicht. So ein Trailer lebt ja auch
xl012_C1_Couch Trailer
cınearte
17.06.2009
16:32 Uhr
XL 012
Seite 39
bvkamera German Society of Cinematographers
von der Vielseitigkeit. Weißt du noch bei Vanilla Sky mit Tom Cruise? Da denkst du erst, es handelt sich um einen Liebesfilm, eine Dreieckskonstellation Tom Cruise-Cameron Diaz-Penelope Cruz. Bis dann in der Mitte ein Bruch kommt, Diaz dreht im Auto durch, Cruise steht allein in New York, Fantasy, Action, Spannung wird da plötzlich versprochen, man glaubt, daß in diesem Film alles möglich ist. Und dazu der Spruch: »Open your eyes!« Stadler (schreibt): »Öffne deine Augen! Ich kann Kritiken schreiben, Schach spielen und habe eine große DVD-Sammlung.« Gröner: Vergiß das Sackhüpfen nicht! Stadler: Und ich kann Blockflöte spielen! Das haben wir in der Schule gelernt. Gröner: Hmm, Musik ist auch wichtig. Aber hör mal, vielleicht solltest du hier eher zitieren. Man hört in Trailern oft auch Musik aus anderen Filmen. Der Lola-renntScore wurde schon in Trailern von Actionfilmen verwendet, in Die Bourne-Identität oder Hulk. Stadler: Oh ja, zitieren ist gut. Dann kann ich ja das Wort »muskulös« dazu schreiben – mit Anführungszeichen. Gröner: Genial, Stadler. Schreib doch auch »intelligent« mit Anführungszeichen. Stadler (wütend): Oder »gewalttätig«, demnächst auch ohne Anführungszeichen. Gröner: Mit einem hast du recht, Spätzünder. Zu viel Wahrheit schadet. Hauptsache, da steht das drin, was Männer und Frauen hören wollen. Nur eine Kuß-Szene im Film? Ist doch egal, rein damit. Das spricht die Frauen an. Stadler: Ich spreche Frauen nicht an. Gröner: Stadler, kannst du kochen? Stadler: Nee, weißt du doch. Aber ich mach mir gerne mal eine Fertigpizza. Gröner: Na also: »Stehe gerne in der Küche.« Machst du Sport? Stadler: Jeden Tag die zehn Stufen hier hoch und runter. Wahnsinn.
Berufsverband der Kameramänner und -frauen Lichtbestimmer - Coloristen - Grader - VFX Operator & Steadicam-Operator Kameraassistenten
bvkamera German Society of Cinematographers
Fachdiskussionen - Veranstaltungen Jour fixe in den Filmstandorten Beratung in Berufsangelegenheiten Camera Guide - Gagenrechner Webforum - Suchmaschine
bvkamera German Society of Cinematographers
Branchenpartner der Industrie VG Bild-Kunst - Kulturrat Fördergemeinschaft Filmtechnik Berufsverbände Cinec - CAMERIMAGE
bvkamera German Society of Cinematographers
Wir engagieren uns für die Zukunft des Berufsfeldes Interessiert? Bundesverband Kamera Brienner Straße 52 80333 München Telefon 089-34019190 www. bvkamera.org www.cameraguide.de
xl012_C1_Couch Trailer
17.06.2009
16:32 Uhr
Auf der Couch
cınearte
Gröner: »Trainiere täglich.« Stadler, ganz wichtig, was ist mit Kindern? Stadler: Ich gehe ihnen aus dem Weg. Gröner: »Keine Probleme mit Kindern.« Hast Du eigentlich irgendwelche Wünsche? Jeder Trailer sucht ja sein Publikum. Stadler: Ich will meine Unschuld verlieren. Gröner: Super, hör dir das an. »Hey, stehst Du auch gerne in der Küche? Ich gestalte mein Leben aktiv und habe keine Probleme mit Kindern. Na, Lust auf Kuscheln?« Stadler: Ja! *
40
Seite 40
Zwei Monate später. Stadler hat Antwort erhalten. Eine Antwort. Nervosität in der Schreibstube. Gröner: Wieso hast Du sie zu uns eingeladen? Stadler: Na, wir sind doch immer hier. Gröner: Und was stand in ihrer Kontaktanzeige? Stadler (liest vor): »Habe viel vom Leben gesehen und genieße es in vollen Zügen. Du brauchst mit mir die Stille nicht zu fürchten. Ich lache viel und gerne. Glaube an die einzig wahre Liebe. Bist du der Erste?« Was meinst du? Gröner: Ein Horrorfilm. Schnell raus hier! Es klingelt zweimal an der Tür. Stadler: Hoppla! Der Postmann. Gröner: Doch nicht um zwanzig Uhr. Das ist sie. Ganz still jetzt. Von draußen eine tiefe Stimme. Vermutlich weiblich. Stimme: Hallo? Ist da jemand? Stadler (flüsternd): Oh Gott, dabei klang ihre Anzeige samtweich. Gröner (flüsternd): Alter Trick. In Trailern verführen Voiceover-Artists mit ihrem Sound, im Film raspeln dann die Schauspieler.
XL 012
Stimme: Hallo? Herzprinz2009, bist du’s? Gröner: Herzprinz2009? Stadler: Schscht! Gröner: Wenn du dich jetzt rührst, bist du verloren. Stimme: Da ist doch jemand! Stadler und Gröner bewegen sich nicht. Es klopft. Schwere Schläge auf die Tür. Schließlich: Schritte entfernen sich. Gröner: Gott sei Dank! Stadler: Die ganze Schreiberei umsonst. Ich hasse Trailer! Gröner: Nein, nein, nein. Denk doch mal an unseren größten Helden. Stadler: Catweazle? Gröner: Nein. Godard. Gröner geht zum Bücherschrank, holt sich ein Buch, blättert. Gröner (liest vor): »Was ich zum Beispiel gern machen würde, sind Trailer. Aber an denen ist wieder das Dumme, das sie nur fünf Minuten dauern dürfen. Es sind kleine Filme, wo man sagt: Demnächst in diesem Theater…Für mich ist das der perfekte Film. Ich würde das im Grunde lieber machen als die Filme. Meine Trailer würden vier oder fünf Stunden dauern, das heißt, länger als der ganze Film, weil ich den Film lang und breit behandeln würde, den Sie sehen würden.« Siehste: Für Godard ist der Trailer wichtiger als der Film. Stadler: Und wenn sie doch was Tolles war? Gröner: Wer weiß. Stimme (von draußen): Ich weiß es. Ich bin wieder da, Herzprinz2009. Laß mich rein. Stadler kniet, schaut durchs Schlüsselloch, steht auf. Stadler (ernst): Godard steh mir bei. Stimme (von draußen): Amen. Gröner nickt Stadler zu. Sie öffnen die Tür.
Stadler und Gröner sind Filmkritiker, mögen’s aber auch mal kurz. Trailer-Fans und solchen, die es werden wollen, empfehlen sie die Website des Regisseurs Joe Dante: www.trailersfromhell.com
xl012_Z_Abo
18.06.2009
5:52 Uhr
Seite 41
ABONNIEREN LOHNT SICH! WOLLEN SIE MEHR? KรถNNEN SIE HABEN:
Jetzt schnell entscheiden, ehe das Jahr schon wieder rum ist: Beim Abschluร eines Abonnements bekommen Sie von uns den Filmkalender 2010 als Dankeschรถn dazu. Das kostet Sie keinen Cent mehr, ist aber schรถn, praktisch und informativ. Ihre Freunde werden Sie beneiden. Die Bestellkarte finden Sie in diesem Magazin oder unter www.cinearte.net /xl
xl012_B1_Cinesong
17.06.2009
15:27 Uhr
Seite 42
Report | Cinesong
cınearte
XL 012
Musik für Millionen Wer seinen Film so richtig groovy, funky oder neuerdings modern kraß oder schlicht fett klingen lassen will, merkt schon: Man braucht einen Berater. Nicht nur wegen des Musikgeschmacks.
Text Karolina Wrobel | Fotos Sabine Felber
42
Wim Wenders sagt, er wäre wohl Anwalt geworden, gäbe es da nicht die Liebe zur Musik. Noch heute offenbart sich sein verborgener Hang zur Kategorisierung in ganz einfachen Dingen: »Wim ist der einzige, den ich kenne, der die SternchenBewertungsfunktion auf I-Tunes benutzt«, sagt Milena Fessmann und muß doch ein wenig über die Eigenart des Regisseurs lächeln, weiß aber auch begeistert von dessen Musikkenntnissen zu schwärmen. Es war für die Musikberaterin schon eine besondere Begegnung, weil sie mit ihrem Partner Michael Beckmann für Wenders Film Palermo Shooting eher ungewöhnliche Wege beschreiten mußte. Es sei nämlich durchaus eine Herausforderung, dem Regisseur Musiker näher zu bringen, die er nicht sowieso schon seit Jahren zu seinem Freundeskreis zählt. »Wir saßen mit ihm in der Berliner Columbiahalle, Wein aus Pappbechern trinkend, und wurden nach dem Konzert Portishead vorgestellt. Danach waren es die Musiker, die sich wegen der Lizenzierung an ihre Plattenfirma gewandt haben«, erzählt Mi-
chael Beckmann. Und gibt auch gleich zu: Dies sei ein Idealfall für einen Musikberater. Und der kommt in der Wirklichkeit recht selten vor. Oft genug nämlich stolpert die Filmproduktion über die Rechteklärung der verwendeten Musik und sieht sich im ungünstigsten Fall mit hohen Nachforderungen seitens der Musikverlage konfrontiert. Den Extremfall gibt es, wie so oft, in den USA. Hier kann es schon mal vorkommen, daß ein Film deshalb gar nicht mehr kommerziell ausgewertet werden kann – wie es zuletzt der unabhängigen Filmemacherin Nina Paley mit ihrem ersten Animationsfilm Sita Sings the Blues passierte. Sie verwendete elf Songs der Sängerin Annette Hanshaw aus den 1920er Jahren – und stellte ihr Filmwerk samt der Musik unter die »Creative Commons«-Lizenz, um wenigstens eine freie Verwertung zu ermöglichen. Weil aber nicht jeder Filmschaffende Aktivist in der »Free Culture«-Bewegung werden will, braucht es Musikberater, wenn es um die Verhandlungen mit den Musikverlagen und den Erwerb von Li-
xl012_B1_Cinesong
cınearte
17.06.2009
15:27 Uhr
XL 012
Seite 43
Report | Cinesong
Sieht nach einem Traumjob aus: Stundenlang durch Platten blättern und dann seine Lieblingslieder auf die Leinwand bringen. Der zweite Teil ist aber gar nicht so einfach, wissen Michael Beckmann und Milena Fessmann. Die Sache mit der Musik im Film wird von Produzenten gerne unterschätzt.
43
xl012_B1_Cinesong
17.06.2009
15:27 Uhr
Report | Cinesong
Seite 44
cınearte
XL 012
44
zenzen geht. Gerade darauf hat sich die RadioEins-Moderatorin Milena Fessmann mit »Cinesong« spezialisiert. Sie kam durch Sonja Schmidt, Produzentin bei Boje-Buck, zum Film, für die sie ihre erste Musikzusammenstellung gemacht hatte – damals noch auf Kassette, für Leander Haußmanns Sonnenallee. Aus ihrer Zusammenstellung wurde nichts – Fessmann blieb aber trotzdem beim Film und lernte bei einem Meeting zu Almut Gettos Fickende Fische Michael Beckmann kennen. Der hatte sich schon als Filmkomponist mit Vanessa Jopps Vergiß Amerika und Engel und Joe etabliert und pflegt als Mitbegründer der »Rainbirds«, die mit dem Song Blueprint internationale Erfolge feierte, beste Kontakte zur Musikindustrie. Ihre Herangehensweise als Musikberater ist recht einfach: »So wie ein Kameramann sich einen ›Look‹ für den Film überlegt, so überlegen wir, wie der Film klingen soll. Musik kann eine unmittelbare Wirkung auf den Zuschauer haben, Zeit und Ort der Erzählung transportieren. Es ist nicht damit getan, einen tollen Song vorzuschlagen. Und dann
muß man sehen, ob ihn die Filmproduktion mit dem vorhandenen Budget bezahlen kann«, erklärt Fessmann. »Die Filmschaffenden machen sich oft keine Vorstellung davon, daß Musik teuer ist. Ideal wären 3 bis 5 Prozent des Gesamtbudgets, die man dafür aufwenden sollte«, sind die Erfahrungswerte von Michael Beckmann. Die Musikkosten können sich in einem ganz unterschiedlichen Verhältnis zusammensetzen: Da gibt es zum einen die zu lizenzierenden oder zu produzierenden Songs und zum anderen den Score. Die Lizenzkosten für Musik sind keinesfalls in Stein gemeißelt, sie hängen vom Budget des Films und von der Bekanntheit des Künstlers ab, dessen Musik man verwenden möchte. Aber schon das Kerzen-Ausblasen kann für den Filmemacher teuer werden: »Für ›Happy Birthday‹ muß man beispielsweise mit 3.000 bis 15.000 Euro rechnen. Aber das Schöne ist ja, das man das klären kann. Und die Summen sind Verhandlungssache, da kann es manchmal schon wie auf dem Basar zugehen«, lacht Fessmann, die ihre eigene diplomatische Disposition – sie ist studierte Poli-
xl012_B1_Cinesong
cınearte
17.06.2009
15:27 Uhr
Seite 45
XL 012
Report | Cinesong
Was war nochmal der Unterschied zwischen Grime und Garage? Populäre Musik kann bisweilen ein musischsoziologisches Studienfach sein. Da holt man sich als Filmemacher am besten einen Musikberater. Fessmann und Beckmann sind in den Plattenregalen zu Hause: Er war Mitbegründer der Rainbirds, sie spielte im Radio seine Lieder.
45
tologin – bei den Verhandlungen einsetzt. Sie warnt jedoch davor, sich beim Dreh durch die Rockklassiker zu singen. »Je früher man als Musikberater in ein Projekt einsteigt, umso mehr Zeit hat man auch, um da Konzepte zu entwickeln«. Zum Konzept von »Cinesong« gehört auch die Unabhängigkeit von Musikkonzernen, die durch ständiges An- und Verkaufen von Labels und Unterlabels über so große Kataloge verfügen, daß sie bisweilen nur Schätzwerte zum Umfang ihrer Portfolios angeben können oder diese Auskunft überhaupt vermeiden, wie eine Anfrage bei Sony Music und der EMI Music ergab. Auch die Musikexperten Fessmann und Beckmann greifen auf die Bibliotheken dieser großen Konzerne zurück – wie etwa auf das der »Universal Publishing Group«, unter deren Namen sich auch die Verlage »MCA Music Publishing« und »Polygram Music Publishing« verbergen. Die Lizenzierung von Musik rückt dabei insgesamt immer mehr als Erlösquelle für die Major Labels in den Mittelpunkt, das bestätigt auch der Bundesverband der Musikindustrie: Das Ge-
schäftsfeld solle dazu beitragen, die alte Abhängigkeit vom klassischen Musikverkauf abzulösen. Den ersten Vorstoß hat das Unternehmen Sony Music gemacht, das den Geschäftsbereich für Musiklizenzierung ausgelagert hat: Zu diesem Zweck gründete es erst Ende 2008 die deutsche Vermarktungsgesellschaft »Ocean Music Artists & Brands« mit Sitz in München. Unter dem Motto »Unsere Stars machen Ihre Marke für Ihre Zielgruppe erlebbar« sollen Vermarktungsstrategien vom Klingelton bis zu Testimonials, in denen die Stars sich als überzeugte Nutzer des Produkts ausgeben, auch in der Filmbranche vermehrt Einsatz finden. Noch einfacheren Zugriff auf das Musik-Portfolio verspricht das Portal »Movie Tunes« des amerikanischen Mutterkonzerns, das vor allem den dort heimischen Filmemachern die selbstständige Suche erleichtern soll. Hier schickt man seine automatisierte Anfrage mit kurzer Plotbeschreibung und bekommt im Gegenzug Vorschläge. »Wir haben aber die Erfahrung gemacht, daß vor allem deutsche Filmemacher auf persönliche Beratung setzen«, erklärt Fessmann.
xl012_B1_Cinesong
17.06.2009
15:27 Uhr
Seite 46
Report | Cinesong
Dies sei auch unter anderem ein Grund dafür, warum sich das amerikanische Song-Plugging in Deutschland wenig etablieren konnte. Diese Agenturen bringen aktuellste Musik-Portfolios verkaufsfördernd in den Medien unter und werden nicht von der Film- oder Fernsehproduktion bezahlt, sondern von der Musikindustrie. »Gerade erfolgreiche Serien wie O. C. California werden auf diese Weise pro Folge mit einem kompletten Soundtrack besetzt«, weiß Beckmann.
46
Für einen unabhängigen Musikberater in Deutschland kann es dagegen eine Herausforderung sein, herauszufinden, in welchen Händen die Rechte für den einen Song liegen, den der Regisseur unbedingt einbinden will. »Die Strukturen werden immer komplizierter – gerade dadurch, daß sich die Musikindustrie zurzeit atomisiert. Es gibt immer weniger große Schallplattenfirmen, dafür verwalten immer mehr Künstler ihre Rechte selber. Oft dauert es Monate, bis man einen Song wirklich bis ins letzte Detail geklärt hat«, erzählt der Musikproduzent und sagt, es tauche manchmal noch immer jemand auf, der im Vertrag erfaßt werden muß. Und bei älteren Songs sei dies auch
cınearte
XL 012
nicht einfacher: Da ist der Künstler zwar tot, die Erben aber oft zerstritten. Will man indes einen namhaften, aber lebenden Künstler für den Titelsong seines Films engagieren, muß man die komplizierten Zyklen der Musikindustrie mit denen der Filmbranche vereinbart bekommen. »Da hilft es, den Filmstart mit dem möglichen Veröffentlichungstermin eines Albums zu synchronisieren«, sagt der Bassist, der für Filme wie Thomas Jahns Auf Herz und Nieren selbst Songs produzierte. Cinesongs erfolgreichste Titelsong-Idee war bislang Summer Wine für Achim Bornhaks Das wilde Leben. Den Song produzierte Andreas »Boogieman« Herbig, der auch sonst hinter deutschen Erfolgsmarken wie Udo Lindenberg, Ich + Ich, Sasha oder Juli steht. Hier hatten die beiden Musikexperten aus Berlin schließlich mit dem finnischen Sänger der Band HIM den richtigen Duettpartner für Natalia Avalon gefunden. Doch so sehr eine Idee glücken kann, so sehr kann sie manchmal auf ganz unvorhergesehenen Ebenen scheitern, erzählt der 48jährige. Wie zuletzt bei Antje Kruskas und Judith Keils Film Wenn
Die richtige Musik ist nicht einfach nur Geschmacksfrage. Die Rechte müssen geklärt werden. Und das kann manchmal ganz schön dauern. Andererseits ist bei der Musik auch ganz schön vile Spielraum drin. Als »Cinesong« sorgen Fessmann und Beckmann für den richtigen Ton im Film – und dafür, daß er für den Filmproduzenten bezahlbar bleibt.
xl012_B1_Cinesong
cınearte
17.06.2009
15:27 Uhr
Seite 47
XL 012
die Welt uns gehört: »Die Regisseurinnen wollten den Song »The Kill« der kalifornischen Band 30 Seconds To Mars haben, und tatsächlich signalisierte uns der Musikverlag, es sei möglich, diesen Song in den Film einzubinden. Ein paar Tage später verriet die Zeitungslektüre, daß die Plattenfirma diese Band verklagt hatte und der Song aufgrund des Rechtsstreits quasi nicht mehr vorhanden war«, erinnert er sich – auch daran, wie Christian Alvart für Antikörper Johnny Cashs Version von Depeche Modes »Personal Jesus« haben wollte und die Rechte für den Song durch eine Übernahme des Konzerns Universal lange Zeit im Niemandsland lagen. So interessant Michael Beckmann auch die Rechteklärung und damit die Geschichte hinter einem Song findet, so gerne überläßt er diese Tätigkeit Milena Fessmann, der er ein »juristisches Gen« nachsagt. Der Musiker arbeitet lieber als Mittler zwischen Film- und Musikerseite. »Zur Musik kann jeder etwas sagen. Jeder hat schließlich eine Musikerfahrung«, erklärt die Partnerin das vorhandene Konfliktpotential. »Oft kommen dann Begriffe wie ›hip‹ oder ›jung‹ – aber was heißt das? Ist das Speed Metal? Hip-Hop? Beyoncé?« Oft gehe es auch um »große Klänge«, berichtet Beckmann über die Vorgespräche. Und auch da stelle sich die Frage nach Instrumentierung, Musikstil und dramaturgischen Absichten. Zunächst heißt es deshalb, Begrifflichkeiten für die Musik im Film zu entwickeln. Die beiden Musikexperten vermitteln zudem auch schon mal zwischen Filmkomponist und Produktion – wie beim Kinderfilm Hexe Lilli. »Der Komponist Klaus Badelt wählte die Flöte als archaisches Instrument für den altertümlichen Drachen, eine tolle Idee«, erinnert sich Beckmann. »Deshalb war auch das Leitthema als mittelalterliches Flötenstück angelegt, was ähnlich zu einer heutigen Moll-Tonart klingt. Die Produzenten fanden, es klinge deshalb ›traurig‹. Sie wußten aber keine Verbesserungsvorschläge zu machen. Dabei war es eigentlich ganz einfach: sie wollten es in Dur hören.« Eine kleine Anregung helfe schon mal, weiß der Musiker, denn der Filmkomponist steht oft selbst unter Zeitdruck und konzentriert sich in erster Li-
Report | Cinesong
nie auf die musikalische Welt, die er für den Film erschließen muß. Tatsächlich aber beklagen Fessmann und Beckmann die Berührungsängste der beiden Branchen: »Bei der ›Oscar‹-Verleihung sitzen die zehn größten nationalen Künstler im Publikum, dort ist das ganz normal. Den ›Deutschen Filmpreis‹ besuchen dagegen nur wenige deutsche Musiker, bis auf die Filmkomponisten. Umgekehrt kann man die Filmleute beim ›Echo‹ mit der Lupe suchen«, erklärt die aus München stammende Radiomoderatorin. Dabei lohnt es sich, Kontakt zur Musikszene zu halten, ergänzt ihr Partner: »Mit einem fantastischen deutschen, europäischen und mittlerweile auch internationalen Künstler kann man für den Film einen originären Song entwickeln, der dann auch nur einen Bruchteil der Rechte kostet – weil man an den Musiker direkt einen Auftrag vergibt«. Richtig vorteilhaft wird es dann auch, wenn die Rechte sogar ganz oder teilweise der Filmproduktion gehören. Deshalb spezialisiert sich »Cinesong« immer mehr darauf, Songs zu entwickeln, anstatt solche zu lizenzieren, »die schlimmstenfalls schon seit zwei Jahren auf dem Markt sind«, machen die Berater den Nachgeschmack von vorkonfektionierter Musik deutlich. Gerade bei Jugend- und Kinderfilmen wird zudem der Marketinggedanke immer wichtiger – wie im Jugendfilm Sommer von Mike Marzuk mit dem BravoSchwarm Jimi Blue Ochsenknecht. »Hier entwickelten wir ein Dutzend Songs, die dramaturgisch den Film getragen und die Zielgruppe emotional berührt haben«, erklärt der Musikproduzent. Dieses Modell funktioniere auch bei kleineren Produktionen im Arthouse besonders gut, weil deren Budget oft nicht dafür ausreicht, den Film komplett mit vorhandener Musik abzudecken oder von einem Filmkomponisten vertonen zu lassen. »Man muß nicht immer mit Hits um sich werfen«, schließt der Musikberater. »Wenn man auf wirklich gute und inspirierte Musiker zugeht und sie fragt, ob sie an einem Film mitarbeiten würden, ist es manchmal wirklich erstaunlich, wie sehr sie sich dafür begeistern lassen.« c
47
xl012_A3_Analyse Schindlers
17.06.2009
15:51 Uhr
Seite 48
Analyse | Schindlers Liste
cınearte
XL 012
48
Vor 15 Jahren erzählte Steven Spielberg eine völlig andere Geschichte aus dem Holocaust: Die verstörende Wahrheit über einen Mitläufer und Profiteur, der Hunderte von Juden vor dem sicheren Tod rettet. Vor dem Happy End führt uns der Regisseur aber gnadenlos den langen Weg in die Vernichtungslager vor Augen.
Text Ian Umlauff
Fotos: Universal
Farbtupfer für
xl012_A3_Analyse Schindlers
cınearte
17.06.2009
15:52 Uhr
Seite 49
Analyse | Schindlers Liste
XL 012
Nach dem Erfolg von Jurassic Park schuldete Universal Steven Spielberg einen Gefallen. Um ihn an das Studio zu binden, finanzierte man ein Projekt, an dem der Regisseur bereits seit zehn Jahren saß. Zum allgemeinen Schrecken bestand Spielberg darauf, in Schwarzweiß zu drehen: Die Bildzeugnisse zum Holocaust, und damit das kollektive Gedächtnis, seien schließlich ebenfalls in Schwarzweiß. Im Ergebnis bedeutete das aber nicht den Verzicht auf Farbe. Pointiert eingesetzt, wirkte sie als dramaturgisches Mittel.
49
die Dramaturgie Es war anzunehmen, daß etwas Besonderes dabei herauskommt: Ein amerikanischer Spitzenregisseur schart um sich einen polnischen Kameramann, amerikanische, polnische und deutsche Schauspieler, einen Iren für die Hauptrolle, die schillernde Figur eines Deutschen, der vom Kriegsgewinnler zum »Gerechten« wird… Und das alles in einem Film nach dem Roman eines gebürtigen Australiers. Daß der Film zahlreiche Auszeichnungen der Branche er-
xl012_A3_Analyse Schindlers
17.06.2009
15:52 Uhr
Seite 50
Analyse | Schindlers Liste
hielt, wunderte niemanden. Daß Steven Spielbergs Film Schindlers Liste jedoch trotz oder vielleicht gerade wegen seines Themas nicht nur ein künstlerischer, sondern auch ein großer kommerzieller Erfolg wurde, hatte dagegen niemand erwartet. Am wenigsten Spielbergs Geldgeber: Universal Pictures. Spielberg hatte dem US-Major kurz zuvor mit Jurassic Park zu einem »Blockbuster« verholfen. Nun hoffte man, den Regisseur weiter an das Studio zu binden, indem man ihm jenen Film finanzierte, den er bereits seit etwa zehn Jahren realisieren wollte, der aber als kommerziell völlig aussichtslos galt. Zur allgemeinen Verwunderung spielte der Film jedoch mit 317 Millionen US-Dollar mehr als das Zwölffache seines Budgets von 25 Millionen Dollar wieder ein. Spielberg erhielt für seinen gesellschaftpolitisch so immens wichtigen Streifen nicht nur Auszeichnungen der Branche, sondern zahlreiche
cınearte
XL 012
weitere, darunter das deutsche Bundesverdienstkreuz. Von den Lesern der Zeitschrift Cinema wurde Schindlers Liste kurz nach seinem Erscheinen gar zum »Besten Film aller Zeiten« gewählt, noch vor James Camerons Titanic und Quentin Tarantinos Pulp Fiction. Die Kritik war, mit wenigen Ausnahmen, voll des Lobes. Spielberg hatte die meisten Rezensenten von der »Wahrhaftigkeit« seines Filmes überzeugt. Im Gegensatz dazu erschien Marvin J. Chomskys damals vielbeachteter und -diskutierter Fernsehvierteiler Holocaust von 1978 wie eine Seifenoper. Warum? Auch Schindlers Liste ist weit davon entfernt, auf dramaturgische und bildgestalterische Vorstellungen und Stilmittel à la Hollywood zu verzichten. Zumindest nicht ganz. Das wird schon zu Beginn deutlich: Wenigstens die ersten 90 Sekunden sind in Farbe gedreht, um die Zuschauer nicht
Nicht genug, daß sich Steven Spielberg (links, mit dem Hauptdarsteller Liam Neeson) überhaupt an ein so anspruchsvolles Thema wagen wollte: Zum Schrecken des Studios sollte Janusz Kaminski Schindlers Liste auch noch in Schwarzweiß fotografieren. Trotzdem und zur allgemeinen Überraschung hatte der Film über den Holocaust auch an der Kinokasse Erfolg.
Videostill: VHS-Kassette »Schindlers Liste«, CIC Video, Frankfurt/Main 1995
50
xl012_A3_Analyse Schindlers
cınearte
17.06.2009
15:52 Uhr
XL 012
Seite 51
Analyse | Schindlers Liste
gleich völlig zu verschrecken. Zwei Kerzen werden angezündet. Eine jüdisch-orthodoxe Familie feiert Sabbat (hebräisch: Schabbat). Aber noch bevor die Kerzen heruntergebrannt sind, ist die Familie verschwunden. Als die letzte Flamme verlischt, steigt vom glimmenden Docht eine schmale Rauchfahne auf. Schnitt. Ab jetzt ist das Bild schwarzweiß: Rauch aus dem Schornstein einer Dampflokomotive… Zwar macht man das Zugeständnis der Farbigkeit, aber schon innerhalb der ersten zwei Minuten findet man so viele Symbole, wie es für das kommerziell orientierte amerikanische Kino ungewöhnlich ist. Mutig, wenn auch nicht völlig neu oder besonders originell, ist die Idee, einen relativ teuren abendfüllenden Spielfilm »in Schwarzweiß« zu drehen. Universal hoffte in der Tat bis kurz vor Drehbeginn, der Film würde vollständig in Farbe gedreht. Selbst wenn die farbige Anfangsszene (die übrigens in der ersten Drehbuchvariante von Steven Zaillian nicht zu finden ist) auch ein Zugeständnis an die Sehgewohnheiten des Publikums und die Bedenken von Universal sein mag, ist der überwiegende Rest des Films unter anderem deshalb in Schwarzweiß gedreht, um bestimmten Motiven und Bildelementen durch nachträgliche Koloration eine besondere dramaturgische Funktion zu geben. Erst zum Ende des Filmes wird das Bild wieder farbig, was hilft, den Zeitsprung in die Gegenwart und von einer Realitätsebene in die andere nachzuvollziehen. Wie schon oft praktiziert, ließ Spielberg seinen polnischen Kameramann Janusz Kaminski Schindlers Liste fast ausschließlich in Schwarzweiß drehen, um dem Film eine größere Authentizität zu verleihen. Fast alle bekannten Bilddokumente über die Judenverfolgung im »Dritten Reich«, sowohl fotografische als auch filmische, sind schwarzweiß. Den Film in Farbe zu drehen, erschien Spielberg künstlerisch einfach nicht adäquat. Einer der offensichtlichsten Punkte, die Schindlers Liste von Holocaust unterscheidet. Anderthalb Jahre hatte Kaminski Zeit, sich auf Schindlers Liste vorzubereiten, indem er sich intensiv mit Schwarzweiß-Fotografie beschäftigte und zeitgeschichtliche Fotobände studierte. »Man
51
Spielberg verzichtete nicht völlig auf die Dramaturgie Hollywoods und setzte trotz des ernsten Themas das Stilmittel des »comic relief« ein: Die Szene, in der Schindler seine Sekretärin aussucht, schildert dessen Vorliebe für schöne Frauen. Aus einer Kameraeinstellung aufgenommen, wird der Zeitablauf durch den Maler im Hintergrund verdeutlicht.
xl012_A3_Analyse Schindlers
17.06.2009
15:52 Uhr
Seite 52
Analyse | Schindlers Liste
cınearte
XL 012
Schindlers arrogantes Auftreten wird durch eine ruhige Kamera betont. Fahrten sind selten.
52
versucht, so tief wie möglich in die Materie vorzudringen in der Hoffnung, die Kenntnisse mögen Emotionen zu dieser Zeit heraufbeschwören, die schließlich die eigene Kreativität beflügeln«, erläuterte Kaminski im American Cinematographer sein Vorgehen. Obwohl Schindlers Liste ein groß angelegter Film war, floß dennoch vergleichsweise wenig Planung in die Kameraarbeit und diverse andere Bereiche der Filmgestaltung. Entscheidungen zur Bildgestaltung wurden erst in den letzten Wochen vor Drehbeginn gefällt. Spielberg und Kaminski einigten sich auf eine unprätentiöse Kombination aus unbewegter Kamera oder lediglich sehr verhaltenen und minimalen Kamerafahrten mit einer aus der Hand geführten Kamera. In seinem bisher persönlichsten Film wollte Spielberg die Kamera anders einsetzen, als er es bisher gewohnt war. Sie sollte in keiner Weise durch besonders beeindruckende Einstellungen auf sich aufmerksam machen und so vom Bildinhalt auch nur im entferntesten ablen-
ken. Niemand sollte später auf die Idee kommen, besonders ausgefeilte Kamerabewegungen zu loben. Man verzichtete auf Storyboards, drehte ohne shot-lists und wußte oft genug morgens nicht genau, was am anstehenden Drehtag wie gedreht werden sollte. Spielberg wünschte sich die Kameraarbeit unauffällig, unmerklich und »unsichtbar«, wie er es in einem Interview formulierte. Wichtig ist nur, was vor der Kamera passiert – die Kamera selbst ist zweitrangig. Er strebte eine Art Nachrichtenstil an als entscheidendes Mittel, dem Film Authentizität zu verleihen. So wandert die Kamera oftmals einfach umher, als ob sie zum Beispiel die Gespräche der Ghettobewohner als Teilnehmer verfolgte. Kaminski paßte sich aber auch an die Bildgestaltung der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts an und pickte sich heraus, was ihm zum Erzählen der jeweiligen Szene stimmig und stringent erschien. Schildert der Film das Tun und Handeln Schindlers, des nach außen souverän
Die »Liste« taucht als Motiv immer wieder im Film auf: Ständig müssen sich Menschen in Schlangen einreihen, um ihre Namen
xl012_A3_Analyse Schindlers
cınearte
17.06.2009
15:52 Uhr
XL 012
Seite 53
Analyse | Schindlers Liste
Kaminski orientierte sich auch an der Bildgestaltung der 1940er Jahre. Um Neeson vorteilhafter erscheinen zu lassen und seine Anziehungskraft zu verdeutlichen, empfand er die Glamour-Fotografie der Zeit nach.
und mondän auftretenden Geschäfts- und Lebemanns, sein selbstbewußt joviales Auftreten vor den lokalen Nazi-Größen, ist die Kamera fast rigide ruhig, was auch Schindlers Arroganz zu versinnbildlichen scheint. Fahrten sind selten, viele Einstellungen bleiben in der Kadrierung völlig statisch. Selbst Korrekturschwenks werden möglichst vermieden. Die Darsteller halten sich ruhig oder bewegen sich nur langsam, taxieren sich gegenseitig. Schwenks mit sich bewegenden Figuren beispielsweise sind relativ selten und immer streng motiviert. Schildert der Film jedoch Szenen, in denen Angst und Gewalt das vorherrschende Motiv sind, wird die Kadrage durch die Führung der Kamera aus der Hand betont instabil. Nicht zu unterschätzen ist dabei der synergetische Effekt, den die wackelige Kameraführung in Verbindung mit dem Gebrüll der SS-Leute und dem panischen Schreien und verzweifelten Wimmern bei der Räumung des Krakauer Ghettos erzielt.
Ein ähnliches Sublime wird zusammen mit John Williams’ Musik auch in den Szenen vermittelt, die die Exhumierung und Verbrennung ermordeter Juden zeigen. Mit den Augen eines vom Entsetzen geschüttelten Zeugen müssen wir Zuschauer verfolgen, wie jüdische Gefangene, von der SS angetrieben, halb verrottete Leichen ausscharren und auf ein Förderband schleppen, um sie zu einem monströsen Scheiterhaufen aufzutürmen. Völlig von Sinnen schreiend feuert ein SSMann noch einmal in den Berg verkohlter und verwester Leichen. Williams läßt dazu eine Kombination aus schweren orchestralen Passagen, verbunden mit Chorgesang, ertönen, die an ein Requiem erinnern, einen gigantischen Totengesang. Den Kamera-Schwenker ließen Spielberg und Kaminski sich so spontan bewegen, wie es ein Kriegsberichterstatter getan hätte. Eine Vorgehensweise, die beide in Der Soldat James Ryan weiter perfektioniert haben. Nach Proben mit den Schauspielern kam die Kamera dazu, und soweit
erfassen zu lassen. Kaminski zeigt dazu Gesichter in Halbgroß- oder Großaufnahmen, die in Sekunden ganze Leben erzählen.
53
xl012_A3_Analyse Schindlers
17.06.2009
15:52 Uhr
Seite 54
Analyse | Schindlers Liste
cınearte
XL 012
dies möglich war, wurde gedreht, ohne die Kamerabewegungen im Detail festzulegen und zu proben. Trotzdem sind viele an der Bewegung anschlußgenaue Schnitte gelungen.
54
Vor der Kamera laufen Gewalthandlungen ab, die kein Fernsehsender zeigen würde. Aus der Nahaufnahme eines Gesichts springt die Kamera auf eine Schußwaffe, ein Schuß knallt, Blut spritzt… und die Kamera »hält voll drauf«.
Spielberg läßt unmittelbar vor der Kamera Gewalthandlungen ablaufen, die kein seriös arbeitender Fernsehsender zeigen würde. Kaminski zeigt Gesichter von Menschen, von Individuen, sehr unmittelbar und in Halbgroß- oder Großaufnahmen. Die richtige Besetzung, die Auswahl vielsagender Gesichter und hohe darstellerische Authentizität waren hier besonders wichtig. Manche scheinen uns fast anzusehen, so nah schauen sie an der Kamera vorbei. Binnen Sekunden erwecken sie den Eindruck, ganze Lebensgeschichten zu erzählen. Und im nächsten Moment, wenn möglich noch ohne einen vorherigen Schnitt, sehen wir eine Schußwaffe, ein Mündungsfeuer, hören den Schuß, sehen das Geschoß den Kopf treffen, ihn zurückschleudern. Blut spritzt. Das Geschoß tritt in einem Blutschwall wieder aus. Und noch bevor der Körper leblos zu Boden gefallen ist, blutet es pulsierend aus der Wunde, breitet sich eine Blutlache aus. Und die ganze Zeit über »hält die Kamera voll drauf«, wie mancher Berichterstatter heute sagen würde. Viele Kinozuschauer konnten diese Momente des Films, wie beabsichtigt, kaum ertragen. Und den Mitwirkenden erging es nur wenig anders. »Es gab Tage, da wollte ich um ein Uhr Schluß machen und alle ins Hotel schicken. Ich wollte den Film nicht mehr machen. Es war mir zuviel«, erzählte Spielberg später in einem Interview. Gott sei Dank hat er weitergemacht. Sicherlich hilft das Schwarzweiß in diesen Szenen nicht nur zur Authentisierung der Szenen, sondern auch zur Abstraktion. Dieselbe Szene in
Die Räumung des Ghettos ist in großen Teilen mit der Handkamera aufgenommen. Subtiler wirkt die Vertreibung der jüdischen Besitzer aus Schindlers Wohnung. Um die »Ruhe« der Situation einzufangen, wurde die Szene mit einem Steadicam-System gedreht.
xl012_A3_Analyse Schindlers
cınearte
17.06.2009
15:52 Uhr
XL 012
Seite 55
Analyse | Schindlers Liste
Farbe hätte völlig anders gewirkt. Eventuell wäre es schwer geworden, eine gewisse, reißerische Wirkung auszuschließen. Dies wird bei der Entscheidung, den Film in Schwarzweiß zu drehen, sicherlich eine Rolle gespielt haben. Kaminski drehte mit der Arri 535 und der 535B als Handkamera. Für einige wenige SteadicamAufnahmen wurde zusätzlich eine Moviecam benutzt. Etwa für jene Szene, in der eine jüdische Familie ihre Wohnung räumen muß, damit Schindler, zu Anfang des Filmes noch ganz der rücksichtslose Kriegsgewinnler, einziehen kann. Hier begleitet die Kamera die eilig hin und her laufenden Menschen, die stolz bemüht sind, die
sagen. Weitgehend unbemerkt hat sich dieser Wandlungsprozeß vollzogen. Trotzdem mußte er filmisch motiviert werden, was in den Szenen 85 bis 95 in Ziallians Drehbuch sehr visuell angelegt ist: Die Szenen schildern, wie Schindler im Durcheinander ein kleines Mädchen entdeckt, das, scheinbar unbeirrt von dem Chaos und der Gewalt um sich herum, die Straße hinunter läuft, um sich dann in einem bereits geräumten Haus auf kindlich-naive Weise unter einem Bett zu verstecken. Während Schindlers Begleiterin den Anblick der Greuel nicht lange erträgt, kann Schindler seinen Blick nicht abwenden. Seine Aufmerksamkeit
Fassung, sprich Ruhe (des Bildes), zu bewahren, während sie ihre kostbarsten Habseligkeiten zusammenraffen und die Wohnung nur Minuten später gezwungenermaßen verlassen. Von ähnlich subtilem Grauen gibt es noch diverse Szenen, denn nicht der ganze Film operiert mit unmittelbarer tätlicher Gewalt. Die vielleicht eindringlichste der subtileren Szenen ist jene, in der Schindler in Begleitung seiner momentanen Geliebten hoch zu Pferd von einer Anhöhe aus die Räumung des Krakauer Ghettos verfolgt. Es ist eine Schlüsselszene des Films. Denn wann und wodurch Schindler vom egoistischen Kriegsgewinnler zu dem Menschen wurde, der 1958 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in die Reihe der »Gerechten« aufgenommen wurde und an der »Straße der Erinnerung« einen Baum pflanzen durfte, weiß bis heute niemand zu
ist von dem kleinen Mädchen gefesselt, als würde er auf kaum wahrnehmbare Weise darum bangen, ob es nicht auch der so beliebig erscheinenden Schießwut der SS zum Opfer fallen würde. Dazu hört man, neben all den gebrüllten Kommandos, dem panischen Kreischen und ständigen Schießen, wie aus weiter Ferne ein Kinderlied, Mark Warschafskys »Oyf’n Pripetshok«. Auf unwirkliche Weise unterstützt dieses Lied die kindliche Unschuld des Mädchens, für dessen Rolle Spielberg ein kleines Mädchen mit entzückendem Puppengesicht ausgesucht hat, umrankt von lockigem blonden Haar. Weite Totalen, die das Kind inmitten des infernalischen Chaos zeigen, stehen halbgroße und ähnliche Ausschnitte von Schindler gegenüber. Wieder bleibt die Kamera ruhig und zurückhaltend,
wir wir fördern fördern filme filme verleih verleih kurzfilm kurzfilm dokumentation dokumentation kinofilm kinofilm fernsehfernsehfilm film projektentwicklung projektentwicklung vertrieb vertrieb produktion produktion drehbuch drehbuch www.ffhsh.de
55
xl012_A3_Analyse Schindlers
17.06.2009
15:52 Uhr
Analyse | Schindlers Liste
Seite 56
cınearte
XL 012
auch in der Brennweitenwahl. Wirklich kurze oder extrem lange Brennweiten vermeidet Kaminski. Das Kind fällt in den weiten Einstellungen, in denen es anfangs nur ganz klein zu sehen ist, durch die Farbigkeit des Mäntelchens im ansonsten weiterhin schwarzweißen Bild auf. Wie der unbedarfte Zuschauer auch, scheint Schindler mit Verwunderung und Unglauben auf das zu reagieren, was er sieht. Nachdem sich einige Male Schuß und Gegenschuß abgewechselt haben, springt die Kamera in die Halbtotale heran an das Kind, das, von den SSMännern weiter unbehelligt, umherläuft. »Das Bild hat etwas damit zu tun, wie irrwitzig das Leben sein kann. Das kleine Mädchen läuft einfach durch die Menge und niemand kommt darauf, es zu stoppen«, erläuterte Kaminski die Bildidee im American Cinematographer.
56
Das rote Mäntelchen in der Szene der Ghettoräumung ist nicht die einzige Gelegenheit, bei der Spielberg Teile des Bildes nachkolorieren ließ. In der erwähnten Exhumierungsszene entdeckt Schindler auch das besagt kleine Mädchen unter den Leichen. Wieder schimmert sein Mäntelchen rötlich, als einziges farbiges Bildelement. Digitale Rotoskopie diente auch dazu, die Stempel auf dem sogenannten Blauschein, der vorläufig lebensrettenden Arbeitskarte der Ghettoinsassen, leicht bläulich zu färben. Kurz vor Ende des Filmes entzünden die »Schindlerjuden« zwei Kerzen, um das erste Mal seit langem wieder Sabbat zu feiern. Auch ihre Flammen, Symbole für die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Martyriums, sind farbig. So markieren die kolorierten Bildelemente, die Blauscheine, das Mäntelchen des kleinen Mädchens und schließlich die Sabbatkerzen, meist Momente der Hoffnung unter teilweise widrigsten Umständen. Als Schindler bei der Exhumierung die verweste Leiche des kleinen Mädchens entdeckt, ist das im Gegensatz dazu ein dramatischer Rückschlag und die Motivation dafür, seine Anstrengungen zum Schutz »seiner Juden« noch weiter zu erhöhen. Der spartanischen Art, die Kamera zu bewegen und die Szenen visuell aufzulösen, steht die Lichtsetzung entgegen. Zwar stimmt es, daß Kaminski
Kolorierte Bildelemente dienen als dramaturgische Effekte: Die Kerzenflamme (unten) und der rote Mantel eines kleinen Mädchens, das unbehelligt durch die Mordszenen läuft (oben), markieren Momente der Hoffnung – die am Ende enttäuscht werden: Beim Abzug der SS taucht das tote Mädchen in dem gleichen Mantel auf einem Leichenwagen wieder auf.
xl012_A3_Analyse Schindlers
cınearte
17.06.2009
15:52 Uhr
Seite 57
XL 012
meist düstere Lichtstimmungen erzeugte und mit hohen Helligkeitskontrasten operierte, dennoch wirken zahlreiche Einstellungen und ganze Szenen glamourös und teilweise ein wenig zwielichtig. Die Szenen, in denen Schindler zu Anfang vorgestellt wird, arbeiten mit einer Beleuchtungsgestaltung, mit der wir Glamour verbinden: Vorderlicht setzt Kaminski oft nur minimal, stattdessen benutzt er Kanten und durch entsprechende Filterung leicht überstrahlende Spitzlichter. Als der Zuschauer nach einer ganzen Weile Schindler endlich von vorne zu sehen bekommt, wird sein Kopf von Seitenlicht und Kante vorteilhaft und spannungsreich moduliert. Außerdem hält er die Hand mit einer Zigarette vor die untere Gesichtshälfte, die noch dazu halb abgekascht im Dunkeln liegt. Auf diese Weise zum Teil verborgen, belauert Schindler jene, die seine Opfer sein werden: die SS-Offiziere an den Nebentischen, zu denen er Kontakt knüpfen wird, anfangs einzig und allein, um über sie an lukrative Geschäfte heranzukommen. Neeson ist ein sehr guter Schauspieler, aber gewiß nicht der attraktivste. Kanten und Seitenlicht lassen seinen Kopf schlanker erscheinen, als er ist. Eine im Dunkeln liegende untere Gesichtshälfte verleiht ihm naheliegenderweise etwas Geheimnisvolles, Zwielichtiges, macht es gleichzeitig plausibler, warum Frauen ihn anziehend finden sollen. Mit diesem Beleuchtungsstil hilft Kaminski, den Zuschauer durch die Aufnahme ästhetischer Muster in die Zeit der Handlung einzuführen, denn oft sind die Gesichter auch in perfektem Porträtlicht aufgenommen. Abgerundet wird die Bildgestaltung dieser Expositionsszene Schindlers durch die Tatsache, daß hier eines der wenigen Male die Kamera ohne deutliche inhaltliche Motivation im Bildinhalt (aufgrund sich bewegender Akteure etwa) in Bewegung gesetzt wird. In einer langsamen Umfahrt bewegen wir uns ein Stück um den Mann herum, der ruhig in seinem Sessel sitzt, als sollten wir ihn von allen Seiten eingehend betrachten, dieses Exemplar Mensch, das über eintausendeinhundert andere vor dem sicheren Tod retten wird. c
Wenn Sie ein bißchen mehr wissen wollen… …haben wir das nicht nur in XL: cinearte ist der aktuelle Informationsdienst für Filmschaffende. Die neuesten Dreharbeiten, Interviews und Porträts vom Maskenbildner bis zur Kamerafrau, Übersichten von der Drehbuchförderung bis zum Kinostart, Hintergrundberichte, Nachrichten- und Serviceteil halten Sie ständig auf dem Laufenden – jeden zweiten Donnerstag aufs Neue. cinearte erscheint als PDF – das ist so schnell wie das Internet und so schön wie gedruckt. Weil das alles im Querformat ist, können Sie selbst entscheiden, ob Sie lieber am Bildschirm lesen oder auf Papier. Und das komplette OnlineArchiv gibt’s umsonst dazu. www.cinearte.net
xl012_A4_Rakete
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 58
Portfolio | Nordlichter
58
»Wann immer ich in Hamburg ankomme – ob auf dem Flughafen, im Hauptbahnhof oder auf der Autobahn –, habe ich das Gefühl, ich komme nach Hause! Hamburg, meine (Film-)Heimat: Ich liebe dich, du bist das Derbste.« Fatih Akin, Regisseur – Gegen die Wand | Im Juli
cınearte
XL 012
xl012_A4_Rakete
cınearte
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 59
XL 012
Portfolio | Nordlichter
– Heimatfilmer So schön kann Standortmarketing sein: Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein bat Filmschaffende vor die Kamera, auf daß sie erklären, was ihnen am Norden so gefällt. Da hören wir gerne zu – und schauen genau hin. Denn hinter der Kamera stand Jim Rakete.
Text Peter Hartig | Fotos Jim Rakete
59
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 60
Portfolio | Nordlichter
60
cınearte
»Was mir am Norden gefällt? Daß man nicht so viel reden muß…« Es ist ja eigentlich klar, wer sowas sagt. Zumindest überrascht es nicht, wenn neben dem Zitat das Gesicht von Detlev Buck erscheint. Dem Regisseur, der seine Figuren nicht viel reden läßt. Oder wenn, dann lieber seltsamskurrile Sachen, was am Ende ja dann irgendwie auch wieder dasselbe ist. Aus der Ferne betrachtet, wirkt das Filmland genauso abgeklärt. Wenn Köln, München und Berlin um Senderstandorte und prestigeträchtige Kinoproduktionen wetteifern, ist aus dem Norden wenig zu hören. Was man nun bitte nicht falsch verstehen soll, findet Jens Stabenow, der stellvertretende Geschäftsführer der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, in der die beiden Bundesländer vor zwei Jahren ihre Institutionen vereinigt hatten: »Im Wettbewerb der deutschen Medienstandorte haben wir vielleicht nicht die lauteste Stimme, stumm sind wir aber keinesfalls. Auch in der Sache sind wir nicht weniger zielorientiert und effektiv als ›die anderen‹ und können hier mit wunderbaren Kinofilmen und Fernsehproduktionen punkten.« Man muß es ja auch nicht übertreiben mit der hanseatischen Zurückhaltung. Und kann es trotzdem anders machen, mag man sich gedacht haben, als der neue Production Guide für den vereinten Norden geplant wurde. Darum finden sich auf
Jim Rakete fotografierte die Filmgesichter im Norden. Fürs eigene Bild drückte er auf den Selbstauslöser.
XL 012
den rund 190 Seiten des aufwendig produzierten Handbuchs nicht nur nützliche Adressen oder zauberhafte Bilder von Drehorten, Sets und Studios, sondern auch neun bekannte Gesichter der dortigen Filmszene, die die Vorzüge des Standorts in eigenen Worten beschreiben. Für die Porträtaufnahmen hat die Filmförderung einen der bekanntesten seiner Zunft gewählt, obwohl der Berliner ist. Immerhin hat Jim Rakete aber lange Jahre in Hamburg gelebt und gearbeitet. Wobei die Standortfrage gar nicht ausschlaggebend war. »Wichtig war uns, einen Fotografen zu finden, der nicht nur fachlich hervorragend ist, sondern auch einen Zugang zur Branche der Filmschaffenden hat und von dieser respektiert und wertgeschätzt wird«, erklärt Stabenow. Da komme man dann schnell auf diesen Namen: Rakete hat seit den 1970er Jahren nicht nur Musiker im ganzen Land fotografiert (die Neue Deutsche Welle ist von Spliff bis Nena vor seiner Kamera vorbeigerauscht), auch einige der 20 Porträtierten kennt er bereits aus früheren Zusammenarbeiten – etwa der Porträtreihe 1/8 sec. Es sei ganz einfach gewesen, den Fotografen zu gewinnen: »Es ist mir eine Ehre, mit einer Institution zusammenzuarbeiten, die frei von Etikette und Dünkel Produktionen unterstützt und viele der Karrieren über Jahre auch mit aufgebaut hat«, sagt Rakete. Teil der Absprache mit Fotograf und Filmschaffenden war, aus den Aufnahmen der 20 Regisseure, Schauspieler und Autoren noch eine Ausstellung zu konzipieren, in der alle 20 gezeigt werden. Die Fotos entstammen zwar denselben Fotosessions, zeigen aber einen anderen Blickwinkel und sind schwarzweiß. Die Bilder von Regisseuren, Drehbuchautoren und Schauspielern zwischen Nordseeinseln und Ostseestrand, auf holsteinischen Bauernhöfen und im Hamburger Hafen wurden im Frühjahr auf der Berlinale präsentiert, wo auch der Production Guide vorgestellt wurde. Dann ging es weiter in die Stadtgalerie in Kiel. Im September ist die Ausstellung schließlich im Rahmen des Hamburger Filmfests vom 24. September bis 3. Oktober im Levantehaus Hamburg zu sehen. c
Fotos: Photoselection
xl012_A4_Rakete
xl012_A4_Rakete
cınearte
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 61
XL 012
Portfolio | Nordlichter
61
»Nirgendwo sonst trennt das Licht den Himmel so einmalig und einzigartig von der Welt. Hier lebt der Horizont! Ulrike Grote, Regisseurin und Schauspielerin – Ausreißer
xl012_A4_Rakete
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 62
Portfolio | Nordlichter
cınearte
XL 012
62
»Hamburg ist der ideale Filmstandort: Hier hat man traumhafte Filmkulissen und kann gleichzeitig die hanseatische Gelassenheit genießen.« Kostja Ullmann, Schauspieler – Sommersturm | Stellungswechsel
xl012_A4_Rakete
cınearte
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 63
Portfolio | Nordlichter
XL 012
63
»Warum in die Ferne schweifen, wenn die Ferne liegt so nah.« Hermine Huntgeburth, Regisseurin – Bibi Blocksberg | Die weiße Massai
xl012_A4_Rakete
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 64
Portfolio | Nordlichter
64
cınearte
XL 012
»Welch einzigartige Vielfalt! Meine Volksschule auf Amrum, mein Gymnasium im statusbetonten Hamburger Westen. Die katholischen kleinen Leute auf der Insel Wilhelmsburg zwischen Harburg und Hamburg in ihren Hochhäusern und Arbeitersiedlungen, wo wir ›Nordsee ist Mordsee‹ drehten. Das protestantische Großbürgertum der Elbvororte, in dessen Mitte ›Moritz, lieber Moritz‹ entstand. Das unbekümmerte kulturelle Durcheinander Altonas (›Yasemin‹). Die Stille des Wattenmeeres, das Krachen und Summen der Kieler Werften. Die Gediegenheit der Lübecker Altstadt, der grelle Fleischmarkt von St. Pauli. Das Märchenland des Sachsenwaldes, das modernste und größte Flugzeug der Welt, die A380, auf Finkenwerder. Und was nicht sonst noch alles. ›Den Düwel ok‹, wie Thomas Mann sein Lübecker Nobelpreiswerk begann. Kein anderes Gebiet Deutschlands umfaßt so viele Menschengruppen unterschiedlichen Profils, so viele gegensätzliche Drehorte wie unser Land zwischen den Harburger Bergen und der Flensburger Förde.« Hark Bohm, Regisseur und Schauspieler – Nordsee ist Mordsee | Yasemin
xl012_A4_Rakete
c覺nearte
17.06.2009
XL 012
17:13 Uhr
Seite 65
Portfolio | Nordlichter
65
xl012_A4_Rakete
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 66
Portfolio | Nordlichter
66
»Paris – zu chic! London – zu teuer! Rom – zu heiß! Berlin – nicht schlecht! Aber Hamburg und der Norden – großes Kino! Gustav Peter Wöhler, Schauspieler Urlaub vom Leben | Stellungswechsel
cınearte
XL 012
xl012_A4_Rakete
cınearte
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 67
XL 012
Portfolio | Nordlichter
»Ein Freund ist jemand, der deine Vergangenheit versteht, an deine Zukunft glaubt und dich heute nimmt, wie du bist. Und genau dieses Gefühl habe ich in Hamburg und Schleswig-Holstein. Sibel Kekilli, Schauspielerin – Gegen die Wand | Winterrreise
»Hafen, Schiffe, die Umarmung der zwei Meere. Einmal im Jahr muß ich nach Sylt und Frau Meer liebkosen. In Hamburg bin ich geboren und aufgewachsen. Hier war ich Menschlein, hier will ich sein und bleiben. Für mich ist Hamburg die Schönste. Hol di stief min Deern. Hannelore Hoger, Schauspielerin Henri Vier | Bella Block
67
xl012_A4_Rakete
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 68
Portfolio | Nordlichter
68
»Hanns Dieter Hüsch hat mal gesagt: Wer die Berge hat, hat die Berge. Wer sie nicht hat, der braucht Fantasie. Peter Jordan, Schauspieler – Die Schimmelreiter
cınearte
XL 012
xl012_A4_Rakete
cınearte
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 69
XL 012
Portfolio | Nordlichter
»Was mir am Norden gefällt? Daß man nicht so viel reden muß…« Detlev Buck, Regisseur und Schauspieler – Wir können auch anders | Knallhart
69
xl012_A4_Rakete
Portfolio | Nordlichter
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 70
cınearte
XL 012
»In der Nähe vom Hamburger Schulterblatt liegt mein Schneideraum. Ich kenne keine andere Straße in Deutschland, in der so viele verschiedene Nationalitäten leben. Ein türkisches Geschäft liegt neben einem griechischen Restaurant, dann kommt ein Italiener, ein Franzose, ein Inder, Thailänder, Portugiese. Hier will man nicht mehr weg. Ina Weisse, Schauspielerin – Katzenzungen | Die Weisheit der Wolken 70
»Unter der kalten Oberfläche des Nordens gibt es viel Historie und noch mehr Geschichten. Sie ans Tageslicht zu bringen ist Aufgabe der Literatur und des Films. Armin Mueller-Stahl, Schauspieler – Avalon | Die Manns
xl012_A4_Rakete
cınearte
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 71
XL 012
Portfolio | Nordlichter
»Hamburg liegt an der Elbe, Kappeln an der Schlei. Das ist für mich dasselbe – naß sind alle zwei. Ruth Toma, Drehbuchautorin – Solino | Emmas Glück 71
»Für mich ist die Zusammenlegung der Filmförderungen beider Länder ein großes Glück. Endlich muß ich mich nicht mehr entscheiden ob ich ein schleswigholsteinischer Hamburger oder ein in Hamburg lebender Schleswig-Holsteiner bin.« Lars Jessen, Regisseur – Am Tag, als Bobby Ewing starb | Dorfpunks
xl012_A4_Rakete
17.06.2009
17:13 Uhr
Seite 72
Portfolio | Nordlichter
cınearte
»Wo wird das Tanzbein geschwungen? Bei uns Norddeutschen!« (Nordisch by Nature von Fettes Brot) Lars Becker, Regisseur und Drehbuchautor
72
XL 012
xl012_D_Autobiografisch
cınearte
17.06.2009
21:56 Uhr
Seite 73
XL 012
Das wahre Leben
So war das nicht geplant. Als der Dokumentarfilmer Douglas Wolfsperger sich mit entsorgten Vätern beschäftigte, geriet er plötzlich selbst ins Bild.
Autobiografisches Es gibt eine Welt jenseits der Leinwände. Bilden wir sie ab! Unsere neue Kolumne ist dem Dokumentarfilm gewidmet – Trends und Diskusionen am Beispiel eines aktuellen Werks.
Foto: GM Films
Text Christoph Brandl Der Prozeß ist schleichend. Sein Anfang liegt irgendwo zwischen dem Ende der Beziehung und dem Beginn des Rosenkrieges, der oft folgt, Protagonisten sind die ehemaligen Partner, Gerichte und Jugendämter, sein Verlauf ist unaufhaltbar und sein Ende von unglaublicher Konsequenz: Kindesentzug. Oder, was im Ergebnis dasselbe ist, freiwilliger Verzicht auf den Umgang mit den Kindern. Zum Wohle der Kinder. Die Triebfeder des Prozesses ist das Gegenteil von Liebe: Angst, Kälte, Gleichgültigkeit, Egoismus, und derjenige (Mann), der Teil dieses Prozesses wird, bemerkt seinen Sog meist erst, wenn es bereits zu spät ist. Den so entsorgten Vätern bleibt nichts anderes, als zu schweigen. Und zu zahlen. Regisseur und Produzent Douglas Wolfsperger erfährt dieses Schicksal am eigenen Leib, und es läßt ihn verzweifeln: »Ich weiß, daß ich großen Anteil hatte am Scheitern unserer Beziehung, und daß ich meiner Ex-Freundin großen Schmerz zugefügt habe«,
73
xl012_D_Autobiografisch
17.06.2009
21:56 Uhr
Seite 74
Das wahre Leben
cınearte
XL 012
Dokumentarfilmer im eigenen Fokus. Der Schweizer Thomas Haemmerli tritt in Sieben Mulden und eine Leiche selbstironisch vor die Kamera (links), Niko von Glasow setzt sich in Nobody’s Perfect in Szene (rechts).
In diesem Moment entschließt sich Wolfsperger, in seinem eigenen Film mitzuwirken, auch wenn er dem Unterfangen bis zum Ende kritisch gegenüber stand. »Wenn das jetzt so eine Nabelschau gegeben hätte, und man sich am Ende fragen würde, was gehen mich die Probleme von diesem Typen an? Und wenn es in der Inhaltsangabe hieße, Regisseur und Produzent auf der letzten Reise zu seiner Tochter, hätte ich es nicht gemacht. Das sind nämlich genau die Filme, die ich selbst nie sehen würde.«
*Name von der Redaktion geändert
Foto: Neue Visionen | Ventura
74
sagt er, »aber was hat unser gemeinsames Kind damit zu tun? Wieso verliert meine Tochter deswegen ihren Vater?« Wolfsperger beschließt, über das Thema einen Film zu machen. Auf der Suche nach betroffenen Vätern landet er in Karlsruhe. Hier findet er vier Männer, die bereit sind, sich filmen zu lassen. Doch daß Wolfsperger selbst in seinem Film Der entsorgte Vater auftauchte, war so zunächst nicht geplant. »Anfangs war es für mich nicht klar, daß ich mich persönlich in diesen Film einbringen werde«, sagt Wolfsperger, »es war eher eine Entwicklung dahingehend, die sich während des Drehs und Schnitts ergab. Denn es war atemberaubend für mich, wie nah die Entstehung des Filmes an meiner eigenen Geschichte entlang lief. Das habe ich so noch nie erlebt.« Die Parallelität der Ereignisse also. Vor fast genau einem Jahr, nach jahrelangem Kampf um ein geregeltes Umgangsrecht mit seiner elfjährigen Tochter Hanna*, nach unzähligen geplatzten Vater-Tochter-Treffen, nach etlichen Gerichtsverfahren und schlimmer noch: Nach unerträglichen Provokationen durch den neuen Mann seiner Ex-Freundin, der sich plötzlich als Hannas Vater ausgibt, schreibt die Tochter ihrem Vater einen vernichtenden Brief. Sie behauptet darin, ihren Vater nicht zu mögen und keine Lust zu haben, freiwillig oder auf Geheiß des Familiengerichts etwas mit ihm zu unternehmen. Douglas, der Mann, der wie die Parfümkette heißt – so bezeichnet sie ihn an anderer Stelle – solle sie in Ruhe lassen. Daraufhin stellte das Gericht Wolfsperger vor die Wahl: Er könne weiterhin auf ein Umgangsrecht mit Hanna klagen, dadurch würde er allerdings die so stark benötigte Ruhe seiner Tochter gefährden, oder er könne sich von ihr verabschieden. Für immer.
xl012_D_Autobiografisch
cınearte
XL 012
17.06.2009
21:56 Uhr
Seite 75
Das wahre Leben
Wolfsperger, der sich zum ersten Mal an dieses Genre wagte, fügt hinzu: »Wenn man autobiografische Filme machen will, funktioniert es nur, wenn man ein gutes Maß an Selbstironie besitzt. Aber der Film muß auch selbstkritisch sein, weil er sonst nicht zu ertragen ist.« Und er muß bewußt gegen die ehernen Grundsätze des Dokumentarfilms verstoßen: Dezidierte Analyse und kritische Distanz, also eine objektive Haltung, sind im autobiografischen Film per definitionem ausgeschlossen. Denn wie anders, wenn nicht durch konsequente Subjektivität kann ein Dokumentarfilmer sein eigenes Leben aufarbeiten? Doch die inhärente Distanzlosigkeit zum eigenen Schicksal erfordert einen Balanceakt, der nicht jedem gelingt. Denn zu groß ist die Versuchung, sich selbst in Szene zu setzen und der eigenen Person im Film mehr Raum zu geben, als nötig – oder verträglich. Filme, bei denen diese Gratwanderung gelungen ist, sind beispielsweise Am seidenen Faden (2005) von Katharina Peters, in dem sich die Filmemacherin auf eindringliche und nie aufdringliche Weise mit der schweren Krankheit ihres Mannes auseinandersetzt. Traumsequenzen von betörender Schönheit und Eleganz sind der harten Realität gegenübergestellt – und machen dadurch beides erst erträglich: Realität und Film. Auch Sieben Mulden und eine Leiche (2007) des Schweizers Thomas Haemmerli funktioniert. Thomas und Eric Haemmerli müssen die Wohnung ihrer kürzlich verstorbenen Messie-Mutter ausräumen. Dabei entdecken sie die eigene Familiengeschichte, die bis ins Jahr 1880 zurückreicht. Haemmerli umgeht die Gefahr, sich selbst zu bemitleiden und schafft stattdessen einen intelligenten und selbstironischen Film. Er nähert sich selbstkritisch dem Tod seiner Mutter und zwingt dadurch auch den Zuschauer, sich mit dem letzten Tabu unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen: Dem Tod. Gerade bei diesem Film wären Eitelkeit und Selbstverliebtheit der Genickschuß. Nobody’s Perfect (2008) von Niko von Glasow gewann dieses Jahr den »Deutschen Filmpreis« für den besten Dokumentarfilm. Doch von Glasow, der sich sehr um Authentizität bemüht, mißlingt der Versuch, durch Stilmittel wie Schrillheit und Distanzlosigkeit wirklich authentisch von seiner eigenen Conterganschädigung und der von elf weiteren Menschen zu erzählen. Der Film wirkt streckenweise aufgesetzt und konstruiert, besonders dann, wenn einer der Geschädigten nach seiner Vergangenheit als Busengrabscher befragt wird, und ein anderer von seinen Prügelattacken erzählen muß. Diese Fragen und Antworten sollen wohl lustig sein, denn die beiden sind armlos. Doch der Film, der stellenweise sehr mutig ist, gerät mehr und mehr zur Selbstdarstellung des Regisseurs. Oft hart an der der Grenze zur Selbstverliebtheit, ist von Glasow stets versucht, sich über seine Protagonisten zu erheben. Und oft gelingt der Versuch. Ähnliches gilt für Marco Wilms, Regisseur von Ein Traum in Erdbeerfolie (2009). Wilms, ein selbsterklärtes Ex-Topmodell, beschäftigt sich mit der Mode- und Modelszene in der ehemaligen DDR, der auch er angehörte. Anfänglich interessiert es ihn noch, sich mit dem Schaffen einer modebewußten DDR-Jugend auseinanderzusetzen. Doch spätestens, als Wilms, seinen Sohn auf dem Arm, diesem das geteilte Berlin erklärt, übertritt er die Grenze zum Erträglichen. Und die am Ende des Films à la frühen 1980ern ad hoc inszenierte Modeschau im Wilmsschen Wohnzimmer – mit Wilms als reaktiviertem Model – besitzt kaum mehr als Homemovie-Qualität. Auch der Österreicher Marko Doringer dreht sich in Mein halbes Leben (2008), ausschließlich um sich selbst. Der Inhalt des Films, der 2008 Österreichs Dokumentarfilm des Jahres war, verspricht genügend Selbstironie für 90 Minuten: Man behaupte etwas über sich, nämlich daß man im Alter von 30 Jahren noch nichts geleistet habe und mache die Probe aufs Exempel, indem man sich von Freunden, Verwandten und ehemaligen Freundinnen endlich einmal die Wahrheit gei-
75
xl012_D_Autobiografisch
17.06.2009
21:56 Uhr
Seite 76
Das wahre Leben
cınearte
XL 012
gen läßt. Soweit, wie gesagt, ganz lustig. Das Problem entsteht dann, wenn nichts Tiefergehendes bei dieser Wahrheitssuche herauskommt, sondern nur Banales, wie »Das Leben ist ein ewiger Kampf, und der hört nie auf.« Dann wird das Betrachten des Films schnell mühsam und man fragt sich, warum man der Selbstfindung eines Anfang-30ers beiwohnen solle. Wolfsperger ist für den Auftritt im eigenen Film heftig kritisiert worden. Doch für ihn ist diese Kritik nicht gerechtfertigt: »Meine Auftritte sind ganz genau kalkuliert. Bei jeder Einstellung von mir haben mein Cutter Bernd Euscher und ich überlegt, ob wir die brauchen für die Geschichte oder nicht. Denn ich wollte eine Selbstdarstellung auf jeden Fall vermeiden, weil ich dazu einfach nicht der Typ bin.«
76
Die eigene Biografie wird auch von Künstlern anderer Gattungen zur Kunstform erhoben, etwa in der Konzeptkunst von Tracey Emin und Sophie Calle. Doch anders als bei genannten Dokumentarfilmen entsteht hier die Kunst erst durch und mit dem Inszenierten, mit bewußt Künstlichem. Denn erst das Verschwinden des Künstlers hinter seiner Inszenierung gibt den Blick auf das Kunstwerk frei. Eines der bekanntesten Werke der Engländerin Tracey Emin ist ihre Installation My Bed, von der sie behauptete, es sei ihr eigenes ungemachtes Bett, um das ihre blutverschmierte Unterwäsche und von ihr und ihren Lovern benutzte Kondome lagen. Doch die Erhebung der Installation in den Kunstraum macht es überflüssig, den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung in Frage zu stellen. Sophie Calle, eine ehemalige Stripperin aus Frankreich, geht noch einen Schritt weiter. Für das Projekt The Detective bat sie ihre Mutter, einen Detektiv zu beauftragen, der sie beschatten sollte. Die Fotos des Detektivs stellte sie anschließend aus. Aber was sie den Detektiv beobachten ließ, bestimmte sie selbst, wie sie sagt: »Meine Projekte haben sich oft ineinander verschachtelt. Nachdem ich den Leuten nachgegangen bin, wollte ich selbst verfolgt werden, um dann damit zu spielen.« Wolfsperger weiß noch nicht, ob er jemals wieder einen Teil seines eigenen Lebens in den Mittelpunkt eines Filmes stellen wird. Ausschließen möchte er es jedoch nicht: »Ich habe Gefallen gefunden an der Form, aber das heißt nicht, daß ich jetzt alle Filme so machen werde. Jedenfalls hoffe ich nicht, daß ich noch einmal eine ähnlich schlimme Erfahrung mache, über die ich dann einen Film machen muß.« Weil die forcierte Entfremdung zwischen Wolfsperger und seiner Tochter bereits zu weit voran geschritten ist, als daß man sie noch umkehren kann, bleibt dem verzweifelten Vater keine Wahl. Er entscheidet sich für die endgültige Verabschiedung und gibt seiner Tochter im Beisein eines Verfahrenspflegers ein letztes Mal die Hand. Am Ende des sehenswerten Filmes begleitet die Kamera den verkleideten Wolfsperger auf einen Spielplatz, auf dem ganz nah ein Mädchen spielt, das seine Tochter sein könnte. Als ihn das Mädchen einen Augenblick lang ansieht, übermittelt Wolfsperger ihr eine Botschaft: »Ich bin immer für dich da.« Und da spürt man, worum es Wolfsperger mit diesem Film eigentlich geht: Wenn er den Prozeß des Kindesentzuges schon nicht mehr umkehren kann, möchte er doch immerhin ein Dokument schaffen, damit seine Tochter erfährt, wie sehr er sich um sie bemüht. Später, wenn sie erwachsen ist. c
Der entsorgte Vater startet am 11. Juni im Kino: www.der-entsorgte-vater.de
xl012_C2_Serie Simpsons
cınearte
17.06.2009
15:59 Uhr
Seite 77
Gesetze der Serie | Die Simpsons
XL 012
Gesetze der Serie: Wenn einer fünf Geschichten auf einmal erzählt, sich dafür 1001 Minute Zeit nimmt und trotzdem kein Ende findet, freuen sich die Zuschauer. Fernsehserien wecken Begeisterung wie nur wenige Kinofilme. Warum eigentlich?
05_Die Simpsons 77
Text Hartmut Tabakmann
Vorspann. Gibt es noch jemanden, der diese Szenenfolge nicht kennt? Der Himmel über der Stadt Springfield lichtet sich, ein Chor singt den aufscheinenden Titel »The Simpsons« mit. Der kleine Rebell Bart muß nachsitzen und wieder und wieder einen Satz an die Schultafel schreiben. Dann springt er auf sein Skateboard. Sein Vater Homer verläßt seinen Arbeitsplatz im Kernkraftwerk – mit einem strahlenden grünen Brennstab im Kragen. Das Baby der Familie, Maggie, wird im Supermarkt über die Kasse gezogen, Mutter Marge erschrickt nur kurz. Dann geht es im Auto heim. Die altkluge Tochter sprengt den
Musikunterricht mit einem Jazz-Solo. Die ganze Familie sprintet vor den Fernseher, so schnell, daß der ankommende Homer fast überfahren wird. Dieser Anfang zeigt, wie verspielt und detailverliebt die Serie ist: Die halbe Stadt tritt in einem Schwenk auf, ohne Pausentaste erkennt man die Figuren aber erst gar nicht. Jede Episode wird schon hier zum kleinen Kunstwerk: Ob bei Lisas immer wieder variiertem Saxofon-Solo, den stets neuen Sätzen, die Bart an die Tafel schreibt (»Ich genieße keine diplomatische Immunität«) oder der Art, wie die Familie vor dem Fernseher landet. Einmal ist dieser »Couch-Gag« ein Zoom aus dem Zimmer ins Weltall, als ob man bei Google Maps gelandet wäre. Immer weiter entfernt
sich der Blick ins Universum hinein und langt schließlich über Atome und DNS-Stränge wieder beim gelben Kahlschädel von Homer Simpson an. In anderen Episoden treten die Simpsons als Knet- oder Lego-Figuren auf. Es kommt zu Begegnungen mit der Familie Feuerstein, mit der Ästhetik der Monty Pythons oder James Bond. Nichts ist zu fordernd: Auch René Magritte (die Familie hängt im Museum als Bild an der Wand, darunter steht der Text »Ceci n’est pas un couch gag«) und die Beatles (die Simpsons als Sergeant-Pepper-Truppe) bekommt das Publikum zum Lachen vorgesetzt. Klare Ansage: Diese Serie ist so unberechenbar wie das Leben. Und lest mal nach, was Magritte so trieb.
xl012_C2_Serie Simpsons
17.06.2009
15:59 Uhr
Seite 78
Gesetze der Serie | Die Simpsons
cınearte
XL 012
Worum geht’s? Um den »American Way of Life« und seine Abwege: Ständig strebt jemand nach Profit, Aufmerksamkeit oder dem Ersten Platz in einem Vielfraß-Wettbewerb. Alles andere als Hochglanzbilder. Den USA wird mit Homer, der genauso zu epischen Taten wie zu Völlerei und Trotteligkeit neigt, der Spiegel vorgehalten.
78
Worum geht’s wirklich? Im Spiegel sehen wir uns natürlich selbst: Die Simpsons, das ist Welttheater für die Postmoderne, ernst gemeint und deshalb dreifach durch die Metamangel gedreht. Ob Religionswahn, Umweltzerstörung, Kriegstreiberei und Profitgier – hier werden heiße Themen angefaßt und in Gelb getaucht. Nachdem Homer schwule Paare in seiner Garage traute, gingen Konservative in den USA auf die Straße. Dieser Familienvater ist ehrlich und geradeheraus: Mit seiner täppischen Ignoranz untergräbt er die Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Und entlarvt damit immer wieder die Leute seiner Stadt Springfield. Für den deutschen Bestseller-Autor Daniel Kehlmann ist die amerikanische TV-Comic-Serie eines der »intel-
ligentesten und vitalsten Kunstwerke« unserer Zeit. Den Drehbuchautoren der Serie sei es gelungen, aus wohl über hundert wiederkehrenden Mitspielern »runde, psychologisch reiche Charaktere zu machen, die man, ohne zu zögern, so manchen Figuren der Weltliteratur an die Seite stellen kann«, lobte Kehlmann in einem Beitrag für den Spiegel: »Die Simpsons, das ist die Synthese von Disneyscher Buntheit und Tolstoischer Charakterzeichnung, von Voltaires Schärfe und der massenkompatiblen Präsenz von Pepsi, Starbucks und Burger King.« Das zeigt vor allem eins: Zu den Simpsons haben selbst Erfolgsautoren eine gut formulierte Meinung. Weil man an dieser Serie auch die eigene Welt vermessen kann.
Zeit und Ort. Matt Groening wollte nicht, daß sein Springfield geographisch festzulegen ist. Springfields gibt es in den USA fast so häufig wie McDonald’s an der Straßenecke… na gut, zumindest in jedem Bundesstaat wenigstens eines. Als der Simpsons-Kinofilm – übrigens kein Fortschritt zur Serie – beworben wurde, stritten sich 14 Springfields darum, die offizielle Heimpremiere abzuhalten. Am Ende konnte sich eine Stadt in Vermont freuen. Und die Stadt ist scheinbar aus der Zeit gefallen: Die Kinder wachsen nicht, das Baby Maggie fängt nicht an zu sprechen (wobei sie einmal eine Ausnahme macht und »Daddy!« sagt). Es gibt kaum Entwicklung (und wenn, sieht die Zukunft für Bart ziemlich schlecht aus). Springfield, das ist vor allem ein immerwährendes Jetzt, daß sich direkt an den Zuschauer richtet.
xl012_C2_Serie Simpsons
cınearte
17.06.2009
15:59 Uhr
Seite 79
Gesetze der Serie | Die Simpsons
XL 012
Stammpersonal. Das Stammpersonal ist eine ganze Stadt. Wen sollte man zuerst nennen? Den verfetteten Chief Wiggum, der es mit dem Gesetz nicht so genau nimmt, wenn er gerade Donuts ißt? Oder Montgomery Burns, Atomkraftwerksbetreiber und Machtechse von Springfield in biblischem Alter? Seine kraftlose Körpersprache mit den hängenden Händchen ist ein treffendes Porträt der Gier. Oder doch Apu, der indisches Besitzer des »Kwik-E-Mart«, bei dem der amerikanische Traum nicht so recht ankommt und der seine Kinder aus Not einmal an eine Reality-Revue verscherbelt? Jede Folge kann eine Nebenfigur in den Mittelpunkt zerren und eine ganz neue Person beleuchten: Jahrelang hat Barney nur gerülpst. Und dann gibt es die Folge, in der er sich als Filmemacher kurz über die Gosse erhebt – bis zum nächsten DuffBier. Aber er hatte seine 30 Minuten Ruhm.
Philosophischer Ansatz. Die Serie kennt keine Gnade, wenn sie mit dem Finger auf die korrupte Natur der Menschen zeigt. Aber das oder Skurrilität alleine hätte den anhaltenden Erfolg nicht begründet. Erfinder Matt Groening sagte einmal: »Wir tanzen an der Grenze zum dunklen Humor entlang. In den Simpsons können wir uns immer erkennen.« Die Simpsons sind anti-süß, anti-glamourös, aber auch antizynisch. In dieser Stadt haben alle Lebensmodelle und damit auch philosophischen Haltungen Platz. Deshalb ist es auch kein Wunder, daß es eben keinen einzige Philosophie gibt. Das Buch Die Simpsons und die Philosophie verstaut die Serie nicht in einer Schublade: Der Aufsatz »Homer und Aristoteles« zeigt zum Beispiel, daß die praktische Vernunft nicht in diesen Kahlschädel will. Und »Warum Maggie wichtig ist – Klänge der Stille aus Ost und West« stellt Sartres Philosopie der Worte und das Schweigen der östlichen Philosophen gegeneinander. Die Simpsons vertreten keine geschlossene Ideologie, machen aber Lust aufs Philosophieren.
Helden. »Do the Bartman« war die erste Berührung Deutschlands mit dem gelben Universum. Ein seltsamer Pop-Rap mit einer Piepsstimme, geschrieben von Michael Jackson, der sich 1990 in den Charts festsetzte. Erst danach lief die Serie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, und Bart stand damals im Mittelpunkt. Weniger boshaft und durchtrieben als heute, eher ein Widerstandskämpfer im System. Sein Vater Homer wirkte da eher blaß und mitleiderregend. Das hat nicht lange gehalten: Seine Ausfälle sind mittlerweile glorreich überhöht, in manchen Folgen kann das in einen Aktionismus ausarten, der einiges bewegt. Manchmal scheint er sogar zu abstrakten Gedanken fähig – Homer ist längst die zentrale Figur. Seine Tochter Lisa mag ihm intellektuell überlegen sein, Marge ihre Hausfrauenrolle immer wieder über Bord werfen. Aber im Ernst: Sind wir nicht alle vor allem ein bißchen Homer?
79
xl012_C2_Serie Simpsons
17.06.2009
15:59 Uhr
Seite 80
Gesetze der Serie | Die Simpsons
80
Vorbilder. Die Serie ist wie ein Schwamm. Ästhetisch, philosophisch, soziologisch, politisch – sie saugt ihre Zitate aus allen Bereichen des Lebens. Aber woher kommt der Stil? In seiner Jugend wollte Matt Groening so wie Charles Schultz zeichnen. Die Peanuts sind also nähere Verwandte, auch wenn Bart Simpson dem melancholischem Charlie Brown vermutlich in den Bauch boxen würde. Groening gibt zu, daß er Schultz’ feinen Stil mit Skurrilität ersetzte – aber die Berührungspunkte sind deutlich: Namentlich erinnert Barts Freund Milhouse van Houten an den Peanut Linus van Pelt. Überhaupt die Namen: Die Hauptcharaktere entstammen dem persönlichen Umfeld von Matt Groening: Sein Vater heißt Homer, seine Mutter Margaret, die beiden Söhne heißen Homer und Abe. »Ay Caramba«, kann man da nur mit Bart Simpson sagen. Groenings Familie trägt die Entfremdung angesichts des Erfolgs mit Fassung.
cınearte
Musik. Erstaunlich frisch ist der Score, den Danny Elfman für Die Simpsons komponierte – selbst nach zwei Serienjahrzehnten. Elfman hat für Tim Burton und Sam Raimi viele andere verquere Visionen erfolgreich vertont, und es ist erstaunlich, wie dieses Thema die Widersprüche vereint: bombastisch einerseits, aber ohne Pathos, stets gehetzt – und doch zu jedem Tempowechsel bereit. Wunderbar, daß Lisas SaxofonSolo sich erlaubt, die Aufregung und Perfektion quasi zu durchbrechen – jeder hat hier seinen eigenen Rhythmus.
Visuelle Merkmale. Gelb.
XL 012
Gimmicks. Wer Rang und Namen in den USA hat oder derzeit hip ist, wird mit einem Simpsons-Auftritt erst geadelt. Die Smashing Pumpkins oder Johnny Cash gaben sich die Ehre, aber genau schaute die dokumentarische Lasagne Michael Moore vorbei. Pamela Anderson wurde nachgemalt, aber auch Star-Architekt Frank Gehry. Der Zeitgeist wird gelb. Legendär sind auch die Helloween-Folgen, die zeigen, wie wenig diese Serie (nur) für Kinder gemacht ist. Bezugnahmen auf das Werk von Edgar Allan Poe, B-Horror und psychedelische Filme aus den Sechzigern zeigen, daß sich die Macher gerade hier austoben – und ziemliche Nerds sind. Auch sonst gilt: Das ständige Aufbrechen von dramaturgischen Strukturen gehört zu den Simpsons wie das immergleiche »Gute Nacht, John Boy« zu den Waltons. Die Gimmicks sind hart erarbeitet: An einer Folge sitzen die Autoren und Zeichner mindestens ein halbes Jahr.
xl012_C2_Serie Simpsons
cınearte
17.06.2009
15:59 Uhr
Seite 81
Gesetze der Serie | Die Simpsons
XL 012
Zahlen. Ganz einfach die erfolgreichste Zeichentrickserie der Fernsehgeschichte: Die Simpsons überholten vor über einem Jahrzehnt die Feuersteins, die Muppets (okay, nicht ganz Zeichentrick) brachten es auch nicht auf mehr als 120 Episoden. Die Simpsons haben die 400 Folgen dagegen überschritten. Daß die Serie 20 Jahre alt geworden ist, sieht man ihr nicht an. Ab 1991, zwei Jahre nach dem USStart, fanden sie den Weg nach Deutschland. Die jüngste Staffel wurde hier noch nicht ausgestrahlt, die letzte neue Episode sahen im März 1,89 Millionen Menschen auf Pro Sieben. Die Serie hat einen eigenen Stern auf dem Walk of Fame und hat über die Jahre 24 »Emmys« erhalten. Angesichts der vorabendlichen Dauerversorgung mit Wiederholung und weiterer geplanter Staffeln in den USA wird auch die nächste Generation sicher mit ihrer SimpsonsDosis vorsorgt.
Suchtfaktoren. Die Welt ist unübersichtlich geworden, und Die Simpsons wollen daran auch nichts ändern. Es gibt mittlerweile Hunderte Folgen – selbst Matt Groening sagt, er kann sich nur an einen Bruchteil erinnern. Aber Die Simpsons so etwas wie ein medialer Anker. Ein gezieltes, spitzes, Homersches »Nein!« kann Freundschaften begründen. Die Serie ist so etwas wie das Wetten, daß…? der Thirtysomethings; darüber reden geht immer. Im übrigen hilft die Mischung aus infantilem Humor und extrem kultivierter Anspielung, nicht zu früh erwachsen zu werden.
Einfluß. Zum 20. Jubiläum gibt es Simpsons-Briefmarken in den USA, schon im Jahr 2000 klebte die gelbe Familie auf kirgisischen Briefen. In der arabischen Welt heißt Homer Simpson Omar Shamsun; es herrscht Bierverbot in der Serie. Überall, wo sie zu sehen sind, wirkt die Familie aus Springfield als Gegenstimme und setzt sich im kollektiven Gedächtnis fest. Sie sind die Vorboten einer völlig entpolitisierten Demokratie, aber immerhin: die flache Meinung lassen sie sich nicht verbieten! Die lose Struktur der Serie, ihre stilistischen Brüche haben Serien wie Southpark und Family Guy erst möglich gemacht. Die Simpsons sind bejahender, versöhnlicher als ihre Nachfolger – ein einigendes Element für eine ganze Generation der 90er Jahre. Der Autor Chris Turner nannte sein Buch über das Phänomen Planet Simpson, und Generation-X-Autor Douglas Coupland schrieb das Vorwort dazu – das sagt eigentlich schon alles. Und doch hat die Serie ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. In einer der nächsten Staffeln soll eine Folge in Israel spielen. Nur auf eines können sich Juden, Christen und Muslime dabei einigen: Wut gegen Homer. Ein gelber Mann mit Bauchansatz und wenig Haar entspannt den Nahost-Konflikt mit Ignoranz. c
81
xl012_B2_Marc Rothemund
17.06.2009
16:38 Uhr
Seite 82
Porträt | Marc Rothemund
82
cınearte
XL 012
Der Geldsucher von Schwabing Marc Rothemund will einen Film über die Schwabinger Bohème und ihre »Königin« Fanny zu Reventlow drehen. Tolle Idee. Aber Geld bekommt er nicht dafür. Schade. Unser Autor hätte es ihm gerne gegeben.
Text und Fotos Christoph Gröner
xl012_B2_Marc Rothemund
cınearte
17.06.2009
16:38 Uhr
Seite 83
Porträt | Marc Rothemund
XL 012
83 Simplicissimus und mehr – Marc Rothemund auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Die Geschichte ist verrückt und wahr, zugleich ein historischer Stoff und modern: Fanny Comtesse zu Reventlow, alleinerziehende Mutter, Lebenskünstlerin und Schriftstellerin, widersetzte sich zeitlebens den Forderungen der wilhelminischen Gesellschaft. Ihr Leben umspannte genau die Kaiserzeit – von 1871 bis zum endgültigen Zusammenbruch 1918. Rebellisch blieben ihre Ansichten bis zum Ende, den Beweis dafür führte sie nicht nur mit ihren zahllosen Liebhabern an. Ihr Biografie ist untrennbar mit der bayerischen Hauptstadt verbunden, in der die gebürtige Husumerin lebte, als hier der Himmel laut Thomas Mann »von blauer Seide« war und »München leuchtete«. Die Reventlow war das personifizierte Leuchten. Ihr Leben sei »eines von denen (…), die erzählt werden müssen«, schrieb ihr Verehrer Rainer Maria Rilke. Marc Rothemund will genau das: »Die Königin von Schwabing« auf die Leinwand
bringen. Wenn er denn könnte. Denn Geld hat er derzeit nicht einmal für die Entwicklung. Am Tag des Treffens mit dem Regisseur steht die Sonne schon schräg, von blauer Seide am Himmel sprechen höchstens Reiseführer, die man im Regal lassen sollte. München wirkt manchmal, als hätte es sich kreative Energiesparlampen eingedreht: Bis es richtig leuchtet, vergeht Zeit. Aber wenn Marc Rothemund mit seinem Koautor Hellmut Fulss ins Synchronschwärmen über die Epoche kommt, ist ein wenig vom alten Schwabing zu spüren. Ein knapp 30seitiges Treatment hat er mitgebracht, es ist voll mit Fotos der Wende zum 20. Jahrhundert, die Biografie der rebellischen Gräfin findet hier kaum Platz. »Daß sich München Weltstadt nennen darf, liegt zum guten Teil an dieser Zeit.«, erzählt Rothemund. Und Fulss: »Was für eine Frau. Ihre Geschichte ist natürlich auch die von Schwabing. Da schwärmen alle von der
xl012_B2_Marc Rothemund
17.06.2009
16:38 Uhr
Porträt | Marc Rothemund
Vorgarten der Bohème: Der Regisseur am Kleinhesseloher See im Englischen Garten (oben) und mit seinem Koautor Fulss im »Alten Simpl« an der Türkenstraße auf der Suche nach Spuren des alten Schwabings.
84
Irgendwie sah das hier auch mal anders aus: Marc Rothemund an der Ecke Amalien- und Theresienstraße, wo sich einst Künstlerkreise im »Café Stefanie« trafen: Auferstehung eines anarchischen München. Bloß – wo war das Café? Diskussionen in Schwabing.
Seite 84
cınearte
XL 012
xl012_B2_Marc Rothemund
cınearte
17.06.2009
16:38 Uhr
XL 012
Künstlergruppe ›Der Blaue Reiter‹. Aber wie ist der Weltruf dieses Viertels entstanden?« Beide sitzen im »Alten Simpl« in der Türkenstraße. Als die Kneipe – nach der satirischen Wochenschrift – noch »Simplicissimus« hieß, schlug sich die Schwabinger Intellektuellenszene hier die Nächte um die Ohren, die Reventlow diskutierte mit und verdrehte den Männern den Kopf. Die Speisekarte hier verkündet es noch immer nostalgisch: »Die barfüßige Gräfin Reventlow, die Schwabing und den Rest der Welt als ›Wahnmoching‹ verstand«, und Intellektuelle wie Erich Mühsam, Oskar Maria Graf und Joachim Ringelnatz gaben sich ein Stelldichein. Die Bohemiens waren verrückt nach ihr, nach ihrem Freiheitsdrang und ihrer Sinnlichkeit. Schon 1899 hat sie in dem Essay Viragines oder Hetären? ihre libertinären Ansichten verbreitet: »Vielleicht entsteht noch einmal eine Frauenbewegung in diesem Sinn, die das Weib als Geschlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu fordern berechtigt ist, volle geschlechtliche Freiheit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper, die uns das Hetärentum wiederbringt. Bitte, keinen Entrüstungsschrei. Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen (…). Das Christentum hat statt deßen die Einehe und – die Prostituzjon geschaffen. Leztere ist ein Beweis dafür, daß die Ehe eine mangelhafte Einrichtung ist.« Das wirkt heute noch kontrovers, die Frauenbewegung stand quer zu diesen Ansichten. Aber in München gab es Raum für wilde Lebensentwürfe unter dem Prinzregenten Luitpold, die Stadt wurde zum Anziehungspunkt der Künstler. »Das reizt uns: Wir zeigen ein liberales, anarchistisches München«, sagt Helmut Fulss. Qualitäten, die man heute gemeinhin Berlin zuschreibt. München ist zweifellos bedächtiger (und teurer), die Betonung der Unterschiedlichkeit wirkt aber oft albern. Marc Rothemund jedenfalls pendelt zwischen den Städten und findet, beide hätten eine »Seelenverwandschaft«. Die Figur der Reventlow wäre auch in Berlin Ausnahmerscheinung. Zahlreiche Biografien und natürlich auch ihre Romane wie Herrn Dames Aufzeichnungen zeugen davon, in denen sie aus ih-
Seite 85
Porträt | Marc Rothemund
rem abenteuerlichen Leben schöpfte. Das ist weit mehr als die domestizierte Postkarten-Weltstadt mit Herz. Aber die dunkle Zeit Münchens als reaktionäre Hochburg, als Keimzelle der Nazi-Bewegung hat das nachhaltig überdeckt. »Ich war schockiert, wie wenig ich wußte über die absolute Hochzeit Schwabings«, gesteht auch Rothemund. »Die Künstler verbrachten den Tag bei einer Tasse Kaffee und konnten noch anschreiben«, sagt er. Neubauten monatelang für wenig Geld »warmzuwohnen«, sei eine billige Unterkunftsmöglichkeit gewesen. Überall seien die Spuren noch zu finden, sagt Rothemund und kommt mit auf eine kleine Spurensuche durch Reventlows »Wahnmoching«. Ein paar Minuten Fußweg vom »Simpl« entfernt, gab es früher das »Café Stephanie« an der Amalienstraße. Auf dem Weg dahin hängen in einem Antiquariat alte Simplicissimus-Ausgaben, das Stück für fünf Euro. Rothemund greift zu, schließlich publizierte die Reventlow hier Artikel über die wilhelminische Obrigkeit, der ihren Verleger Albert Langen vier Monate ins Gefängnis brachten. Die Geschichte der Künstler hängt hier noch in den Schaufenstern, nicht selten liegt sie auf der Straße. Nur das »Café Stephanie«, den zweiten großen Treffpunkt der Bohemiens, gibt es längst nicht mehr. Da hilft Rothemund und Fulss auch kein historischer Bildband, mit dem sie die Kreuzung an der Theresienstraße vergleichen. An den Neubauten ist nichts mehr zu erkennen. Aber um Motive machen sich Fulss und Rothemund keine Sorgen: »Hier gibt es Aufgänge, Flure, Treppenaufgänge, Innenhöfe, die suchst du in der ganzen Welt«, meint Rothemund. Er will seinen Film vor allem als Kammerspiel in Kneipen und Wohnungen anlegen, dort, wo sinnenfroh das Leben genossen wurde und intellektuelle Kämpfe ausgefochten wurden. Als Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Lebens gründete die Reventlow 1903 die erste Wohngemeinschaft im Deutschen Kaiserreich mit ihrer großen Liebe, dem polnischen Kunstmaler Bohdan von Suchocki, ihrem Sohn Rolf und dem neun Jahre jüngeren Schriftsteller Franz Hessel. Das »Eckhaus« an der Kaulbachstraße wurde für wenige Jahre zum Mittelpunkt der Schwabin-
85
17.06.2009
16:38 Uhr
Seite 86
Porträt | Marc Rothemund
ger Künstlerszene. Und Franz von Hessel später ein Vorbild für Jules und Jim – München nahm die Nouvelle Vague voraus. Das damalige Schwabing war ein »Zustand« für die Reventlow, den es gegen alles Reaktionäre zu verteidigen galt. Etwa gegen den Kreis der sogenannten Kosmiker, die sich zunächst in elitären Fantasien ergingen und ihre Feste in Togen feierten und später zu brutalen Antisemiten wurden. Im Gewand der Avantgarde steckte schon der fürchterliche Spießer. Auch von diesem »Schwabinger Krach« will Rothemund natürlich erzählen, Sechs Millionen Euro, so überschlägt er, würde die ganze Geschichte kosten. Aber bislang hat ihm die bayerische Filmförderung selbst 20.000 Euro für die weitere Entwicklung des Drehbuchs verweigert. Stattdessen dreht Rothemund nun erst einmal Komödie: Alles für Lila. Als »Notting Hill für Teenager« beschreibt er das – man merkt ihm an, woran das Herz hängt.
86
Über die Ablehnung reden will Marc Rothemund nicht. Schließlich vergrätzt es sich kein Regisseur in Deutschland mit den Förderinstitutionen, ohne die nichts läuft. Es mag an der derzeitigen Finanzkrise liegen, daß vor allem große Produktionsfirmen Geld zur Standortförderung bekommen, und ein anderes Argument könnte sein, daß es bereits einen Dreiteiler von Löwengrube-Regisseur Rainer Wolffhardt über die Reventlow gibt. Aber das war 1980, und über die »Weiße Rose« und Sophie Scholl gab es sogar schon zwei Filme, als Rothemund mit Sophie Scholl ein preisgekröntes Werk über die Widerstandskämpferin drehte. An dem Schwabing-Film soll auch Julia Jentsch wieder interessiert sein. Wie die Reventlow um die Dreißig, sagt Rothemund, ebenfalls keine Münchnerin. Nach seiner Filmografie kann man man jedenfalls von echter Leidenschaft für die Münchner Geschichte ausgehen. Nicht nur der Widerstandsikone Sophie Scholl hat er ein Denkmal gesetzt. Er war Regieassistent bei Dietls Schickeria-Standard Rossini, er hat Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit hier untersucht. Wenig erfolgreich war zwar sein Pornorama, der Ausflug in die Sexfilmindustrie der
cınearte
XL 012
Ihren Verleger brachten ihre Ideen ins Gefängnis: Fanny zu Reventlow verdrehte der Münchner Bohéme den Kopf – nicht nur in Gedanken.
1970er Jahre. Aber auch hier ist die persönliche Verbindung nicht von der Hand zu weisen, denn sein Vater hatte unter dem Pseudonym Siggi Götz viele dieser Streifen gedreht. Rothemund kennt das Viertel gut und auch seine Hinterhöfe. In einem der schönsten direkt am Englischen Garten wird er sich am nächsten Tag noch einmal beim Grillen ablichten lassen. Das steht für das LaissezFaire, daß er selber stets mit Cap, Sakko und Jeans lebt und auch in seinem Film haben will. Aber jedes dieser Bilder sagt auch: Ich kenne Schwabing! Ich kann Schwabing! »Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Wenn du siehst, was hier allein in den letzten 100 Jahren passiert ist, was es für ein reichhaltiges Reservoir an Geschichten gibt, dann fasziniert mich das besonders«, kommentiert Rothemund. Seine Treatment ist bisher Stoffsammlung, ihm fehlt noch die Form, die etwa Sophie Scholl zu einem intensiven Porträt machte. Aber das Leben der Fanny zu Reventlow bietet zahllose Wendungen. »Ich steh’ wieder auf, wenn der liebe Gott mich 1000 Mal in die Kniekehlen schlägt«, schrieb sie einmal in ihr Tagbuch, als sie mal wieder notorisch pleite war. Rothemund geht es zur Zeit mit der Finanzierung auch nicht anders. Aber den anarchischen Geist der Epoche auf die Leinwand zu bringen, wird er sich kaum nehmen lassen. Dazu ist er zu sehr in der Stadt und ihrem Filmschaffen: Bei dem Treffen im »Simpl« klingelt schließlich sein Telefon, er verabredet sich zum Abendessen – natürlich im Stammitaliener »Rossini«. c
Foto: Archiv
xl012_B2_Marc Rothemund
xl012_X_Abspann
c覺nearte
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 87
XL 012
Abspann | Letzte Bilder
a f-
87
Casablanca USA 1942 Regie Michael Curtiz Drehbuch Julius J. Epstein, Philip G. Epstein und Howard Koch Kamera Arthur Edeson Szenenbild Carl Jules Weyl Maske Perc Westmore Kost羹m Orry-Kelly Montage Owen Marks Musik Max Steiner Produktion Hal B. Wallis
Abspann
xl012_X_Abspann
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 88
Abspann | Vorspann
cınearte
XL 012
88
Lange Zeit war der Vorspann nur eine Folge von Texttafeln, die auflisteten, wer am Film so mitgearbeitet hatte. Allmählich erhielten sie mehr und mehr dekorative Elemente. Heute ist ein gelungener Vorspann ein eigener Kurzfilm, der in Stimmung und Stil des Hauptwerks einführt. Das ist das Werk von Spezialisten – genannt werden sie allerdings oft nicht einmal im Abspann. Bis jetzt.
Filmstills: DVD »Edward mit den Scherenhänden«, 20th Century Fox, 2000
Fantastische Schriften
xl012_X_Abspann
cınearte
17.06.2009
XL 012
18:42 Uhr
Seite 89
Abspann | Vorspann
89
Es schneit auf das weltberühmte Logo der 20th Century Fox. Und nicht golden strahlt der Schriftzug von der Leinwand, sondern ist in den fahlen blauen Schein eines Vollmonds getaucht. Bei Tim Burtons Gruselmärchen Edward mit den Scherenhänden mußte sich auch das mächtige Studio dem Gesamtkunstwerk unterordnen. Der Vorspann ist eine subjekte Kamerafahrt durch das verwunschene Schloß, in dem Edward von einem Wissenschaftler (dargestellt von der Horror-Ikone Vincent Price in einer seiner letzten Rollen) erschaffen wird: Schattenstarke Detailaufnahmen in bläulichem Licht von Treppenstufen, verwitterten Skulpturen und seltsamen Apparaten, die ineinandergeblendet werden. Alles ist in sanfter Bewegung – die Credits, deren Form in eine offene Schere paßt, drehen sich leicht im Bild, das seinerseits unaufhörlich weiterfließt. Darüber liegt die Musik von Danny Elfman, die der Komponist selbst einmal als sein bestes Werk bezeichnet hat. Und selten klafft die Ton-Bild-Schere so weit auseinander: Visuell könnte der Vorspann einem jener Mad-Scientist-B-Movies aus den 1940er Jahren entstammen – die spieluhrartige Melodie verleiht den unheimlichen Bildern eine traumhafte Note. »Mit den Haupttiteln versuche ich immer, die Stimmung des jeweiligen Stücks zu treffen«, erklärt Burton dazu. Edward war seine erste Zusammenarbeit mit dem Titeldesigner Robert Dawson, der uns schon den Kuß der Spinnenfrau versüßt hatte. Er führte seitdem auch in die weiteren fantastischen Filme von Burton wie Sleepy Hollow oder Big Fish ein. Die gleitenden Schriften haben es dem Designer angetan, wie man etwa im Vermächtnis der Tempelritter nachschauen kann – nur einer der 120 Filme, die Dawson seit einem Vierteljahrhundert geschaffen hat. Jan Fedesz
xl012_X_Abspann
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 90
Abspann | Mein Arbeitsplatz
cınearte
XL 012
Mein Arbeitsplatz Wie arbeitet man eigentlich für den Film? Wir fragten die Filmkomponisten Jakob Ilja.
90
»Ich dachte früher, es sei besser, schon während der Drehbuchentwicklung einzusteigen. Aber zum Komponieren brauche ich das Bild. Ich beginne in der Regel um 9 Uhr früh meinen Arbeitstag und beende ihn so gegen 23 Uhr, wobei ich abends nur noch editiere und den administrativen Teil meiner Arbeit erledige. Drei Wochen vor der Endmischung wird es dann stressig, weil die Zeit davonrennt. Freizeit gibt’s erst nach der Abgabe. In der Regel beginne ich die Arbeit an einem Film, indem ich mir zunächst eine leicht zugängliche Szene herausgreife. Dann nehme ich meine Gitarre und spiele einfach dazu, rein assoziativ: Töne, Fragmente, Rhythmen – ganz egal. Wenn es sich mit dem Bild verzahnt, zum Gestus, zur Atmosphäre paßt, dann bin ich auf dem richtigen Weg. Natürlich gibt es auch Vorgaben vom Regisseur, die mit einfließen. Bei dem aktuellen Projekt, dem DFFB-Abschlußfilm Schwerkraft von Maximilian Erlenwein, sollte die Musik roh, laut und verstörend sein. Das waren Charakteristika, die gewünscht waren und die sich aus den Bildern ergaben. Es geht mir aber auch immer um Wahrhaftigkeit. Gerade junge Regisseure haben oft Angst vor der Emotion, also eine Liebesgeschichte als solche konkret zu benennen und nicht als Vermeidungsstrategie analytisch zu zerpflücken. Und dann mache ich da eben in der Musik Vorschläge. Ich arbeite eher chaotisch, aber beständig. Wenn ich mein Leitthema gefunden habe, nehme ich es auf. Ich bringe es in Form, instrumentiere und arrangiere es. Diese ›Layouts‹ schicke ich dann dem Regisseur. Für manche Musikrichtungen engagiere ich aber auch Genre-Musiker. Bei Schwerkraft habe ich für die Psychobilly-Stücke – das ist eine trashige Form des Rockabilly – auf den Musiker Moe Jaksch zurückgegriffen. Der schüttelt mir so ein Stück quasi aus dem Ärmel. Der musikalische Kosmos des Films muß ja oft verschiedene Aspekte umfassen. Mit dem Regisseur treffe ich mich meist einmal die Woche. Dann wird diskutiert, nicht selten geht es heiß her. Alle zwei oder drei Wochen kommen auch die Produzenten hinzu. So ein Entscheidungsprozeß kann bis zu drei Monate dauern. Manchmal habe ich schon produziert und produziert, und es war für die Katz. Manchmal gibt es eine kreative Kehrtwende kurz vor der Mischung – dann muß ich eine Musik innerhalb von 24 Stunden komponieren und einspielen. In der Regel sind die Kompositionen aber eineinhalb Wochen vor der Endmischung fertig. Dann sage ich: Das ist gut so, das lassen wir jetzt. Die Regie ist nämlich unersättlich. Beim Komponieren verliere ich mich auch. Ich neige dazu, da noch ein Instrument und hier noch was Kleines einzufügen. Das überfrachtet die Komposition sehr leicht. Eine große Hilfe ist mir da meine Frau Ann-Katrin, die selbst Regie studiert hat. Ihr spiele ich alle meine Entwürfe vor, dann sagt sie: raus, raus, raus – und dann bekommt es eine klare Linie. Wir lesen auch die Drehbücher zusammen und schauen uns die Rohschnitte an. Deshalb bekommt sie im Abspann auch einen Credit als meine Koproduzentin.« Protokoll und Foto Karolina Wrobel
xl012_X_Abspann
cınearte
17.06.2009
XL 012
18:42 Uhr
Seite 91
Abspann | Mein Arbeitsplatz
91
Der Filmkomponist Jakob Ilja, Jahrgang 1959, heißt tatsächlich Jakob Friderichs und stand die meiste Zeit seiner Musikerkarriere als Gitarrist von »Element of Crime« auf der Bühne. Ganz woanders, nämlich beim Abwaschen in der Küche, lernte er den Regisseur und Drehbuchautor Ingo Haeb kennen. Der überredete ihn, für seine Narren die Musik zu schreiben. »Warum nicht?«, stimmte Friderichs bei und ahnte nicht, wie nervenaufreibend das Komponieren für den Film sein kann. So schlimm war es dann aber wohl doch nicht, denn Haeb stellte den Berliner kurz darauf auch Lars Jessen vor, für den er die Musikberatung bei Am Tag, als Bobby Ewing starb übernahm und zuletzt die Kompositionen der Schimmelreiter und Dorfpunks schuf. Dabei behauptet der Autodidakt, er habe keine Ahnung von Noten: Mit über 30 Jahren Erfahrung als Musiker komponiert er heute noch alles nach Gehör.
xl012_X_Abspann
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 92
Abspann | Statistik
cınearte
XL 012
Die Welt in Zahlen Filme und Fernsehserien, in denen Adolf Hitler in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird
253
Filme und Fernsehserien, in denen Jesus Christus in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird
278
Filme und Fernsehserien, in denen Santa Claus (auch bekannt als der Weihnachtsmann) in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird
725
Verhältnis der Auftritte von Jesus zu denen des Weihnachtsmanns
1:2,6
Platz, auf dem Disneys Hannah Montana mit ihrem Kinodebüt in den US-Charts einstieg
1
Wochen, die der Film diese Position hielt
1
Wochen, nach denen Hannah Montana auf Platz 10 stand
4
Filme unter den 15 kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten, die kein Teil einer Reihe sind
1
92
Male, die das Wort »fuck« in Martin Scorseses Good Fellas gesprochen wird Durchschnittliche Verwendung pro Minute
296 2
Male, die der Schauspieler Christian Bale in seiner fast vierminütigen Beschimpfung des DoP Shane Hurlbut am Set von Terminator: Die Erlösung das Wort »fuck« verwendet
38
Durchschnittliche Verwendung pro Minute
10
Zahl der Lebewesen, die in Tobe Hoopers Kettensägenmassaker Blutgericht in Texas aus dem Jahr 1974 getötet werden
5
Dauer des Originalfilms in Minuten
83
Ungefähre Minuten, um die die bis heute indizierte deutsche Version, gekürzt worden war
10
Alter, ab dem eine neue, um insgesamt 15 Minuten gekürzte Fassung heute in Deutschland freigegeben ist, in Jahren
16
Mindestzahl der Lebewesen, die im Animationsfilm Shrek aus dem Jahr 2000 getötet werden
68
Alterbegrenzung der FSK für Shrek in Jahren [1-3 | 9 | 14 | 18] Internet Movie Database [5-7] Movie Maze [8] Boxoffice Mojo [11] Youtube [13 | 17] DVD-Forum [15-16] Schnittberichte
0
xl012_X_Abspann
cınearte
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 93
XL 012
Abspann | Lexikon
J
Jugendfilm Das gab’s früher nicht. Vor 50 Jahren war das Kino noch eine Sache für Erwachsene. Höhepunkt eines Wochenendes, der Gesprächsstoff für die übrige Zeit gab: Große Romanzen, wilde Abenteuer – aber eben nichts für Kinder. Von Zeichentrickfilmen zur Unterhaltung und dem einen oder anderen pädagogischen Stück mal abgesehen – die Teufelskerle etwa, wo Spencer Tracy als tapferer Pfarrer Vaterersatz für eine Bande renitenter Halbwüchsiger ist. Oder der Hitlerjunge Quex, mit dem die Nazis um die gleiche Zeit dem Nachwuchs die Welt auf ihre Weise erklärten. Mit dem Leben ganz normaler Jugendlicher hatte beides nichts zu tun. Und das Rollenmodell war immer ein Erwachsener. Dann kam lange Zeit erst mal gar nichts. Bis in den USA James Dean als Rebel Without a Cause erschien, und in der Bundesrepublik Horst Buchholz als Halbstarker. Mitten im Wirtschaftswunder stellten zwei jugendliche Helden unbequeme Fragen. Die Antworten waren noch die alten, die Erwachsenen behielten das letzte Wort, und James Dean fuhr sich zu Tode, Horst Buchholz endete in der Astro-Show. Aber es war etwas in Bewegung gekommen. Mit dem Rock’n’Roll strebten auch die jungen Musiker auf die Leinwand und scherten sich wenig um Regeln – wie die Beatles in ihrem Dokuspiel A Hard Days Night. Die alten Autoritäten machte kurz darauf ein rothaariges Mädchen vollends unmöglich: Pippi Langstrumpf begründete Skandinaviens Vorsprung auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendfilms. Es dauerte aber noch ein paar Jahre, bis die Teenager richtig als Zielgrupe entdeckt wurden. Genau genommen hatten sie sich selber entdeckt: George Lucas, damals 29 Jahre alt, erzählte in seinem zweiten Langfilm American Graffity in einer Nacht vom Ende der High-School-Zeit, Freundschaften, Erstem Mal und den Träumen und Ängsten einer ungewissen Zukunft. Selbstfindung zwischen Drama und Komödie. Erstmals war die Jugend sich selbst ein Vorbild. Und war als zahlungskräftige Kundschaft entdeckt. American Graffity gab die Themen vor. Doch die Pubertät hat es in sich, wie jeder weiß, der schon mal da war. Weshalb die Teenie-Komödie auch leicht abrutscht und die Selbstfindung an der Grenze des Geschmacks verläuft. Wenn American Pie etwa haargenau dieselben Fragen angeht wie American Graffity, unterscheidet sich das doch stark vom Vorbild. Aber es geht auch anders. Lukas Moodyssons Raus aus Åmål etwa zur Homosexualität, Jason Reitmans Juno über eine Teenager-Schwangerschaft oder Benjamin Quabeck Nichts bereuen zur Frage, wie das alles nun eigentlich weitergehen soll. Die Antworten finden die jungen Helden letztlich selbst. Und zeigen, trotz angedrohter großer Dramen: Eigentlich ist doch alles ganz normal… Jan Fedesz
93
xl012_X_Abspann
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 94
Abspann | Buch
cınearte
XL 012
94
Die bewegten Bilder werden immer kompakter. Inzwischen hat der ganze Lawrence von Arabien schon in einem Mobiltelefon Platz und kann sich noch Dr. Schiwago zum Filmegucken einladen. Das war mal ganz anders gedacht. Vor mehr als einem halben Jahrhundert sollten die Bilder möglichst immer größer werden – ein Versuch gegen das aufkommende Fernsehen zu bestehen. Das konnte zwar nur schwarzweiß, in einem bullaugenartigen Fenster, und das Programm war auch nicht so besonders. Aber es wurde nun mal als die Technik der Zukunft angepriesen, und wer hip sein wollte, guckte in die Röhre. Dabei waren die Filmingenieure doch viel kreativer. Unter was für schillernden Namen sie sich immer neue Wege zur gleichen Idee ausdachten, war schon allein die Kinokarte wert: »Wonderama«, »Panoramico«, »Vista Vision«… da kann das Imax-Kino einpacken. Selbst der Ostblock machte mit im Wettstreit der Systeme. »Sovscope« zeigte die ganze Weite blühender Ähren und glücklicher Kolchosen im Abendrot. Die Berlinale hat dem kurzen Wunder, das bis heute noch seine begeisterten Anhänger hat (Tom Tykwer etwa hat sich als einer zu erkennen gege-
ben), in diesem Jahr eine Retrospektive gewidmet. Und siehe da: Licht und klar strahlten die Bilder von der Leinwand – feineres Korn, mehr Schärfe, vollere Farben. So ungefähr stellen sich Fernsehingenieure in Werbebroschüren wohl HD vor. Schlau machen kann man sich aber auch nachher, im Buch zur Retrospektive. Das versammelt nach einem einführenden Aufsatz zum Thema alle »sogennannten echten Breitfilme«, nach Verfahren sortiert und nennt nicht nur die Regisseure, sondern auch die Bildermacher, vulgo Kameraleute (dies nur als anerkennende Anmerkung, weil es leider immer noch nicht selbstverständlich ist). Die 21 Filme der Retrospektive werden ausführlicher vorgestellt, und obendrein gibt’s ein Glossar, das all die Fachbegriffe zum Thema erklärt. Damit man endlich weiß, was »Fox Grandeur« ist. Das alles in zwei Sprachen auf 166 Seiten mit vielen Bildern von vor und hinter der Kamera. Einen dicken Wermutstropfen gibt’s deshalb leider auch: Das Buch soll halt nur der Katalog zur Retrospektive sein. Was bedeutet: kein feineres Korn, keine volle Farben, sondern Lawrence von Arabien nur im Standardformat in Schwarzweiß. Fast so wie auf dem Handy. Carlo Vivari
Deutsche Kinemathek (Hg.): 70 mm – Bigger than Life | Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2008 | ISBN 978-3-86505-190-5 | 22,90 Euro
Fotos: Berlinale | Constantin
Die volle Breite
xl012_X_Abspann
cınearte
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 95
Abspann | Musik
XL 012
Tango zur Erlösung Es wird viel getanzt in Caroline Links Drama Im Winter ein Jahr, die Bewegung verspricht Ausbruch aus dem emotionalen Stillstand einer Familie, eingefroren in Trauer nach dem Tod des Sohnes. Dieser dreht sich selbst am Anfang noch quicklebendig im Schnee, die Kopfhörer über den Ohren, wobei die Musik, die der Zuschauer hört, von Niki Reiser stammt: minimalistische, ineinandergeschichtete Motive, gespielt von Klavier und Gitarre. So lakonisch und lauernd, daß man meint, Reiser hätte für einen Western komponiert – im Stil von Ennio Morricone, bei dem der heute 51jährige Schweizer Filmkomponist vor langer Zeit tatsächlich mal einen einwöchigen Workshop absolviert hatte. Reiser spielt hier das Lied vom Tod und der Trauerarbeit, ohne in pathostrunkene Melodien zu verfallen. In diesem Jahr ausgezeichnet mit dem »Deutschen Filmpreis«, übt sich sein Score, die vierte Zusammenarbeit mit Caroline Link, in Zurückhaltung. So, wie die Familie sich nur langsam, mit Hilfe eines Malers, aus der Erstarrung befreit, so tastet sich Reisers Score in motivischen Kreisbewegungen voran. Gitarren-Arpeggien erzeugen eine innere Spannung, die sich in keiner Melodie entlädt.
Im Film drückt Tochter Lilli tanzend ihre Trauer und Wut zu Peter Gabriels »Signal to Noise« aus. Das episch stampfende Orchesterstück gab auch der zentralen Kampfszene in Scorseses Gangs of New York Drive; auf dem Soundtrack zu Im Winter ein Jahr fehlt es. Stattdessen bringt der »Tango für Max« Abwechslung, von Reiser à la Gotan Project komponiert und mit belebender Wirkung: Wenn Geige und Akkordeon mit elektronischen Beats unterlegt werden, fährt selbst Josef Bierbichler (im Film) der Tango in die Beine. Zum versöhnlichen Finale von Im Winter ein Jahr fällt erneut der Schnee – Sängerin Alev Lenz summt und haucht Reisers introspektiver Musik warme Gefühle ein. Auf der Score-Veröffentlichung wurden die zwei Tracks mit ihr an den Anfang gestellt, was dramaturgisch eher unglücklich ist, wartet man doch beim weiteren Hören vergeblich auf ein Wiederauftauchen ihrer Stimme. Stattdessen hört die CD mit einer Reprise eines energetischen Gitarrenthemas auf, mit dem Reiser Lillis letztlich scheiternde Affäre mit einem Künstler unterlegt. So steht, im Gegensatz zum Film, am Anfang der CD die sanfte Erlösung. Die Krise kommt danach. Michael Stadler
Niki Reiser: Im Winter ein Jahr | Königskinder Schallplatten | ASIN B001JCZYN6
95
xl012_X_Abspann
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 96
Abspann | Musik
cınearte
XL 012
96
Batman und der britische Fernsehmoderator David Frost mögen auf den ersten Blick wenig gemein haben. Und doch, musikalisch läßt sich leicht eine Brücke schlagen, zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man Hans Zimmers Musik für Ron Howards Frost/Nixon mit seinen, zusammen mit James Newton Howard komponierten Scores für die letzten beiden Batman-Filme vergleicht. Resultat: verdächtig ähnlich. Cello und tiefe Streicher puschen im Ostinato die Helden voran, der Rhythmus ist schnell wie der Puls eines Sprinters, und da ergibt sich schon eine Verbindung: jene Entschlossenheit, die Batman und Frost auch brauchen, um sich im Duell mit ihren irre smarten Kontrahenten zu beweisen. Nixon ist ein Joker ohne Grinsen, dafür mit Schweiß auf der Oberlippe. Um ihm nach Watergate ein Schuldgeständnis vor der Fernseh-Nation abzuringen, müssen Frost und seine Helfer alles in die Waagschale werfen, was sie an journalistischen Kniffen drauf haben; das Vergnügen, das in der Recherche, im riskanten Spiel liegt, kann man den verspielten, gar beschwingten Tracks »Beverly Hilton« und »Insanely Risky« ablauschen. Das stete Ticken der Percussion läßt dabei keinen Zweifel: Der Countdown zum Bekenntnis läuft.
Bis dahin gönnt die Musik kaum Atempausen, »Frost Despondent« ist ein atmosphärisch dichter Moment der Melancholie, Synthie-Geigen dürfen im Track »Cambodia« schluchzen – im Film bekommt Nixon Dokumaterial vom KambodschaKrieg gezeigt. Der Ex-Präsident soll berührt werden. Und gibt am Ende nach: Das schnelle KlavierMotiv von »The Final Interview« wird in »Nixon Defeated« zur elegischen Untermalung einer Niederlage ausgebremst. In der finalen Suite »First Ideas« mischt Zimmer kalte Klang-Teppiche mit Score-Motiven – es handelt sich dabei wohl tatsächlich um die Resultate erster Gedankengänge, vor den im Film verwendeten Kompositionen. Da hat einer wieder bei sich geklaut – und war doch inspiriert. Kurioserweise funktioniert nämlich der dunkle Zimmer-Sound im Politdrama besser als bei Batman: Beim Dunklen Ritter zeichnet die Musik eine Bewegung nach, die man sowieso schon sieht. Bei Frost/Nixon dynamisiert sie eine Geschichte, die sich in Gesprächen, im Stehen, auf zwei Stühlen abspielt. Die Action findet in den Köpfen statt. Zimmer macht das Ticken der Hirnzahnräder hörbar. Michael Stadler
Hans Zimmer: Frost/Nixon | Colosseum | ASIN B001LHMVD0
Fotos: Universal | Archiv [5]
Score reloaded
xl012_X_Abspann
cınearte
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 97
Abspann | Tip 5
XL 012
Genial daneben Eigentlich ist Leben ganz einfach. Fünf talentierte Nichtsnutze, die zeigen, wie erträglich die Leichtigkeit des Seins doch ist.
Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe [USA 1968] Weit im wilden Westen ist noch alles möglich. Doch James Garner sucht bereits nach unbegrenzteren Möglichkeiten, die er noch weiter westlich in Australien vermutet. Nur um die Reisekasse aufzubessern, verlängert er seinen Zwischenstop und übernimmt den Job des Sheriffs im Goldgräberstädtchen Calendar. Wodurch er sich mit der örtlichen Verbrecherfamilie anlegt. Welche allerdings an seinen unkonventionellen Methoden, für Recht und Ordnung zu sorgen, alsbald verzweifelt. Die Tochter des Bürgermeisters erobert er nebenbei auch. Diva [Frankreich 1981] Zwei Stunden dauert Jean-Jacques Beineix’ Kult-Debüt um eine geklaute Kassette, die in der Tasche eines Postboten landet. Der hat seinerseits ein Konzert illegal mitgeschnitten und erlebt nun, wie gefährlich der Verstoß gegen das Urheberrecht sein kann. Fast zwei Stunden lang sitzt derweil Richard Bohringer scheinbar teilnahmslos im Hintergrund herum und puzzlet. Als er endlich fertig ist, zeigen die abertausend Teile nichts weiter als eine winzige Möwe vor einer riesigen Welle. Und der Künstler erhebt sich und löst alle Probleme mit zwei trägen Handgriffen. An deiner Schulter [USA, Großbritannien, Deutschland 2005] Dieser Titel steht garantiert nicht zum letzten Mal hier. Demnächst werden wir uns fünf Filme mit Kevin Costner als Ex-Baseball-Spieler vornehmen. In Mike Binders Familiendrama verbringt er also seine reichliche Freizeit als Radiomoderator, signiert Basebälle oder gießt sich einen hinter die Binde. Letzteres am liebsten und lieber noch mit der Nachbarin, um die es in diesem Film eigentlich geht und deren Lebenskrise (der Mann ist ihr abhanden gekommen, und die vier Töchter postpubertieren heftig) der Sportler nebenbei auflöst. Stirb langsam [USA 1988] Zugegeben – nicht ganz der Lebensentwurf, den wir uns so vorstellen, aber wie Bruce Willis barfuß und unbewaffnet ein Hochhaus zertrümmert und mit dem Böse-Buben-Club abräumt, hat schon was. Erst recht, weil er das ganz und gar nicht freiwillig tut. Denn eigentlich ist er nur auf die Weihnachtsfeier gekommen, um seine Eheprobleme zu lösen. Also stapft er blutend über Glasscherben und jammert mehr als einmal, daß er ganz woanders sein will. Nicht sehr männlich. Aber ungeheuer cool. Im Zeichen der Jungfrau [USA 1988] Noch so ein Titel, der demnächst wieder auftaucht, wenn wir die fünf besten Serienmörderfilme empfehlen – zwischen Schweigen der Lämmer und Sieben. Dabei nehmen Kevin Kline als Hippie-Profiler und Alan Rickman als sein abgedrehter Malerfreund und Computerexperte das Genre nicht zu ernst, sondern spielen mit allen Stereotypen bis zur verblüffenden Auflösung. Zudem liefert uns John Patrick Shanley einen der coolsten Aufreißsprüche, die sich ein Drehbuchautor je erträumt hat. Auch wenn der in der Wirklichkeit nur selten funktioniert.
97
xl012_X_Abspann
17.06.2009
18:42 Uhr
Seite 98
Abspann | Rätselraten
cınearte
XL 012
Lebensweisheiten 98
Weniger ins Kino gehen und lieber ein gutes Buch lesen? Die Weisheiten des Lebens lauern mitunter da, wo man sie am wenigsten vermutet.
Unser Held hat sich nicht darum gerissen, daß die Massen ihm hinterherlaufen und von ihm Erleuchtung fordern. Darum fordert er sie auf, selber zu denken und ruft ihnen zu:
Ihr seid alle Individueen! Worauf die Menge antwortet:
Nur einer erwidert:
Ich nicht. Wir wollen wissen: Aus welchem Meisterwerk der Kinematografie stammt dieses Zitat? Wenn Sie die Antwort wissen, schreiben Sie sie bitte auf eine hübsche Postkarte und senden Sie das Ganze an: cinearte – Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg. Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung 15 Mal je eine DVD aus der Reihe »Screwball Comedy – Hollywoods schönste Beziehungskomödien«. Einsendeschluß ist der 20. September. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen (das müssen wir schreiben). Wonach wir voriges Mal gefragt hatten? Im Sumpf des Verbrechens.
Fotos: Verleih | Süddeutsche Zeitung | Montage: cınearte
Wir sind alle Individueen!
xl013_O_Titel
20.09.2009
1:34 Uhr
Seite 3
MEET ALEXA AT NAB THE MOST ADVANCED DIGITAL CAMERA SYSTEM WITH THE HIGHEST DYNAMIC RANGE AND SENSITIVITY ON THE MARKET
IT’S NOT JUST ANOTHER DIGITAL CAMERA, IT’S AN ARRI. REGISTER FOR A SCHEDULED DEMO AT ALEXA@ARRI.COM OR SEE US AT BOOTH C6737 NAB—NATIONAL ASSOCIATION OF BROADCASTERS SHOW IN LAS VEGAS, EXHIBITION DATES APRIL 12-15
www.arridigital.com
www.arridigital.com
xl013_O_Titel
20.09.2009
1:34 Uhr
Seite 3