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Das Magazin f端r angewandte Filmkunst


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Zum Geleit

Impressum Ausgabe 013 vom 30. September 2009. Anschrift: cınearte Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg. Redaktion: Peter Hartig (verantwortlich), Tel. 0951-2974 6955. Anzeigen: Michael WespBergmann (verantwortlich), Tel. 089-5529 8563. Redaktionsschluß ist vier Wochen vor Erscheinen der Ausgabe. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung. Namentlich gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion. Nachdrucke, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Gerichtsstand ist Bamberg. Es gilt die Anzeigenpreisliste 8 vom 1. Januar 2009. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Reiner Bajo, Christoph Brandl, Jan Fedesz, Sabine Felber, Romain Geib, Christoph Gröner, Connie van Opeln, Arne Orgassa, Michael Rathgeber, Max Romero, Michael Stadler, Tina Thiele, Ian Umlauff, Carlo Vivari, Karolina Wrobel, Katharina Zabrzynski und die Fotografen der Agentur Ostkreuz. Soundtrack bei der Erstellung dieser Ausgabe, unfähig einer Erklärung: Glenn Miller »…Plays Famous Hits« (Philips, 6641 169 D); The Who: »Quadrophenia« (Polydor, 2625 037); Fischer-Z: »Red Skies over Paradise‹ (EMI, 1A 062-83100). Layoutkonzept: Jana Cerno, www.cernodesign.de. Druck: Creo-Druck, 96050 Bamberg Vertrieb Einzelverkauf: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf

Foto: Sabine Felber

cınearte XL erscheint viermal jährlich und wird herausgegeben von Peter Hartig in Kooperation mit www.crew-united.com. Der Einzelverkaufspreis beträgt 5 Euro. Diese Ausgabe wird allen Mitgliedern der Filmberufsverbände BVK, SFK, BFS und BVB im Rahmen ihrer Mitgliedschaft ohne besondere Bezugsgebühr geliefert. Keine Haftung bei Störung durch höhere Gewalt. cınearte XL wird gefördert von der Kulturwerk der VG Bild Kunst GmbH, Bonn.

Liebe Leser, natürlich finden wir es gut, wenn man auch mal hinter die Kulissen guckt, wo die Filmkunst angewandt wird, und nicht immer nur auf die Leinwand. Lothar Just von Bayerns Filmförderung hatte das vor fünf Jahren erkannt und mit der Deutschen Journalistenschule in München einen Filmtag in deren Lehrplan eingetragen. Damit die angehenden Journalisten fürs Gesamtumfeld der Filmproduktion sensibilisiert werden: Film werde »allzuoft feuilletonistisch als reines Kunstwerk betrachtet und weniger als Wirtschaftsgut, das es aber auch ist.« Also erklären Praktiker all das, was fehlt, die Studenten schreiben einen Artikel zum Thema, der beste wird mit dem »Förderpreis Filmjournalismus« ausgezeichnet. In diesem Jahr ging es um die Synchronisation. Den prämierten Text Nur die Stimme zählt von Katharina Zabrzynski und Arne Orgassa veröffentlichen wir als Magazin, das Filme auch gerne feuilletonistisch als reines Wirtschaftsgut betrachtet, in dieser Ausgabe. Wo an der Kunst gearbeitet wird, schauen wir gerne zu – am liebsten über alle Abteilungen hinweg und freuen uns, wenn andere das auch so sehen. Tina Thiele ist Autorin des Standardwerks Casting und betreibt die Internet-Plattform www.casting-network.de, die mit dem Innovationspreis des Kulturstaatsministers ausgezeichnet wurde. Ab dieser Ausgabe wird sie in ihrer eigenen Kolumne regelmäßig über das Thema Cast und Casting berichten und damit auch unser Blickfeld erweitern – als Zeitschrift für die gesamte Branche. Und falls Sie sich wundern, wo denn unsere andere Kolumne zum Dokumentarfilm geblieben ist: Die ist in dieser Ausgabe gewachsen. Als Anfang September 24 Stunden lang der ganz normale Alltag einer Hauptstadt über die Bildschirme lief, packte das nicht nur viele Zuschauer. 24h Berlin zeigte, daß erstens auch Fernsehmacher frische Ideen haben, wenn man sie nur machen läßt, und zweitens auch Dokumentarformate fesseln können, wenn man sie nur zeigt. Beiden haben wir darum unser Portfolio gewidmet. Herzlichst, Ihr

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Inhalt

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Trickfilmer Ein künstlerisches Talent sei bei Alex Lemke nicht zu erkennen, meinte die Hochschule. Gut, daß er das nicht weitererzählt hat. Sonst sähe der Herr der Ringe heute anders aus.

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Nur die Stimme zählt Wenn Ursula von Langen auf dem Regiestuhl Platz nimmt, ist der Dreh schon gelaufen. So soll das auch sein. Denn nun hilft sie fremden Filmen, ihre Sprache zu finden.

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Mensch und Monarch Bloß keine Ausstattungsschlacht! Versprach Jo Baier und nahm sich den französischen König Henri IV vor. Aufwendig wurde es trotzdem.

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Komposition aus Klang und Bild Am Anfang steht ein Nahtod-Erlebnis, das Piotr Sobocinski in traumhafte Bilder gefaßt hat. Leider wurde Angel Eyes der letzte Film, den er vollendete.

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Symphonie einer Hauptstadt Blöde Idee! Wer hockt sich denn einen ganzen Tag lang vor den Fernseher, um zuzugucken, was voriges Jahr vor der eigenen Tür passierte? Oder vielleicht doch gar keine so blöde Idee…

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Schweizer, deutsch Lustige Drehbücher schreiben kann Alain Gsponer nicht. Aber lustige Tragödien daraus machen.

Der Regisseur Alain Gsponer liebt Familienaufstellungen. Wir auch, seitdem wir seine Filme gesehen haben.

Foto: Sabine Felber

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BROADCAST SERVICES GMBH Fritschestraße 27/28 10585 Berlin | T +49.30.230 989 0 Waisenhausring 8 06108 Halle (Saale) | T +49.345.217 52 96 www.camelot-berlin.de

TEAMS & TECHNIK

Vermischtes 03 03

Zum Geleit Impressum

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Ruhm & Ehre Produktion Technik

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Auf der Couch Casting Gesetze der Serie

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Letzte Bilder Vorspann Mein Arbeitsplatz Lesen – Sehen – Hören Lexikon Tip 5 Parallelmontage Rätsel


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Vorspann | Ruhm & Ehre

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Foto: Walt Disney

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Vorspann | Ruhm & Ehre

Große Krabbler Daß George Lucas in der Mitte der Anzug ein wenig verrutscht ist, liegt vermutlich an der Begeisterung. Schließlich durfte der in Würden ergraute Regisseur Anfang September einen der wichtigsten Preise auf dem ältesten Filmfest der Welt überreichen. Die anderen fünf Herren scheinen den »Goldenen Löwen« weitaus gelassener entgegenzunehmen. Weshalb man sich von ihrem seriösen Äußeren auch nicht täuschen lassen sollte. Im dunklen Anzug mit Schlips stecken einige der größten Kindsköpfe der Filmbranche: John Lasseter (links neben dem Löwen) ist der kreative Kopf hinter den unglaublichen Erfolgen des Animationsstudios Pixar, um ihn herum seine Regisseure: Lee Unkrich (links) hat gerade die dritte Version der Toy Story fertiggestellt, Brad Bird (ganz rechts) brachte uns mit Ratatouille die Finessen der französischen Küche näher, und Andrew Stanton neben ihm führte uns mit Findet Nemo erst in die Tiefsee und dann mit Wall-E in die unendlichen Weiten des Weltalls. Vor ihnen kniet Peter Docter, der in Venedig mit Oben das zehnte Abenteuer aus den Pixar-Studios vorstellte. Die gelten inzwischen als die Walt Disneys des neuen Jahrtausends, weshalb die Disneys, die zwar toll zeichnen können, aber mit der modernen Technik so ihre Probleme haben, das junge Pixel-Kombinat vor drei Jahren übernommen hatten – und umgehend Lasseter eine Schlüsselrolle in der Kreativabteilung gaben. All das beeindruckte auch die Festivalleitung am Lido. Sie zeichnete Pixar, das erst vor 14 Jahren mit Toy Story die Kinos betreten hatte und sogleich Das große Krabbeln begann, schon für ein Lebenswerk aus. Was auch deshalb beachtlich ist, weil diese Ehre bislang nur Einzelpersonen widerfahren ist. c

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Vorspann | Produktion

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Mächtig schmächtig

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Comic-Verfilmungen liegen voll im Trend und dürfen selbst vor den größten Klassikern keine Hemmungen haben. Aber ausgerechnet Tim & Struppi? Zwischen all den Bat- und Spider-Männern wirkt der rasende Reporter reichlich schmächtig. Außerdem ist er Belgier. Andererseits sind das Umstände, die einen Regisseur wie Steven Spielberg noch nie abgeschreckt haben – man denke nur an E.T. und A.I., wo die zierlichsten Helden die größten Epen tragen. Was auch der neuseeländische Regisseur Peter Jackson weiß, bei dem kleinwüchsige Gestalten gar eine ganze Trilogie trugen, in der sie Orks, Zauberern und sogar dem Herrn der Ringe widerstanden. Weshalb sich die beiden Regisseure zusammentaten, um Tim & Struppi mit einem ihrer 24 Abenteuer erneut auf die Leinwand zu holen. In neuer Form: Als Zeichentrick- und als Realfilm hat Tintin, wie der vor 80 Jahren erdachte Comic-Klassiker von Hergé im Original heißt, schon seine Abenteuer bestanden. Jetzt bekommt er neues Leben als 3D-Motion-Capture im Stil von Beowulf und Polarexpress eingehaucht; das heißt, es spielen prominente Schauspieler, aber am Ende sieht doch alles aus wie ein Computerspiel. Bei Giant Studios in Los Angeles inspizierten die beiden Regisseure den Stand der Technik und hatten sich zur Einstimmung die Melonen des glücklosen Detektivpaars Schulze und Schultze aufgesetzt, das dem Reporter ständig auf den Fersen ist. Auf der Motion-Capture-Bühne versucht sich Spielberg an einem Rig, mit dem er seine virtuelle Kamera steuern und in Echtzeit auf einem Monitor kontrollieren kann. Jackson schaut im Hintergrund genau hin, schließlich kennt er sich aus: Giant Studios waren nicht nur an James Camerons Avatar beschäftigt, sondern auch an seic ner Herr-der-Ringe-Trilogie.

Foto: Sony

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Vorspann | Produktion

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Foto: Plazamedia

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Vorspann | Technik

HightechBrutzeln Blicken wir mal über den Tellerrand, Johann Lafer tut es schließlich auch. Der Sterne- und Fernsehkoch enthüllte im Sommer seine Begeisterung für gartenfrische Technik. Zwei Jahre hatte er über den Umbau seiner Kochschule nachgedacht, die er unweit seines Feinschmeckerrestaurants betreibt und dann reichhaltig investiert. Am Ende waren 20 Kilometer Kabel für ein Wunderwerk wie aus einem Science-Fiction-Film verlegt: Absenkbare Küchenzeile, HD-Bildschirme und -Kameras machen das Kochenlernen leichter, LED-Lampen tauchen das Ensemble aus Lack und Olivenholz in jegliche Lichtstimmung, über einen Rechner wird von Licht und Temperatur über Video und Musik bis hin zu Herd und Kühlschrank alles zentral gesteuert. Die Bedienung ist der eigentliche Clou: Neben der Sprachsteuerung ließ sich Lafer vom Berliner Heinrich-Hertz-Institut, einer Abteilung des Fraunhofer-Instituts, ein gigantisches Trackpad entwickeln. Das wird aber nicht einfach mit dem Finger auf der gut einen Meter breiten Fläche bedient, sondern mit Handbewegungen in der Luft darüber, die von Kameras »gelesen« werden. Hinten im Hof geht’s weiter: Da hat der Koch mit der Münchner Plazamedia sein eigenes Studio eröffnet, TV-Skyline stattete es mit kompletter Regie- und Aufnahmetechnik von Herstellern wie Philips und Sony aus. Neben der Küchenzeile gibt es auch Eßplatz und Lounge, je nach Bedarf, denn alles ist modular gebaut. Im »TV Studio Guldental« will Lafer nämlich auch andere an Pfannen und Technik lassen. Das spart nicht nur eigene Reisezeit oder den Aufwand, Ü-Wagen über die idyllischen Landstraßen an den Hunsrück zu holen: »Richtige« Fernsehstudios stoßen nämlich leicht an die Grenzen ihrer Lagerkapazität, wenn die Kochkünstler mit Geschirr und Frischwaren anrücken. c

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Interview | Alex Lemke

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Foto: Marco Nagel, Alex Lemke

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Interview | Alex Lemke

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Wer mal wieder durch die Aufnahmeprüfung an der Filmschule gerasselt ist, braucht jetzt gar nicht tapfer zu sein. Sondern kann immer noch Pionierarbeit leisten. Oder bei einem der größten Projekte der Filmgeschichte glänzen. Oder beides. Alex Lemke hat es vorgemacht.

Interview Peter Hartig

Herr Lemke, warum schwärmen VFX-Leute eigentlich alle für Ray Harryhausen? Gummimonster, die in Stop-Motion über die Leinwand ruckeln, sollten doch keinen anständigen Computerkünstler mehr hinterm Rechner hervorlocken? Harryhausen ist einfach der Meister auf dem Gebiet. Ich mag seine Filme. Wir arbeiten heute im Team – er hat alles alleine gemacht: Storyboards, Animation, Matte Paintings… Und er ist ein netter Typ, wie man gleich merkt, wenn er einen Vortrag hält. Er ist auch das prominenteste Opfer der Revolution bei den Trickbildern, weil er nicht glaubte, daß seine Technik durch Computer zu übertreffen sei. In den 90er Jahren waren Visuelle Effekte aus dem Rechner, kurz VFX, die Sensation und eroberten allmählich die Leinwand. Wie verirrte man sich damals in die Branche?


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Interview | Alex Lemke

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In der zweiten Hälfte der 90er schnupperte Lemke zum ersten Mal Neuseelandluft: Alex Proyas’ Dark City wurde aus Modellen gebaut, die ins Bild eingepaßt wurden. Die VFX-Abteilung empfand so die düstere Romantik der Science-Fiction-Story ein. Und Lemke war nach seiner Rückkehr ein internationaler Experte.

getreten. Lutz war es nicht besser ergangen. Er war ebenfalls zweimal an der HFF abgelehnt worden, vielleicht war er mit seinem Bewerbungsfilm der Zeit einfach zu weit voraus gewesen – es war ein früher »Mokumentary«: Er nahm die Fahrt der ersten Eisenbahn in Deutschland zwischen Nürnberg und Fürth zum Anlaß, die fiktive Geschichte des ersten Selbstmörders, der sich auf die Gleise wirft, zu erzählen. Da liegt er dann und wartet auf den Zug, der mehrere Tage Verspätung hat, während seine Frau ihn in der Zwischenzeit mit Essen und Trinken versorgt… eigentlich eine sehr witzige Geschichte. Lutz hat aber in der Zwischenzeit tatsächlich einige Kurzfilme inszeniert und geschrieben. Wie kommt man nach so einem verpaßten Einstieg trotzdem weiter? Mein Bruder machte ein Praktikum bei Blow-up Film in München, ich ging erstmal den Umweg über ein Studium, merkte aber schon im ersten Semester, daß dies nicht ist, was ich wollte. So kam ich auch zu Blow-up. Wie kann man sich so ein Praktikum vorstellen? Als pures Learning-by-doing. Ich hatte ja keine Ahnung von Technik und Geräten – mein Vorwissen bestand aus dem, was ich während eine Foto-

»Es war die ideale Zeit, um anzufangen. Der Deutsche Film raffte sich wieder auf, die Postproduktionsbranche befand sich im Umbruch. Arri Digital war so eine kreative Ursuppe, als ich dort anfing.«

Fotos: New Line

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Indem man einen fünf Jahre älteren Bruder hat, der ebenfalls in der Branche arbeitet. Lutz hat sich auf Titelsequenzen spezialisiert und unter anderem den Vorspann für Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem mit den bewegten Motiven des Plakats geschaffen. In der Zwischenzeit arbeitet auch er digital und hat unter anderem die Vorspänne für Mord ist mein Geschäft, Liebling und The International realisiert… Soll ich jetzt wirklich meine Lebensgeschichte erzählen? Bitte. Wir hatten uns immer für Filmtricks interessiert und die dann auf Video nachgedreht. In der Schule hatte ich Kunst als Leistungskurs – und meine Facharbeit war konsequenterweise ein Super-8Film. 1990 gab’s dafür in Nürnberg beim Jugendfilmfestival sogar den Publikumspreis. Also habe ich mich nach dem Abitur an der Deutschen Filmund Fernsehakademie in Berlin (DFFB) für den Animationsstudiengang beworben. Mit Erfolg? Im Gegenteil. Es war ein herber Dämpfer: »Die Arbeiten lassen eine künstlerische Fähigkeit nicht erkennen«, lautete die Absage. Daraufhin habe ich meine Bewerbung an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) gleich in die Tonne


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kurses in der Schule gelernt hatte. Nun stand ich vor dem Crass-Tricktisch, und es hieß: Mach mal. Erschreckend, aber zugleich auch toll, weil einem etwas zugetraut wird. Man lernt sehr viel und schnell auf diese Weise. Und kam zu dieser Zeit offenbar auch schnell voran – nach dem Praktikum wurden Sie Geschäftsführer… Das klingt toller als es ist. Ich ging für ein halbes Jahr nach Wiesbaden zu einer Trickfirma. Der Besitzer war gestorben, die Firma stand vor der Entscheidung, sich völlig auf die neue Technik umzustellen oder zu schließen. Ich habe mit der Witwe die Geschäfte abgewickelt. Was mir gute Einblicke in kaufmännische und organisatorische Belange verschafft hat. Womit Sie sich für die Postproduktionsabteilung bei Arri empfahlen. Nein, das waren eher die handwerklichen Erfahrungen aus dem Praktikum. Die Postproduktionsbranche in Deutschland befand sich Mitte der 1990er Jahre ja noch im Aufbau – oder im Umbruch, wenn man so will. Weg von der traditionellen Technik hin zu dem, was wir heute damit verbinden, wo fast alles durch Rechner läuft. Arri hatte gerade den ersten Cineon-Scanner in Europa gekauft und das erste Flame als CompositingSystem in München, also das, was letztlich die Tricktische abgelöst hat. Man muß sich aber auch vorstellen: Ein Bild in 2k zu scannen, dauerte etwa 20 Sekunden, das ist für heutige Verhältnisse sehr langsam. Dort arbeiteten gute Leute, es fehlte aber an Wissen an den Schnittstellen zwischen digitaler und klassischer Technik, also bei Abtastung und Ausbelichtung. Peter Doyle, der damals bei Arri Digital war und später in Neuseeland die Lichtbestimmung bei Der Herr der Ringe leitete, ist sofort auf meine Erfahrungen mit der Oxberry-Kopiermaschine angesprungen. Nach einem Monat wurde aus meinem Praktikumsplatz eine feste Stelle. Und Sie gehörten gewissermaßen zu den Pionieren. Es war die ideale Zeit, um anzufangen. Der Deutsche Film raffte sich wieder auf. Sönke Wortmann hatte gerade Kleine Haie gedreht, Detlev Buck Wir


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»Ein Problem ist, wenn manche Leute frisch von der Filmschule mit einem gewissen Anspruch kommen. Man kann bei unserer Arbeit aber keine Diva sein.«

Was ist mit dem theoretischen Überbau? Der kann hilfreich sein, in manchen Bereichen ist er sogar unabdingbar. Ich muß aber zugeben, daß mich die technische Seite bis heute noch nicht völlig gepackt hat. Das einzige Computerbuch, das ich je komplett gelesen habe, ist Unix for Dummies. Ich war auch nie der Typ für Videospiele. Allerdings ärgere ich mich heute noch, daß ich in der Schule Mathe abgewählt habe. Hätte ich damals schon gewußt, daß man mit diesem Wissen Effekte für Filme machen kann, hätte es mich sicher mehr interessiert. Das klingt überraschend. Ich weiß. Die meisten Leute denken, in der VFXAbteilung sitzen nur Nerds, die sich von kalter Pizza ernähren und die Nächte vorm Rechner durchmachen. Aber wir hatten alle vorher etwas völlig anderes gemacht: Brendel war Diplom-Biologe und hat dann die Farben für sich entdeckt. Doyle spielt Flügelhorn und hatte vorher ein eigenes Klassik-Label in Salzburg. Von der Ausbildung an den Filmschulen halten Sie demnach weniger? Aber nein! Ich halte sehr viel davon... schließlich unterrichte ich ja selbst an der Filmakademie

Mit dem technischen Fortschritt leisteten sich auch vermeintlich normale Filme ihre kleinen Tricks. Bei 23 etwa stellte sich die Frage: Wie zeigt man einen anständigen Drogenrausch? Mit sowas kennen sich die Jungs am Rechner aus (links der farbkorrigierte Drogenlook). Bis sie auf die Idee mit dem Warp (Mitte) stießen, mußten sie allerdings noch allerhand ausprobieren…

Fotos: Claussen & Wöbke

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können auch anders, und die Leute guckten wieder hin. Es tat sich was – auch bei Drehbuch, Kamera und Schauspielern. Und in unserem Bereich war zu der Zeit alles noch offen. Arri Digital war so eine kreative Ursuppe, als ich dort anfing. Doyle ist sicherlich keine einfache Person, aber er hatte eine Vision. Außer ihm arbeiteten dort Harald Brendel in der Entwicklungsabteilung am Farbmanagement-System, Johannes Steurer, der zum Team gehörte, das später den »Technischen Oscar« für den Ausbelichter Arri-Laser erhalten hat, oder Andreas Wacker, der heute in Kalifornien als Berater für digitale Workflows arbeitet; in dieser Funktion hat er zum Beispiel die Produktionsabläufe für David Finchers Zodiac festgelegt, der ja mit der Viper, Thomsons digitaler »Filmstream«Kamera, gedreht wurde. Obwohl Sie sich in völligem Neuland bewegten. Eine Ausbildung wie heute gab es ja noch nicht. Nein, das meiste war tatsächlich Learning-by-doing – und Sie wären überrascht, wie viele das auch heute noch so machen. Die Ausbildung ist sicherlich gut. Aber für die Bildgestaltung zählt anderes. Zum Beispiel? Ein gutes Auge.


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Wien. Das Problem ist aber, daß manche Leute frisch von der Filmschule mit einem gewissen Anspruch kommen. Sie haben, wenn auch unter idealen Bedingungen, tolle Sachen gemacht und wollen nun entsprechend behandelt werden. Man kann bei unserer Arbeit aber keine Diva sein. Die Fachhochschüler sind da anders. Bei Krabat etwa hatten wir im Team drei Absolventen der GeorgSimon-Ohm-Hochschule in Nürnberg, fünf von der Hochschule der Medien in Stuttgart – aber nur einen von der Filmakademie in Ludwigsburg. Über Peter Doyle kamen Sie schließlich auch nach Neuseeland. Ende 1996 fragte er mich, ob ich beim Compositing für Alex Proyas’ Science-Fiction-Film Dark City mitarbeiten wollte. Das ganze Projekt war einfach toll – von der Story bis zur Stimmung. Wir arbeiteten mit Modellen, die ins Bild eingepaßt wurden. Als ich nach einem halben Jahr zu Arri zurückkehrte, war ich plötzlich als internationaler Experte anerkannt. Ähnlich erging es übrigens auch Jürgen Schopper, der heute Professor in Nürnberg ist. Er kam um die gleiche Zeit aus Los Angeles zurück und galt jetzt als »der Typ, der Independence Day gemacht hat«. Das war eine gute Zeit, denn allmählich wurden auch die Projekte in Deutschland spannender für die VFX-Abteilung, wie etwa Hans-Christian Schmids 23. Bei dem man nun nicht unbedingt Computertricks vermuten würde. Das ist ja der Trick an digitalen Effekten – daß man sie nicht immer sieht. Tatsächlich steckt einiges an

…zum Beispiel im virtuellen Lichttunnel.


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Interview | Alex Lemke

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Wo Wunder wahr werden, sieht’s eher ernüchternd aus. Doch Der Herr der Ringe hatte auch an Lemkes Arbeitsplatz in Neuseeland seine Spuren hinterlassen. Die Ork-Waffe und der Schild aus Minas Tirith gehören zu den wenigen Utensilien, die es in die wirkliche Welt geschafft haben, an der Wand weist eine Karte den Weg ins Auenland.

Computerarbeit in 23. Angefangen von einfachen Retuschen bis zur Fahrt in ein Zeitungsbild, daß dann in eine bewegte Szene übergeht. Und natürlich die Drogensequenz. Wie stellen wir das dar, haben wir überlegt. Der erste Gedanke war, die Szene mit sechs Bildern pro Sekunde zu drehen und die Bilder zu vervierfachen, wie bei Wong KarWais Chungking Express. Dann sahen wir das Rol-

ling-Stones-Video von Michael Gondry, der mit einem Warp-Effekt arbeitete. Das war es! Trotzdem war bald Schluß mit Arri – Sie arbeiten seit zehn Jahren frei. Ja, die Festanstellung reicht irgendwann. Ich hatte weiter Kontakt mit Peter Doyle, und Der Herr der Ringe zeichnete sich ab. Ein Projekt, das mich interessierte.

>> Zur Person. Alex Lemke wurde 1970 in Erlangen geboren. Mit seinem Bruder Lutz drehte er schon als Schüler Kurzfilme und erhielt sogar einen Publikumspreis. An der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin wurde er trotzdem abgelehnt, Lutz war es in München nicht besser ergangen. Was beide nicht von ihrem Ziel abbrachte. Alex verirrte sich zwar für ein Semester ins Studium der Tiermedizin, folgte seinem Bruder aber bald zu Blow-Up, einer Kopier- und Trickfirma bei München. 1994 kam er zu Arri, wo gerade die digitale Postproduktionsabteilung aufgebaut wurde. Die Bekanntschaft mit Peter Doyle brachte ihn schließlich nach Neuseeland, wo Lemke an allen Teilen der Herr-der-Ringe-Trilogie gearbeitet hat. Nach einem Zwischenstop in London für die Arbeit an Troja kehrte er 2004 nach München zurück. Als freier Compositor und VFX Supervisor betreute er aufwendige Produktionen wie Krabat und John Rabe und unterrichtet an der Wiener Filmakademie »Digital Arts and Compositing«.

Fotos: Alex Lemke | New Line [2]

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Interview | Alex Lemke

Das Postkartenidyll von Bruchtal ist genauso Grafik- und Rechnerkunst wie der Blick auf den Schicksalsberg in Mordor. Als 2D-Compositor setzte Lemke aus unzähligen Layern die Welten für den Herrn der Ringe zusammen.

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Wen nicht. Ja. Mit dem kleinen Unterschied: Es war nicht der Film an sich, sondern der Regisseur Peter Jackson… …wegen seiner Heavenly Cratures? Und daß da ein Arthouse-Regisseur sich unvermittelt an ein monumentales Werk voller Ausstattung und Effekte wagt? Das ist damals gerne geschrieben worden, weil man im Arthouse manche Genres nicht wahrnimmt. Jacksons Geschichte fängt lange vor Himmlische Kreaturen an, mit Splatter. Sein Film Bad Taste hat in Neuseeland Förderung bekommen. Das muß man sich erst mal vorstellen! Das ist so, als würde hierzulande Olaf Ittenbach gefördert – stattdessen wird ihm bei jedem Film das Leben schwergemacht, schlimmstenfalls mit einer Strafanzeige. Dann Meet the Feebles, ein Puppenfilm, der sich am besten beschreiben läßt als »Die Muppets auf Drogen«. Und letztlich sein Meisterstück: Braindead – der ultimative Splatter, den da-

mals sogar die Senator Film unter Hanno Huth koproduziert hatte. 1992 gab es in Nürnberg das »Weekend of Fear«, meines Erachtens eines der besten Festivals in Deutschland. Nach 22 Uhr, als der reguläre Kinobetrieb vorbei war, liefen da David Cronenberg, John Woo und eben Braindead. Der Film kam mit Regisseur und Hauptdarstellern frisch aus Cannes. Hier bekam er eine Freigabe ab 18 Jahren erst, nachdem er um acht Minuten gekürzt wurde. Die Deutschen haben da keinen Humor bewiesen. Das ist immer noch ein weiter Sprung zum VFXFeuerwerk in Herr der Ringe. Ich glaube, Peter Jackson wollte schon immer in diese Richtung. Sein großes Vorbild ist King Kong, wegen der Stop-Motion-Effekte. In Himmlische Kreaturen zeigte er, was er mit VFX machen kann. Und dann gründete er sein eigenes Prostproduktionsstudio Weta für The Frighteners als erstes Projekt. Aber eigentlich war das schon der Testlauf für Der Herr der Ringe.


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Interview | Alex Lemke

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Von wegen Schreibtischjob. Wo möglich, zieht es Lemke an den Drehort. Für Krabat stieg er mit einem tragbaren GPS-Messenger durch die Karpaten und maß in Rumänien den Greenscreen aus. Die VFX-Abteilung werde meist

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Vom Splatter zum intelligenten Effektkino für ein breites Publikum, das auch dem Feuilleton gefällt – das erinnert ein wenig an den Mexikaner Guillermo del Toro. Die Statur war ja, zumindest damals, ebenfalls ähnlich. Darum machen die beiden jetzt auch den Kleinen Hobbit zusammen. Da haben sich zwei gefunden. Für ein monumentales Werk wie die Herr-derRinge-Trilogie ist aber mit einem Studio noch nicht gedient. Und Neuseeland war alles andere als ein Zentrum der Filmindustrie. Jackson und seine Leute reisten tatsächlich um die ganze Welt, um das Team zusammenzustellen. Damals waren wir vier Deutsche bei Weta, heute sind es deutlich mehr. 2000 kam meine Tochter auf die Welt, im nächsten Jahr siedelten ich mit meiner Familie nach Neuseeland über, für drei Jahre. Meine erste Aufgabe: Effekte für eine 20minütige Promo-Rolle für Cannes erstellen. Der Rest ist Filmgeschichte. Trotzdem sind Sie nicht geblieben.

Den ersten Teil vom Herr der Ringe hatten wir noch mit einem Team von etwa 200 Leuten gemacht, am Ende waren wir über 500. Irgendwann ist man da nur noch ein kleines Rädchen, das Aufträge abarbeitet. Alles Kreative ist schon festgelegt, dazu kommt die Politik in einer großen Firma. Zwischen dem zweiten und dritten Teil des Herrn der Ringe arbeitete ich erstmals wieder an einer kleinen Geschichte: Perfect Strangers mit Sam Neill. Für die Regisseurin Gaylene Preston bearbeitete ich etwa 40 Effect-Shots am Flame – ideal für jemanden wie mich. Ich merkte wieder, was mir eigentlich gefällt und daß ich auf King Kong keine Lust hatte. Und weil man gerade Leute für Troja suchte, ging ich nach London zu Framestore-CFC. Allerdings nur als Zwischenaufenthalt. London war furchtbar! Nicht die Arbeit, sondern das Leben. Alles ist einfach nur teuer. In Wellington hatten wir ein eigenes Haus, für die doppelte Miete konnten wir uns in London gerade mal eine

»Die Vorbereitungszeit in Deutschland ist zu knapp. Hollywood investiert viel mehr Geld und Zeit in die Vorproduktion. Dadurch können Kosten gespart werden.«

Fotos: Marco Nagel | Alex Lemke

erst zu spät hinzugezogen, meint er. Dabei können virtuelle Effekte doch echte Kosten sparen.


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winzige Wohnung leisten. Also ging es zurück nach München. Was auch dadurch verlockend wurde, weil an der Wiener Filmakademie ein neuer Studiengang »Digital Arts and Compositing« eingerichtet wurde. Seit 2004 habe ich da einen Lehrauftrag. Wenn alles gut geht, wird in diesem Wintersemester eine Professur daraus. Das ist ein gutes zweites Standbein und hilft auch, die eigene Arbeit ständig zu hinterfragen. Und schließlich finde ich die jüngsten Filme, die aus Österreich kommen, hochinteressant: Der Knochenmann, Die Fälscher… Ihr letztes großes Projekt in der Heimat war Krabat. Wobei Kritiker vor allem lobten, daß der Fantasy-Film nicht das befürchtete EffektSpektakel sei. Ich nehme das als Lob, denn tatsächlich ist gut ein Fünftel des Films durch unsere Rechner gelaufen. Krabat war, wie jetzt Wir sind die Nacht, ein Projekt, an dem ich unbedingt mitarbeiten wollte, weil beide für den deutschen Film ungewöhnliche Themen angehen und vor allem, weil sie Genrefilme sind. Der Dreh von Krabat selbst soll weniger erfreulich gewesen sein. Das Wetter hatte einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht und auch der Regisseur Marco Kreuzpaintner soll mit dem Projekt überfordert gewesen sein.


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Computer-Magie: Zauberhaft ist der Geistereffekt in Krabat in Szene

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Marco hatte gerade in den USA Trade für Roland Emmerich inszeniert und befand sich in der Postproduktion, als er Krabat übernahm. Das Interessante an ihm war, daß er sich über typische deutsche Begrenztheiten hinweggesetzt hat. »Das geht nicht? Das machen wir jetzt aber so!« Die Verwandlungen wären sicher nicht so schön geworden, wenn er die Meßlatte nicht immer wieder so hoch gesetzt hätte. Gleichzeitig war dadurch die Arbeit natürlich auch sehr, sehr anstrengend. Was läuft falsch im Filmland? Ich denke, uns fehlt definitiv so etwas wie eine Effektkultur. Die längerfristige Perspektive fehlt. Wir haben inzwischen in Deutschland eine SuperAusbildung, aber kaum interessante Projekte, um all diese Spezialisten zu beschäftigen. Also wandern sie ins Ausland ab. Dabei setzen doch sogar Fernsehfilme immer mehr auf Effekte. Klar, es gibt immer mal wieder marginale Sachen, die zur Selbstdarstellung taugen. Und meine Erfahrungen mit den deutschen Produzenten sind wunderbar, ob Hofmann & Voges, ob Claussen,

Wöbke und Putz oder Rat Pack. Aber ein Budget über zehn Millionen Euro ist in Deutschland allein nun mal nicht zu refinanzieren, und das wirkt sich natürlich auch auf die Höhe von VFX-Budgets aus. Der Standard ist gut, aber es fehlen Ressourcen und Routine. Einen begrenzten Binnenmarkt haben auch andere Filmländer. Beim Blick nach Frankreich entsteht der Eindruck, daß es da besser läuft. Wir haben hier in Deutschland eine besondere Situation. Seit den 1960er Jahren hatten wir fast nur Autorenfilme. Das Denken in Departements und die departmentübergreifende Arbeit fehlen. Ich bin deshalb auch immer mißtrauisch, wenn ich einen Artikel lese, wie dieses oder jenes Postproduktionshaus den »Look« eines Films geprägt habe. Leider ist das nur selten so. In der Regel wird die VFX-Abteilung erst sehr spät hinzugezogen, als Problemlöser oder um eine bestimmte Aufgabe für eine Szene zu erfüllen. Ich will mehr, nämlich die Postproduktion so früh wie möglich einbinden. Ich will beim Gesamtkonzept mitplanen. Bei Krabat war ich fast die ganze Drehzeit am Set, bei

»Die meisten Leute denken, in der VFX-Abteilung sitzen nur Nerds, die sich von kalter Pizza ernähren und die Nächte vorm Rechner durchmachen. Aber wir hatten alle vorher etwas völlig anderes gemacht.«

Fotos: CLaussen & Wöbke & Putz [2] | Hoffann & Voges [2]

gesetzt…


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Jerry Cotton 30 von 45 Drehtagen – vorgesehen waren mal 15... Ansetzen müßte man aber noch früher. Die Postproduktion und alle anderen Abteilungen gehören schon in der Drehbuchphase dazu, jeder steuert etwas von seiner Kompetenz bei. Warum läßt man nicht das VFX-Team eine grobe 3D-Animation erstellen, ehe es an den Dreh geht? Aber dann kommt schnell der Ruf nach den Kosten – die natürlich durch diese Vorarbeit beim Dreh selber eingespart werden könnten. Diese Klage hört man oft, auch von anderen Filmgewerken. Die Klage gibt es von jeder Abteilung. Und dann beschweren sie sich gegenseitig übereinander…

Interview | Alex Lemke

Dabei hat es nur einen Grund: Die Vorbereitungszeit in Deutschland ist zu knapp. Hollywood investiert viel mehr Geld und Zeit in die Vorproduktion. Da gibt es Storyboarder, die den ganzen Film erstmal zeichnen und dafür auch richtig bezahlt werden. Am anderen Ende zeigt sich übrigens ein ähnliches Bild: Bei Krabat hatten wir ingesamt vier Wochen für die Farbkorrektur. Bei Der Herr der Ringe ein ganzes Jahr – pro Film! Was aber eben alles kostet. Es ist ein harter Kampf, das durchzusetzen, aber es lohnt sich. Bei meinem aktuellen Projekt Wir sind die Nacht von Dennis Gansel sitzen wir mit einem Drei-Mann Team mitten im Produktionsbüro und planen die VFX-Sequenzen Wochen vor Dreh-

…und wenn John Rabe seinen Nachfolger durch die Fabrik führt, drehen sich die Generatoren später im richtigen Filmbild. wo am Set noch der Greenscreen steht.

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Interview | Alex Lemke

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Frühwerk: Für Michael Pohls Abschlußfilm an der HFF München bearbeitete Lemke 87 Effekt-Einstellungen. Vortex war ein raffinierter Science-Fiction-Thriller, doch dann kam ihm die Matrix in die Quere, Befreundet sind

beginn in unmittelbarer Nähe des Regisseurs und des Kameramanns – eine traumhafte Situation!

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Sie arbeiten dafür in einer interessanten Struktur, eine Art selbstverwaltetes Kollektiv oder – im Geiste der digitalen Bohème – eine Art MiniNetzwerk aus Solisten im gemeinsamen Büro. Wir sind fünf, jeder sein eigener Herr und ein Spezialist auf einem Gebiet. Und wenn es erforderlich ist, arbeiten wir zusammen: Stefan Galleitner hat bei Krabat die Umhänge bei den Raben-Verwandlungen kreiert, Nils Engler und Martin Sächsinger sind Experten für 3D-Animation, Christian Schnellhammer ist ein hervorragender Programmierer und hat zum Beispiel für John Rabe eine Software geschrieben, um Wasserbewegungen digital darzustellen… Die Art Programm, für die CA Scanline im vorigen Jahr den »Technischen Oscar« erhalten hat? Nein, ganz so komplex ist es dann doch nicht. Aber wie bei Scanline ist das eine Entwicklung, die auch nur im eigenen Haus verwendet wird – in den selbstgeschriebenen Programmen besteht ja der Vorsprung eines Postproduktionshauses vor der Konkurrenz. Wie können Sie zwischen den großen Häusern bestehen? Gute Qualität für einen guten Preis? Das ist zumindest der Plan. Die gängigen Spielchen am Markt versuche ich weitestgehend zu vermeiden. Ich habe es auch schon abgelehnt, Gegenangebote zu erstellen, die offensichtlich nur dazu dienen sollten, einen Konkurrenten zu drücken. Gleichzeitig wehre ich mich aber auch vehement gegen Kalkulationen, die ganz offensichtlich überteuert

sind und sich nur durch das Unwissen von Produktionen halten können. Ich würde schätzen, in Deutschland besteht die Branche zu etwa zwei Dritteln aus Freelancern. Das gibt uns den Vorteil, daß wir flexibler reagieren können. Bei Krabat zum Beispiel waren 330 Effekt-Einstellungen kalkuliert, 388 wurden es schließlich, ohne daß es mehr gekostet hätte. Womit sie wahrscheinlich auch die Preise drücken. Das überlasse ich lieber den angestammten Firmen, die Projekte mit Praktikanten oder Junior Artists stemmen, die sie zu einem Hungerlohn beschäftigen. Das ist leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ich arbeite ausschließlich mit Freelancern zusammen, die eine gute Tagesgage erhalten sollen. Und vor allem achte ich darauf, daß die Arbeitszeiten nicht überhand nehmen – wahrscheinlich aufgrund meiner eigenen schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit. Sie selbst wären allerdings bereit, Projekte zu übernehmen, »die unbezahlte Überstunden lohnen«, schreiben Sie in Ihrem Profil auf der Internet-Plattform Xing. Eine bewußt provokante Forderung! Reagiert hat bislang darauf übrigens noch niemand. Aber es stimmt schon, daß das Projekt passen muß – das will ich mir leisten können. Ginge es nur ums Geld, wäre ich beim Film fehl am Platz. Wie bitte? Die Postproduktion ist doch nach landläufiger Meinung der Teil der Branche, wo das meiste Geld verdient wird. Vielleicht war das vor zehn Jahren mal so, obwohl ich auch da meine Zweifel habe. Die Filmbranche hat generell geringe Margen – bei VFX sind sie

Fotos: Candela Film, Fieber Film

Regisseur und Effektmeister immer noch.


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Interview | Alex Lemke

»Coolness-Faktor? Hier sitzen die Digital Artists die halbe Nacht vorm Rechner, keiner traut sich nach Hause zu gehen, aber das Budget bleibt das Gleiche. Wir sind die Grauzone der Branche.«

noch dünner, was in der Lebenserwartung der Computer begründet ist: Früher hatte man eine Oxberry-Kopiermaschine gekauft, die hielt dann 20 Jahre. Ein Rechner heutzutage nur zwei. Wie steht’s mit dem Coolness-Faktor? Jedenfalls nicht innerhalb der Branche. In Neuseeland habe ich eine völlig neue Erfahrung gemacht: Zum ersten Mal hatte ich Wertschätzung für meine Arbeit erfahren. Da wurde auf die Arbeitszeit geachtet und Überstunden vergütet! Morgen ist auch noch ein Tag, hieß es. Hier sitzen die Digital Artists noch die halbe Nacht vorm Rechner, keiner traut sich nach Hause zu gehen, aber das Budget bleibt das Gleiche. Die Postproduktion hat es da noch schwerer als die Kollegen am Set. Wir sind gewissermaßen die Grauzone der Branche und wahrscheinlich die einzige Berufsgruppe, die noch keine eigene Interessenvertretung hat. Bei so vielen Selbständigen wäre das nötig – und auch im Interesse der Firmen, um einen gleichmäßigen Standard zu garantieren. Was ist Ihr Lieblingsfilm? Eine deutsche Produktion? Zum Beispiel. Schwer zu sagen. Ich arbeite zu viel mit den Leuten, um da die Distanz für ein Urteil zu haben. Das unterschätzteste Regietalent ist für mich sicherlich Michael Pohl, der ein guter Freund von mir ist.

Ich habe ihn 1994 bei seinem Kurzfilm Ausgestorben kennengelernt, als er an der HFF München studierte und ich gerade bei Arri angefangen hatte. Um die Jahrtausendwende arbeiteten wir dann an seinem Abschlußfilm: Vortex war ein raffinierter Science-Fiction-Thriller, mit Hardy Krüger jr. in der Hauptrolle prominent besetzt und 87 Effekt-Einstellungen. Leider kam er im Matrix-Jahr heraus. Damit galt er wohl irgendwie als »Me-tooProdukt«, obwohl die Idee schon viel älter war, und ging einfach unter. Michael schreibt heute Drehbücher für Fernsehserien. Filme, zu deren Machern Sie mehr Distanz haben? Mich interessieren die Filme aus den 60er und 70er Jahren, italienische Horror- und Kriminalfilme, sogenannte Gialli. Mondo Cannibale läuft zur Zeit im »Werkstatt-Kino« in München – meinem Lieblingskino. Sitzt man noch immer auf ausgeleierten Stühlen und hat eine Zigarettenpause zum Rollenwechsel? ... und ein Vorhang trennt die Kasse vom Vorführraum. Ich glaube, wenn man an Blockbustern arbeitet, sucht man privat etwas ganz Anderes. Und früher war halt einfach alles besser! Heute muß alles ein Erfolg sein. Der Druck ist größer. Schade eic gentlich.

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Ursula von Langen ist eine erfolgreiche Regisseurin. Das sieht nur keiner. Denn wenn sie auf dem Regiestuhl Platz nimmt, sind die Dreharbeiten längst abgeschlossen. Sie ist verantwortlich für die Stimmen, die aus dem Dunkeln kommen. Dunkler wird allerdings auch die Stimmung in ihrer Branche.

Text Katharina Zabrzynski und Arne Orgassa Fotos Romain Geib

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Bei der Arbeit hat Ursula von Langen den Finger nah am Knopf. Filmsynchronisation ist Präzisionsarbeit, weshalb die Regisseurin und ihr Tonmeister genau hinhören.


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Report | Synchronarbeit

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Report | Synchronarbeit

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Am Stadtrand von München liegt Kalifornien. Hinter der schweren Stahltür mit dem Buchstaben F soll sie sich befinden, die bekannteste Adresse des amerikanischen Westküstenstaates: Beverly Hills 90210 – Ort der gleichnamigen TeenagerKultserie aus den 90er Jahren. Doch der erste Eindruck ist ernüchternd: Keine Palmen, keine teuren Boutiquen, keine dicken Autos. Nicht einmal Sonnenlicht dringt in den Raum, dessen Wände komplett mit schwarzen Tüchern verhängt sind. Im diffusen Licht der drei Monitore sind ein paar Stühle, Stehpulte und Mikrofone zu erkennen. Von Hollywoods Glamour keine Spur. Über eines der Pulte beugt sich Marieke Oeffinger. Unzählige Seiten mit Text liegen vor ihr. Aber die junge Frau hat nur Augen für ihr Gegenüber im Fernseher: ein attraktives amerikanisches Girl mit langen blonden Haaren. Naomi sitzt in der Cafeteria der West Beverly Highschool und lästert über ihre Mitschüler. Noch drei Sekunden. Dann flimmern blaue Striche über den Bildschirm. Einsatz Oeffinger,

doch die Konzentration ist weg. Sie fängt an zu grinsen und ruft: »Highschool ist Krieg!« Gelächter im Nebenraum. Hinter einer schalldichten Glasscheibe sitzen Regisseurin Ursula von Langen und ihr Tonmeister. Der Witz kam an, auch wenn die Szene wiederholt werden muß – diesmal mit dem richtigen Text. »Die Schauspieler stehen unter einer immensen Anspannung«, sagt Ursula von Langen. »Mit solchen Sprüchen können sie zwischendurch ein wenig entspannen.« Ursula von Langen ist Synchronregisseurin. Mit ihrem Team übersetzt sie gerade in den Studios der Münchner Produktionsfirma Bavaria Film die erste Staffel der amerikanischen Teenager-Serie 90210 ins Deutsche. Seit Anfang Mai läuft die Neuauflage der 90er-Jahre-Kultsendung bei Pro Sieben. Doch so unbeschwert die Serienhelden im Original durch L. A. ziehen, während der Produktion gibt es ansonsten wenig zu lachen. Synchronisation ist Schwerstarbeit im Akkord. Marktführer wie die FFS Film- und FernsehSynchron München oder die Berlin Synchron und weitere 50 kleinere Unternehmen buhlen in

Fotos: Walt Disney | Warner Brothers

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Report | Synchronarbeit

So sieht’s aus, wenn Schauspieler hinter den Kulissen arbeiten. Bei Animationsfilmen wird gerne mit prominenten Leihstimmen geworben – zur Zeit sind Karl-Heinz Böhm (links) in Oben und Dirk Bach (rechts) in Lauras Stern und der geheimnisvolle Drache Nian im Kino zu hören. Für die alltägliche Stimmabgabe ist aber immer weniger Geld da.

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Deutschland um die Aufträge. Denn seit der ersten Medienkrise Anfang 2001 wird ein harter Preiskampf geführt. Filmverleiher und Fernsehsender wollen immer weniger für die Synchronisation bezahlen, die Unternehmen unterbieten sich mit Dumping-Angeboten. Allein in den jüngsten fünf Jahren sind die Preise um bis zu 25 Prozent gefallen. »Wir haben inzwischen dreimal weniger Zeit für unsere Arbeit als vor 20 Jahren und verdienen dreimal schlechter, wenn man in Betracht zieht, daß alles um uns herum teurer geworden ist«, sagt von Langen. Die schlanke Frau trägt enge weiße Jeans, schwarzes Top, schwarze Sonnenbrille. Ihr Körper ist angespannt, die von Lachfältchen umrahmten, hellen Augen blitzen für einen Moment auf. Dann läßt sie sich zurück in den Biergartenstuhl fallen, zieht an ihrer Zigarette. Mittagspause. Die Anspannung fällt von ihr ab. Von Langen sitzt vor dem grauen Studiokomplex, reckt ihr Gesicht in die Sonne und genießt die Ruhe. »Ich würde trotzdem keinen anderen Beruf

ausüben wollen«, sagt die Regisseurin. Sie genießt die intime, persönliche Arbeit mit den Schauspielern, ist froh, nicht an einem unüberschaubaren Filmset arbeiten zu müssen. Seit über 30 Jahren ist von Langen im Filmgeschäft tätig. Müde wirkt sie nicht. Mit Begeisterung erzählt sie von ihrer Ausbildung zur Cutterin bei der Münchner Filmtechnikfirma Arri, ihrer Arbeit als Dozentin für Filmschnitt an der Filmhochschule in Kenias Hauptstadt Nairobi, ihrer Zeit als Assistentin des berühmten US-Cutters Peter Zinner während der Dreharbeiten von Jenseits von Afrika. »Damals habe ich gelernt: Auch ›Oscar‹Preisträger kochen nur mit Wasser«. 1985 dann die Rückkehr nach München. Erst verdiente sie als freie Synchron-Cutterin ihr Geld, später als Autorin und Dialogregisseurin. »Es ist sehr schwierig zu vermitteln, wie aufwendig die Synchronisation von Filmen und Serien ist«, sagt von Langen. Bei der Textübersetzung ins Deutsche muß sie als Autorin auf die Abstimmung von Gesicht, Gestik und Lippenbewegungen achten. Als Synchronregisseurin muß sie die Schauspieler dazu bringen, ihr


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Report | Synchronarbeit

Auch für gelungene Synchronarbeiten gibt es Preise. Bei der FFS in München füllen sie eine Vitrine. Ursula von Langen hat ihren Teil dazu beigetragen.

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»Ich« zu vergessen, um einer fremden Rolle eine eigene Identität zu verpassen – nur mit Hilfe der Stimme. Spucker, Zischer, Variationen der Lautstärke und Artikulation – die kleinsten Nuancen machen die Sprache lebendig und glaubwürdig. »Es gibt nichts Schlimmeres, als im Kino zu sitzen und zu denken, so spricht doch keiner«, sagt sie. Synchronschauspieler müssen daher ihre ganze Ausdruckskraft während der kurzen Aufnahmephasen, der Takes, in die Stimme legen können. Die Illusion soll perfekt sein, das braucht Zeit. Doch eben dieser Qualitätsstandard ist in Gefahr. Der enorme Zeit- und Kostendruck belastet die gesamte Branche. Ursula von Langen wehrt sich dagegen. »Für mich ist die Glaubwürdigkeit der Synchronstimmen besonders wichtig, und dafür braucht man manchmal eben etwas länger.« Und ihre Beharrlichkeit zahlte sich aus. 2008 erhielt sie für das Dialogbuch von Klang der Stille den »Deutschen Synchronpreis«. Im Studio bereitet sich Marieke Oeffinger auf den nächsten Take vor. Sie weiß um die hohen Ansprüche ihrer Chefin. Ein kurzer Blick auf den Text, dann auf Naomie im Fernseher. Blaue Striche, Einsatz: »Es ist bewiesen, daß das männliche Gehirn langsamer reift als das weibliche. Und glaub’ mir, Ty ist in Mädchenjahren erst elf«, ätzt sie mit süßlicher Stimme ins Mikrofon. »Du bist noch nicht richtig in der Rolle. Naomie ist viel überzeugter von sich selbst.« Regisseurin von Langen sitzt wieder hinter der Schallschutzscheibe im Nebenraum. Ihre Blicke wechseln zwischen Textbuch und Bildschirm hin und her. »Und du sprichst zu schnell.« Der Take wird wiederholt. Marieke Oeffinger strafft ihre Schultern, streckt den Zeigefinger in die Luft – wie Naomie in der Szene. Ihre Stimme klingt jetzt etwas fester, erhabener. Sie verleiht der Rolle wesentlich mehr Glaubwürdigkeit als im Original. Die Regisseurin gibt sich dennoch nicht zufrieden: »Mach dich noch etwas wichtiger«, lautet diesmal die Anweisung. Beim dritten Mal klappt es endlich: »Danke, jetzt hatte ich Gänsehaut«, sagt von Langen. Take 121 ist im Kasten – 143 weitere müssen an diesem Arbeitstag noch mit Leben gefüllt werden. c


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Hundstage Wieder nichts zu kritisieren und zu viel Zeit: Stadler und Gröner kommen auf den Hund. Aber wer dressiert hier wen? 31

Text Michael Stadler und Christoph Gröner I Dunkelheit. Ein merkwürdiger Geruch liegt in der Luft. Sonnenlicht kämpft sich durch eiserne Gitter. Von wegen Schreibstube: Ein Zwinger. Vierzehn Hunde teilen sich die Zelle. Wildes Gebell, zwei liegen vorne in der Ecke. Schäferhund: ...und ich sage noch zu ihr, Doro, nein, ich will jetzt nicht. Terrier (knabbert sich am Fell): Man muß auch mal »Nein« sagen dürfen. Aber das verstehen die nicht. Und sie? Schäferhund: Nimmt mich auf den Arm. Terrier: Wie oft hast du zugebissen? Schäferhund: Dreimal. Jetzt sitze ich hier. Und du? Terrier: Ich war's nicht. Schäferhund: Das sagen sie alle.

Terrier: Wenn mir noch einer einen Ball zuwirft und »Böörti« ruft, kann ich für nichts garantieren. Schäferhund: Die kapieren's nicht. Aber ich sage dir: Schuld sind die Medien. Terrier: Schuld ist Lassie. Wie der die Menschen aus brennenden Häusern zieht und das Fell danach dann immer noch glänzt. Polizeitussi. Schäferhund: Und Boomer, der Streuner. Macht mit seinem Maul Türen auf und zu, der Schleimer. Terrier: Diese elende Vermenschlichung. Können wir nicht mal einfach wir sein? Schäferhund: Du, in Cats and Dogs reden die sogar wieder. Terrier: Ich mach’ mich naß. Schäferhund: Nicht markieren. Sonst wird die Dogge wieder unruhig.


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Dogge (hinten auf der Pritsche): Hey Süßer. Terrier: Wir müssen hier raus. Schäferhund: Tunnel? Terrier: Schauspiel. Das ganze Programm. Schau, da kommen zwei. Gröner und Stadler werden von einem Wärter hineingeführt. Dreizehn Hunde stürzen ans Gitter, die Dogge bleibt hinten. Wärter: Hey, sitz! Stadler setzt sich. Wärter: Nicht Sie. Die Hunde. Gröner: Brav, Stadler. Stadler (empört): Äußern Sie sich mal eindeutig! Wärter: Sie haben drei Minuten. Wir machen zu. Er geht. Gröner und Stadler schauen sich die Hunde an. Gröner: Ich hätte gerne einen wie Lassie.

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Stadler: Wie der immer die Menschen aus den brennenden Häusern zieht! Terrier (zum Schäferhund): Hoffnungslos. Stadler: Schau mal, Gröner, die beiden da drüben. Die scheinen sich zu unterhalten. Und der eine ist so ein süßer Strolch wie Boomer. Terrier: Dem geh’ ich an die Wade. Dogge (von hinten): Schnucki, bei Fuß. Schäferhund (macht Männchen): Winsel, winsel. Terrier leckt sich untenrum. Stadler: Gott, wie süß! Gröner: Der eine, wie bei Uli Seidl, Tierische Liebe! Die haben damals dem Hund Butter auf die Hoden geschmiert, damit er so etwas macht – stundenlang. Terrier: Mir wird schlecht. Schäferhund: Denk an die Dogge, denk an die Dogge.

Kino lesen!

256 S., Pb., zahlr. Abb, € 19,90/SFr 34,50 UVP ISBN 978-3-89472-690-4 Zum Start von WHISKY MIT WODKA Der Autor verfolgt den Weg von Andreas Dresen vom Theaterkind zum anerkannten Filmemacher, analysiert seine Arbeitsweise und lässt ihn selbst in zahlreichen Interviewpassagen zu Wort kommen.

208 S., Pb., zahlr. Abb. € 7,90/SFr 15,70 UVP Mit Fadenheftung und Leseband ISBN 978-3-89472-029-2 Filmkalender 2010 – ein Klassiker: · über 1000 Gedenktage · Erinnerungen an Schauspieler(innen), Filmemacher und Filme · unterhaltsame kurze Artikel · ein aktueller Serviceteil

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www.schueren-verlag.de


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Stadler: Der Terrier wirkt so offen, mit dem kann man sich bestimmt gut unterhalten. Endlich nicht mehr allein! Gröner: Stadler, ich glaube, der Schäferhund bringt’s mehr. Wir brauchen einen Hüter! So ein Rex. Mach noch mal Männchen, Rex! Schau, so! Gröner hält die Hände vor dem Oberkörper, hechelt. Wärter kommt zurück. Wärter: Sitz! Gröner setzt sich. Stadler: Gröner, ich glaube, er redet wieder mit den Hunden. Wärter: Nein nein, war schon richtig so. Haben Sie was gewählt? Gröner: Ich will Rex! Stadler: Boomer! Wärter (zieht die Schlüssel): Okay. Schäferhund und Terrier: Freiheit! Dogge (hinten): Abwarten.

II Helligkeit. Ein merkwürdiger Geruch liegt in der Luft. Die Schreibstube. Gröner und Stadler schauen sich die Hunde an. Die Hunde schauen zurück. Gröner: Du Stadler, deiner sieht gar nicht aus wie Boomer. Boomer ist kuschliger. Stadler: Und Rex hatte keinen so krummen Rücken. Schäferhund: Der eine sieht aus wie Tarantino. Terrier: Entfernt. Schwacher Regisseur. Reservoir Dogs – was für ein Betrug! Gröner: Die zwei brauchen erstmal Namen, die zu ihnen passen. Stadler: So richtige Filmhundenamen! Beethoven! Gröner: Marley!


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Stadler: Jerry Lee – der Hund aus K9 mit James Belushi! Gröner: Komisch… wieso werden die nach Musikern benannt? Stadler: Weil die Hunde im Familienleben den Takt vorgeben! Gröner: Weil die so musikalisch jaulen! Schäferhund: Weil ich dir gleich in den Musikantenknochen beiße, Blödmann! Stadler: Guck mal, wie hoch der bellt. Gröner: Farinelli! Schäferhund fiept. Der Terrier lacht ein heiseres Hundelachen. Stadler: Ja, und der andere… vielleicht auch was Klassisches…. Gröner: Mendelsohn-Bartholdy! Kurz: Berti! Terrier springt los und beißt Gröner direkt in die Wade. Gröner: Aus, Berti, aus. Stadler: Vielleicht ist er eher ein Rocker? Gröner: Aus, Hendrix, aus. Terrier sitzt sich brav hin. Schäferhund: Tja, kann nicht jeder ein Farinelli sein. Terrier: Farinelli war kastriert. Schäferhund springt los und beißt Stadler. Nicht in die Wade. Stadler: Brav, Farinelli, bra-HAAAAV. Gröner: Aus, Springsteen, Jagger, Björk, Grönemeyer, Maffay… Schäferhund setzt sich hin. Gröner: Maffay?! Stadler: Hendrix und Maffay! Ein spezielles Duo. Gröner: So, ihr zwei, hier ist euer Spezialauftrag: Bewacht uns das Büro. Stadler: Jemand hat uns den ganzen Buñuel gestohlen! Die Hunde sitzen still, schwaches Schwanzwedeln. Hendrix, der Terrier: Was will der? Maffay, der Schäferhund: Buñuel. Hat der nicht den andalusischen Hund gedreht? Hendrix: Was für ein Schinken. Maffay: Ich hab Hunger.

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Stadler: Hoffentlich sind das anständige Hunde. Später zerstören die uns noch die Einrichtung! Wie in Scott und Huutsch, da war am Ende überall Sabber auf Tom Hanks’ Sachen. Gröner: Stimmt. Das testen wir, ob die zu uns passen. Komm! Gröner und Stadler verlassen die Schreibstube. Draußen: Gröner schaut durchs Schlüsselloch. Stadler: Und? Drinnen. Maffay und Hendrix schauen sich an. Maffay: Und? Hendrix: Sabber Ihnen ein bißchen auf den Teppich. Maffay: Meine Lefzen sind so trocken. Hendrix: Dann trink wenigstens die Toilette leer. Maffay trottet weg. Gröner: Der eine geht auf die Toilette. Stadler: Anständig. Hendrix trottet zum Fernseher, stupst die Fernbedienung mit der Nase an, springt auf das Sofa. Gröner: Wahnsinn. Ein Trickhund! Stadler: Du, Gröner, hast du eigentlich den Schlüssel? Gröner: Was? Drinnen Gebell. Hendrix: Hey, komm her, sie zeigen Teenwolf! Maffay (kommt naß aus dem Bad): Wau. Hendrix: Von Rod Daniels. Der Mann weiß, was er tut. Der hat auch den zweiten Beethoven und K9 gedreht. Ein Hunderegisseur. Maffay: Unvergeßliche Liebesszene in K9. Der Schäferhund und die Pudeldame. Im Auto! Hendrix: Was für eine Diva. Maffay: Vielleicht der schönste Filmhund. Hendrix: Nein, der zweite Benji war schöner. Super-Wuschelkopf! Gröner und Stadler kratzen draußen an der Türe. Stadler: Das ist typisch. Mit Hunden wird es immer lustig! Da kommt eins zum anderen, die reine Eskalation. Gröner (knurrt): Hier eskaliert gar nichts.


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Die Tür zur Nachbarswohnung geht auf. Eine ältere Dame mit schwarzer Brille, Frau Krüger, erscheint. Krüger: Was machen Sie denn da? Wer sind Sie? Gröner: Wir haben uns ausgeschlossen. Wir sind Ihre Nachbarn. Herrgott, schon seit Jahren! Krüger: Das kann jeder sagen. Ich rufe die Polizei! Frau Krüger schließt die Tür. Stadler: Toll, wie im Film! Gröner: Wir müssen wieder rein! Hauen und Klopfen an der Tür. Drinnen. Maffay und Hendrix liegen ruhig auf dem Sofa. Maffay: Michael J. Fox sah schon immer wie ein Hund aus, mit der Spitznase. Hendrix: Na, eher wie ein Fuchs. Haha. Draußen. Gröner rennt gegen die Tür. Nichts regt sich. Stadler: Das nächste Mal kräftiger. Gröner (krümmt sich): Ruf einen Arzt, schnell! Ein Polizist mit Hund kommt die Treppe hoch. Polizist: So, Rex, gleich gibt’s Futter. Stadler: O Gott, schnell, wir müssen die Tür aufkriegen. Gröner: Ich sterbe. Drinnen. Maffay: Hast du eigentlich Bolt gesehen? Hendrix: Disney-Quatsch. Ein Filmhund, der mit Hilfe einer Katze und eines Hamsters lernen muß, wieder ein echter Hund zu sein. Zurück zur Natur. Was soll das? Der Hamster gehört gefressen. Maffay: Ich habe Hunger. Ich hol’ die mal wieder rein. Hendrix: Red mal mit denen – in ihrer Sprache. Das wird bestimmt lustig. Draußen. Rex hält Gröner an der Gurgel fest. Stadler ist in den nächsten Stock geflohen. Stadler (von oben): Herr Wachtmeister, wir sind unschuldig.

Polizist: Das sagen sie alle. Er klingelt. Maffay macht die Tür auf. Maffay: Ja, bitte? Der Polizist fällt in Ohnmacht. Rex (läßt Gröner los): Gehört Ihnen diese Wohnung? Maffay: Nicht ganz.

III Zurück im Zwinger. Hendrix und Maffay liegen in ihrer Ecke. Maffay: …dann erkennt Faust, daß der Pudel eigentlich Mephistopheles ist. Hendrix: Ach so. Maffay: »Das ist des Pudels Kern.« Hendrix: Der Teufel steckt also im Tier. Maffay: Der reine Rassismus! Hendrix: Du meinst also, Boomer, der Mischling, ist auch ein Manifest gegen Vorurteile? Maffay: Ja. Wieso sollen sich die Rassen nicht vermischen? Dogge (von hinten): Ja, richtig, wieso eigentlich nicht? Maffay: Wir müssen hier raus. Hendrix: Tunnel? Maffay: Bestechung. Schau mal. Er läßt aus seinem zerfilzten Fell eine DVD-Box fallen. Hendrix: Buñuel? Maffay: Lag unter dem Sofa. Vielleicht steht ja der Wächter darauf. Hendrix: Und wenn nicht? Dogge (steht auf und räkelt sich): Dann drehen wir unseren eigenen Film. Maffay und Hendrix kläffen wie wild, der Chor der Hunde fällt ein. Die Dogge schweigt.

Stadler und Gröner sind Filmkritiker. Beim Verfassen dieser Folge wurden keine Tiere verletzt, dafür leichte Bißwunden bei Gröner. Schwamm drüber.

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Produktion | Henri IV

Paris war Heinrich eine Messe wert, aber einen herzlicheren Empfang hatte er sich schon vorgestellt, als er mit seinen Hugenotten zur Hochzeit einritt. Nach kurzem Nachdenken über einen Außendrehort ließ die Produktion die Kulissen lieber im Studio nachbauen. Dabei ging es weniger um die historische Rekonstruktion, als vielmehr darum, den Geist der Zeit wiederzugeben. Der Straßenset wurde mit HeilerdeStaub, Rauch und dampfendem Pferdemist atmosphärisch aufbereitet – für rund eine Dreiviertelmillion Euro.

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Einen »ungebärdigen Film« hat sich Jo Baier vorgenommen – und als Vorlage Heinrich Manns Doppelroman über den französischen König Heinrich IV. Kein Historiengemälde will er schaffen, sondern den Mensch unter der Krone zeigen und den Realismus unterm Kostüm. Könnte klappen. Und aufwendig wird’s trotzdem.

Mensch und Foto: Ziegler Film, Reiner Bajo

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»Historie ist keine fröhlich bunte Operette«, verdeutlicht Regisseur Jo Baier inmitten des Kamfgewirrs einer Schlachtszene die persönliche Herangehensweise bei der Geschichtsdarstellung seines neuen Films Henri IV, einer imposanten europäischen Kino- und Fernsehproduktion aus deutscher Herstellung. Es war nicht sein Ansinnen, einen der gängigen Kostüm- und Ausstattungsfilme über einen französischen König der Renaissance zu drehen: »Oft sind historische Schlachten im Film nur opulente, rein dekorative Angelegenheiten, wie Ölgemälde.« Nach Vorlage von Heinrich Manns Henri-Quatre-Doppelroman beschreibt das engagierte Historiendrama den Lebensweg Heinrichs von Navarra (1553-1610), der zur Zeit der französischen Glaubenskriege im 16. Jahrhundert im Zeichen der Toleranz die blutigen Konflikte zwischen Katholiken und Hugenotten beenden wollte. Zunächst kämpfte er auf Seiten der Protestanten für humanistische Ideale. Erst mit dem Wechsel zum Katholizismus ebnete der Hugenotte sich im Jahr 1594 als Heinrich IV. den Weg auf Frankreichs Königsthron und damit zur Befriedung des von Religionskämpfen zerrissenen Landes. Der Stoff habe heute eine neue Aktualität bekommen, meint der Regisseur: »Religiöser Fanatismus, wie er die Menschen des 16. Jahrhunderts umtrieb, hat doch spätestens seit dem 11. September neue, schreckliche Bedeutung erlangt.« Doch Heinrich wollte nicht nur die religiösen Unterschiede überwinden, dem Land seinen Frieden geben, sondern den Menschen soziale Gerechtigkeit – und wie es damals hieß, »jedem Bauern sein Huhn in den sonntäglichen Topf«. In der Gunst aller Franzosen steht er bis heute als einer der ersten humanistischen Monarchen überhaupt. Auf diese existentielle Ebene historischer Vorgänge begibt sich auch Regisseur Jo Baier. Er hat sich vorgenommen »mit dokumentarischer Rauheit« vorzugehen, und die Stadt, das Land, die Bauern und die Höflinge so zu beschreiben, als hätte es damals schon den Dokumentarfilm gegeben. Baier: »Man muß das alles riechen, spüren,

Fotos: Michael Rathgeber | Ziegler Film, R. Bajo [2]

Text Romain Geib Fotos Reiner Bajo und Michael Rathgeber


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Den schillernden Herrscher und einen Mann der großen Gefühle will Jo Baier (oben rechts) bei seinem Film über Heinrich IV. im Fokus haben. Zwischen Regisseur und König stehen der Erste Kameraassistent Michael Rathgeber, Steadicam-Operator Michael Praun und DoP Gernot Roll (von links). In Film und Geschichte soll Heinrich um des lieben Friedens willen mit der Schwester des Königs vermählt werden (links, Julien Boisselier mit Armelle Deutsch). Die weigert sich, geheiratet wird trotzdem (rechts). Mit bekannt blutigem Ausgang.


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Jo Baier hält historische Filmschlachten zwar für rein dekorative Angelegenheiten, stürzte sich aber ebenfalls ins Gemetzel. Als Vorbild diente die Schlacht von Coutras. Baier und Roll ließen das mit mehreren Kameras parallel auf Kran, Steadicam, Stativ oder Schulter aufnehmen. Die Reiter hatten zusätzlich Mini-DV-Kameras am Sattel. Bis zu 50 Stuntmen waren so beschäftigt.

mit allen Sinnen erfahren und begreifen können, miterleben, betroffen sein, nicht genüßlich betrachten – schon gar nicht distanziert!« Deshalb verständigte er sich mit seiner Ausstattungs- und Szenenbildabteilung auf eine eher karge, denn prunkvolle Dekoration. Die Kostümabteilung wies er an, die Kleidung aus locker-leichtem Stoff zu schneidern, in dem sich die Schauspieler wie Menschen von heute bewegen konnten. Immer wieder hat sich der Filmemacher zeithistorischen Stoffen zugewandt, und dabei den notwendigen Ausstattungsaufwand möglichst authentisch gestaltet, um realistisch soziale und politische Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Seine vielbeachteten Fernsehproduktionen Der Laden, Schwabenkinder, Stauffenberg, Nicht alle waren Mörder und zuletzt Karl Valentin und Liesl Karlstadt unterstreichen dieses Anliegen. Auch bei Henri IV versuchte der »Grimme«Preisträger den Finger in die Wunde zu legen, und die Wirklichkeit der damaligen Lebensbedingungen, der sozialen Wirklichkeit und besonders des Krieges mit aller Härte zu schildern, ohne histori-

sierend zu beschönigen. Das schuldete er alleine schon den 1.500 Seiten von Heinrich Manns biografischer Vorlage über Heinrich (Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre), auf denen das Drehbuch basiert, das der Regisseur mit seiner Koautorin und Kreativproducerin Conny Ziesche herausdestillierte. Der ältere Bruder (1871-1950) von Thomas Mann war (entgegen dem Zeitgeist) ein großer Franzosenfreund. Er schrieb das Doppelwerk Mitte der 30er Jahre im tschechoslowakischen Exil, wohin er kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geflohen war. Es sollte sein wohl wichtigstes Werk werden. Für Produzentin Regina Ziegler, »einer der großen deutschen Stoffe der Weltliteratur, der aus unerfindlichen Gründen bis heute nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat.« Baier sieht darin eine Art Gegenentwurf zur Unmenschlichkeit der damaligen Nazi-Herrschaft. Sein Film folgt Manns Schilderungen vom Lebensweg Heinrichs IV., bleibt dabei stets nah an der historischen Person. Daraus wurde die sehr zeitlose Fabel eines unzerstörbaren Humanisten, der

Fotos: Ziegler Film, Reiner Bajo

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vom Leben auf dem Schlachtfeld geprägt und ständig zu Fuß oder zu Pferd unterwegs war. Baiers Film zeigt den schillernden Herrscher auch als einen Mann der großen Gefühle, der lacht und weint, wie ihm gerade zumute ist. Er bringt uns den Menschen hinter der Geschichtsikone näher. Henri Quatre oder der »gute König«, wie ihn die Franzosen in seiner Heimat Gascogne bezeichnen, liebte die Frauen, liebte sein Volk, kämpfte um Menschlichkeit und Toleranz und bezahlte dafür mit seinem Leben. Für Produzentin Regina Ziegler, die das gewaltige Vorhaben seit 2001 entwickelt hat, ist die Verfilmung »eine Herzensangelegenheit«. Die Berlinerin hatte Heinrich Manns Vorlagen einst zu Abiturzeiten gelesen und nie mehr vergessen. Vor acht Jahren gelang es ihr, die Filmrechte am faszinierenden Stoff zu erwerben. Über sechs Jahre verbrachte Ziegler damit, die nötige 19-MillionenEuro-Finanzierung mit Koproduzenten aus Frankreich (Geteve), Österreich (Wega Film) und Spanien (Institut del Cinema Catalá/ICC) aufzubringen, und das Riesenprojekt als Kino-


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Arris D-21 trotzte auch extremen Aufnahmebedingungen, ob im Schnee oder hier im strömenden Regen. Das mußte sie auch, denn Baier wollte kein Ausstattungsstück, sondern die Geschichte »mit dokumentarischer Rauheit« erzählen. Dank der Digitalkameras konnte die Wirkung gleich überprüft werden: Beim Steadicam-Einsatz übermittelte ein Ultraschallsender die Signale an den HD-Kontrollmonitor (unten, vierter

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und TV-Produktion auf den Weg zu bringen. Auf

Bauten meist zu touristisch wirkten. Bei der Suche

die Beteiligung ausländischer Sender wie ORF oder France 2 konnte sie dabei ebensowenig verzichten wie auf die hiesigen Unterstützer BA Produktion/Arri Group und die Kölner Magic Media Company sowie die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten der ARD.

und Gestaltung der Locations habe man nicht die historische exakte Rekonstruktion angestrebt, sondern versucht, die Atmosphäre der Zeit widerzuspiegeln. In der Tat ist der Film eine realistische Zeitreise in die Renaissance geworden. Etliche Originaldrehorte fürs Historiendrama fanden Baier und Platten in Bourges und Umgebung im französischen Départment Cher (zwei Wochen), wie in Nordrhein-Westfalen (sechs Wochen) auf Burg Adendorf bei Bonn, Burg Bubenheim bei Düren, Schloß Myllendonk bei Korschenbroich und im Freilichtmuseum Kommern. Auch imposante Kulissenbauten wurden in einer großen Filmhalle der MMC-Studios in KölnOssendorf errichtet: der Straßenzug einer schmalen Gasse mit grob verputzten Fachwerkhäusern wurde von Bühnenbauern nachempfunden, um

Im Spätsommer 2008 konnten schließlich nach jahrelangen Vorbereitungen die ersten Außendreharbeiten in der Nähe von Prag beginnen. Über sechs Wochen lang erwies sich Tschechien für viele aufwendige Szenen des Historienfilms als ein besonders geeignetes Filmland. Für Baiers Szenenbildner Klaus-Peter Platten ist heutzutage die Zeit des ausgehenden Mittelalters an authentischen Schauplätzen in Europa nicht mehr vollständig zu realisieren, weil die noch existierenden

Fotos: Michael Rathgeber [2] | Ziegler Film, Reiner Bajo

von links: Operator Michael Praun mit Tragekorsett).


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Außergewöhnliche Aufnahmen für außergewöhnliche Drehs das mittelalterliche Paris aufleben zu lassen. Für die Aufnahmen wurde das von Innenrequisiteur Eckhard Fritz aufwendig ausgestattete Straßenset mit Heilerde-Staub, Rauch und dampfendem Pferdemist atmosphärisch aufbereitet und mit einer Schar vom Komparsen bevölkert. Ursprünglich war überlegt worden, die Kulissen auf einem Außengelände in der Nähe von Prag zu errichten. Dann beschloß man angesichts der Jahreszeit, um von Wetter und Tageslicht unabhängig zu bleiben, das Motiv in die Halle zu verlegen. Ein 30köpfiges Heer aus Konstruktionszeichnern, Graphic Artists (Visualisierung), Bühnenplastikern, Bühnenmalern, Bühnenbauern unter Leitung der Szenenbildner Klaus-Peter Platten und Christian Strang arbeitete zweieinhalb Monate daran, den Studiocharakter einer solchen »Außendekoration« vergessen zu lassen. Holz, Lehm, Kunststoffmasse und stellenweise richtige Steine setzte man ein, ja sogar echte Grasbüschel rundeten das Mauerwerk naturalistisch ab (Deko: Fake Filmconstruction, Textilwerkstadt Letschert). Bei der Gestaltung der Studiobauten, berichtet Klaus-Peter Platten, habe man sich an alten Beschreibungen und Gemälden inspiriert. Für die Farbgebung orientierte er sich an der Malerei Pieter Brueghels. Unbedingte Detailtreue habe man nicht angestrebt. So seien zum Beispiel die Fensterglasscheiben größer ausgefallen, als sie die Zeit damals wirklich kannte - und sich wohl auch leisten konnte. Auf die stimmige Atmosphäre des Gesamtbilds sei es angekommen. DoP Gernot Roll und seiner Mannschaft kam bei diesem siebentägigen Studiodreh die Aufgabe

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Auch bei den Massenszenen achtete Baier auf großen Realismus: »Man muß das alles riechen, spüren und begreifen können, miterleben, nicht genüßlich betrachten«, meint er und ließ die Kostümbildner mit locker-leichtem Stoff schneidern, in dem sich die prominente Besetzung wie Menschen von heute bewegen konnte. Auf dem großen Foto (von links): Joachim Król, Andreas

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zu, die Filmbauten glaubhaft ins Bild zu setzen und die filmische Illusion des mittelalterlichen Paris zu vermitteln. Dabei spielte das Licht eine entscheidende Rolle, ließ es sich doch im Studio perfekt kontrollieren. Um ihm Härte zu nehmen, ließ Roll während der Dreharbeiten große Mengen Heilerde durchs Set blasen, die als feiner Staub dazu beitrug, das Licht zu soften und den optischen Eindruck der Szenerie zu verdichten. Zur virtuellen Setverlängerung wurde bei der späteren Postproduktion in den Greenscreen-Himmel der Filmhalle digital noch ein Stadtpanorama eingepaßt. Von den budgetierten Gesamtherstellungskosten für Henri IV wurden rund 4,5 Millionen in Nordrhein-Westfalen ausgegeben. Ein höherer sechsstelliger Betrag (eine gute Dreiviertelmillion) fiel in den MMC-Studios allein für Konstruktion und Ausstattung der »Pariser Gasse« an. Vergegenwärtigt man sich, daß für manche Aufnahmen neben den Schauspielern und der gesamten Crew insgesamt über 900 Komparsen im Einsatz waren, die von den mehrköpfigen Maskenbildnerteams vom Gerhard Zeiss und den Kostümmannschaften um Barbara Jäger und Gerhard

Gollnhofer originalgetreu ausgestattet werden mußten, bekommt man eine Vorstellung vom gewaltigen Kosteneinsatz mancher Drehtage. Um bei der umfangreichen Komparsenführung an allen Sets stets den nötigen Überblick zu behalten stand Regisseur Jo Baier die Tschechin Eva Kadankova als erfahrene Regieassistentin zur Seite. Einem ungeschminkten Realismus fühlte sich Regisseur Baier ebenfalls bei den Außendrehs der Kampfszenen in Tschechien verpflichtet: inmitten des ohrenbetäubenden Gemetzels splittern im Film die Knochen, und Schwerter durchbohren blutende Körper. Er scheute sich keineswegs, durch Gewaltszenen zu schocken oder mit drastischen Darstellungen anzuecken und gestand freimütig »diesmal einen ungebärdigen Film« machen zu wollen, und damit auch etwas zu wagen. Auch sein Kameramann betrat bei der Technik Neuland für eine Produktion dieser Größenordnung und entschied sich nach Tests und konkreten Produktionserfahrungen dafür, die Bilder dieser historischen Zeitreise mit digitaler KinoAufnahmetechnik für die große Leinwand und den kleinen Bildschirm zu drehen. Weil er die digitale Technik mittlerweile in der Bildqualität als ab-

Fotos: Michael Rathgeber | Ziegler Film, Reiner Bajo [2]

Schmidt, Julien Boisselier und Roger Casamajor.


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solut gleichwertig zur Filmaufnahme erachtet, vertraute Roll auf Arris neueste D-21-Generation von Digitalkameras mit 35-Millimeter-Formatgroßem Bildsensor. Aufgenommen wurde in HDTV-Vollbild (1920x1080 RGB 4:4:4 linear), kadriert wurde im Kinoformat Breitwand 1:2,35. Die geplanten Masseninszenierungen, Kriegssequenzen und Stuntszenen erforderten – aufwandbedingt – von vornherein Mehrkameradrehs. Damit war ein gewaltiges Materialaufkommen programmiert. Zudem waren die verfügbaren 72 Drehtage für eine Großunternehmung dieser Art extrem gezählt. Gerade bei den aufwendigen Schlachtszenen erlaubten die komplizierten zeitraubenden Pferdestunts mit bis zu 50 Stuntmen kaum Wiederholungen (Stunt-Koordination: Gerd Grzesczak, Kampfchoreografie: Roman Spacil). So wurde parallel mit mehreren D-21 vom Kran, auf Steadicam, im Schultereinsatz oder vom Stativ gearbeitet. Für kurze Schnittbilder aus nächster Nähe, inmitten des Schlachtgetümmels, verwendete Roll weitere kleinste digitale Consumer-MiniDV-Kameras, die er den Stuntmen beim Reiten an Arm und Sattel anbringen ließ. Neben hochwerti-

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gen kinogerechten Bildern ermöglichte das digitale Kamerasystem Regisseur und Kameramann, die unmittelbare Bildkontrolle der Aufnahmen am hochauflösenden Monitor gleich am Set vorzunehmen. Parallel zur Aufzeichnung der D-21-Kameras (mittels andockbarer Festspeicher-Flash-Magazinen beziehungsweise mit Sony SRW-1-Fieldrekordern auf HD-Cam-SR-Tapes), gelangten die aufgenommenen Bildsignale per Ultraschall-Sender auf den Kontrollmonitor der Crew. Die Tatsache, bereits vor Ort in bester »You-See-What-You-Get«Manier und in HD den Eindruck des »fertigen« Bildes beurteilen zu können, ermutigte den Bildmenschen Roll, ästhetisch bisherige Grenzen der Aufnahme auszuloten, und auch farbtemperaturtechisch (4.200 Grad Kelvin) von etablierten Filmstandards abzuweichen. Für das visuelle Konzept, das er dann verfolgte, bediente er sich einer entsättigten Farbpalette. Nach der Drehphase lag das gesamte Bildmaterial auf über 250 Kameratapes vor. Die weitere Bearbeitung fand bei Arri Film & TV in München statt, wo für den siebenmonatigen HD-Schnitt, ausgeführt von Alexander Berner, im Codec DNxHD 36 komprimiertes Material zur Verwendung kam. Daran knüpfte sich im etablierten Workflow eine umfangreiche DI-Herstellung an, inklusive finalem Grading (Lustre) und nachfolgender Filmausspielung für Kinokopien und Fernsehmaster-Erstellung für den TV-Zweiteiler. Auch wenn an den verschiedenen Drehorten die Kerncrew vornehmlich aus deutschen Teammitgliedern bestand, wurden je nach Land die Teams mit lokalen Mitarbeitern und Schauspielern ergänzt. Die Verständigung lief in bester Europamanier meist mehrsprachig in Deutsch-EnglischTschechisch-Französisch, ja sogar Katalanisch. Auch die Dialogwechsel erinnerten an einstige Koproduktionen: Da sprach Hannelore Hoger (Bella Block) als Königinmutter ihren Film-Schwiegersohn Henri auf Deutsch an, worauf er Französisch antwortete. Newcomer Julien Boisselier in der Titelrolle ist bereits ein Star in Frankreich. Die Deutsche setzt dem smarten Franzosen eine hintergründige, machtbewußte Königinmutter Katharina de Medici entgegen. Außerdem ein-

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Die Pariser Gasse lief durchs Studio bei Köln, die Hirschjagd vor den Toren von Paris am letzten Drehtag in Bayern statt – drei Tage vor Weihnachten. Für den Realismus im Bild scheute die 19-Millionen-Euro-Produktion keinen Aufwand. 48

Man wußte ja auch, wo man wieder sparen kann.

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drucksvoll vor der Kamera: der junge katalanische Schauspieler Roger Casamajor, sowie Armelle Deutsch und Chloe Stefani, ebenfalls aus Frankreich. Auch von deutscher Seite konnte man ein namhaftes Ensemble mit Joachim Król, Ulrich Noethen, Andreas Schmidt, Devid Striesow, Wotan Wilke Möhring und der prämierten Sandra Hüller aufbieten. Die Berlinerin Katharina Thalbach erscheint als skurril-verschrobene Gauklerin in einer deftigen Pariser Straßenszene. Authentisches Flair samt historischer Schloßmotive, Gärten, Straßenzüge und Plätze machte das Filmteam zwei Wochen lang im französischen Cher nahe Bourges ausfindig. Auch hier mimte eine gute Hundertschaft Komparsen Herrschaften, Bauern, Handwerker und Soldaten – für 8,71 Euro die laufende Stunde. Hiesigen Statisten waren dagegen von der Produktion für die Mühen lediglich knausrige 52 Euro Tagesgage vergönnt, wenn auch mit Fahrtkosten- und Kostümprobenzuschlag, und der Aussicht auf bezahlte Überstunden. So unterscheiden sich internationale Tarife je nach Filmland und Standort. Dafür gab es an den deutschen Drehlocations gutorganisierte mobile Catering-Küchen für 160 Mahlzeiten täglich. Fragt sich nur, ob sich die Franzosen im Cher für ähnliche Lösungen begeistert hätten. c

Henri IV Deutschland 2009 Regie Jo Baier Drehbuch Jo Baier, Conny Ziesche Bildgestaltung Gernot Roll Szenenbild Klaus-Peter Platten, Christian Strang Kostüm Barbara Jäger, Ute Hofinger, Gerhard Gollnhofer Maske Gerhard Zeiss, Ulrich Ritter, René Jordan Montage Alexander Berner, Claus Wehlisch SFX Zoltan Toth VFX Supervisor Dennis Behnke Ton Gunnar Voigt Licht Harald Hauschildt Erste Aufnahmeleitung Michael Stritzel Setaufnahmeleitung René Kibrité Herstellungsleitung Jürgen Tröster Produktionsleitung Cornelia Schmidt-Matthiesen Produzent Regina Ziegler Ausführender Produzent Harmut Köhler Produktion Ziegler Film, Geteve, Wega Film, BA Produktion/Arri Group, Magic Media Company MMC, ICC, France 2, ORF, WDR, Degeto Drehzeit 1. September 2008 bis 12. Januar 2009 Drehorte Deutschland, Frankreich, Tschechien.

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Probeaufnahmen im Studio. Die Ufa leistete sich schon mit dem Aufkommen des Tonfilms einen festen Besetzungschef. Nach dem Krieg wurde der Filmberuf ein halbes Jahrhundert lang fast vergessen.

Die richtige Rolle Bekannte Namen sind nicht alles – aber sie machen manchen Filmerfolg leichter. Die passenden Gesichter für die Geschichte zu finden, ist aber schwere Arbeit. Unsere neue Kolumne blickt hinter die Kulissen der Casting-Branche. Zum Einstieg: Chronologie eines Berufsstands.

Foto: Archiv

Text Tina Thiele Machen wir uns nichts vor: Nur wegen der beeindruckenden Bilder geht kaum einer ins Kino. Das Publikum liebt seine Stars. Aber wie diese auf die Leinwand kommen, darüber macht sich kaum jemand Gedanken. Wie alle Filmgewerke spielt sich auch das Casting oder besser gesagt die Besetzung im Schatten ab. In Deutschland blieben die Casting Directors lange Zeit unbemerkt: Sie tauchten nicht in den Credits auf, ja es gab nicht einmal eine gängige deutsche Bezeichnung für ihre Arbeit. Dies zeigt, wie wenig sich die Besetzungstätigkeit im Bewußtsein der deutschen Filmbranche verankert hat. Dabei ist Casting kein neuer Trendberuf, der aus dem angloamerikanischen Raum adaptiert wurde, sondern ein erlerntes Handwerk mit langer (wenn auch oft vergessener) Tradition. Bereits in der Stummfilmzeit gehörte ein hoch differenziertes Besetzungsgeschäft zum Standard in der deutschen Filmbranche. Ob nun für Kunst-, Trivial- oder Sittenfilme (die damals gängige Bezeichnung für Pornos), ob für Detektiv- oder Abenteuerfilme, aufwendige Kostümschinken oder Serien: Darsteller waren gefragter denn je. »Big Bosses« in Besetzungsangelegenheiten waren für gewöhnlich die Produzenten. Erich Pommer von der Ufa etwa ließ seinen Regisseuren bei Besetzungsfragen einen großen kreativen Spielraum. Dabei zeigten Theaterschauspieler anfänglich kein großes Interesse, sich auf Zelluloid bannen zu lassen. Aber Not macht erfinderisch: »Verzeihen Sie, gnädige Frau, hätten Sie nicht Lust bei mir zu filmen?« fragte der Regisseur Robert Wiene 1920 das junge Fräulein Seubert. Die Schauspielerin wurde unter ih-

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rem Künstlernamen Lil Dagover berühmt – auch dank des Auftritts in Das Cabinet des Dr. Caligari. Und Wiene kann als Begründer des Streetcastings angesehen werden. In Fachzeitschriften jener Zeit stieß man ebenfalls häufig auf Ausschreibungen von Filmstudios. Die Bewerber mußten ein Foto einsenden und turnen können – das reichte als Qualifikation. Trotzdem war es nicht leicht, den Bedarf an Darstellern zu decken. Als die Bilder sprechen lernten, reichten gymnastische Talente nicht mehr aus. »Der Tonfilm hat begonnen, nun müssen wir richtige Schauspieler finden«, erklärte Pommer 1931 Jobst von ReihtZanthier: »Überlegen Sie sich mal, wie man das am Besten macht.« Die Lage war ernst. Viele der stimmerfahrenen deutschen Stars waren Mitte der 20er Jahre nach Hollywood gezogen. Von Reiht war selbst ehemaliger Schauspieler und lange Jahre Regieassistent am Theater. Als rechte Hand von Max Reinhardt kannte er die gesamte Theaterlandschaft vom Star bis zum Statisten. Pommer engagierte ihn als ersten festangestellten Besetzungschef der Ufa. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Etwas Neues sollte entstehen – wenn auch nach bestehendem Vorbild: »In Hollywood gab es das schon, die Casting-Büros, die aus aller Welt ihr Schauspielmaterial heranholten«, erinnerte sich von Reith später. »Und in mir dämmerte eine Ahnung auf, daß eine Kartei entstehen müßte mit Bildern und Daten dazu. Das ›Wie‹ war mir noch nicht klar.«

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Er ging das Projekt systematisch an. Ließ große Karteikarten anfertigen mit Kuverts für das Bildmaterial auf der Rückseite. Kästen auf großen Tischen und zusätzlich Regale entlang der Wand boten Platz für die Kartei. Für seine zwei Sekretärinnen ließ von Reith ein Büro einrichten und jeweils ein Zimmer für sich und seinen persönlichen Assistenten. Der Ufa-Besetzungschef machte von jedem Schauspieler seiner Kartei aber auch Probe-Aufnahmen; außerdem archivierte er die bereits bestehenden. Da es viele deutschsprachige Theater in Österreich, in Ungarn, in der Schweiz und der Tschechoslowakei gab, genehmigte das Studio Jobst von Reiht ein Reiseprogramm, das ihn einmal im Jahr quer durch die Lande führte. Auf einer dieser Reisen lernte er unter anderem die späteren Ufa-Stars Johannes Heesters, Zarah Leander und das Prager Zirkuskind Marika Rökk kennen. Dazu finanzierte die Ufa sogar Sonderreisen, wenn es galt, konkrete Rollen zu besetzen. An jede Reise schlossen sich Probeaufnahmen an, für die er die meistversprechenden Schauspieler nach Berlin holte. Curd Jürgens, Lale Andersen, Georg Thomalla oder die damalige »Heroine des Burgtheaters« Hedwig Bleibtreu wurden bei dem Besetzungschef vorstellig. Und als Ingrid Bergmann in sein Büro trat, wußte er sofort, daß sie das Zeug zum internationalen Star hatte. Mit der Zeit war Jobst von Reihts Besetzungsbüro zur Vermittlungsinstanz für die obersten Besetzungschefs geworden. Als die Nationalsozialisten nach der Macht griffen, hatte das auch Auswirkungen auf die Beset-

Foto: Filmmuseum Berlin – Stiftung Deutsche Kinemathek

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Eigenengagement war ein nicht zu unterschätzender Faktor: Eva Gisela Schnittenhelm hatte ihre Rolle in Metropolis ihrer Mutter zu verdanken. Die soll beim Regisseur Fritz Lang nach einem Part für ihre Tochter angefragt haben, und die Laienschauspielerin hatte Glück: Ihr blonder Typ entsprach dem Geschmack der Zeit und galt als kameratauglich. Zwar ruinierte der Film die Ufa fast, er machte die junge Berlinerin aber über Nacht zum Star: Als Brigitte Helm zeigte sie fortan ihr wandlungsfähiges Gesicht nicht nur auf den frühen Sed-Karten.

zungsbranche. Sie überwachten nicht nur die Gestaltung, sondern auch den künstlerischen Personaleinsatz an sich. Besonderes Augenmerk richteten sie auf die Nachwuchserziehung. Ab 1942 gab es in Babelsberg ein Besetzungsbüro mit einem Atelier für junge Schauspieler. Noch 1943 übernahm von Reiht zwar noch die Besetzung für Münchhausen, ansonsten hielt er sich aus dem Geschehen heraus und zog sich ins Theatergeschäft zurück. Münchhausen ist übrigens der einzige Film, der ihn als Casting Director in der Internet Movie Database ausweist, dem deutschen Filmportal fällt zum Namen des ersten Besetzungschef der Ufa gar nichts ein. Während sich in den USA das Casting-Geschäft mehr und mehr als ausgelagerte Dienstleistung professionalisierte, lag es hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst brach. Die Besetzung war Aufgabe des Regisseurs oder seines Assistenten. Pionierarbeit auf dem Feld des Castings leisteten beispielsweise An Dorthe Braker, Sabine Schroth und Risa Kes. Bereits Ende der 70er Jahre arbeiteten sie als freie Casting Directors in München und wurden schon lange mit der Besetzung von Rollen beauftragt, bevor das Privatfernsehen, die Förderungssysteme und die deutschen Independents auf dem Markt waren. Allerdings: Die Branche steckte noch in den Kinderschuhen, und auch die »Urgesteine der Branche« arbeiteten zunächst weniger fürs deutsche Kino, sondern eher als Fachexperten für ausländische Filme, die Werbung und erst langsam auch für besondere Fern-

sehprojekte. Bis Ende der 80er Jahre waren sie in der Kalkulation noch nicht berücksichtigt: »In Deutschland gehörten wir anfänglich zum Kostümbereich«, erklärte die im Herbst 2004 verstorbene Risa Kes. Trotzdem lassen sich in dieser Anfangsphase erste (wenn auch seltene) Besetzungshinweise finden. An Dorthe Braker ist 1983 im Abspann des Fernsehmehrteilers Rote Erde (Regie: Klaus Emmerich) genannt – unter »künstlerische Organisation«. Eine neue Phase beginnt mit den 90er Jahren, als erste freie Besetzungsbüros eröffnet werden. Als das so genannte Arbeitsmonopol fiel, die neuen Privatsender auch selbst produzieren ließen und besonders der Markt für TV-Movies boomte, stieg nicht nur die Nachfrage nach Schauspielern, sondern auch nach Agenten und Fachleuten fürs Casting. Sabine Schroth: »So wie die ganze Branche hat sich natürlich auch das Casting verändert. Von den zwei TV-Sendern zu den heutigen Soaps, Serien, Dailys und so weiter ist eine Erweiterung des Bedarfes nur folgerichtig.« Viele Neueinsteiger versuchten, sich auf dem Markt durchzusetzen. Analog zu den USA mußten sich nicht nur Schauspieler und Agenten, sondern auch Casting Directors auf dem freien Markt beweisen. Ihre Leistung wurde nun erstmalig hervorgehoben. Sabine Schroth wurde bei dem Kinofilm Echte Kerle 1996 schon unter »Casting« aufgeführt – jedoch nur im Abspann. Ihre Kollegin Heta Mantscheff schaffte um die gleiche Zeit den Sprung in den Vorspann von Stadtgespräche. Inzwischen ist die Anstellung von Casting Directors für hochqua-

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Jüngste Casting-Leistungen: Für Michael Hanekes Das weiße Band (links) besetzten Markus Schleinzer, Carmen Loley und das Team um Jamila Wenske Kinder und Jugendliche mit 42 Rollen nach rund 6000 Castings, Simone Bär besetzte 24 Rollen. Quentin Tarantino drehte Inglourious Basterds (rechts) überwiegend in Babelsberg und in drei Sprachen. Das Casting in Deutschland übernahm Simone Bär mit 28 Rollen (darunter auch Cannes-Gewinner Christoph Waltz), in den USA Jenny Jue und Johanna Ray

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litative Spielfilme zwar gang und gäbe, die Honorierung ihrer Arbeit mit einem Frontcredit allerdings nicht immer. In den USA dagegen ist eine Creditvergabe streng hierarchisch und vertraglich geregelt. Der Blick auf den Bildschirm zeigt: (Independent) Casting-Directors erscheinen unter dem Terminus Casting im Vorspann, Casting-Associates oder Assistants im Nachspann. Das häufig in Klammern vorkommende (CSA) verweist auf die »Casting Society of America«, ein Verband, der 1980 gegründet wurde und sich seitdem für die Rechte der USBranche einsetzt. Seit 2003 gibt es den deutschen Bundesverband Casting (BVC). Sowohl Freiberufler als auch angestellte Casting Directors können hier für die Bereiche Film, Fernsehen, Bühne und Werbung im deutschsprachigen Raum Mitglied werden. Eine klare Anerkennung von Kompetenzen, wie sie die Verbände in anderen Ländern schufen, stehen an oberster Stelle der BVC-Agenda, denn es gibt kei-

nen geregelten Ausbildungsweg in den Beruf. Anwärter müssen zwei Jahre hauptberufliche Tätigkeit als Casting Director im fiktionalen Bereich nachweisen und brauchen dann die einstimmige Zusage des Auswahlgremiums, das aus fünf Vereinsmitgliedern besteht. Kein Mitglied darf an den Gagen der Schauspieler partizipieren, denn anders als die Agenten sind Casting Directors keine Arbeitsvermittler, sondern auf dem freien, künstlerischen Feld der Besetzung tätig. Für ihre Arbeit, die zwar mittlerweile bei der Filmfinanzierung gesondert budgetiert wird, lassen sich keine festen Preise ausmachen. Üblicherweise erhält der Casting Director ein Pauschalhonorar, dazu Reisekosten und Kosten für Probeaufnahmen. »Festzuhalten ist der Trend, daß die Zeit zwischen Vorlage eines Drehbuches und Drehbeginn immer kürzer geworden ist«, beschreibt An Dorthe Braker die allgemeine Situation: »Die Anforderungen an c Casting Directors sind somit gestiegen.« www.casting-network.de

Foto: X-Verleih | Universal, François Duhamel

mit 10 Rollen, in Frankreich Olivier Carbone mit 6 Rollen und das Komparsen-Casting Johanna Ragwitz.


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Gesetze der Serie: Wenn einer fünf Geschichten auf einmal erzählt, sich dafür 1001 Minute Zeit nimmt und trotzdem kein Ende findet, freuen sich die Zuschauer. Fernsehserien wecken Begeisterung wie nur wenige Kinofilme. Warum eigentlich?

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Text Michael Stadler

Vorspann. Der Baß folgt einer einfachen, eingängigen Linie, während ein Bild ins nächste blendet: ein Zaunkönig sitzt auf einem Ast; zwei Türme eines Sägewerks ragen hoch in die Luft, während seitlich die Schornsteine qualmen; Stahlplatten, die maschinell geschnitten, gekerbt und zu Sägeblättern verarbeitet werden. Eine Landstraße, an deren Rand ein Ortsschild steht: »Welcome to Twin Peaks, Population 51,201.« Über das Bild mit dem Schild wird, als visuelle Doppelung, »Twin Peaks« in braunen, neongrünumrandeten Lettern eingeblendet. Es folgen die Namen der Darsteller. Nur Namen. Keine Gesichter, keine

Menschen. Ein Wasserfall stürzt in eine Schlucht, das Bild verlangsamt sich, bis die Kamera der Strömung eines Flusses folgt, auf dessen Oberfläche sich dunkel die Baumstämme spiegeln. Auf diesem Fluß wird bald eine Leiche schwimmen. Der Vorspann führt seelenruhig in den Nordwesten der USA, in ein Holzfällerkaff, scheinbar leer, über dessen Stille die artifizielle, hypnotisch anschwellende Musik hängt wie das Synthie-Requiem auf eine tote Welt. Die Maschinen arbeiten, die Natur folgt ihrem Lauf. Diese Serie wird in Abgründe führen, die unter undurchdringlichen Oberflächen lauern. Und weil es sich um TV handelt, hat man Zeit, kann das Tempo nach Belieben gedrosselt werden, damit das Detail hervortritt.

Worum geht’s? Laura Palmer ist tot. Einer von 51.201 Einwohnern ist der Mörder. Da können die Ermittlungen lange dauern. Sheriff Harry Truman bekommt Unterstützung aus der Großstadt. Ein FBI-Agent, Dale Cooper, übernimmt die Leitung der Ermittlungen. Mit tibetanischen Ritualen und untrüglichem Bauchgefühl kommt er dem Täter folgenlang nicht auf die Spur, hat dafür Visionen, in denen ein Zwerg ihm vor roten Vorhängen was vortanzt. Der Zuschauer ahnt: Hier sind nicht alle Tassen im Schrank.


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Worum geht’s wirklich? Eine »geheimnisvolle Krimi-Seifenoper« habe er drehen wollen, so David Lynch, mit Mark Frost Macher der Serie. Der Mordfall ist nur Vorwand, um im Dreck des Kleinbürgertums zu wühlen, bis sich die Leichen im Keller türmen. Jeder führt ein Doppelleben, jeder ist mit jedem vernetzt, sei es geschäftlich oder sexuell oder geschäftlich und sexuell. Einer wie Ben Horne betreibt nicht nur ein Hotel am Rande des Wasserfalls, sondern auch einen Puff und plant die Übernahme des Sägewerks. Daß High-School-Queen Laura vor ihrem Tod Kokain schnupfte, im Puff verkehrte und ihren Freund betrog, wird schnell deutlich. Für Lynch und Frost war das nicht unbedingt eine Plot-Entscheidung fern der Realität. Nur fern des Erzählens im Fernsehen. Zeit für eine Revolution. »Man beutelt das Fernsehen immer dafür, daß dort alles nach bestimmten Regeln abläuft.«, meinte Frost einmal. »Wir versuchen, mit Zeit und Raum und

Dimensionen zu spielen. Warum können Film und Fernsehen nicht mehr wie das wirkliche Leben sein? Das wirkliche Leben ist wirklich wild. Überall herrschen Tod, Chaos und Mord, und wir legen einfach eine Schicht von fröhlichem Geplauder darüber, damit wir das nicht spüren.« Frost und Lynch legten lieber eine Schicht voll mystischer Merkwürdigkeiten darüber. Zum tanzenden Zwerg gesellt sich später ein Riese, der Cooper erscheint und Tips gibt, die auch Hobby-Ornithologen ins Grübeln bringen (»Die Eulen sind nicht das, was sie scheinen«). Der Killer von Laura Palmer handelt nicht eigenmächtig, sondern ist von Bob, einem Dämon, besessen. In der letzten Folge begibt sich Cooper in ein Zwischenreich. Dort hat er ein Rendezvous mit dem Zwerg, Bob, Erzfeind Windom Earle und seiner eigenen dunklen Hälfte. Das Irre-Irrationale feiert zuletzt einen heillosen Triumph.

Philosophischer Ansatz. Georg Seeßlen bezeichnet Lynch in seiner Abhandlung über dessen Filme als »Sadologen«, als einen, der sich wie de Sade zum Bösen als Bestandteil der menschlichen Natur bekennt: »Das Böse wird ein Schlüssel zur Welt, den alle Helden in den Filmen von David Lynch suchen, und während sie versuchen, damit die Welt aufzuschließen, um sich zu erlösen, infizieren sie sich töd-

lich daran.« Agent Cooper ist einer, der gegen das Böse zu kämpfen versucht und gerade daran scheitert. Am Ende betrachtet er (oder sein Doppelgänger?) sich in einen Spiegel, Bob schaut ihm entgegen. Das Böse läßt sich nicht besiegen. Eine bittere Botschaft. Durch Twin Peaks färbte sich der Bildschirm schwarz. Am Ende der zweiten Staffel auch, weil nicht mehr viele einschalteten.

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Zeit und Ort. In Twin Peaks ist die Zeit stehen geblieben, die holzgetäfelten Interieurs verraten nichts vom technischen Fortschritt. So hätte das alles auch in den Fünfzigern aussehen können. Die Außenaufnahmen wurden in Snoqualmie und North Bend, Washington, gedreht, in den Wäldern um Seattle. Ursprünglich wollte Lynch nur 5.120 Menschen in Twin Peaks leben lassen, doch die Produzenten von ABC wünschten sich mehr. Lynch fügte eine 1 am Ende hinzu. So wird aus einem Dorf eine Kleinstadt. Der Wald um Snoqualmie ist für Lynch »eine handelnde Figur«, in ihm verbergen sich unheimliche Dinge. Zum Beispiel Eulen. Fotos: Paramount

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Helden. Bevor Cooper sich im Zwischenreich verliert, ist er ein integrer Held, der an den Wahrheitsgehalt von Träumen und Visionen sowie an ungewöhnliche Ermittlungsmethoden made in Tibet glaubt: Im Wald läßt er sich die Namen der Verdächtigen sagen und wirft mit Steinen auf eine Flasche. Trifft er, ist mit dem Genannten etwas faul. Zu diesem eigenwilligen Sherlock ist Sheriff Harry Truman der bodenständige Watson, sein Name erinnert an Amerikas standfesten Präsidenten, dessen Porträt über seinem Schreibtisch hängt. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Truman und Cooper ähnelt dem von Frost und Lynch. Die Dialogpartien mit Cooper wurden vornehmlich von Lynch geschrieben: »Er sagt eine Menge Dinge, die ich auch sagen würde«, meint der Regisseur, der auch Coopers Begeisterung für Kirschkuchen und guten Kaffee teilt.

Stammpersonal. Twin Peaks wimmelt von Figuren im Dienste der Handlungsverwirrung. Alle Generationen sind vertreten, Lynch hat sich aus dem Darsteller-Fundus seines Kinokosmos bedient. Cooper-Darsteller Kyle MacLachlan hat in Blue Velvet ein abgetrenntes Ohr in der Vorgartenhölle gefunden, hier bekommt er es immerhin mit ganzen Leichen zu tun. Lynch liebt die Improvisation, das Drehbuch veränderte sich gemäß seiner Eingebungen am Set. Beim Dreh des Pilotfilms, kurz vor einer Szene in Lauras Zimmer, schloß sich einer der Dekorateure, Frank Silva, versehentlich in dem Raum ein, weil er einen Kleiderschrank vor die Tür schob. Das Bild des Eingeschlossenen gefiel Lynch. Am gleichen Tag sollte eine Szene gedreht werden, in der Laura Palmers Mutter sich vor etwas fürchtet. Der Dreh mußte wiederholt werden, weil jemand von der Crew in einem der Spiegel zu sehen war. Es war schon wieder Silva. Lynch war begeistert und macht aus dem Requisiteur den Dämon Bob. Die Geburt des Bösen – reiner Zufall.

Vorbilder. In den frühen Neunzigern hatte sich das Bild des Polizisten in der Serie bereits gewandelt. Auch Crocket und Tubbs kämpfen in Miami nicht nur mit Verbrechern, sondern auch dem Dunkel im eigenen Innern. Klassische Soap-Elemente – Liebe, Sex, Intrigen – binden Frost und Lynch ein, ohne daß ganz klar wird, wo der Ernst aufhört und die Ironie beginnt. Über die TV-Bildschirme in Twin Peaks flimmert in jeder der ersten sieben Folgen die Soap Invitation to Love. Eine Show in der Show als humorvoller Kommentar zum eigenen Format: Der Twin-Peaks-Zuschauer sieht sich die Abenteuer fiktiver Menschen an, die sich die Abenteuer fiktiver Menschen ansehen. Voyeurismus hoch zwei, die Welt als einziger Guckkasten. Wobei der Bildungsbürger auch mit Anspielungen jeder Art gekitzelt wird. Am Ende geht Cooper einen Pakt mit dem Teufel ein: seine Seele für das Überleben seiner Geliebten Annie. Faust grüßt. Und Mephisto hat das letzte Wort.

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Gimmicks. Eine Eule blinzelt in die Kamera. Bäume geraten windbewegt in Schräglage. Eine Ampel wechselt auf Rot. Solche Bilder werden immer wieder in den Handlungsfluß geschnitten; Details, die zu symbolschwangeren Markern werden in einer Realität, die banal und traumgetränkt zugleich ist. Das Set-Design samt Requisiten tut ein Übriges. Hirschköpfe blicken starr von den Wänden, die berühmten roten Vorhänge und die Zickzack-Muster auf den Teppichen in Coopers Träumen weisen ins Surreale. Jeder spricht im Roten Raum mit merkwürdig abgehacktem Rhythmus, als ob die Sätze rückwärts gespult erklingen. Was sie auch tun: Der kleinwüchsige Darsteller Michael J. Anderson sprach zunächst den OriginalText in einen Rekorder, das Gesprochene wurde ihm rückwärts vorgespielt, woraufhin er die umgekehrte Version einsprach. Diese Rückwärts-Version wurde beim Schnitt erneut rückwärts gespielt. Vor und Zurück, kcüruZ dnu roV, Vor und Zurück, ganz nach dem Geschmack des Meisters: Das Geradlinige wird in Twin Peaks verdreht. Berühmt ist die Szene, wenn Audrey sich in den Puff einschleicht und bei der Prostituierten-Prüfung einen Kirschstengel in den Mund nimmt – und in Brezelform wieder herausnimmt. Teufelszungenwerk.

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Musik. Lynch zeigte seinem Stamm-Komponisten Angelo Badalamenti die ersten Bilder des Pilotfilms. Der improvisierte drauflos und fand spontan eine Melodie. Lynch soll geweint haben. Badalamenti gefiel »Laura’s Theme« zunächst nicht, er komponierte aber weiter auf dieser Linie. »Die Musik kam wirklich sehr natürlich zustande«, erzählt er später. »Ich wußte, daß sie irgendwie traditionell sein mußte, aber andererseits gab ich ihr unter der Oberfläche eine gewisse Verschrobenheit und Exzentrik – so wie einige Figuren in der Serie auch waren.« Gerade bei den Liebesszenen schmelzen die Synthesizer-Geigen wie Sahne auf heißem Kirschkuchen. Der Kitsch trieft in die Ohren, bis aus Mitgefühl vielleicht Unbehagen wird. Der Song »Falling«, dessen Instrumentalversion beim Vorspann erklingt, wird von Julee Cruise gesungen, die als Sängerin einer lokalen Bar mehrmals in der Serie auftritt. Sie ist eine von Lynchs charismatischen Musen.

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Visuelle Merkmale. Twin Peaks war zunächst Kino im Langformat, gedreht auf 35 Millimeter, inszeniert von Lynch selbst oder, zumindest in der ersten Staffel, von ausgewählten Regisseuren, die er entweder vom American Film Institute oder über weitergehende Kontakte kennt. »Wir stehen kurz davor, hochqualitative und wundervolle Bilder in jedes Haus zu schicken«, meinte er vorab, »aber ich fürchte, daß gewisse Leute das ruinieren werden. Man muß in der Lage sein, den Leuten zu Hause eine bessere Chance zu bieten, damit sie in den Traum eintauchen können. Das Fernsehen ist eigentlich nur dazu da, Produkte zu verkaufen. Es ist einfach nur ein Hilfsmittel dafür.« Die zweite Staffel entwickelte sich zu einer Enttäuschung, Lynch ließ die Zügel lockerer, neue Regisseure und Autoren tauchten auf, die Produzenten mischten sich ein. Aus großem Kino wurde dann doch: eine Fernsehserie.

Fotos: Paramount

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Zahlen. Der Pilotfilm wurde am 8. April 1990 auf ABC gesendet, 33 Prozent der Zuschauer sahen zu. Der erfolgreichste Film in der Fernsehsaison 1989-1990. Erst danach wurden sieben weitere Folgen produziert, die donnerstags selbst die Quoten beim NBC-Rivalen Cheers senkten. Nach dem Cliffhanger der ersten Staffel – Agent Cooper wird in seinem Zimmer niedergeschossen – erreichte die »Peaksmania« ihren Gipfel, bei der zweiten Staffel verursachte ABC durch häufigen Wechsel des Sendeplatzes und einen fatalen Eingriff in den Verlauf der Geschichte sinkende Quoten: Der Sender forderte die Auflösung des Mordfalls in der Mitte der zweiten Staffel, danach sank das Zuschauerinteresse. Lynch verlor ebenfalls die Lust und kehrte nur sporadisch zurück, als Agent mit Hörgerät innerhalb der Serie und als Regisseur der letzten Folge. Lynch und Frost wollten den Mörder von Laura Palmer entweder nie oder viel später enttarnen. »We killed the goose that laid the golden eggs«, trauert Lynch in einem Special auf der Definitive Gold Box Edition.

Suchtfaktoren. Kaffee, Donuts, Kirschkuchen, Eulen, Ampeln, Hirschköpfe, verquere Provinzler, darunter eine Frau, die mit ihrem Holzscheit spricht – Twin Peaks lockte mit skurrilen bis unheimlichen Motiven und der alles entscheidenden Frage: Wer hat Laura Palmer ermordet? In Deutschland wurde diese Frage bei der Erstausstrahlung sogar außerhalb der Serie geklärt: Sat 1 erlöste manche Fans früh von ihrer Sucht, indem der Sender die Identität des Täters auf seiner ersten Videotext-Seite enthüllte. RTL plus, bei dem die Sendung bereits auf einem ungünstigen Sendeplatz – jeden Freitag um 21.15 Uhr – lief, durfte über die Konkurrenz und noch schlechtere Quoten staunen. Das Böse, weiß schon Agent Cooper, hat viele Formen.

Einfluß. David Duchovny spielt in Twin Peaks einen Agenten in Frauenkleidern, in Akte X war er wieder ganz Mann und ritt auf der Mystery-Welle, die Lynchs Serie in Gang gesetzt hatte. Das Schräge nahm Einzug ins Fernsehgeschäft. Ally McBeal ist im Grunde ebenfalls eine Log Lady, nur daß sie mit sich selbst und nicht einem Stück Holz spricht. Twin Peaks ist Kult, die Fangemeinde groß, obwohl der Großteil von der zweiten Staffel und Lynchs Kino-Prequel Fire Walk With Me (1992) enttäuscht war. In der Popkultur hat Twin Peaks sich gemütlich eingerichtet, am Schönsten hat Homer von den Simpsons reagiert: In der Folge »Lisa’s Sax« schaut er sich im Fernsehen an, wie Coopers Riese mit einem weißen Pferd tanzt. Homer: »Brilliant! Ich habe keine Ahnung, was hier passiert.« Damit ist er nicht alc leine.

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Komposition aus Text Ian Umlauff

Fotos: Universal

Traumatisch geht es zu in Luis Mandokis Angel Eyes, und schon am Anfang steht ein NahtodErlebnis, das Piotr Sobocinski traumhaft in Bilder gefaßt hat. Leider ist dies der letzte Film, den der polnische Kameramann vollendet hat.


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Beeindruckend gelingt der Einstieg zu Angel Eyes: Nur knapp entrinnt der Hauptdarsteller dem Tod, die Darstellung seines Überlebenskampfs ist eine gleichermaßen perfekte und gewagte Komposition von Ton- und Bildebene. Zum ersten Mal begegnen sich hier die beiden Protagonisten, ohne voneinander zu wissen.

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Klang und Bild Es ist eine wahrhaft mühsam beginnende Liebe, die der mexikanische Regisseur Luis Mandoki (When A Man Loves A Woman, Message in a Bottle) mit seinem aus Lodz stammenden DoP Piotr Sobocinski (Dekalog, Drei Farben: Rot, Im Zwielicht) nach einem Drehbuch von Gerald Di Pego (Instinkt, Die Vergessenen) 2001 in Szene gesetzt hat: Die junge Polizistin Sharon Pogue (Jennifer Lopez) und der Musiker Steven Lambert, genannt Catch, (James Cavie-


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Angel Eyes spielt in Chikago, wurde aber in der größten Stadt des Nachbarlandes Kanadas gedreht. Luis Mandoki und DoP Piotr Sobocinski scheuten sich nicht, in dieser ersten Einstellung des Filmes ungeniert die deutlich erkennbare Skyline von Downtown Toronto ins Bild zu nehmen.

zel) müssen erst tiefe Traumata überwinden, bevor sie sich endlich aufeinander einlassen können. Catch glaubt, den Unfalltod von Frau und Sohn verschuldet zu haben. Um weiterleben zu können, hat er dieses Erlebnis verdrängt. Seit er wenigstens körperlich von den Unfallfolgen genesen ist, läuft er ziellos durch Chikago und tut anderen Menschen Gutes. So will er seine vermeintliche Schuld wiedergutmachen. An geparkten Autos schaltet er das Licht aus, weist eine Nachbarin darauf hin,

daß an ihrer Wohnungstür außen der Schlüssel steckt. Für die Avancen der dankbaren Nachbarin jedoch bleibt er unempfänglich. Sharon mußte als Kind miterleben, wie ihr Vater ihre Mutter immer wieder mißhandelt hat. Später, als Polizistin, hat sie nach einem solchen Vorfall ihren eigenen Vater festgenommen, was er ihr niemals verziehen hat. Selbst ihre Mutter hat das Sharon nicht vergeben. Als Kind und Jugendliche hatte sie sich aus Angst bei solchen Vorfällen versteckt, war tatenlos geblieben. Heute, als Poli-

Angel Eyes war die erste Zusammenarbeit des mexikanischen Regisseurs Luis Mandoki (rechts) mit dem polnischen DoP Piotr Sobocinski (links). Beim zweiten gemeinsamen Film im Jahr darauf verstarb der Kameramann während der Dreharbeiten an einem Herzinfarkt.

Fotos: Piotr Jaxa | Archiv | Videostills: Angel Eyes, Warner Home Video 2001

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zistin, muß ihr Kollege Robby (Terrence Dashon Howard) sie öfter einmal bremsen, wenn sie es ist, die zu heftig zulangt. Ohne daß der Zuschauer das sofort durchschauen kann, sehen sich Sharon und Catch das erste Mal gleich zu Beginn des Filmes, unmittelbar nach dem tragischen Verkehrsunfall. Erst vor wenigen Augenblicken ist das Auto der jungen Familie frontal mit einem Lastwagen zusammengeprallt. Die ersten Polizisten sind am Unfallort. Ambulanzen treffen ein. Der Film beginnt mit einem Blick auf die Skyline der Stadt. Dann bewegt sich die Kamera zurück, an den Bildrändern erscheinen Teile einer zersplitterten Windschutzscheibe. Die Kamera schwenkt langsam nach links zur Fahrertür, die von einer Polizistin aufgerissen wird. Sie beugt sich in das Fahrzeug, sieht direkt in die Kamera: Jennifer Lopez. Der Übergang zu einer Subjektiven, in der andere Protagonisten in die Kamera, und damit direkt uns Zuschauer ansehen, ist immer ein schwieriges Unterfangen. Auch hier ist es ein überraschender Effekt, wenn Lopez uns direkt ansieht, auf uns einredet. Die dramaturgische Konstruktion ist ungewöhnlich. Der Film beginnt mit Catchs Geschichte, ohne daß man ihn sieht. Trotzdem ist er präsent. Seine Geschichte wird über Sharon erzählt. Wie sie braucht auch der Zuschauer später eine ganze Weile, um zu begreifen, daß es Catch war, dessen Hand sie nach dem Unfall gehalten hat, daß er es ist, durch dessen Augen wir sie zu Beginn des Films ansehen. Mandoki und Sobocinski bleiben strikt bei der Subjektiven, um diese erste Szene als NahtodErfahrung zu schildern. Sobocinski arbeitete mit einer Konstruktion, die er »Bungee« nennt, um die Kamera zu lagern: Zwischen Stativ, Dolly oder ähnliches und der Kamera benutzte er keinen Fluid- oder Kurbelkopf, sondern eine Art Luftkissen, auf dem er die Kamera lagerte. Auf diese Weise läßt sich ihre Position im Raum durch das Stativ statisch halten oder durch einen Dolly, JibArm oder Kran in der Bewegung stabil verändern. Die Kamera selbst jedoch ist in ihren drei Achsen

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Die Unfallszenen zu Beginn des Films…


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unstabil, und zwar auf eine labilere Weise, als es ein Dutch-Head erlauben würde. Sobocinski konnte seinen Schwenker Peter Rosenfeld mit dieser Konstruktion die Kamera mit wohldosierter Labilität nach rechts oder links kippen und sich wieder aufrichten lassen, ganz so, als würde dem schwerverletzten Catch der Kopf zu Seite sinken. Zusätzlich läßt Sobocinski das Bild unscharf ziehen oder die Blende schließen beziehungsweise beides. Das Sounddesign unterstützt den Effekt des Bewußtloswerdens dadurch, daß der Ton, das heißt ihr Auf-ihn-Einreden, mit einem Chambereffekt versehen wird: Wenn Sharon zu Catch spricht, klingt das, als würde sie sich in einem gewundenen kahlen Gang von uns entfernen oder wir von ihr. So wird das Bild schwarz, und Stille tritt ein, wenn wir aus Catchs Perspektive miterleben, wie er bewußtlos wird, um Sekunden später wieder zu Bewußtsein zu kommen. Nur Marco Beltramis vorsichtig elegische Musik aus sanften Motiven, die uns fast schweben lassen, überbrückt diese kurzen Phasen. Auch das sonstige Sounddesign fällt auf. Im Vordergrund stehen Sharons Stimme und die Musik. Der Lärm von draußen bleibt im Hintergrund


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…Angel Eyes eröffnet mit einer ungewöhnlichen dramaturgischen Konstruktion, aus der Subjektiven des Hauptdarsteller erzählt und ein perfektes Zusammenspiel von Bildgestaltung und Sounddesign: Unscharfe Einstellungen, Überbelichtungen und labile Kadragen, stellenweise verbunden mit Halleffekten vermitteln eindrucksvoll das Nahtod-Erlebnis.

und hat nur eine geringe Dynamik. Kurzzeitige oder länger anhaltende laute oder gar scharfe, schrille Geräusche, wie sie sich für die Szene anbieten würden, hat der Sounddesigner Tim Walston vermieden. Mandoki und Sobocinski nehmen sich künstlerische Freiheiten. Die subjektive Kamera ist für sie kein strenges Konzept. Mehrmals bewegen sie die Kamera aus dem Auto heraus, während der verletzte Catch dort liegenbleibt. Mit teilweise sehr unruhigen, verrissenen Handkameraaufnahmen (Sobocinski nennt sie »Russian Motion Control«) erleben wir das Durcheinander und die Hektik außerhalb des Autos: Polizisten, Sanitäter und Feuerwehrleute laufen kreuz und quer herum. Leichensäcke nimmt man eher flüchtig wahr, als daß man sie wirklich sieht.


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Um mehr über Catch herauszufinden, dringt Sharon in das Haus ein, in dem er bis zum Unfall mit seiner Familie gelebt hat. Bis auf minimales Fülllicht beleuchtete sich Jennifer Lopez selbst, indem sie die extrem starke Surefire-9NTaschenlampe, das Vorgängermodell der Surefire 9AN, auf Reflektoren richtete, die im Set versteckt oder gerade außerhalb des Bildes angebracht waren.

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Wieder im Innern des Fahrzeugs, sehen wir Sharon, die beruhigend auf uns einredet, wie mit einem Unfallopfer unter Schock. Trotzdem kippt unser Kopf, die Kamera, immer wieder zur Seite. Dann setzt Mandoki das immer wieder geschilderte Motiv der Nahtod-Erfahrungen ein: Die nach unten blickende Kamera entfernt sich von der Szenerie. Wir bewegen uns langsam senkrecht nach oben, sodaß wir das Auto und das gesamte Geschehen von oben übersehen können. So entsteht der Eindruck, alles würde klein, wir würden uns entfernen, über all dem stehen, uns davon lösen. Wieder ist es Sharon, die uns zurückholt, indem sie mit uns spricht. Neben ein wenig Musik hören wir fast nur noch ihre Stimme. »Sie dürfen nicht aufgeben, klar?« Es ist ein Betteln, ein

Beschwören. Wenige Sekunden später wird das Bild dann schließlich immer heller, bis es völlig überstrahlt. Mit das Letzte, was wir erkennen können, sind die schönen dunklen Augen dieser Frau, Engelsaugen – Angel Eyes, bevor wir nur noch Weiß sehen, allesumhüllendes Licht. Im späteren Verlauf des Films, wenn Catchs verdrängte Erinnerungen an den Unfall langsam wieder an die Oberfläche kommen, spielen diese Weißblenden immer wieder eine wichtige Rolle. Sie verbinden die kurzen Sequenzen, die seine Erinnerung an den Unfall zeigen, mit dieser Anfangsszene des Films. Erst als Catch sich wieder vollständig an den Unfall erinnert, als Sharon ihrem Vater eingesteht, sie habe auch schöne Kindheitserinnerungen an ihn und liebe ihn trotz allem, lösen sich die

Sobocinski setzte in Angel Eyes an zahlreichen Stellen Spiegelungen in unterschiedlichster Form ein, um Bilder vielschichtiger


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In all jenen Momenten des Filmes, in denen sich Catch (James Caviezel, hier mit Michael Cameron als Nachbarsjunge) an seine Familie und den Unfall erinnert, setzt DoP Sobocinski sein »Bungee« ein: Ein Luftkissen als Schwenkkopfersatz, mit dessen Hilfe sich die Kamera mit einer gewissen Labilität unter anderem gut zur Seite kippen ließ.

Traumata der beiden auf, und sie finden endlich zueinander. »Ich habe diesen Film sehr sorgfältig vorbereitet über einen Zeitraum von vier Wochen, den ich Tag für Tag dasaß mit meinem Freund Piotr Sobocinski«, erzählt Luis Mandoki. »Ohne seine Inspiration hätte es diesen Film so nicht gegeben. Piotr sagte: ›Einer der Gründe, warum ich daran interessiert war, diesen Film zu machen, ist, daß ich selbst vor vielen Jahren bei einem Verkehrsunfall eine ähnliche Erfahrung gemacht habe: Ich fuhr von Dreharbeiten nach Hause, mit fünf Kollegen im Wagen, einer davon mein bester Freund. Wir prallten mit einem großen Laster zusammen. Alle starben. Ich war der einzige Überlebende. Ich erinnere mich, daß sich im Moment des Aufpralls alles in weißes Licht verwandelte, und ich fühlte

eine Art Glückseligkeit, verlor das Bewußtsein und erlangte es wieder.‹ So haben wir die erste Sequenz als Point of View dieses Unfallopfers inszeniert. Wir wollten zeigen, wie er versucht, sich zu orientieren, wie er immer wieder das Bewußtsein verliert und wiedererlangt. Piotr erzählte mir, daß dieses weiße Licht immer wieder kam, als er bewußtlos wurde und wieder aufwachte, und ein Gefühl von Frieden, und daß alles okay so war.« So erscheint es schicksalhaft, daß Angel Eyes der letzte Film gewesen ist, den Luis Mandoki und Piotr Sobocinski gemeinsam vollendet haben. Sobocinski starb im März 2001 während der Dreharbeiten zu Mandokis Film 24 Stunden Angst, zwei Monate vor der Premiere von Angel Eyes. Er war erst 43 Jahre alt. c

und interessanter zu machen. Teilweise lassen sich die Spiegelungen auch als Metaphern interpretieren.

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Der Alltag ist spannend, das Fernsehen einfallsreich und Dokumentarfilmarbeit eine Kunst. Das Großprojekt 24h Berlin bot uns eine Menge neuer Einsichten.

Interviews Christoph Brandl | Fotos Amin Akhtar, Annette Hauschild, Ute Mahler, Dawin Meckel, Jordis Schlösser, Georg Schönharting, Armin Smailovic, Christian Thiel, Michael Trippel und Maurice Weiss Foto: RBB, Jordis Schlösser, Ostkreuz


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Die Idee war, nun ja, nennen wir’s tollkühn: Einen einzigen Drehtag hatten 400 Regisseure, Kameramänner, Aufnahmeleiter, Redakteure, Techniker, Fahrer und Kuriere, um das ganz normale Leben in der Hauptstadt einzufangen. Zehn Monate hatte das zehnköpfige Schnitt-Team, um die 750 Stunden Rohmaterial zu sichten, schneiden und montieren. Denn der Tag in Berlin sollte auf die Minute genau nach einem Jahr in Echtzeit in die Wohnzimmer flimmern – 24 Stunden nonstop, von Samstag früh um sechs bis zum nächsten Morgengrauen. Mit inszenierten Doku-Formaten hat der Regisseur Volker Heise Erfahrung, für Schwarzwaldhaus 1902 hatte er den »Grimme-Preis« bekommen. Jetzt wollte er mit dem Produzenten Thomas Kufus noch einen Schritt weiter gehen, in die Gegenwart, und den Alltag in der Hauptstadt in all seinen Facetten einfangen, vom Oberbürgermeister bis zum Lasterfahrer, von Techno bis Taubenfüttern: 24h Berlin. Das ging offenbar auf. Der Wohnzimmer-Marathon fesselte am 5. September nicht nur die Zuschauer vor den Fernsehgeräten, sondern geriet mit Public Viewings, Screenings und Teampartys selbst zum öffentlichen Gesellschaftsereignis. Als längste TV-Produktion ist das Riesenprojekt bereits in die Fernsehgeschichte eingegangen. Neben talentierten Newcomern arbeiteten bekannte Regisseure wie Romuald Karmakar, Volker Koepp, Thomas Heise und Andres Veiel an zwei kleinen Sensationen: Die Doku lebt, und Fernsehen kann sehr wohl innovativ sein. Bei der Arbeit standen die Teams selbst unter Beobachtung. 36 Fotografen der Agentur Ostkreuz streiften ebenfalls 24 Stunden lang durch die Stadt und trugen ihre Sichtweisen für ein umfangreiches Buchprojekt zusammen, das zum Sendetag vorgestellt wurde. Die Erfahrungen der Filmemacher und die Bilder der Fotografen kommen in unserem Portfolio zusammen. Für den guten Zweck darf man übrigens wohl auch bei Dokumentarprojekten ein wenig schummeln: Die Fotos von Ute Mahler entstanden schon zehn Jahre vor den Dreharbeiten. Aber sie machen immer noch ein schönes Bild von der Hauptstadt. Guten Morgen, Berlin… c

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Fotogen war Berlin ja schon vorher: Die Kneipe »Die Tagung« 2003 an der Wühlischstraße in Friedrichshain.

Foto: RBB, Annette Hauschild, Ostkreuz


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Wie haben Sie es erreicht, mit 70 unterschiedlichen Regisseuren ein derart homogenes Bild zu erreichen? Das war der Schnitt. Aber noch lange, nachdem wir das Rohmaterial auf dem Tisch hatten, wußten wir nicht, wie wir es in das Verhältnis zur Zeit bringen und trotzdem noch verdichtet erzählen können. Wir mußten die unterschiedlichen Materialien so zusammenbinden, daß wirklich ein 24-stündiges Programm entsteht. 750 Stunden Rohmaterial hört sich viel an, ist aber wenig für ein solches Programm. Was genau waren die Schwierigkeiten? Wir haben mit langen Szenen experimentiert und mit kurzen. Beides hat nicht funktioniert. Bleibst du lange an einem Protagonisten, verlierst du die Stadt, bleibst du lange an der Stadt, verlierst du die Emotion. Wir mußten also ein ausgewogenes Wechselspiel von Protagonist und Stadt hinbekommen. Nur mit einer Balance aus dokumentarischen, seriellen und reportagigen Szenen hatten wir eine realistische Chance, durchzukommen. Das war ein Prozeß von fünf Monaten. Es war für einen leidenschaftlichen Filmemacher wie Sie sicherlich schwer, »nur« zu organisieren und nicht zu drehen. Welches Segment hätten Sie am liebsten gefilmt? Wir haben ein Team beim Bestatter gehabt und ich wollte noch eines im Hospiz. Da wäre dann ich dabei gewesen. Auch, weil es eine harte Zumutung für den Regisseur war, was ich spannend fand. Es gab dann Streit mit den Redakteuren, ob zweimal Tod sein muß. Ich fand das Hospiz aber genauso wichtig wie die Geburtsstation, weil ich den ganzen Spannungsbogen haben wollte, eine Art »Memento Mori«. Bedenke, daß du sterblich bist. Was meinen Sie damit in Bezug auf das Projekt? Bei allem, was passiert, gibt es diesen Moment am Anfang des Lebens, wo wir alle nackt auf die Welt kommen, und wir sie alle in der gleichen Art verlassen. Und das wollte ich zeigen. Hatten Sie klare Vorstellungen, was die Drehs mit Promis wie Wowereit oder Diekmann angeht? Es gab keine Vorgaben, denn ich wußte, daß die Regisseure ihre Freiheiten brauchen. Außerdem kann ich einem Andres Veiel nicht sagen, wie man Herrn Diekmann dreht. Dafür ist der viel zu etabliert, wie viele

Fotos: RBB, Maurice Weiss, Ostkreuz

Volker Heise, kreatives Mastermind


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Aus einer kleinen Idee erwuchs das größte Dokumentarfilmprojekt aller Zeiten: Über 80 Drehteams dokumentierten in 750 Stunden einen Alltag in der Hauptstadt. Die Übersicht behielten Produzent Thomas Kufus (links) und der künstlerische Leiter Volker Heise (rechts) dank des großen Plans im Hintergrund.

andere auch. Ich habe also lediglich die Pakete mit Drehgenehmigungen, Protagonisten und Kameras geschnürt. Aber am Tag X waren die Regisseure unabhängig. Sie haben mit den Regisseuren vereinbart, Ihnen nach Dreh das Material zu übergeben. Hat sich jemand wie Thomas Heise sofort darauf eingelassen? Thomas wollte gerne mitmachen und das Ostkreuz drehen. Ich fand das gut, denn ich war schon lange auf der Suche nach einem wiedererkennbaren Ort, wo man Leuten ganz flüchtig begegnet, wie das eben so ist in einer Großstadt. Das bringt das Ostkreuz schön mit sich. Er hat sein Material also einfach so abgegeben? Zunächst mal schon. Aber er macht wahrscheinlich was Längeres daraus. Thomas hat ja immer solche Projekte. Der dreht ja auch schon seit Jahren den Abbruch des Palastes der Republik. Da hat er noch nie was von gezeigt, das sammelt er erst einmal, und irgendwann bringt er es heraus. 24 Stunden Alltag am Stück können anstrengend sein. Es gab ja auch, sagen wir, lange Szenen. Wie hatten Sie geplant, Banalität zu vermeiden? Das war das Schwierigste. Uns war klar, die Protagonisten mußten eine Ausstrahlung und eine Kraft haben. Wir brauchten normale Leute, die aber mußten etwas haben, was glüht. Wenn jemand wie Annelies Bullack Kartoffelsuppe macht, dann ist das toll, bei Herrn Müller ist das vielleicht nicht so toll. Vieles hat aber auch der Schnitt gebracht. Das Programm war so angelegt, daß wir morgens energischer geschnitten hatten, vormittags ein bißchen ruhiger, und mittags hatten wir wieder ein bißchen zugelegt. Am Vorabend hatten wir zum Beispiel Speeddating. Auf der einen Seite erzählt das viel über die Singlestadt Berlin, auf der anderen Seite ist das etwas, was die Leute am Vorabend gerne gucken. Und am Hauptabend mußte ich dann wieder die großen Themen aufbauen. Tod, Leben, Glück.

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Das »Berghain« gleicht einer Festung: Sven Marquardt ist einer der härteste Türsteher Berlins, es herrscht striktes Film- und Fotografierverbot. Wie war es, dort zu drehen? Ich habe das Glück, einen der Chefs aus gemeinsamer Theaterzeit zu kennen, und der war sehr kooperativ. Villalobos, Romuald und die Produktion haben sich reingehängt. Aber Romuald und ich sind auch eher Menschen, die sich chamäleonhaft in einer Gruppe auflösen können, Teil werden. Wir hatten vom Club keinerlei »Beschränkungen«. Was ist das Beeindruckendste am »Berghain«? Ich wußte, daß am Morgen diese riesigen metallenen Blades – Jalousien – rhythmisch auf- und zugemacht werden, das erste Tageslicht die »Zombies« blenden wird, damit die dann gleichermaßen in ihrer Schattenwelt noch mehr angekickt zu werden. Ein reizvolles fotografisches Ziel. Ich konnte mich frei bewegen, mittanzen, vor oder hinter, unter, über den DJ, die ja alle ab einer gewissen Zeit enthusiasmiert sind. Wie haben Sie diesen Enthusiasmus eingefangen? Romuald hat mir erklärt, wie sich seiner Vorstellung nach Echtzeit zu Filmzeit verhält, das spielt ja in diesem Projekt eine große Rolle. Man gaukelt Echtzeit vor, zeigt aber, wie Villalobos den Rausch einer Nacht kompensiert. Wie also komme ich schneller zu Ergebnissen im Bild, werde ich zum Beispiel perspektivreicher? Es muß sich etwas bilden, was sich physiologisch nicht erklären läßt. Licht an, Licht aus, Leute hüpfen, jemand legt auf – das kann es nicht sein. Es muß eine zweite Ebene geben, die man durchdringt. Ich habe bald gemerkt, daß der DJ seine Arbeit intensiviert, wenn auch ich intensiv arbeite, langsam rangehe, den Plattenteller filme und plötzlich runterschwenke. Daraufhin macht der DJ was mit der Hand und so weiter… Diese Interaktion hat mich interessiert. Hatten Sie technische Vorgaben von Volker Heise? Wir sollten auf der Sony EX-1 oder der EX-3 arbeiten. Es gab eine Konfigurationsempfehlung für die Kameras, um den Workflow einfach zu halten. Auf den Deal habe ich mich eingelassen. Aber schlimm war, daß mir jemand sagte, ich kann meine eigenen Bilder nicht lichtbestimmen. Die Produktion hat über eine technische Norm versucht, dem Digitalen Herr zu werden und hat den Workflow letztlich über die ästhetische Entscheidung gestellt – natürlich auch aus praktischen Gründen – 90 Kameraleute machen eine Lichtbestimmung! Ich bin nicht prätentiös, aber das widerspricht sowohl meinem ästhetischen als auch professionellen Verständnis. Letztlich liegen die Stärken des AB-Bildes ja nicht im naturalistischen Ansatz, sondern in dessen Interpretation. Nichtsdestotrotz ziehe ich meinen Hut für diese Unternehmung und würde mir wünschen, andere Städte würden sich dieser Idee annehmen und ihre Montage eines Tages erfinden. Der Kameramann Benedict Neuenfels drehte mit Romuald Karmakar den DJ Ricardo Villalobos im »Berghain«.

Foto: RBB, Ute Mahler, Ostkreuz

Benedict Neuenfels, Kameramann


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Blick zurück: Die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße.


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Warten auf Einlaß. Das Drehteam Neelesha Bartel am 5. September 2008 vor dem Club »Tresor« (von rechts): Johannes Varga

»House running« auf der Fischerinsel in Berlin-Mitte.

Fotos: RBB, Ostkreuz: Amin Akhtar | Georg Schönharting | Maurice Weiss

(Ton), Dennis Pauls (Kamera), Neelesha Barthel (Regie) und Gäste.


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Annette Muff, Editorin Das war ja die reinste Materialschlacht. War Ihnen das vorher klar? Ja, weil wir schon einige größere Produktionen zusammen gemacht haben. Das Schwarzwaldhaus etwa, das hatte auch 400, 500 Stunden Material. Sie mußten so schneiden, daß das gefilmte Bild auf die Minute zeitgleich ein Jahr später ausgestrahlt werden konnte. Wie haben Sie das hinbekommen? Indem wir manchmal verdichteten. Denn eins zu eins ging es nicht. Filmisch zu erzählen heißt ja auch, etwas wegzulassen. Wir mußten aber hier viel vorsichtiger sein, daß man nicht auf den Schnitt aufmerksam wird. Es gab also keine Jump Cuts und keine Ransprünge. Man sah Uhren im Bild, war das zusätzlich kompliziert? Es war ein dauernder Kampf gegen die Uhr im Bild. Es ist absurd, wie viele Uhren falsch gehen. Es gab Bilder, die haben zeitlich gepaßt, aber zum Beispiel auf dem Ku’Damm, an der Uhlandstraße und auf der Gedächtniskirche gehen die Uhren falsch. Wir mußten uns daher akribisch bei den ganzen Vorgeschichten, wie der Geburtszeit, an die Uhrzeit vor Ort halten. Aber das hat am Ende irgendwie geklappt, es fiel jedenfalls keinem auf. Wie schwierig war es, ein System zu finden, mit Hilfe dessen Sie das Material bewältigen konnten? Ohne den Testdreh hätten wir es nicht geschafft. Denn erst danach haben wir beschlossen, an den Kameras elektronisch Beschriftungen vorzunehmen, damit man von den Clipnamen Rückschlüsse auf das Team ziehen kann. Es hätte zu Anarchie geführt, wenn das alles durcheinandergegangen wäre. Mit unserem System konnte ich aber bereits in der Timeline sehen, aha, dieser Clip heißt 34, dann gehört das zum Pergamon-Museum, oder Nummer acht, das ist die Hutmacherin. Das klingt jetzt alles logisch, aber das mußten wir alles erst einmal rausfinden.

Das Postproduktionsteam: Die Editorin Annette Muff (dritte von links) war knapp anderthalb Jahre mit dem Projekt und seinen Testphasen beschäftigt.

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Unter den Linden: Fahrradkurier auf dem Weg zum Brandenburger Tor.

Hochbetrieb im Download-Zentrum. Robert Eysoldt, Projektentwickler bei der Agentur Triad, war 16 Monate lang für die Kommunikation über eine Webseite mit interaktiven Modulen verantwortlich.

Fotos: RBB, Ostkreuz: Maurice Weiss | Christian Thiel | Ute Mahler

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Scheibenputzer vor der Siegessäule.

Robert Eysoldt, Projektentwickler Was genau war Ihr Job? Wir haben das Internetkonzept entwickelt, haben unter anderem Leute von der Straße aufgerufen, am 5. September 2008 selber zu drehen, und haben dafür gesorgt, daß sie ihre Filme in die Mediathek uploaden konnten. Es wurden uns insgesamt 110 Filme eingereicht. Und das Schöne ist, daß von diesen Filmen 25, 30 Stück im Programm waren. Das Interessante war, diesen Moment des Zufalls zuzulassen. Was hat sich seit dem 5. September 2009 getan? Die Einschaltquoten waren ja sensationell, sogar bei Arte Frankreich. Das hat kaum einer erwartet. Jetzt haben wir also ein Produkt, das man diskutieren kann: Wie kann ich Wirklichkeit dokumentieren, muß ich verdichten, muß ich über 24 Stunden erzählen, wie viel Voice Over ist nötig, wann fängt es an zu stören und so weiter… Ich finde auch, daß das Buch, das dazu entstanden ist, und die Fotos, die die Ostkreuzfotografen geschossen haben, etwas sind, was diese Diskussion bereichern wird.


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Der Dreh mit Kai Diekmann war, wenn man die kurze Vorbereitung bedenkt, sicher eine Herausforderung. Wie sind Sie vorgegangen? Ich wollte etwas über Herrn Diekmann und den Tanker Bild-Zeitung erzählen. Gleichzeitig wollte ich hinter das medial gewandte und geprägte Bewußtsein Diekmanns schauen und herausfinden, wo die Stellen sind, an denen er sich provozieren ließe, wo nicht nur eine glatte Repräsentation seiner Arbeit möglich ist. Ich dachte, das ginge über seine Feinde. Wie meinen Sie das? Es gab Leute, wie Michael Naumann oder Helmut Schmidt, die ihn und die Bild-Zeitung öffentlich kritisiert hatten. Aber auf diese Provokation reagierte Diekmann überhaupt nicht, und das hat mich irritiert. Es hat sich dann schnell gezeigt, warum nicht. Bei vielen Politikern gibt es nämlich eine Ambivalenz in ihrer Beziehung zur Bild-Zeitung. Besonders auch bei Herrn Naumann. Als Bürgermeisterkandidat in Hamburg ging es ihm schlicht ums Vorkommen. In der Bild-Zeitung muß man erscheinen, will man öffentlich etwas bewirken. Ich habe festgestellt, daß Diekmann sich sehr bewußt ist, daß er diesen Einfluß, diese Macht hat. Er ist im Film aber an einer Stelle wütend. Wie fanden Sie den Moment, der ihn irritiert hat? Letztendlich war es die Frage seiner eigenen Maßstäbe. Die Bild-Zeitung soll die Zeitung sein, die als erste über die Dinge berichtet. Und zwar immer. In der Nacht vor dem Dreh habe ich intensiv recherchiert und hatte auch etwas Glück, als ich herausgefunden habe, was andere Zeitungen hatten, und was BildOnline an diesem Tag nicht hatte. Das war die Geschichte mit dem »Hartz-IV-Professor«? Genau. Ein Professor in Chemnitz, der sich mit Hartz-IV-Sätzen beschäftigt, hat gesagt, der Mindestbedarf sei mit 136 Euro abgedeckt, für Kultur reiche ein Euro. Das hatten die Sächsische Zeitung und die

Fotos: RBB, Ostkreuz: Michael Trippel | Ute Mahler | Amin Akhtar

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Auf Fontanes Spuren: »Effi Briest«-Darstellerin Regine Zimmermann im Mauerpark in Prenzlauer Berg.

Linke Seite: Die Regenbogengrundschule in Berlin-Neukölln.

Andres Veiel, Regisseur Welt, aber nicht die Bild. Und darüber hat sich Diekmann geärgert, als ich ihm morgens sagte, Sie haben da etwas Wichtiges verpaßt. Und die spannende Frage war, wie verhalten sie sich jetzt zur Schlagzeile. Denn eigentlich ist die Schlagzeile auf der Grundlinie des Blattes, gleichzeitig wissen sie, daß, wenn sie das unterstützen, sie möglicherweise Kernleser verlieren. Es war dramaturgisches Glück, daß wir morgens etwas gesetzt hatten, was dann den Tag über teilweise auch kontrovers diskutiert wurde. Wir hatten damit ein Thema, das durch den ganzen Tag führte. Als die Schlagzeile dann herauskam, ließ sie sich auch mit anderen Elementen und Segmenten aus 24h Berlin vernetzten, nämlich von der Druckerei, bis später dann in Kneipen, wo diese Schlagzeile bei HartzIV-Empfängern ankommt und diskutiert wird.

Andres Veiel besuchte mit seinem Team die Bild-Zeitung (von links): Andres Veiel (Regie), Andreas Gräfenstein (SetAufnahmeleiter), Max Preiss (Ton), Lutz Reitemeier (Kamera).

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Tom Kimmig (rechts), Regisseur und Kameramann in einem, und sein Tonmann Boris Jöns begleiteten Hardy Wischmeier, den Fahrer eines Abschleppwagens.

Wie war es, Kamera und Regie gleichzeitig zu machen? Wir waren 80 Prozent des Drehs in einer LKWKanzel. Da war es von Vorteil, Kamera und Regie zu machen. Anders wäre es fast nicht gegangen. So ein Abschleppwagen hat ja nur drei Sitzplätze. Da saßen dann Hardy, der Abgeschleppte und ich. Und der Tonmann hat sich noch hinter die Sitzreihe geklemmt, auf eine Ablagefläche von vielleicht 30 Zentimetern Breite, und da lag er dann stundenlang drin. Welche Vorgaben hatten Sie für den Dreh? Wenn Hardy raussprang und ein Auto hochhievte, sollte ich das mitnehmen, und wenn es von hinten war. Das war Volker wichtig. Ich konnte das aber nicht machen, denn ich kriegte keinen Rhythmus, wenn ich immer nur hinterherlief. Das ist nicht mein Stil. Ich will den Menschen ja kennenlernen und wissen, wie seine Bewegungsabläufe sind, wo er jetzt hin gucken könnte, mit einer Vorahnung für den Augenblick. Und das geht von hinten nicht.

Fotos: RBB, Ostkreuz: Armin Smailovic | Dawin Meckel

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Tom Kimmig, Regisseur und Kameramann

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Caf矇 in der Kastanienallee.

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Schweizer, deutsch Lügner, Lügner überall, nicht nur in seiner romantischen Komödie Lila, Lila: Alain Gsponer zeigt kleine und große Unwahrheiten gerne in ihrer ganzen Tragikomik. Gegen aufdringliche Fragen hat er allerdings ein besseres Mittel: Schweizer Diskretion.

Text Christoph Gröner | Foto Sabine Felber

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83 Alain Gsponer schreckt vor nichts zurück. In den Ferien jobbte der Schweizer als Kreditberater, jetzt dreht er Familienfilme.

Alain Gsponer machen Lügen richtig Freude. Zumindest auf der Leinwand »Schein und Sein in der Familie, Hierarchien und wie sie sich verschieben, das interessiert mich einfach«, faßt der Regisseur seine Themen zusammen. Seinen Charakteren kleine Notlügen und große Aufschneidereien um die Ohren fliegen zu lassen, mit denen sie sich eine Zeitlang selbst in Sicherheit wiegen und die Zuschauer narren, davon leben seine Filme. Seine ersten beiden Langfilme Rose und Das wahre Leben wurden oft ausgezeichnet, und sie waren schon so etwas wie die Essenz eines Kinos, das in der Tragikomik zu sich findet. Die beiden Familienfilme hat er 2006 kurz nacheinander gedreht. Rose ist eine starke Frau, hat drei Söhne großgezogen, und läßt sich auf niemanden mehr ein, seit ihr Mann sie von einem Tag auf den anderen im Stich ließ. Als er plötzlich wieder auftaucht, hängt der Haussegen schief. Und in Das wahre Le-

ben explodiert das bürgerliche Idyll tatsächlich. Der Sohn einer bürgerlichen Familie bastelt im heimischen Labor Bomben, die egomanischen Eltern merken nichts davon: Bummm! hieß der bislang surrealste Gsponer-Film noch im Arbeitstitel. Nun steht Lila, Lila in den Startlöchern. Sein kommerziellster Film, sagt Gsponer ohne Umschweife. Eine schöne Romantische Komödie, aber eben kein Rezeptfilm. Im Mittelpunkt steht hier ein Aushilfskellner, der zum Literaturstar aufsteigt. Das Manuskript für sein Buch hat er natürlich gestohlen. Alles, um ein Mädchen zu beeindrucken. Image ist Kapital, das kriegen die Figuren zu spüren in seinen lustvoll überspitzten Filmen. Gsponer seziert die Mechanismen des öffentlichen Auftritts mit Augenzwinkern, in der Familie, der Nachbarschaft, im Kultur- und Medienbetrieb. Seine eigene Zurückhaltung mag also nicht überraschen. Auf Fotos wirkt er smart, bei den Treffen


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eher jungenhaft, er hat eine sanfte Stimme, antwortet offen, aber auch kontrolliert. Das Interview findet in Gsponers Wohnung statt – als Videotelefonat zwischen München und Berlin: Ein kurzer, kontrollierter Schwenk ins Privatleben ist erlaubt. »Die stärkste Erfahrung, die man macht, ist die Familie«, sagt er. »Man muß schließlich von Konflikten erzählen, die man irgendwie kennt.« Was hat die bürgerliche Familie in Das wahre Leben mit ihm selbst zu tun? »Ich komme gar nicht aus dieser Schicht. Aber die Situation, daß der Vater arbeitslos nach Hause kommt, die kannte ich. Die Frau übernimmt das Zepter daheim, das habe ich gesehen. Und er selbst? »Ich übernahm die Situation des kleinen bombenden Jungen«, sagt Gsponer. Keine Details. Auch Passagen in Rose seien ihm nah. Ein Sohn der freigeistigen Mutter sucht im Film ein geregeltes Leben als Bankangestellter. »Ich war Kreditberater in der Schweiz, das war mein Ferienjob. Ich habe einen Monat dort gearbeitet, und konnte mir fast ein Jahr in Deutschland leisten. Ich schaue mir mein Umfeld genau an, erzähle aber nicht direkt davon«, resümiert er. Der Zoff zwischen Brüdern? Gab es. Rebellion? Nicht zu knapp. Und was hat es mit den ganzen Kiffern in seinen Filmen auf sich? »Also, jetzt wird es zu privat«, lacht er. Seine Mutter müsse ja hier nicht von Geheimnissen seiner Jugend erfahren. Sein Talent hat mit seiner Herkunft viel zu tun. Gsponer ist Schweizer, 1976 in Zürich geboren. Tragikomödie, von Dürrenmatt bis Frisch, gehört zu den wichtigen kulturellen Erfahrungen. Heute lebt er in Berlin. Was macht diese Zwischenposi-

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tion aus? Das müßten seine Freunde beurteilen, meint er. »Ich kann nicht einmal mehr richtig Schweizerdeutsch. Aber vielleicht hat das Bedürfnis, sich über niemanden drüberzusetzen, mit meiner Herkunft zu tun.« Man nimmt ihm das ab, daß er zuhören kann und trotzdem alle Fäden in der Hand behält. Er hakt nach, was man denn nun mit einer Frage genau meine, analysiert seinen Gesprächspartner. Nicht unangenehm. Aber stets wachsam. Und beständig in seinen Antworten, wenn man ein Thema mehrmals anschneidet. Er ist aber keiner, der schon ganz jung von Film geschwärmt hat. Seiner Faszination für Kinobilder war er sich lange gar nicht bewußt. Sein Lehrer an der Kantonsschule in Aarau, der Künstler Ueli Michel, habe ihn als erster gefördert. »Er hat früh erkannt, daß das bewegte Bild das Richtige für mich ist.« Es folgten erste Filmexperimente, kurze Dokumentarfilme. Und im Kino »Freier Film Aarau« wurde Gsponer dann zusammen mit etablierten Schweizer Filmemachern einer der Betreiber. Eine prägende Zeit, da war er erst 18. Die Familie glaubte da nicht so recht an die Filmpläne, aber Gsponer suchte sich nun seinen Weg. Er wurde an der Filmakademie Ludwigsburg 1997 zunächst für Dokumentarfilm aufgenommen. Sein erster Film dort spielt ganz ironisch mit dem Schweizer Image. In Heidi ist das Mädel von der Alm ein Serienkiller. Der kurze Animationsfilm ist voll von derbem Humor. Die erste Talentprobe hatte auch eskapistische Züge: »Man darf nicht vergessen, ich war viel zu jung, als ich an die Schule kam. 20, das Küken. Ich mußte die Erfahrung

Fotos: Jetfilm [2] | Zorro

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dort nachholen.« Gsponer probierte weiter aus, auch bei seiner Pseudo-Dokumentation X für U. Seine Professor Tom Toelle sagte ihm nach der Sichtung, er habe in der Abteilung Dokumentarfilm eigentlich nichts verloren. Denn auch Toelle war den gefälschten Interviewpassagen mit einem Journalisten auf den Leim gegangen, der billige Infotainment-Berichte fälscht. Die Dialoge sind meist genau geschrieben und wirken doch natürlich. Die wirkungsvolle Arbeit mit Schauspielern wurde da deutlich, auch wenn sie Gsponer da noch Bauchschmerzen bereitete. »Es war das erste Mal mit Schauspielern, das war eine grauenhafte Erfahrung«, gesteht er. Danach besorgte er sich stapelweise Literatur aus Amerika und inszenierte ein Drama mit starken Jungschauspielern, unter anderem Stipe Erceg, als Abschlußfilm. Kiki & Tiger handelt von der Freundschaft eines gebürtigen Serben und eines Albaner in Deutschland, die mit dem schwelenden Konflikt auf dem Balkan scheitert. Gsponer sagt, daß der auf den Erfahrungen zweier seiner Freunde basierende Film ihm heute zu humorfrei erscheint. Aber die Schauspielarbeit ist schon hier eine seiner hervorstechendsten Stärken geworden. Das fängt schon beim Casting an. »Wenn ich über die Besetzung diskutiere, höre ich oft, der Schauspieler sei so oder so. Tausendmal schneller als ich wissen die Leute, in welche Schublade sie die Menschen stecken sollen. Ich sage dann immer: Woher wißt ihr das?« Gsponer denkt quer, auch bei etablierten Größen, die mitunter als schwierig gelten. »Wichtig ist, ob die Person brennt, noch was

Ausgezeichnet: Gsponer liebt Familienaufstellungen. In Rose (links) sorgt sich eine Alleinerziehende um ihren Nachwuchs, in Das wahre Leben (rechts) explodiert das bürgerliche Idyll.

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entdecken will« Harfouch, Hübchen, Riemann – alle drei spielten bei ihm. Vor dem Treffen mit Katja Riemann für Das wahre Leben hatte Gsponer Muffensausen. »Ich wollte sie nicht blauäugig und blond besetzen. Ich war also wahnsinnig vorsichtig. Aber sie kam dann mit zahllosen Ideen, ich mußte sie fast bremsen.« Sie spielte ganz selbstverständlich erstmals mit schwarzen Haaren. Die Schauspieler gehen mit, weil Gsponer neue Nuancen abverlangt, sie ähnlich und doch anders besetzt. Er probt lange dafür. Bei seinen Familiengeschichten sorgte er mit Familienaufstellungen dafür, daß die Beziehungen funktioneren. Bei Lila, Lila mußte er dagegen die Beziehung zwischen Hannah Herzsprung, die eine selbstbewußte Studentin spielt, und Daniel Brühl als nettem, unbedarfter Kellner, der sich in sie verliebt, ins Lot bringen. »Es ging es vor allem darum, daß Brühl nicht zu stark wirkte. Das haben wir über Status-TiefStatus-Hoch-Übungen einstudiert. Daniel mußte sich immer Hannah unterordnen. Das konnte er am Set dann abrufen.« Brühl wirkt hier nett bis zur Blödsinnigkeit, und wie er zunächst beständig von seiner Umwelt ignoriert wird, ist wunderbarer Komödienstoff. Aber diese Leichtigkeit ist genau erarbeitet. Gsponer bereitet sich akribisch vor, löst mit seinem Stamm-Kameramann Matthias Fleischer seine Film vorab genau auf und hat doch die Freiheit, eigene Pläne vor Ort über den Haufen zu werfen. »Wenn ich meine Pläne eins zu eins umsetzen würde, das würde banal werden. Es ist ganz wich-

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Gsponer besetzt seine Schauspieler gerne Nuancen neben ihre gewohnten Rollen und läßt sie dann von der Leine. Daniel Brühl wirkt in Lila, Lila nett bis zur Blödsinnigkeit, Henry Hübchen gibt eine wunderbar verpennerte Variante des Hochstaplers, der den jungen Literaturstar erpreßt.

lich Gsponers Debüt werden, am Ende dauerte es wegen Finanzierungsschwierigkeiten sechs Jahre, den Bestseller zu verfilmen. »Es ist eine Romantic Comedy, bei meinen anderen Filmen gibt es so eine klare Zuordnung nicht. Mit Kompromissen hat das allerdings nichts zu tun, nur die Erzählweise ist vielleicht klassischer, linearer.« Gsponer will diesmal den großen Kinostart. Auch sein nächstes Projekt Der letzte Weynfeldt, adaptiert von Alex Buresch, wird wieder auf einem Roman von Martin Suter basieren. Der Ton seiner Filme ist leicht und bissig, sie funktionieren über hervorragende Dialoge, genau gearbeitete Gesten und immer wieder gezielt überdrehte Szenen. »Ich trenne mich vom Naturalismus immer stärker«, erzählt er. »Was ich häufig sehe, ist Energiearmut in Fernsehfilmen. Ich will aber Szenen voller Energie.« Der Regisseur läßt seine Mimen gezielt von der Leine. Seine Filme sprühen deshalb vor Spielfreude, sind ausgelassen, können auch mal gnadenlos übertreiben wie etwa in einigen Szenen von Das wahre Leben. Aber er sucht dabei stets nach wahrhaftigen Charakteren, nach dem Blick hinter ihre Fassaden. Und am Ende läßt Gsponer selbst noch einmal tief blicken. Was bestimmt den Regisseursberuf eigentlich? »Ich will derjenige sein, der weiß, wo es lang geht in einem größeren Team«, sagt Gsponer. Man müsse Ideen von Mitarbeitern erkennen, sie nutzen. Oder kurz: »Du mußt dafür ein Talent haben, c alle Leute auszunutzen.« Ungelogen.

Foto: Falcom

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tig, das es da Menschen gibt mit Widerständen. Wenn man sicher ist, gibt es viele Freiheiten am Set.« Er sucht als Regisseur den Austausch. »Im Vorfeld ist jede Idee, jeder Input erlaubt. Beim Drehen ist es aber nicht gut. Da muß ich entscheiden.« Filmemachen sei nicht regieabhängig, meint Gsponer. Es steckt nur wenig Koketterie in dieser Aussage. Denn er gibt auch zu, daß er selbst nicht sein bester Drehbuchautor ist. Alex Buresch entwickelt meistens mit ihm die Bücher. »Ich bin jemand, der garantiert nicht den Witz in Szenen hineinbekommt wie er. Ich bin darauf sehr angewiesen.« Kiki & Tiger oder auch sein Polizeiruf Wie ist die Welt so stille, hauptsächlich von Gsponer geschriebene Filme, haben weit weniger Humor, stellt der Regisseur fest. »Drama ist einfacher.« Aber der Wahlberliner sucht lieber nach dem Gleichgewicht des Tragikomischen. »Der Zuschauer geht viel weiter mit, wenn man ihn auch mal zum Lachen gebracht hat. Mit einem Augenzwinkern kann man teilweise in tiefere Abgründe gehen.« Guter Humor gebe Filmen »einen gewissen Geschmack und auch eine zusätzliche Intelligenz«. In Deutschland werde dies leider nicht sehr geschätzt. »Das war für mich absurd: Ich hatte wahnsinnig Probleme, Tragikomödien unterzubringen.« Mit Lila, Lila setzte er nun auf einen HappyEnd-Stoff seines Landsmanns Martin Suter. Das Buch wie der Film sind aber eben auch hundsgemeine Analysen zum Thema Originalgenie, Image und Kulturbetrieb. Der Film sollte eigent-


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Fahrstuhl zum Schafott Frankreich 1958 Regie Louis Malle Drehbuch Louis Malle, Roger Nimier Kamera Henri Decaë Szenenbild Rino Mondellini, Jean Mandaroux Maske Boris de Fast Montage Léonide Azar Musik Miles Davis Produktion Jean Thuillier

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Morbides Filmschaffen Lange Zeit war der Vorspann nur eine Folge von Texttafeln, die auflisteten, wer am Film so mitgearbeitet hatte. Allmählich erhielten sie mehr und mehr dekorative Elemente. Heute ist ein gelungener Vorspann ein eigener Kurzfilm, der in Stimmung und Stil des Hauptwerks einführt. Das ist das Werk von Spezialisten – genannt werden sie allerdings oft nicht einmal im Abspann. Bis jetzt.

Filmstills: VHS »Dead Man on Campus – Zimmergenosse gesucht! Nur vorübergehend!«, CIC 1999

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Wer als Student dazu neigt, mehr Tequila als Lernstoff aufzunehmen, kann auf innovative Ideen kommen – etwa einen vergessenen Studienparagrafen auszugraben, laut dem Mitbewohnern eines Selbstmörders wegen der emotionalen Belastung die Bestnote eingetragen wird. Besser als Büffeln also: mal eben den Kommilitonen um die Ecke bringen. Diesem recht anspruchslosen Plot von Alan Cohns Dead Man on Campus verleiht der Vorspann eine ironische Eleganz. Viel Fantasie bewies da die Designerin Karin Fong mit Adam Bluming und dem Illustrator Wayne Coe. Die Yale-Absolventin hat prominentere Filme eingeleitet (die aufwendige »Optik der Maschinen« für Terminator: Die Erlösung oder die Animationssequenz für Daredevil). Zu ihren liebsten Arbeiten zählt sie allerdings den mit Diagrammen eines standardisierten Tests gespickten Vorspann für die MTV-Komödie, in den sie eine technische Anleitung zum Selbstmord implementierte: Ob Tabletten, elektrischer Schlag, Schußwaffen, Erstickung oder diverse Vergiftungsmöglichkeiten – erst in den Antwortmöglichkeiten offenbaren sich die einzelnen Credits. Der Zuschauer begibt sich in Makroaufnahmen, Überblendungen und Fahrten auf Indizien-Fahndung innerhalb des Testbogens, was an einen ganz anderen Film erinnert: »Ich liebte schon immer den Vorspann für Delikatessen, wo die Titel in das Szenenbild eingebettet sind und man durch das Auge der Kamera den Raum erkundet«, sagt Fong. Besonders schön gerieten ihr die Analogien zwischen Titel und dem jeweiligen Piktogramm – wenn sie etwa das Überstülpen einer Plastiktüte der Kostümbildnerin zuordnet. So schreibt Fong noch eine Metaebene hinein: Hielt sich nicht jeder Drehbuchautor nach einem Produzentengespräch, wenigstens in Gedanken, mal eine Waffe an die Schläfe? Karolina Wrobel


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20.09.2009

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Abspann | Mein Arbeitsplatz

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Mein Arbeitsplatz Wie arbeitet man eigentlich für den Film? Wir fragten den ausführenden Produzenten und Herstellungsleiter Stephan Barth.

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»Als ausführender Produzent bin ich bei kleineren Projekten oft für alles zuständig. Bei größeren mache ich das, was die Produktionsfirmen an mich delegieren, dann bin ich Line Producer. Das ist beim jetzigen Projekt von Peter Thorwarth der Fall. Ich betreue nur dieses eine Projekt, freiberuflich und exklusiv für einen Produzenten. Damit bin ich für die finanzielle und organisatorische Realisierung verantwortlich. Meine Aufgabe: Ich muß alles, was an künstlerischem Potential gefordert ist, mit dem vorhandenen Geld in Einklang bringen. Das ist die Schwierigkeit und die Herausforderung. Nach dem Lesen des Drehbuchs sind deshalb meine ersten Fragen: Wann, wie viel Geld und wer fehlt noch? Optimal ist es, wenn ich so früh einsteigen kann, daß wir uns gemeinsam mit dem Regisseur zusammensetzen und austauschen: was ist die Vision der Regie, der Produktion? Ich baue in Übereinstimmung mit ihnen die Crew auf und überlege gleichzeitig, wo der beste Ort ist, an dem man das Projekt realisieren kann. Soll der Film in Deutschland realisiert werden, sind viele Kriterien wegen der Filmförderung schon vorgegeben. Dann kann man überlegen, ob man sein Projekt im Ausland realisieren will. Das muß aber durchdacht werden. Gehe ich nach Litauen oder nach Brasilien wegen der schönen Motive oder weil ich dort möglichst billig produzieren will? Es kommt darauf an, welche Schwerpunkte der Produzent setzt. Gleichzeitig erstelle ich einen ersten Drehplanentwurf – für einen Line Producer eigentlich etwas ungewöhnlich. Ich lese also das Drehbuch, schließe die Augen und sehe die Szene. Die Technik und die Leute – das alles taucht nämlich in meiner Kalkulation wieder auf. Ich stelle das Budget auf. Bei den kleineren Crewmitgliedern sollte man nicht sparen, das ist der schlechteste Hebel. Die Heads of Department, die auch die Titel im Film bekommen, dort kann man natürlich versuchen, anzusetzen. Bei Schauspieleragenturen verhandle ich in der Regel rigoros. Ich habe dem Produzenten gegenüber ja eine Aussage getroffen, also spüre ich den Druck, innerhalb dieser Summe zu bleiben. Ich muß aufpassen, was ich ihm an Drehorten, Crew und Dienstleistern vorschlage. Und gerade im Ausland ist das risikoreich. Da zählen Kontakte und Erfahrung. Wenn wir anfangen zu drehen, ist alles passiert. Dann dreht sich mein Berufsbild komplett. Es geht dann darum, in den von uns geschaffenen Rahmenbedingungen zu bleiben, weswegen ich in der Nähe des Sets auch meinen Schreibtisch einrichte. Nicht zur Kontrolle, lediglich um Probleme rechtzeitig erkennen zu können und einen Schritt weiter zu sein. Es kann sein, daß sich der künstlerische Anspruch ändert, daß das Zeitpensum nicht eingehalten werden kann. Darauf muß ich schnell reagieren, den Plan umstrukturieren. Die Regisseure lernen es zu schätzen, wenn ihnen jemand zur Seite steht und eine Lösung anbietet, statt grundlos den Dreh zu beenden. Was logistisch passiert, soll er gar nicht sehen. Er soll sich frei entfalten können, dabei sich nicht an Vorstellungen festbeißen. Deshalb muß entschieden werden: Was kommt dem am nächsten, was wir uns vorgestellt haben, mit den finanziellen Mitteln, die wir haben? Meine Aufgabe ist, diese Prioritäten zu setzen.« Protokoll Karolina Wrobel | Foto Sabine Felber


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20.09.2009

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Abspann | Mein Arbeitsplatz

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Stephan Barth, Jahrgang 1966, wußte eigentlich nicht, was er mit seinem Studium der Kommunikationswissenschaften, Soziologie und Psychologie anfangen soll. Also eröffnete er eine Kneipe, arbeitete als Radio-Journalist oder engagierte sich als JusoChef in einer kleinen ostwestfälischen Stadt. Nach ganzen 23 Semestern war es aber ein Praktikum beim Kölner Produzenten Wolfgang Schulte, bei dem er zuerst als Produktionsfahrer anheuerte und später bei der Projektentwicklung mithalf. Er avancierte zum Assistenten des Producers Lutz Weidlich bei dem Fernsehspielfilm Die Heilige Hure, der in Prag realisiert wurde – wie auch Der Rote Baron von Niki Müllerschön, an dem Barth einige Jahre später als Herstellungsleiter mitwirkte. In Litauen wiederum realisierte er Florian Baxmeyers Das Blut der Templer und war zuletzt als ausführender Produzent für den Schweizer BollywoodFilm Tandoori Love verantwortlich. Wenn Barth nicht in Brasilien, auf Malta oder in Litauen ist, dann ist er sicherlich auf dem Weg dorthin – denn 2008 war er gerade mal 21 Tage zu Hause. Sein nächstes Projekt spielt da quasi vor der Haustür: Peter Thorwarts Vampir-Thriller Evil Blood soll in Nordrhein-Westfalen realisiert werden.


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20.09.2009

4:04 Uhr

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Abspann | Buch

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»Bloß nicht fragen, was er sich dabei gedacht hat«, lautet die Notiz auf einem der unzähligen gelben Zettel über einen Regisseur. Es ist eine gekritzelte Warnung von Peter Przygodda an sich selbst. Er, der einst Lokomotivführer werden wollte, hat schon einige Regisseure durch allerlei dramaturgische Fallstricke ihres eigenen Materials hindurchgelotst. Überhaupt, das Material: noch immer schwärmt er von der Liebe und Zuneigung zum handwerklichen Schnitt. Dabei ist das doch längst Vergangenheit. Wo in der Abgeschiedenheit des Schneideraums einst Hans Beller die Konspiration witterte, schiebt der vormalige »Geheimniskrämer« in Windeseile Ideen in den digitalen Timelines herum: »eine Art Ein-Mann-Orchester«, findet Thomas Balkenhol und herzt das von ihm bevorzugte Programm Final Cut mit dem Kosenamen »das Letzte«. Der Galgenhumor ersetzt heute nicht selten den Galgen, an dem früher der Schnittassistent das Material sortierte. Es sind sehr persönliche Filmschnitt-Bekenntnisse, welche auf 293 Seiten zusammenkommen. 18 Editoren erzählen über ihr künstlerisches Selbstverständnis, geben Einblick in ihre Arbeitsweise. Dabei offenbaren einige handschriftliche

Vorlieben, wie etwa Patricia Rommel die zu poetischen Montagen, wie man sie in Im Winter ein Jahr sehen konnte. Andere erzählen von den standardisierten Konzepten mancher Fernsehredakteure und warum der Schnitt nicht jeden Film retten kann. Die Schilderungen vom Karriereweg bis hin zum inneren Konflikt bei der Arbeit werfen ein Licht auf die im Hintergrund Agierenden – und offenbaren, daß es mitnichten leicht ist, tagelang in der Kammer auszuharren. Selbstgespräche und Sitzkissen empfiehlt da Przygodda, während seine Kollegin Bettina Böhler sich damit zufrieden gibt, erst am Abend wieder mit einem Menschen zu sprechen. Balkenhol würde gern manchen Kameramann bestimmte Sequenzen »zur Strafe« selbst schneiden lassen. Sicher sind sich alle in einem: das Berufsbild hat sich komplett gewandelt. Schnittassistenz ist ein aussterbender Berufszweig, und die hochagilen Schnittprogramme kürzen die Arbeitszeiten mitnichten. Leider ist genau diese kritische Betrachtung der gewöhnlichen Arbeitsbedingungen einer sich wandelnden Zunft bei nur wenigen der etablierten Interviewten und Schreibenden zu finden. Karolina Wrobel

Béatrice Ottersbach, Thomas Schadt (Hg.): Filmschnitt-Bekenntnisse | UVK, Konstanz 2009 | ISBN 978-3-86764-138-8 | 24,90 Euro

Fotos: UVK | Constantin

Die Geheimniskrämer


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20.09.2009

4:04 Uhr

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Abspann | Musik

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Gezügelter Witz Eine historische Figur wie Harvey Milk, der erste bekennend schwule Politiker im Stadtrat von San Francisco Ende der 70er und zeitlebens engagierter Kämpfer für Schwulen- und Lesbenrechte, hat sicherlich ein sublimes Streicherthema verdient, auch wenn das Risiko besteht, im Kitsch einer nachträglichen Heiligsprechung zu ertrinken. Danny Elfman pendelt in seinem Score für Gus Van Sants’ Biopic Milk zwischen Erhabenheit und Reserviertheit, was gleichzeitig als symptomatisch für Elfmans Entwicklung als Komponist erscheint: von den überschwenglichen Orchesterscores, die er etwa für Tim Burton komponierte, hat er sich mehr und mehr hin zu sparsamen, rhythmisch orientierten Scores bewegt. Der vorherrschende Minimalismus in jetzigen Filmkompositionen hat also auch ihn erwischt – die Musik erscheint so komplex und ungreifbar, wie nun mal die Welt heute ist. Dennoch: Für Milk, seine vierte Zusammenarbeit mit Regisseur Van Sant, hat Elfman ein einfaches, würdevolles Streicherthema geschrieben, über das Saxofonist Phil Todd in den »Main Titles« improvisiert. Um seinen Weg in die Politik zu finden, mußte Milk intellektuelle Flexibilität und DurchsetzungsDanny Elfman: Milk | Decca | ASIN B001H3KMOS

vermögen beweisen. In »Politics Is a Theatre« erwecken Streicher und Klarinette das Bild einer sich fortwährend drehenden, dabei kaum vorwärtskommenden politischen Maschine, in das sich das Harvey-Thema schleicht. Milk hatte Witz, mußte ihn jedoch zügeln, um Erfolg zu haben. Auf dramatische Streicher-Ostinati in »Gay Rights Now!« folgt ein komischer Ausbruch vokaler Art in »Dog Poo«, woraufhin in »Vote Passes« ein Trompeten-Solo von Milks politischem Triumph kündet. Vieles auf dem Score bleibt Stückwerk (die meisten Tracks sind ein, zwei Minuten lang), so breitet Elfman am Ende seine Themen in aller Ruhe, voll pastoral anmutender Schönheit aus: »Harvey’s Last Day« endet mit einem traurigen Piano-Solo, in »Give ’Em Hope« wandert das Harvey-Thema weiter, bis es im »Postscript«, gespielt von den Streichern, unter dem Gesang eines Knabenchors erneut emporschwillt. Dann doch ein musikalischer Lorbeerkranz für Milk, eine Elegie für einen, dessen politisches Tun bis ins Heute nachhallt: »Queen Bitch« rockt David Bowie am Anfang des Soundtracks, die schillernde Persönlichkeit Ihrer Majestät zeigt Elfman dann in allen Farben. Michael Stadler

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Abspann | Musik

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Vorspiel, retardierende Elemente, Höhepunkt, ein Nachspiel unter wohlwollender Nennung aller Beteiligten – die Zutaten des Kinos legen nahe, warum es sich nach Sex sehnt. Koitus und abgedunkeltes Kino, das ist ja oft genug auch ein Thema. Ergeht sich das Kino in seiner Jugendzeit im schamhaften Aussparen und Wegblenden, bringen die 50er Jahre erste kurze, hitzige Nacktheiten. Der Busen der Loren blitzt, die Brust der »Sünderin« Knef ist sieben Sekunden entblößt. Verdammt in alle Ewigkeit (acht phallische Goldjungen gingen an den Film) läßt sich als Anfang eines ewigen Hollywood-Kampfs sehen: Sex nicht nur der Fantasie überlassen, sondern (ein wenig) zeigen. Burt Lancaster und Deborah Kerr wälzen sich da am Strand, die Körper vom Wasser überspült. Die verwaschene Metaphorik wird ein erster Standard, die Szene zum Klischee wie alle Bilder für Sex, weil die im Hirn haften wie nichts anderes. Nach der Hollywood-Moral gilt es bis heute, maximale Körperlichkeit und Moral in Einklang zu bringen. Sex soll animalisch und aseptisch zugleich sein. Herrlich blöde Varianten: In Titanic wird’s im Oldtimer unter Deck so heiß, daß die Scheiben wie in einer Sauna beschlagen, in Ghost töpfern sich Demi Moore und Patrick Swayze einen Penis. Der echte Genitalbereich bleibt im Kommerzkino ausgespart. Bettdecken werden für Hollywoodsets asymmetrisch geschneidert: Bei ihm bleibt der Oberkörper frei, bei ihr sind nur die Schultern zu sehen. Mehr übernehmen Körperdoubles oder europäische Schauspielerinnen. Asiatische Reiche der Sinne und Euro-Sex sahen schon immer anders aus. Orgiastischer, haariger, mehr Zigaretten, mehr Abgründe, weniger straffe Haut. Zuletzt haben die Franzosen richtig Dampf gemacht: Romance und Intimacy sind Titel, die ironisch zurückhaltend sind und grundehrlich als Filme, weil sie keinen Bereich von Romantik und Intimität bildlich aussperren. Sex als Mechanik wird gezeigt, soll auch anregen, aber vor allem zur Diskussion. Natürlich waren die USA abseits des Mainstreams früh dran mit dem Sex, von Russ Meyer über Deep Troat bis zu den heutigen Millionen-Dollar-Produktionen des Adult Entertainment. Aber vom lustvollen Mittel der Befreiung ist am Ende keine Spur mehr geblieben: Der Körper wird zur harten Maschine. Was wird dabei aus dem Koitus im weltnormierten Kino? Da ist ein Film wie Shortbus, der echten Sex und seine Emotionalität zeigt und den Amerika als befreiende Sensation feierte. Da wird die PornoÜberforderung aber auch wiederholt zum Komödienstoff. Und für Steven Soderberghs Girlfriend Experience hat sich Pornodarstellerin Sasha Grey einen Film lang angezogen. Der Sex, er taugt zur Zeit nicht zum großen Kino. Hartmut Tabakmann

Fotos: Archiv

Koitus


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20.09.2009

4:04 Uhr

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Abspann | Tip 5

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Wüster Zeitvertreib Die Wüste ist auf dem Vormarsch? Von Filmemachern kann man lernen, wie man sich vom Kampf ums eigene Leben ablenkt. Dann darf die Erderwärmung ruhig kommen.

Der Flug des Phoenix [USA 1965] Mit dem Flugzeug verschlägt es James Stewart und Richard Attenborough in den berühmtesten Sandkasten – die Sahara. Gedreht wurde aber nicht in Afrika, sondern im Buttercup Valley, wo später auch die Imperialen Truppen von George Lucas den Sand durchkämmten. Die Ingenieursleistung, wieder herauszukommen, übernahm in Robert Aldrichs Abenteuerfilm natürlich ein Deutscher. Daß der bislang nur Modellflugzeuge entwickelte, stört die komplett männliche Besatzung nicht. Immerhin kann sie sich bis zur Rettung mit Bastelarbeiten beschäftigen. Zabriskie Point [USA 1970] Ein Flugzeug nimmt auch der Held in Michaelangelo Antonionis Kultwerk, setzt aber gezielt im Death Valley auf. Denn er ist auf der Flucht, da ist die Wüste im Vergleich zur Haftanstalt der bessere Ort. Dabei führt das Umherwandern in den Felsformationen den jungen Mann noch zu einer unverhofften Begegnung: eine junge Frau, die mit ihm die Zeit totschlägt. Zum Äußersten kommt es erst nach mehr oder weniger langen Gesprächen, was sich dann aber visuell multipel niederschlägt, indem die ganze Wüste von sich liebenden Pärchen belebt wird. Gerry [USA 2002] Irgendwo im Nirgendwo befinden sich die zwei Protagonisten mit demselben Namen, als sie mit dem Auto eine Wüste durchfahren. Und so steigen Casey Affleck und Matt Damon beim Rastmachen einfach mal aus, um einen Spaziergang zu machen. Sie unterhalten sich, wenn überhaupt, über Belangloses und verirren sich in atemberaubender Landschaft. Das ist eigentlich alles. Wenn der Regisseur Gus van Sant nicht eine besondere Tragik parat hielte: als ein Gerry nach tagelanger und wortloser Wanderung entkräftet zusammenbricht, schenkt ihm der andere den Gnadentod. Im Land der Raketenwürmer [USA 1990] Grundloses Trampeln durch die Wüste von Nevada gewöhnt Ron Underwood seinen Helden schnell ab. Als die nämlich einen verdursteten Farmer hoch oben auf einem Mast entdecken und später auch Reste einer Schafherde, ahnen sie, daß durch Schritte ausgelöste Erschütterungen schlängelnde Ungeheuer aus dem Untergrund heraufbeschwören. Die meiste Zeit geht dann für rüttelarme Waffenbeschaffungsmaßnahmen drauf, möglichst ohne den Boden mit Füßen zu berühren. Was in einer Flucht mittels Raupenfahrzeug aufs Bergmassiv gipfelt. Der englische Patient [USA 1996] Ganz elegant, unter wissenschaftlichem Vorwand, gelangt Graf Lászlo Almásy in die ägyptische Wüste – und verliebt sich in die Frau eines anderen. Was letztlich dazu führt, daß die Liebste (nach Flugzeugabsturz) schwerverletzt in einer Höhle harrt, derweil der Graf sich zu Fuß zu ihrer Rettung begibt. Die tragische Liebesgeschichte inszenierte Anthony Minghella nach einer Romanvorlage, weshalb er der Protagonistin eines nicht ersparen konnte: den Tod durch Warten. Wohl der fieseste Zeitvertreib, den sich einer für die Wüste überhaupt ausdenken kann.

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20.09.2009

4:04 Uhr

Abspann | Parallelmontage

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Gestern Der Forscherdrang ist unerschöpflich in diesem Film, sechs Wissenschaftler können es kaum erwarten, zum Mond zu fliegen, um ihn zu erkunden. Die Erforschung des Erdtrabanten ist eine Mission, die 1902 nur im Kino verwirklicht werden konnte, immerhin liegt der erste reale Mondflug in ferner Zukunft. Das Medium Film selbst war ein fremder Planet, auf dem viele erst noch landen mußten. Regisseur Georges Méliès, Sohn eines Pariser Schuhverkäufers, hatte sich ganz der Magie des Kinos verschrieben. Mit Die Reise zum Mond (1902) schuf er den ersten Science-Fiction-Film. Méliès war ein Innovator, der seine Tricks in der Welt des Theaters, von Zaubershows bis zu Pantomimen, lernte und auf die Leinwand zu übertragen versuchte. Für seinen 10.000 Francs teuren Film, Anfang des Jahrhunderts ein enormes Budget, schuf er detailfreudige Kulissen. Auf dem Mond hat sich auch das Variété der Jahrhundertwende angesiedelt, in sieben Sternen drapiert, schauen schöne Frauen hervor, Göttin Phoebus (gespielt von Music-Hall-Sängerin Bleinette Bernon) mit Gesandtschaft erscheint den Reisenden. Sie straft mit einem Eissturm die Eindringlinge, die ins Innere des Mondes flüchten müssen. Im Mond herrscht das Volk der kämpferischen Seleniten. Als den Wissenschaftlern klar wird, daß sie nicht allein sind und die Seleniten sie töten wollen, bleibt nur die Flucht zur Erde. Méliès erzählt vom Fortschrittswahn, der auch vor dem All nicht halt macht. Die Reise zum Mond ist wie jeder Film von Méliès weitgehend eine One-Man-Show: Er verfaßte das Drehbuch nach dem Roman von Jules Verne, führte Regie und schneiderte sich die Rolle des Anführers der Akademiker, Professor Barbenfouillis, auf den eigenen Leib. Der Mond entpuppt sich als Antlitz, die Raumkapsel landet im rechten Auge. Aber vielleicht ist es der Planet Frau, den die Wissenschaftler eigentlich erforschen. Eine gefährliche Mission.

Fotos: Archiv | Koch Media

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20.09.2009

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Abspann | Parallelmontage

Heute Erschöpft ist der Forscherdrang in diesem Film, Wissenschaftler Sam Bell kann es kaum erwarten, nach drei Jahren Mond-Dienst auf die Erde zurückzukehren. Die Erforschung des Erdtrabanten ist eine Mission, die zur langweiligen Routine geworden ist, immerhin liegt der erste reale Mondflug schon 40 Jahre zurück. Das Genre Science-Fiction selbst ist ein bekannter Planet, auf dem schon viele angedockt haben. Regisseur Duncan Jones, Sohn von David Bowie, hat sich ganz der alten Magie verschrieben. Mit Moon (2009) schuf er einen Science-Fiction-Film nach großen Vorbildern. Jones ist ein Nostalgiker, der das Flair der Klassiker der Siebziger und Achtziger, von Alien bis Outland, auf der Leinwand wiederzubeleben versucht. Für seinen fünf Millionen Dollar teuren Film, für das Genre ein bescheidenes Budget, ließ er Modelle handfertigen. Auf dem Mond hat sich Sam Bell wie in einem 50er-Jahre-Wohnzimmer eingerichtet, in einen alten Sessel gefläzt, schaut er sich alte Fernsehshows an, Roboter Gerti (gesprochen von Kevin Spacey) ist die einzige Gesellschaft. Er unterstützt mit Maschinenhand den Einsiedler, der als Angestellter von Lunar Industries aus der Monderde Helium-3 ernten soll. Auf der Erde herrscht Energienotstand. Als Sam klar wird, daß er nicht allein ist und sein Arbeitgeber mit ihm ein falsches Spiel treibt, plant er die Flucht zur Erde. Jones erzählt vom Fortschrittswahn, der nicht einmal mehr vor der Ressource Mensch halt macht. Sein Regie-Debüt Moon ist weitgehend eine One-Man-Show. Er verfaßte zusammen mit Nathan Parker das Drehbuch nach eigener Idee als Vehikel für Sam Rockwell, dem er die Rolle des vermeintlichen Loners Bell auf den Leib schneiderte. Der Mond entpuppt sich als Ort der Begegnung mit sich selbst, Sam wirft auf sein Spiegelbild ein Auge. Es ist der Planet Ich, den der Wissenschaftler eigentlich erforscht. Eine gefährliche Mission. Michael Stadler

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20.09.2009

4:04 Uhr

Seite 98

Abspann | Rätselraten

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Lebensweisheiten 98

Weniger ins Kino gehen und lieber ein gutes Buch lesen? Die Weisheiten des Lebens lauern mitunter da, wo man sie am wenigsten vermutet.

Noch hockt er, gleich joggt er. Denn unser Held steckt mitten in der schönsten Midlife-Crisis und gedenkt gerade, sein Leben neu zu entdecken. Dazu gehört auch, sich in Form zu bringen. Und weil seine sportlichen Nachbarn da schon eine Ecke weiter sind, stößt er eines Morgens zu ihnen, mit der Hoffnung auf kleine Tips. Und entblößt das ganze Fitness-Gedöns, als sein joggender Nachbar nachfragt:

Worauf der joggende Held erklärt:

Ich möchte nackt gut aussehen. Wir wollen wissen: Aus welchem Meisterwerk der Kinematografie stammt dieses Zitat? Wenn Sie die Antwort wissen, schreiben Sie sie bitte auf eine hübsche Postkarte und senden Sie das Ganze an: cinearte – Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg. Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung 15 Mal je eine DVD aus der Reihe »Screwball Comedy – Hollywoods schönste Beziehungskomödien«. Einsendeschluß ist der 20. Dezember. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen (das müssen wir schreiben). Wonach wir voriges Mal gefragt hatten? Das Leben des Brian.

Fotos: Verleih | Süddeutsche Zeitung | Montage: cınearte

Möchtest Du nur Gewicht verlieren oder willst Du auch Deine Beweglichkeit und Ausdauer steigern?


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