adieu

Page 1

1984 i bis aus a 2011 d den e Jahren Cinzia Bongino

Nachrufe u





Cinzia Bongino

i

a d

e Nachrufe aus den Jahren 1984 bis 2011

u



Adieu

Eine Sammlung von Nachrufe.

Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau Zigarette



Verzeichnis


nov doT muZ

Zum Tod von

leumaS , t tekceB

Anders, G체nther Die Schrift an der Wand von Thomas Asseheuer 25

leumaS , t tekceB

Artmann, Hans Carl Richtige R채usche von Karl Rita 31

Bausch, Pina

samohT ,drahnreB

Ihr Tanztheater handelt von uns allen von Wiebke H체ster 37

nhoJ ,egaC

Jurek Becker Der unertr채gliche Zustand von Karl Rita 43

10


Der Dramatiker von Peter Iden 49

Der Prosaist von Wolfram Sch端tte 53

Ein Moralist und verzweifelnd von Peter Iden 57

Messias der Anarchie? von Hans-Klaus Jungheinrich 63

11


nov doT muZ

Zum Tod von

edliH ,nimoD

Canetti, Elias Das Gewissen der Worte von Uwe Schweikert 71

hcideirF , t tamnerrüD

Chopin, Henri Klangtheater Körper von Michael Lenz 79

lex A , thcerbeg gE

Cunningham, Merce Es gibt keine festen Punkte im Raum von Wiebke Hüster 83

nam redeF dnom ya R

Hilde Domin Außerhalb jeder Regel von Marcel Reinch-Ranicki 89

12


Dem Wunder die Hand hinhalten von Harald Hartung 92

Im Labyrinth von J端rgen Peters 95

Axel Eggebrecht ist Tod von Annette Rogalia 101

Wer dem Schrank entkommt, entkommt ihm nicht von Oliver Jungen 107

13


nov doT muZ

Zum Tod von

Fried, Erich

t r e bo R , t d r a h n r e G

Zuerst immer den Menschen gesehen von Barbara Schmitz-Burckhardt 113

tumleH ,let tübneßieH

Frisch, Max Was bin ich? von Wolfram Schütte 121

Fühmann, Franz

gnagfloW , gibliH

Gedenkrede von Christa Wolf 129

gnagfloW ,remiehsedliH

Geier, Swetlana Wo ich bin, ist Russland von Urs Heftrich 139

14


Gevatter Tod war nur der Gehilfe dieses Dichters von Hubert Spiegel 145

Seine Bücher: „Texte“ und „Projekte“ von Karl Riha 153

Der Boxer und der Duft des Ginsters von Ingo Schulze 159

Wo man das, was der Fische Sprache wäre, ohne sie spricht von Adolf Muschg 165

15


nov doT muZ

Zum Tod von

Jandl, Ernst

i g i u L , a b r el a M

„Ich werde hinter keinem her sein!“ von Karl Riha 171

lecraM ,uaecraM

Kling, Thomas Das Pathos zertrümmern, die Gemütlichkeit zerstören - die Sprache retten. von Marcel Beyer 179

y rraH ,hcsiluM

Lindgren, Astrid Wiedersehen in Nangijala von Hannes Gamillscheg 187

renieH ,rellüM

Lindgren, Astrid In Bilde denken von Daniel Kothenschulte 192

16


Ein Spontangew채chs verreist am liebsten im eigenen Kopf von Dirk Sch체mer 195

Der Clown, der keiner war von Joseph Hanimann 201

Der himmlische Puppenspieler von Dirk Sch체mer 207

Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel von Peter Iden 215

17


nov doT muZ

Zum Tod von

Pastior, Oskar

a tsirhC ,floW

Im Exil bei Freunden von Hubert Spiegel 223

snaH ,regälhcslloW

Rühmkorf, Peter Der Verfassungspoet aus Övelgönne von Patrick Bahners 229

luaP reteP ,lhaZ

Saramago, Josè Abenteuerlust des Geistes von Paul Ingendsay 235

Westphal, Gert Der Stimmbildner von Marcel Beyer 241

18


Feuilleton von Volker Weidermann 245

Der grĂśĂ&#x;te aller Diener von Paul Ingendsay 253

Elf Schritte zu einer Tat und dann weg von Lorenz Jager 259

19





a d

i e u


G端nther Anders


* 12. Juli 1902 (Breslau, Polen) †17. Dezember 1992 (Wien, Österreich)


Zum Tod

Die Schrift an der Wand von Thomas

Asseheuer

Zum Tod von Günther Anders Im Prinzip Hoffnung, das nun bei der Politik untergekrochen ist, war das aufregendste von jeher seine Umkehrung. Nicht die Zukunft hat uns zu interessieren, sondern ihre Auslöschung; nicht das Paradies, sondern der Weltbrand, nicht die Aufklärung, sondern ihre Dialektik. Der Effekt dieser Wendung ist enorm. Während der Geist der Utopie sich an den tausend Sonnen der Vernunft erwärmt und blind wird für die Katastrophe, blickt der Apokalyptiker gefaßt auf das Ziffernblatt der Weltuhr und den Unheilsplan der Zivilisation. Stets rechnet er mit der schlimmstmöglichen Wendung, und so kommt ihm die Zeit nicht entgegen, sondern rennt ihm davon. Nur eine kurze Frist, nur die »gestundete Zeit« trennt ihn von der Katastrophe. Daß er sie durch seine Warnungen aufhalten kann, ist seine Utopie. Fortschritt wäre schon, den Fortschritt zu verhindern. Wem die Geschichte ein Ultimatum ist, der hört in jeder Sekunde, in jeder Nuance den Taktschlag des Untergangs. Schreibt er mit, dann schreibt er den Text dieses fürchterlichen Jahrhunderts. Günther Anders, der nach langer Krankheit am Donnerstag neunzigjährig in Wien gestorben ist, war so ein Stenograph, der die Empirie auch dann noch auf seiner Seite hatte, wenn er als versprengter 26


von Günther Anders

Philosoph irrte. Die Fortschritte des Menschengeschlechts notierte Anders, der 1902 als Günther Stern in Breslau geboren wurde, schon früh am eigenen Leibe. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, bei einem Ernteeinsatz in Frankreich, wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft gequält und gefoltert – »vieles was sechzehn Jahre später Hunderttausenden angetan wurde, wurde damals schon mir angetan.« In den zwanziger Jahren studierte Anders bei Martin Heidegger und Edmund Husserl, 1933 floh er nach Paris, dann in die Vereinigten Staaten, lebte in Los Angeles als Fabrikarbeiter, schrieb Gedichte für den New Yorker Aufbau, nahm Verbindung auf zu Brecht, Adorno, Marcuse und Thomas Mann und unterrichtete »Ästhetik« in New York. 1950 kehrte er nach Europa zurück. Hier führte er als Partisan des akademischen Denkens seinen privaten Weltkrieg mit dem atomaren Zeitalter von Wien aus. Weil ihn »die Wissenschaft« in ihrem Hochmut verstoßen hatte, operierte Günther Anders, wie er sagte, im Grenzgebiet zwischen »Journalismus und Metaphysik«. Das war die Bedingung seiner Wirkung und, wie sich später zeigen sollte, zugleich ihre Grenze. Unversöhnlich und unbeirrbar, mit einem kargen, aber damals zureichenden Ensemble von Gedanken, daß die Technikkritik Heideggers für die Linke retten wollte, hat er wie kaum ein zweiter die Selbstabschaffung der Zivilisation protokolliert. Der entfesselte Prometheus, schrieb er, ist der Zauberlehrling, der von den Geistern kommandiert wird, die er einst gerufen hatte. Dieser Geist ist die Technik, die selber zum Allmächtigen wird, um ihre Erfinder am Ende der Zeiten auszulöschen. So offenbarte sich in Hiroschima nicht nur die Signatur eines Zeitalters, sondern auch das Bewegungsgesetzt der herrschsüchtigen Moderne: Die Antiquiertheit des Menschen. Ohne Zweifel, die Atombombe war das Fixativ seines Denkens, das an seiner Zweifelsfreiheit nicht zweifeln wollte. Die gleichnamige, fast visionäre Aufsatzsammlung von Günther Anders erschien 1956, und nach langer Inkubationszeit wurde sie zum Katechismus der Friedensbewegung. Aber gerade da, wo sich diese Prognose über die Allmacht der Atombombe unwiderlegbar wähnte, ist sie nach dem Ende des »Weltbürgerkrieges« historisch geworden. Denn unter der Drohung der nuklearen Energien, so glaubte Günther Anders, sei die Geschichte im ewigen Stillstand erstarrt – am Ziel, 27


Zum Tod

wenngleich noch nicht am Ende. Die Bombe war für ihn das negative Eschaton, die Erfüllung einer schwarzen Theodizee und einer von Anfang an verfehlten Schöpfung. Für Politik war im fugendichten Denken des totalen und beschlossenen Untergangs kein Ort; und wohl deshalb schreckte Günther Anders nicht davor zurück, die Tötung von »Verantwortlichen«, als legitime Notwehr der künftigen Opfer zu propagieren. Doch sobald man seine negative Theologie, seine todsichere Metaphysik, überhaupt die spekulativen Armierungen abrüstet und (ökologisch) umwidmet, ist die Prognose rehabilitiert: »Wir sind invertierte Utopisten: während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir uns dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen.« Unterm Ozonhimmel gesprochen, wird dieser Satz noch die Bücher von Günther Anders überleben. Er irrte als Metaphysiker und könnte doch als Diagnostiker recht behalten. Und doch: der Komponist, Erzähler (Die molussische Katakombe), Zeichner und Historiker des Gefühls (Lieben gestern) Günther Anders hat der Verzweiflung keine Herrschaft über seine Gedanken eingeräumt, sonst wäre er verstummt, denn »wahre Verzweiflung hat keine Flügel«. Daß es mit dem »Subjekt« und dem »Selbst« zu Ende geht, daß es in die Funktionale rutscht, hat er als Schlußbilanz in einer zweiten Sammlung melancholisch in die Welt gesetzt – aber doch so zuversichtlich, als könne das Subjekt in dem Moment noch einmal »erweckt« werden, in dem es seiner Agonie lesend gewahr wird. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution: diese Kritik der Medien und der restlos aufgeklärten, emanzipierten Moderne ist gleichsam das empirische Unterfutter zur Dialektik der Aufklärung. Daß die Sammlung mehr Literatur ist als Philosophie ist ein Einwand des Philosophen, der sich den Zweifel am Projekt der Moderne nicht gestatten darf. Zu Recht muss er fürchten, daß die Diagnose von der Antiquiertheit des Menschen gerade da akut bleibt, wo sie hoffnungslos antiquiert scheint. Frankfurter Rundschau

28



Hans Carl Artmann


* 12. Juni 1921 (Wien-Breitensee, Österreich ) † 4. Dezember 2000 (Wien, Österreich)


Zum Tod

Richtige Räusche von Karl Rita

Zum Tode des Schriftstellers H. C. Artmann In seiner Acht-Punkte Proklamation des poetischen Altes des Jahres 1953, einer der wenigen theoretischen Äußerungen, die seiner Feder entflossen, sprach er davon, dass es beim Dichten gar nicht so sehr aufs Veröffentlichen ankomme, sondern darauf, poetisch handeln (sprich: leben) zu wollen. Natürlich hat er es dann doch zu einer ganzen reihe von Büchern gebracht, darunter auch Sammlungen seiner Lyrik, seine Prosa, seiner dramatischen Arbeiten und bis zu letzt wusste er durch neue Texte zu überraschen. Kennengelernt habe ich H. C. Artmann in den frühen 60–er Jahren in Frankfurt, in der Uni–Buchhandlung der Melusine Hus an der Bockenheimer Warte, als er zwischen seinem schwedischen Exil und seiner Rückkehr nach Österreich für einige Zeit am Main zu leben versuchte. Die Buchhändlerin hatte mich seinerzeit schon auf die erste seiner Veröffentlichungen aufmerksam gemacht, nun wies sie mich in die hinteren Räume, wo ich den Dichter persönlich kennenlernen könne. Dort stand H. C. Artmann, einen beliebigen herausgegriffenen Taschentuchkrimi in seinen Händen, zog mich an seine Seite, deutete in spontaner Geste auf einen, wie es mir schien, ganz zufällige Textstelle und erklärte: So ginge das nicht, das sei eine ganz schlechte Übersetzung – und zitierte zum Beleg das englische 32


von H. C. Artmann

Original aus dem Kopf. Das blieb im Gedächtnis haften. So dann auch die Ausflüge in den Stadtwald hinaus zum Frankfurter Wäldchestag, die in seiner Gesellschaft ein eigenes poetisches Flair bekamen. Wir setzten uns an einen der Tische im Freien, da platzierte sich neben uns ein kleiner älterer Herr, der einen großen Pappkarton mit sich führte: als wir ihn fragten, was es damit auf sich habe, entknotete er die Kordel, hob den Deckel ab und legte uns eine große Schlange auf den Tisch, die munter auf uns auszischte. Das Tier müsse eben ab und zu auch einmal seinen Auslauf haben, hieß es. Außerhalb Frankfurts begegneten wir uns in den 60–er Jahren bei einem Autorentreffen im luxemburgischen Bad Gondorf. Er hatte das Manuskript seines poetischen Tagebuchs. Das suchen nacht dem gestrigen tag oder schnee auf einem heissen brotwecken bei sich, das 1964 im Walter–Verlag herauskam und als erster deutscher Pop–Roman Literaturgeschichte machen sollte. Das Ganze eröffnete mit einer Aufzählung zur Person: „Meine Heimat ist Österreich, mein Vaterland Europa“– und setzt sich fort in eine Reihe unverbundener, abrupt, die Perspektive wechselnder Lebensdetails, die sich zu keiner geordneten Chronologie zusammenschließen: „meine hautfarbe weiss, meine Augen blau, mein mut verschieden, meine laute launisch, meine Räusche richtig, meine Ausdauer stark, meine anliegen sprunghaft, meine Sehnsüchte wie die Windrose.“ Und weiter: „den Mädchen gewogen, ein großer kinogeher, ein liebhaber des Twist (…) beim kartenspiel unachtsam, im Schach eine null (…) ein verächter der Obrigkeit, ein Brechmittel der linken, ein juckpulver der rechten, unbehaglich Schwiegereltern.“ Und schließlich: „Mickey Spillane gelesen, Goethe verworfen.“ Artmanns erste Veröffentlichungen erschienen zu Beginn der 50–er Jahre in der Zeitschrift Neue Wege. Aus ihrem Mitarbeiterkreis entwickelte sich die sogenannte „Wiener Gruppe“, die den Anschluss an den Surrealismus und andere Moderne–Bewegungen der Vorkriegsära suchte. Artmanns erste Buchpublikation, der Mundartgedichtband med anna schwoazzn dintn, figurierte in diesem Zusammenhang. Der vulgäre Habitus des Dialekts zieht niederstes und gewöhnlichstes Sprachgut in die Dichtung herein, gibt aber zugleich einem höchst artifiziellen Kunstwillen seines Spielraums. 1969 erschienen erste Sammlungen der Lyrik und Dramatik H. C. 33


Zum Tod

Artmanns: böse Formeln und lieder zu einem gutgestimmten hackbrett, barockisierende Epigramme, persische Quartalen, böse Kinderlieder mit Vampireinschlag, Balladen, Ich– und Naturgedichte auf der einen Seite, auf der anderen alle möglichen Formen der trivialdramatik wie etwa Kasperlespiel, Schwank, Zauber– und Gruselposse oder amerikanische Soap Opera. Siehe Anmerkung zu Ort und Zeit zeigen an, dass wir uns im poetisch Imaginären und nicht in einer wie immer abgelichteten Wirklichkeit befinden, denn: „hier sehen sie was sie noch nie gesehen haben und auch nie sehen werden.“ Mehrere der Stücke haben Caspar zum Helden; schon das allein bewahrt , davor, dass die Marionettendrähte abreissen. Andere Stücke wiederum unterbrechen sich oder enden mit „Applaus“ und „frenetischem Applaus“ vorm Tonband; sie erhalten so – durch die Parodie hindurch– den Anstrich von Produktionen aktueller Unterhaltungsindustrie. Zu einer ersten umfassenden Sammlung der Prosa H. C. Artmanns kam es mit der dreibändigen Grammatik der Rosen erst 1979 durch Klaus Reichert, bereits 1970 Herausgeber des Readers The Best of H. C. Artmann. Als erstes selbständige publiziertes Prosabuch ruft diese Ausgabe die Schelmenroman– Imitation Von denen Husaren und anderen Seil–Tänzern (1959) in Erinnerung; ihr dritter Band versammelt die zum damaligen Zeitpunkt jüngsten, gerade eben erst erstveröffentlichten Prosabände Die Jagd nach Dr. U (1977) bzw. Nachrichten aus Nord und Süd (1978); ein Text, der über mehr als 100 Druckseiten ohne jetwendige Interpunktion auskommt und so als Verquicken der Einfälle und Assoziationen in die Sprachform als solche hinüberzieht. Der Peotik des Einfalls folgend, die Reichert apostrophiert, der zuletzt eine zehnhändige Ausgabe des Poetischen Werks (1994) besorgte, schlüpft der Autor – 1921 in Wien zur Welt gekommen , der eigenen Legende nach aus St. Schatz vorm Walde gebürtig, geübt in allerlei Pseudonymen und 1097 mit dem Bücher – Preis bedacht – in verschiedenste Stillagen vom ornamentalen Barock zum modernen Kriminalroman oder Comic Strip, fasziniert von ihren prägnanten Konturen. Dabei verschwindet der Dichter Artmann aber nicht hinter den fremden Stillagen und Formen, sondern trifft als ein eigener poetischer Umriss – als einer der alles dies in der Zauberhand hat und 34


von H. C. Artmann

mit einer Leichtigkeit vorführt, die auch auf den zweiten und dritten Blick immer noch unglaublich erscheint – nur um so stärker hervor. Das Imitatorische wird auf diese Weise an eine Geste gebunden, die Distanz voraussetzt und schafft. Nicht unterschlagen werden darf die Rolle, die Artmann im literarischen Leben spielte. Als ein abschließender Hinweis deshalb die Urteile einiger ihm nahestehender Autoren. Konrad Bayer, Mitbegründer der Wiener Gruppe: „Er war mir Anschauung, beweis, dass die Existenz des Dichters möglich ist.“ – „Vielleicht wiederhole ich meine Behauptung“, schrieb Peter O. Chotjewitz, „Artmann sei der letzte lebende Dichter – wenn auch so etwas in den Ohren der meisten Menschen heute wie eine Beleidigung klingt“. Als eine Art Epitaph eignet sich jener Passus, mit dem Klaus Reichert das Nachwort des von ihm editierten Auswahlbandes The Best of H. C. Artmann beschloss. Danach ist es Artmanns Verdienst, gezeigt zu haben, „dass man aus der Haut fahren kann, und zwar in jede beliebige andere hinein“, „dass sich alles in Sprache (Literatur) verwandeln lässt und dass reziprok mit der Sprache alles angestellt werden kann, dass Literatur lesbar sein kann.“ und „dass die Kenntnis ungezählter Sprachen und ein Literaturbegriff, der alles Gedruckte und alles Hörbare einschließt, die eigene Sprache durch Okkupation ihr an sich fremder Systeme unendlich erweitern kann.“ Frankfurter Rundschau

35


Pina Bausch


* 27. Juli 1940 (Solingen, Deutschland) †30. Juni 2009 (Wuppertal, Deutschland)


Zum Tod

Ihr Tanztheater handelt von uns allen von Wiebke Hüster

Sie zeigte uns die Welt im Werden: Zum Tod von Pina Bausch Ihr Tod kommt wie ein Schock für die Tanzwelt. Niemand außerhalb des engsten Kreises von Pina Bausch wusste von ihrer schweren Erkrankung. Zwar sah die schmale Frau mit dem streng zurückgekämmten Haar seit vielen Jahren schon sehr zerbrechlich aus, wenn sie in ihren großen Herrenanzügen zum Applaus vor das Publikum trat, aber alle hielten das für die Durchtrainiertheit einer Tänzerin. Jetzt ist Philippine Bausch, von aller Welt nur mit zärtlicher Verehrung Pina genannt, vollkommen überraschend gestorben. Vor noch nicht einmal drei Wochen feierte sie im Wuppertaler Opernhaus die Premiere ihres alljährlichen neuen Stückes, und mit diesem Stück schien sie nach vielen Jahren einen neuen Weg einzuschlagen. Es gibt zahlreiche Fotografien von der 1940 als Tochter von Wirtsleuten in Solingen geborenen Tänzerin, die ihre jugendliche Schönheit bezeugen, von der ihre Züge noch im Alter beredten Ausdruck gaben. Pina Bausch begann zwar mit fünfzehn Jahren ihre tänzerische Ausbildung an der Folkwangschule in Essen, aber sie hatte die Aura einer 38


von Pina Bausch

großen klassischen Ballerina. Ihre Augen blickten halb streng, halb melancholisch. Wie begabt sie tänzerisch war, bewies die Tatsache, dass sie früh ein Stipendium erhielt, um an der New Yorker Julliard School zu studieren. 1962 kehrte sie trotz verschiedener Engagements in New York nach Deutschland zurück, wo sie als erste Solistin am Folkwang-Ballett beschäftigt war. 1968 choreographierte Pina Bausch ihre ersten eigenen Werke, ein Jahr später ernannte man sie zur Direktorin des Folkwang-Balletts. Damals und auch noch in ihrer ersten Saison als Ballettchefin an den Städtischen Bühnen Wuppertal war ihr Stil stark vom amerikanischen „Modern Dance“ geprägt. Der wie sich bald herausstellen würde, weit wichtigere Einfluss aber ging von ihrem großen Lehrer Kurt Jooss aus. Er war es, der in ihr die Gewissheit stärkte, dass der Tanz eine Aussage haben müsste, und zwar die richtige. Berühmt geworden war Jooss in den dreißiger Jahren mit seinem international erfolgreichen Anti-Kriegs-Stück „Der grüne Tisch“. Es muss ihm zugerechnet werden, wenn Pina Bausch später jenen Satz sagen sollte, der ihr weltweit auswendig gelerntes Credo bilden würde: „Mich interessiert nicht, wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt.“ Das wurde der Theaterwelt schlagartig vor Augen geführt, als Bausch die Leitung des Tanzes in Wuppertal übernahm. „Fritz“ hieß, knallig, kurz und deutsch, ihr Tanzabend von 1974, in dem sie erstmals ihre Motive anklingen ließ. Mit dem Ballett, jetzt galt es für das Publikum eines großen Hauses, einer ganzen Region, eine Landes, und schließlich, mit Hilfe des Goethe-Instituts, der ganzen, Welt zu lernen, was der Begriff „Tanztheater“ bedeutet. Nach „Iphigenie auf Tauris“ und „Orpheus und Eurydike“, die als wunderschön elegische Tanzopern noch einmal Aufschub vor dem großen Knall bedeuteten, kam 1977 „Blaubart – Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartoks Oper „Herzog Blaubarts Burg“. Das Publikum war schockiert. Hier warfen sich barfüßige Frauen mit offenem Haar gegen Wände, aufbegehrend gegen Männerherrschaft, gegen Unterdrückung, Lieblosigkeit, körperliche Gewalt. Bartoks Komposition wurde allenthalben unterbrochen, nichts war, wie es die Theaterkonventionen der Zeit geboten. Die meisten Kritiker tobten. In dieser Frühzeit erhielt Pina Bausch, so erzählt man sich, nächtliche Drohanrufe. Aber das „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“ war 39


Zum Tod

geboren und hatte seinen Arbeitsansatz gefunden. Und es dauerte nicht lange, da folgten ihm auch die Zuschauer und die Kritiker, und irgendwann begannen auch die Schauspieler und Opernregisseure, genauer auf diesen neuen Tanz zu schauen und von der Freiheit, die man sich in Wuppertal nahm, zu lernen. Die Collagetechnik ihrer im Ergebnis revueartig zusammengesetzten Stücke verfeinerte Pina Bausch mit ihren Tänzern. Legendär wurde ihre Technik, ein Stück zu erarbeiten. Sie gab den Tänzern Aufgaben, nicht Schritte, und stellte Fragen anstatt Anweisungen zu geben. Wie hast du dich als Kind gefühlt, wenn…? So fingen viele Fragen an. Immer ging es ihr um die Grundfragen der Existenz: Wie können wir leben mit denen, die wir lieben, wieso sind Frauen und Männer so verschieden, ist es eigentlich erlaubt, so unverschämt mit dem Publikum zu flirten? Ja, das Tanztheater war ernst und traurig und gesellschaftskritisch, aber es war auch ungeheuer Phantasievoll und witzig. Es spielte oft genug Klamauk, es knallte Türen, schmiss mit Kissen, spritzte Wasser und knutschte mit Krokodilen oder Nilpferden. Tänzer traten in Frauenröcken auf, Frauen zeigten ihre Speckröllchen als „Liebesgriffe“. Taucher versuchten in Aquarien zu rauchen. Man sang und lachte, schrie und klatschte. In den letzten Jahren konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Pina Bausch und ihr Wuppertaler Tanztheater irgendwie den Faden verloren hatten. Machte es Witzchen, spielte es Sketche, die nur noch albern und längst jede schärfe verloren hatten? Und wo fand es seine neuen Tänzer? Wo war die neue Mechthild Großmann, wo waren der neue Lutz Förster, Jan Mineral, die Jo-Ann Endicott? Die Zeit war an der großen Revolution im deutschen Theater nicht spurlos vorübergegangen. Die großen Themen des deutschen Tanztheaters der siebziger und der achtziger Jahre, deren Erfinderin und berühmteste Protagonistin Pina Bausch war, drängten nicht mehr. Die Gleichberechtigung der Frauen, die Emanzipation der Tänzer von der rigiden danse d’école, die Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen, die Familie als Ort quälender Erfahrungen und bedrückender Disziplinierungen und immer wieder das Liebesleid. Dafür wurde Pina Bausch von ihrem Publikum geliebt, dass sie Stücke erfand mit ihren 40


von Pina Bausch

Tänzern, die von jeder einzelnen Frau und jedem einzelnen Mann im Parkett zu handeln schienen. Die Einsamkeit des Paares miteinander und das Unglück der Verlassenen. Ihren Tänzern schenkte sie eine Welt, in der es angesichts der in ständiger Fortentwicklung begriffenen Stücke permanent Streitigkeiten um die besten Rollen gab, aber auch eine Atmosphäre, die ohne Beispiel war im zeitgenössischen Theater. Ein Leben abseits der Bretter? Unvorstellbar. Mechthild Großmann sagte in „Two Cigarettes in the Dark“ von Pina Bausch: „Noch’n Weinchen, noch’n Zigarettchen, aber bloß noch nicht nach Hause!“ Das galt auch für sie, die große Pina Bausch, deren Welt die Bühne war, das Theater, das, was bleiben wird, nachdem sie gestorben ist. Zigarette

41


Jurek Becker


* 30. September 1937 (Łódź, Polen) † 14. März 1997 (Sieseby, Schleswig-Holstein)


Zum Tod

Der unerträgliche Zustand von Martin Lüdke

Zum Tod des Schriftstellers Jurek Becker Seine Sprechweise hatte etwas leicht Schleppendes. Trotz der oft hohen Tonlage und einer durch häufiges Lachen unterbrochenen Rede, kamen die Worte mit jener Verzögerung über seine Lippen, die an Kleists allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden denken ließ. Jurek Becker wirkte immer selbstbewußt, sprach, auch wenn er wütend wurde, bedächtig. Aber das war es nicht allein. Es könnte, vermute ich, mit seiner frühen Kindheit zusammenhängen. 1973 in Lodz geboren, war er zwei Jahre alt, als er noch mit seinen Eltern ins Getto eingewiesen wurde. Dort wurde die Familie auseinandergerissen. Er kam in die Konzentrationslager Ravensbrück und später nach Sachsenhausen. „Als der Krieg zu Ende war, hatte sich meine Familie, eine ehedem fast unübersehbare Personenschar auf drei Überlebende reduziert“ – der Vater, eine Tante und er. Über eine amerikanische Suchorganisation machte ihn sein Vater ausfindig. Im Roman Der Boxer sind diese Episoden seiner Lebensgeschichte kaum verschlüsselt beschrieben. Der fast achtjährige Jurek Becker musste nach seiner Befreiung erst einmal deutsch und 44


von Jurek Becker

überhaupt erst richtig sprechen lernen. Kein Wunder, daß er sich in seiner Sprache „nicht zu Hause“ fühlte, nicht unwohl, „doch es fehlen mir Vertrautheit und eine Sicherheit, die zum ‚Zu-Hause-Sein‘ wohl gehören.“ Das war ihm, durch den leichten Berliner Tonfall hindurch, immer anzuhören. Nach seiner Herkunft befragt, pflegte er zu sagen: „Meine Eltern waren Juden“. Diese Leidensgeschichte ist in sein Werk eingegangen. In den Frankfurter Poetik-Vorlesungen beschreibt er Leiden, Widerstand und traumatische Erfahrungen als Vorbedingung des Schreibens. Sonst seien die Bücher „zur Mäßigkeit verurteilt“. Aber, so schreibt er weiter: „Ohne ein Unglück können Sie nicht einmal Witze über Ihr Unglück machen“. Erst diese Haltung erlaubte es ihm Jakob der Lügner zu schreiben, zunächst als Drehbuch, von der DEFA abgelehnt, dann – deshalb – als Roman (1969), der, in alle Welt übersetzt, aufgrund seines Erfolgs doch noch verfilmt wurde. Dieses Publikationsproblem deutet bereits den zweiten thematischen Schwerpunkt seines Schreibens an: die Schwierigkeiten des Lebens im real existierenden Sozialismus. Noch Ende 1994 gesteht Becker, daß es ihm bislang nicht gelungen sei, „Prosa zu schreiben, die im Westen spielt“. Möglicherweise fühlte er bis zuletzt dem Ursprungsmythos der DDR, dem Antifaschismus, verpflichtet. Aus einsichtigen Gründen. Dabei hat er es sich nie leichtgemacht. Er gehörte zu den Initiatoren der Resolution gegen die Biermann-Ausbürgerung. Er allein protestierte öffentlich gegen den Ausschluß Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR. Kompromißlos setzte er sich für einen humanen Sozialismus ein. 1977, nach der Weigerung der Behörden, seinen Roman Schlaflose Tage zu veröffentlichen, ging er mit einem befristeten Visum von Ost- nach Westberlin. Aber seine Themen fand er nach wie vor nur im Osten. Mit Amanda Herzlos (1992) hat er einen (wahrscheinlich bleibenden) Roman über die deutsche Teilung und das alltägliche Leben in diesem System geschrieben. Die westdeutsche Kritik fand, mit wenigen Ausnahmen, „zu wenig DDR“ in diesem Buch. Genau das aber war das DDR-Spezifische daran: die Darstellung einer stillschweigenden Reprivatisierung des öffentlichen Lebens, die sich in den Schlaflosen Tagen schon angedeutet hatte. Der Terrorismus der Mediokrität bestimmte das Leben in 45


Zum Tod

dieser kleinen, gemütlich/bieder/entsetzlichen Welt, rundherum eingezäunt, wurden die Menschen beschützt und gleichzeitig fast erdrückt. Die Grundstimmung war mufflig. Aus diesen Verhältnissen hat Jurek Becker einen Ausweg gesucht und bereits mit seinem zweiten Roman Irreführung der Behörden, 1973, auch gefunden. Der Jurastudent Gregor Bienek lebt, liebt, sprüht vor Phantasie, erzählt viel, schreibt wenig. Plötzlich kommt der Erfolg: Ein Drehbuch wird zur Verfilmung angenommen. Becker hat diese Geschichte geschickt konstruiert: Die sprühende Phantasie des ersten Teils wird im zweiten Teil des Romans zur gelebten Wirklichkeit. Doch genau in dem Maße, in dem sich seine frühen Fiktionen realisieren, verliert sich der Glücksanspruch, der mit ihnen verbunden war. Becker beschreibt, ohne seine Ansprüche preiszugeben, den Preis des Erfolgs, individuell und gesellschaftlich. Er war ein überzeugter Sozialist, aber nie ein dogmatischer. Er wußte, daß der reale Sozialismus keiner war. Er wußte aber auch, was wir heute, bei nahezu fünf Millionen Arbeitslosen, besser denn je erkennen können, daß die liberale Marktwirtschaft keine Alternative sein kann. Becker hatte natürlich auch gesehen, daß der frühe Antifaschismus der DDR ursprünglich nicht nur als ein Lippenbekenntnis galt. Dabei ist er die Belastungen seiner Kindheit nie losgeworden. Aron Blank, im Boxer, sagt einmal, „daß es auf Dauer kein erträglicher Zustand ist, ein Opfer des Faschismus und sonst gar nichts zu sein.“ Diese Haltung teilte Becker, doch schrieb er immer wieder über das Überleben, zuletzt in dem Roman Bronsteins Kinder (1986). Für die Juden, die den Holocaust überlebt haben, kann es in diesem Jahrhundert keine Normalität geben. Jean Améry und Prino Levi sind an dem Problem des Überlebens zerbrochen. Ob Bronstein, Blank oder Heym – diese Gestalten Jurek Beckers bewegen sich jenseits nur ästhetischer Betrachtungsweisen. Trotzdem ist ihm zumindest mit Jakob der Lügner auch ästhetisch fast die Quadratur des Kreises gelungen: ein komischer Roman über den Holocaust. Jakob Heym, der Lügner, muß behaupten, daß er im Getto über ein Radio verfüge, weil er die Wahrheit nicht erzählen kann. Er hat, ohne zum Spitzel geworden zu sein, das Revier, aus dem vor ihm kein Jude wieder lebend herausgekommen war, verlassen 46


Jurek Becker

können, aber dort, auf dem Gang, Radio-Nachrichten gehört, in denen vom Frontverlauf berichtet wurde. Er wußte also, daß die Befreier immer näher kamen. Dennoch muß der arme Jakob, ganz in der Tradition der jiddischen Erzähler, fortwährend Geschichten erfinden, um seine Notlüge zu beglaubigen. So nährt er die Hoffnung auf baldige Befreiung und gibt den Gettobewohnern Kraft – zum Überleben. Besser und überzeugender als in diesem kleinen, komischen und gleichzeitig rührenden Roman läßt sich das, was Literatur leisten kann, gar nicht demonstrieren. Mit diesem Buch ist Becker berühmt geworden. Als Drehbuchschreiber aber wurde er populär. Für seinen Jugendfreund Manfred Krug hat er die Serie Liebling Kreuzberg geschrieben. Der Erfolg dieser Serie hat ihm materielle Unabhängigkeit verschafft. Er nutzte sie – zum Leben. Im September dieses Jahres wäre er sechzig geworden. Am vergangenen Freitag ist Jurek Becker in Berlin an Krebs gestorben. Frankfurter Rundschau

47


Samuel Beckett


* 13. April 1906 (Dublin, Irland) †22. Dezember 1989 (Paris, Frankreich)


Zum Tod

Adieu den Adieus Der Dramatiker von Peter Iden

Zum Tod von Samuel Beckett Das Ende ist immer; der Zustand des Wartens ist die Form seiner ständigen Antizipation: Der Lebensbegriff der Figuren des Theaters von Samuel Beckett drückt sich aus in den Gebärden und Haltungen einer Erwartung, die sich sicher weiß, daß nichts zu hoffen steht. Das ist allerdings nun keine gleichsam tote Befindlichkeit vielmehr ist den auf der Bühne ausgesetzten die Zeit, die sie als derart Ziellos wartende verbringen, belebt von den Fragmenten vieler Bilder vergangener und als Möglichkeit gerade noch sagbarer, also denkbarer Bewegungen. Ehe nämlich die Figuren angekommen sind, wo wir auf sie treffen, haben sie viel Welt und Leben aufgenommen in sich - sie mühen sich um die Konturen dieser alten Bilder, die erzählen von frühen Aufbrüchen, von der empathischen Hingabe an einen Augenblick, von Glück und Schmerzen (und dem Aberwitz im einen wie im anderen), von Gemeinschaft und Einsamkeit, Nähe und Ferne; und immer wieder erzählen die erinnerten Bruchstücke von der Liebe. die Arbeit, welche die Figuren leisten, die Anstrengung, die sie auf sich nehmen, ist die eines Heraufholens, einer Beschwörung von vielleicht Gewesenem. Zugleich befragt dieses Erinnern sich nach einer Zuverlässigkeit: In der unermüdlichen Erkundung mal für mal danach, was denn nun “wirklich” geschehen war und erlebt wurde, also den 50


von Samuel Beckett

mancherlei Täuschungsmanövern der Erinnerung hart auf der Spur, legitimieren sich Becketts Subjekte ihre Existenz.Und sie finden ihre Triumphe, ihren Stolz, ihre Würde in dieser, der schwersten Arbeit. So, wie Becketts Personal verstrickt ist in die alten Geschichten, im Streit liegt um ihre Wirkung und Nachwirkung in der einzelnen Figur, aussichtslos Befasst ist mit vielen Aussichten, “ausgeträumt träumend” hat der Dichter einen seiner schönsten Texte überschriebn - so vermag, wer seine Stücke gelesen und oft gesehen hat, nun, da das dramatische Werk abgeschlossen ist, die Wirkung auf den eigenen Theaterbegriff nur schwer in einzelne Elemente aufzulösen: Kein anderes Werk in der Theaterdichtung dieses Jahrhunderts hat so wie das Samuel Becketts sich eingeschrieben in das Bewußtsein der Epoche. Da sind sie sogleich wieder, die Gestalten der Dramen, sonderbarster Aufzug: Wladimir und Estragon aus “Warten auf Godot ”, mit Pozzo, dem Herren, und Lukey, dem Sklaven; Clov und Ham aus dem “Endspiel ”; Winnie aus “Glückliche Tage ”, eingegraben bis zum Hals und voller Leben; die auch, die auch in den Urnen stecken in “Spiel”, und Krapp, im letzten Band ” den Tonbändern nachhörend, die ihm bezeugen sollen (können es und können es nicht), wie er einmal gewesen ist. Ein Prozeß der Reduktion hat die Theaterarbeit Becketts bestimmt: Späte Texte wie “Nicht Ich”, “Damals ” und “Tritte ” haben den Menshen schließlich zurückgenommen auf sein Gesicht, seinen Mund, nur seine Stimme. Als Becketts “Warten auf Godot ” 1953 in Paris uraufgeführt wurde, war der Dichter schon sechsundvierzig. Das Stück hat seinen Ruhm begründet, der Titel ist sprichwörtlich geworden, in der Absurdität der Situation von Estragon und Waldimir erkannte der Zeitgenosse, anfänglich protestierend gegen diese Darstellung, später mehr und mehr in ihrer Wahrheit begreifend sich wieder in seinen Verhältnissen. (Der internationale Erfolg des Clownspiels, dessen sogar der Boulevard sich annahm, ist freilich ein wesentliches Phänomengeblieben, Brecht hat es für sein Ost-Berliner Theater “Theater am Schiffbauerdamm” bearbeiten wollen, aus dem Vorhaben ist nichts mehr geworden und Beckett ist bis vor kurzem an dem Theater des Ostblocks ein verbotener Autor geblieben). Von Geschichte, hat Adorno bemerk, erscheine bei Beckett nur noch “deren Resultat als Neige”. Das wurde gesagt angesichtsvon “Endspiel ” - auch das ein Text, der für die Epoche

zumal der sechziger Jahre, als Gegenbild optimistischer Fortschrit51


Zum Tod

tsträume, zu einer verbindlichen Chiffre wurde. Die Wirkung der neuen Dramartugien Becketts auf die Arbeit am Theater war außer-

ordentlich.

Die Stücken haben einige der besten Regisseure zu ihren wunderbarsten Aufführungen veranlaßt; zuerst Roger Blin, dann 1970 Hans Bauer, als sie in Paris und Basel “Warten auf Godot” inszenierten; Klaus Michael Grüber, der sich mehrmals einließ auf “Krapps Letztes Band ”, unvergeßlich 1973 mit Bernhard Minetti in Bremen; !983 in Mailand hat Giorgi Strehler mit Giulia Lazzarini “Glückliche Tage ” neu gesehen, als ein Stück des tollkühnen Aufbegehrens, nicht des Untergangs. Dem deutschen Theater hat Beckett selbst, als Regisseur seiner dramatischen Hauptwerke, in den siebziger Jahren eine eindrucksvolle Reihe von Inszenierungen geschenkt - am Berliner “Schillertheater ” zeigte er, verteilt auf mehrere Spielzeiten, “Warten auf Godot”, “Endspiel”, “Glückliche Tage”, “Letztes Band” und “Damals”. Zu lernen war dabei, von dem Dichter selbst, das der oft erhobene Vorwurf gegen seine Interpreten, sie griffen zu hochoder schürften zu tief, durchaus unberechtigt war: Auch Beckett als Inszenator zeigte uns seine Szenen nicht bloß als Clownerien, sondern als Metaphern, Gleichnisse auf die Welt und unserem fragwürdigen Stand in ihr. Wladimir im “Godot”: “Rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der

Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die zangen an. Man hat Zeit genug um alt zu werden. Die Luft ist voll von unseren Schreien.” Becketts Theaterspiele - Rituale zum tod. Aber den Menschen

zugleich rettend, indem es ihn zur Sprache bringt. Mit der Frage wie sie, zum Besipiel, in “Tritte” gestellt ist, die sein Triumph ist, Backetts Frage immerzu: “Wirst du nie aufhören, es alles hin- und herzuwälzen?

(Pause). Es? (Pause). Es alles. (Pause). Es alles. (Pause). Es alles.” Frankfurter Rundschau

52


von Samuel Beckett

Adieu den Adieus Der Prosarist von Wolfram Schütte

“Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf das Nichts des Neuen”. Das ist der erste Satz des ersten Romans des am 13. April 1906 in einem südlichen Vorort Dublins geborenen Samuel Beckett . 1938 ist der Roman “Murphy” in London erschienen; Dylan Thomas,

der das Debüt aus einer protestantischen(!) Familie stammenden Iren für “schwierig, ernstzunehmend und mißlungen” hielt, schrieb damals: Murphy ist der Einzelne, ein Vogel Strauß in der Wüste der Massenproduktion”. Für mißlungenn hiet der Waliser das Buch trotz seines Humors, weil Becketts “Geschichte über den Konflikt zwischen Innen und Außen einiger merkwürdiger Leute... seinen Zweck verfehlt”. denn: Geist und Körper dieser Menschen (haben) fast keine Beziehung zueinander. Der Lyriker hatte erkannt, was der Student des “Trinity College” in Dublin, der dort Französich, Italienisch und Neue Literatur studiert hatte, aber seit 1903 hauptsächlich in Paris lebte und mit Joyce, Pound, Arp und Carl Einstein intensiven künstlerischen Kontakt pflegte, am nachhaltigsten verachtete: “die Zeilenschinderische Vulgarität einer Literatur der Beschreibung”. Deren “fortwährenden Prozeß intellektueller Speichelbildung” wollte der Ire unterbinden, und mit dem “schnellen Abschäumen und Verschlingen der dünnen Sahneschicht des Sinns wollte er entgültig Schluß machen. Weder konnte nich wollte Beckett auf den Wegen fortschreiten, die James Joyce und Marcel Proust eingeschlagen 53


Zum Tod

hatten: wieder den souveränen Romancier und den eindimensionalen Abbildrealismus der klassischen, bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts. Weder trieb es ihn (wie Joyce) zu einer illuminativen “Allwissenheit und Omnipotenz”, die er in der Sprache (in allen Sprachen) ein Meer von assoziativen Verweisen entdeckte; noch vermochte er Prousts Vertrauen in die “Unwillkürlichkeit” erinnernder Wiederauferstehung des Vergangenen im Medium der Kunst zu teilen. Dabei sind Backetts Werke doch zugleich von einer Vielzahl von (parodistischen) Verweisen auf Literatur, Philisophie und Tgheologie durchschossen: ein Trümmerfeld zerschlagener, geköpfter Zitate. Und Erinnern, Beschwören, Imaginieren und die Sehnsucht nch Vergangenem gehört ebenfalls zu seinen strudelnden erzählerischen Suchbewegungen: aber sie sind subjektlos, “Ich ist ein Anderes”: Stimme, Mund, Röcheln, Wortzerfall. In einem sehr stringenten Essay, der die schier Uferlose Beckett-Literatur durchsiebt, die in zahllosen Interpretationskreisen das Oeuvre des Iren wie ein mehrschichtiger Panzer umlagert, haz H.H. Hildebrandt den Mythos von Tithonos zum Emblem des Künstlers Samuel Becketterklärt: “Thitonos haben die Götter zwar Unsterbli-

chkeit, nicht aber ewige Jugend verliehen. So wird er immer älter, kleiner, unscheinbarer, bis ihn schließlich seine Gattin Eos, die sein Geschwätz, nicht mehr ertragen kann, in sein Zimmer eingesperrt. Von ihm, der zur zirpenden Grille einschrumpft, bleibt schließlich nur noch die Stimme übrig”: ein Stoff - wie von Beckett “erfunden”.

Reduktion, Verfall, Isolation, Geschwätz und Gebrabbel, körperlicher Selbstekel und Schweigen: Wer auch nur eine von Becketts “Erzählungen und Texte über Nichts” gelesen hat - und dazu gehören nicht nur die so betitelten Prosa-arbeiten, sindern auch der solitäre Roman “Watt”, das Fragment “Mercier und Camier”, die Romantrilogie “Molloy ”, “Malone stirbt ” und “Der Namenslose, später u. a. “Der Verwaiser”, “Um abermals zu enden” oder “Gesellschaft” -: Wer je auch nur eines dieser Mobiles einer unendlichen Melodie des Mongolischen sprechens gegen die Vergeblichkeit, gegen das Leben und gegen den Tod vor Augen hatte, wird in ihnen eines “Destrukteurs” innegeworden sein, der, nach einm Wort E.M. Ciorans, “dem Dasein etwas hinzugefügt, es bereichert, indem er es unterhöhlt”. Endspiele alle: enste (& komische) Spiele vom Ende. Mit dem rumänischen Philosophen und Essayisten Cioran - der einmal Faschist war, während Samuel Backett sich an der französischen 54


von Samuel Beckett

Résistance beteiligte - teilt der Ire zum einen die rückhaltlose, radikale Skepsis gegen alle menschlichen Versuche, der hinfälligen Existenz und ihrer “Krankheit zum Tode” die rechtfertigung eines metaphysischen Sinns abzupressen: Wenn es nur Dunkelheit gäbe, wäre alles klar. Weil es nicht nur Dunkelheit, sondern auch Licht gibt, wird unsere Situation unerklärbar”, hat Beckett einmal in einem Interview geäußert; übrigens (wie häufig in einem Oeuvre) mit dem ebenso gewitzten wie harschen zungenschlag des Paradoxons, gleich den Iren Swift oder Wilde. Zum anderen teilte er mit dem Essayisten, der augenblicklich das beste französich schreiben soll, die Wahl einer “Fremdsprache”, um in ihr “ohne Stil schreiben” zu können. Beckett suchte den Wiederstand des Fremden, um sich daran abarbeiten und formulieren zu können; sein Oevre ist zweisprachig wie kein zweites der Weltliteratur; und indem er sich selbst jeweils vom Englischen ins Französiche (et vice versa) übertrug, hat der die eigene Arbeit immer als “work in progress” behandelt. Der Literaturnobelpreisträger von 1969 hat eine prosa geschrieben, die sich immer entschiedener (wie die Malerei der Moderne) von jeglicher Täuschung”realistischer” Abbildlichkeit entfernte und die Sprache der Struktur lyrischer Evokation und den Bauformen musikalischer Kompositonen anschmiegte - ja: sie in Sprachprozesse des kompostierenden Zerfalls übersetzte, in lichte Spurenmomente sehnsüchtiger Einspruchnahme gegen das Scheitern, in Zwielichzonen im Dunkel abgedichteter Räume. Ich spreche, also bin ich (noch); oder (auch nur) gewesen. So schließt das 1981 erschienene Prosastück “Mal vu mal dit”:... Wie, um hiermit endlich zu enden, es ein letztes Mal schlecht sagen? Als wiederrufen. Nein, aber langsam schwindet ein wenig, sehr wenig, dahin, wie ein letzter Streifen Tageslicht, wenn der Vorhang sich wieder schließt. Adieu des Adieus. Dann vollkommendes Dunkel, Vor-Grabsgeläut, ganz leise. süßerr Klang, los, Anfang des Endes. Erste letzte Sekunde. Wenn nur noch genug davon übrig sind, um alles zu verschlingen. Happig, Sekunde um Sekunde. Himmel, Erde und aller Krimskrams. Kein Fitzchen Aas mehr. Lefzen geleckz, basta. Nein. Noch eine Sekunde. Nur noch eine. Lange genug, die Leere zu atmen. Es kennenzulernen, das Glück.

Frankfurter Rundschau

55


Thomas Bernhardt


* 9. Februar 1931 (Heerlen, Niederlande) †12. Februar 1989 (Gmunden, Österreich)


Zum Tod

Ein Moralist und verzweifelnd von Peter Iden

Zum Tode Thomas Bernhards Gestern Abend wurde auf der Bühne des Wiener Burgtheaters „Heldenplatz“ gespielt, das letzte aufgeführte Stück Thomas Bernhards, dessen Premiere Ende vergangenen Jahres ein ganzes Land, Österreich, in Aufregung versetzt hatte. Erst gestern mittag war im Burgtheater das schon im Laufe der vergangenen Woche verbreitete Gerücht zur Gewißheit geworden: Thomas Bernhard ist tot, gestorben am vorigen Sonntag in seinem Bauernhaus in Gmunden; als die Agenturen die Nachricht in die Welt schickten, war Bernhard schon beerdigt worden, in Wien, ein Begräbnis ohne Öffentlichkeit, nur im Kreis der (kleinen) Familie. In der Aufführung von „Heldenplatz“, abends in der „Burg“, war der Dichter dann ja wieder sehr am Leben – das Stück ist ja ein entschiedener Akt der Einmischung in die Gegenwart, zornige Kritik an dem Verfall der politischen Kultur, wütend übertreibende Polemik gegen den Zustand der österreichischen Gesellschaft, für die Bernhard keine Zukunft sah. Derart sich einlassen zu müssen auf den unmittelbaren Zeitstoff, war ein Zug an Bernhards Wesen, eine Qualität seines Charakters. Ihn schien oft ein anderer zu kontrastieren: die unabweisbare Inklination zu einem tiefen Pessimismus, ein Bewußtsein der Vergeblichkeit letztlich aller Bewegungen, aller 58


von Thomas Bernhards

Anstrengungen, der scherzenden wie der wütenden und auch der mahnenden Gebärde. Er war ein Moralist, dem Leben zugewendet, aufmerksam für die ironische Wendung in den Verhältnissen wie er sie beobachtete, in der Prosa und in seinen Dramen auch reizbar für die Komik, das Lächerliche der Konstellationen, in welche Menschen unvermeidlich geraten; aber er war zugleich durchdrungen von bitterster Verzweiflung, die ihn die Welt und sich selbst hassen machte – tief in Bernhards Zorn und tief in seiner Wut war immer die Trauer zu spüren daran, daß alles Leben sich ereignet „in hora mortis“, Lebenszeit Sterbenszeit ist. (Einen seiner ersten Gedichtbänder, erschienen vor dreißig Jahren, nannte er „In hora mortis“.) Diese Trauer, die noch wenn er scherzte – und er konnte ein sehr spaßiger Geselle sein – seltsam an ihm bemerkbar blieb, mochte in einer schwierigen, durch lange Krankheit gezeichneten Jugend ihren Ursprung gehabt haben. Bernhard wurde 1931 in Kloster Heerlen bei Maastricht in den Niederlanden geboren, als Kind einer österreichischen Hausgehilfin, seinen Vater hat er nie gekannt. Der Junge wuchs bei den Eltern der Mutter auf, in Wien und in der Landschaft am Wallersee. Von 1943 war er Zögling eines nationalsozialistischen, nach Kriegsende streng katholischen Erziehungsheims in Salzburg. Mit siebzehn entwickelte sich das schwere Lungenleiden, das ihn wiederholt zu längeren Aufenthalten in Heilstätten zwang. Ab etwa 1957 veröffentlicht er die ersten Gedichtbände, 1963 erscheint der Roman „Der Frost“, im Jahr darauf die Novelle „Amras“, 1964 „Verstörung“, ein Höhepunkt seiner Prosa wird „das Kalkwerk“ (1970). Schon mit den ersten Veröffentlichungen gewinnt der Autor sich eine intensive öffentliche Aufmerksamkeit. Es ist nicht nur der Stoff der erzählenden Prosa, Begebenheiten, Situationen, Menschen an düsteren Rändern des Seins, der den jungen Dichter als einen besonderen absetzt von seinen Zeitgenossen – früh wird er auch erkannt als ein bedeutender Formalist, fesselt er durch die auffällige Begabung für ein reich differenziertes Rhythmisieren der beschreibenden Sprache. Deren Strukturen behaupten gegenüber den Inhalten immer noch eine andere, eine eigene Realität: Macht der Wörter über die Welt. Auch das dramatische Werk Bernhards, einsetzend 1970 mit 59


Zum Tod

„Ein Fest für Boris“, einem Totentanz unter Krüppeln (uraufgeführt von Claus Peymann am deutschen Schauspielhaus in Hamburg), ist von Anfang an stark geprägt durch ein formalisiertes Reden der Figuren, durch eine Insistenz auf Stil. Die durch die nachdrückliche Gliederung nicht in die Erstarrung getriebenen, sondern im Gegenteil vitalisierten Texte der Rollen in Stücken wie „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ (1972), „Jagdgesellschaft“ (1973), „Die Macht der Gewohnheit“ (1974), „Der Präsident“ (1975), „Minetti“ (1976 als Hommage an den Schauspieler Bernhard Minetti), „Der Weltverbesserer“ (1980) haben, bis zu „Heldenplatz“, die besten Schauspieler der deutschen Bühne herausgefordert zu Darstellungen, die immer Hauptereignisse der jeweiligen Spielzeit waren. Die Stücke und Aufführungen schilderten Menschen, die sich in extremen Situationen erlebten – gerade wenn um sie herum alles normal schien, hatten sie umzugehen mit einer Vision, einem Begriff von sich selbst, der bestürzend nicht paßte, ihre Alltäglichkeit aufplatzen ließ für die schrecklichsten und manchmal auch sehr komischen Einblicke in ihr eigenes wie in das alte Wesen der Welt. Fast immer war Claus Peymann der erste Inszenator dieser Entwürfe. Die scheinbar unermüdliche dramatische Produktivität Thomas Bernhards hat den Theatern beinah jährlich ein neues Werk erbracht. Es gab dabei auch Momente der seriellen Wiederholung von Figuren, Motiven und Formen. Aber entgegen den bisweilen höhnischen Bemerkungen des Dichters über die Praxis des Theaters war Bernhard doch einer, der an die Möglichkeit der Bühne glaubte, Auskunft zu geben über die Zeit. Dem Theater wird er nun fehlen. Das heißt: der Gesellschaft der Einzelnen, die das Theater macht und sich darin begegnet. Frankfurter Rundschau

60



John Cage


* 5. September 1912 (Los Angeles, USA) †12. August 1992 (New York City, USA


Zum Tod

Messias der Anarchie? von Hans-Klaus Jungheirich

Zum Tode des Komponisten John Cage „God is a humourist“ – dieser fiktive Buchtitel aus Lawrence Durrells Alexandria-Romantetralogie mag sich aufdrängen als Spontan-Kommentar zur Nachricht vom Tode des amerikanischen Komponisten, Avantgardisten und Lebenskünstlers John Cage. Einen bitteren und zynischen Beigeschmack hätte der „humourist“, wenn man daran denkt, daß es in den nächsten Wochen zu den größten Cage-Ehrungen gekommen wäre, denen der dann Achtzigjährige beigewohnt hätte. Auch und vor allem in Frankfurt wurde, geplant von Walter Zimmermann, Ernst-Albrecht Stiebler und Stefan Schädler, unter dem Motto „Anarchie Harmony“ ein riesiges Cage-Festival (teilweise im Rahmen der Frankfurt Feste) vorbereitet. Ein makabrer scheeläugiger „humour“ mißgönnte dem alten, jetzt hochberühmten Künstler die Freude, hieb gleichsam auf die schon brennenden Geburtstagskerzen. Noch beklemmender der Verdacht, Cages plötzlicher Tod in einem New Yorker Krankenhaus (nach einem Schlaganfall) könnte mit der bevorstehenden Ehrung näher zusammengebracht werden, Cage sei dem dabei zu erwartenden Streß nicht gewachsen gewesen und ihm auf eine radikale Weise ausgewichen. In diesem Falle stünden wir, die Gratulaten, und insbesondere die Veranstalter der Cage-Festivitäten, 64


von John Cage

seltsam düpiert, beschämt und auch gewissermaßen schuldig da. Ein Gott, der den Lebenden höhnisch von einer großen Freude abschneidet; ein gutgemeintes Geburtstagspräsent, das sich als tödlich erweist – Cage selbst, könnte er über sein Ende noch räsonieren, hätte solchen trivialen metaphysischen Spekulationen wohl wenig Geschmack abgewinnen können. Daß indes alles und somit auch die (mit ihm geschehenen) letzten Dinge nichts als Zufälligkeiten seien, hätte er, der fernöstlich Gebildete und Weise, nur gutheißen mögen unter der Voraussetzung einer tieferen, geheimnisvolleren Bedeutung des Zufalls, wobei er diesem durchaus auch „humourist“-Eigenschaften zugestanden hätte, immer eingedenk, daß der Witz, wie andere Ordnungsgefüge, eine spezifisch menschliche Erkenntnismodalität ist, um dem kosmischen Wirbel beizukommen. John Cages Tod am 12. August 1992, gut drei Wochen vor dem 80. Geburtstag am 5. September 1992, scheint die Probe aufs Exempel, daß diesem Werk mehr innewohnt als spielerische, unverantwortliche Heiterkeit. Oder anders: Daß Cages Oeuvre Bereiche reflektiert, die sich individueller Verantwortung entziehen. Der selbstbestimmte Mensch, der gerade als Künstler über seinen Tod verfügt wie über sein Leben – abgesehen von Harakiri-Heroen wie Mishima, die fast unmenschliche Züge annehmen, gibt es ihn nicht. Andererseits gewährt auch die Haltung des Geschehenlassens keinen friedlichen Packt mit dem Leben. Konflikte und Spannungen können nicht gebannt werden. Leben und Tod bleiben rätselhaft. Und die Überlebenden, die daraus Sinnfiguren machen, sind nicht viel anders als spielende Sandkastenkinder. Behutsame Verantwortlichkeit dem eigenen Leben gegenüber lernte Cage vor rund zwanzig Jahren, als er, damals unbedenklicher Zigarettenraucher, mit arthritischen Beschwerden zu tun bekam und sich dadurch einem Alterungsschub ausgesetzt fühlte. Er gab das Rauchen auf und stellte seine Eßgewohnheiten auf Makrobiotik um. Das brachte nicht bloß Erleichterung, sondern eine neue Lebensfreude: Zu erleben, wie eine scheinbare Unausweichlichkeit (das Altern) durch Aktivität besiegt werden konnte! Alter als gelungene Verjüngung: der banale und illusionäre amerikanische Traum war für Cage nahezu lustvolle Realität. So hätte man darauf gewettet, daß Cage, Inbild von Entspan65


Zum Tod

ntheit, Gelassenheit, Gesundheit, weit über neunzig würde. Natürlich war er ein herzlicher „humourist“ – unvergeßlich sein Lachen, bei öffentlichen Auftritten wie im privaten Kreis. Er lachte gern und viel, posierte aber nicht mit eingefrorenen Keep-smiling-Attitüden. Er war in den letzten Jahren oft auch müde, hielt bei Demonstrationen eigener Werke auch schon mal ein Nickerchen. Man war geneigt, dies als eine angemessene, vorbildliche Rezeptionsweise wahrzunehmen. Denn Cage und seine Kunst waren nicht wichtigtuerisch, nicht missionarisch. Eher skeptisch sah Cage die rigorosen kunstphilosophischen Implikationen seines Werkes, die vor allem von deutschen Exegeten (Heinz-Klaus Metzger) theoretisch entfaltet wurden. Hier geriet Cage beinahe zum End-, Ziel- oder Umschlagpunkt der (typisch abendländischen interpretierten) Musiktheorie, zum Messias der Anarchie, der die Musik von Hierarchien, Zwängen, allen Arten der Herrschaft „erlöste“ und sie ins Reich der Freiheit hineinführte. Solche Zuschreibungen nährten sich eine Weile auch von marxistischen inspirierten Hoffnungen und Utopien. Sie machten Cage gerade in Europa (vor allem seit den siebziger Jahren) in progressiven intellektuellen Kreisen interessant. Im konservativen, pragmatischen Kulturklima der USA blieb die Basis der Cage-Anerkennung schmaler. Gut möglich, daß sich Cage als bescheidener „artist“ dort unprätentiös richtiger verstanden fühlte. Gleichwohl war er so gutmütig, auch den eifernden europäischen Bewunderern respektvoll, freundlich und kooperativ entgegenzukommen. Cage wurde 1912 in Los Angeles geboren. Daß sein Vater „Erfinder“ war, muß ihn tief geprägt haben. Es hielt ihn zeitlebens zu neugierigem, erfinderischem experimentellen Umgang mit künstlerischen Materialien an (und weckte seinen Impuls, gleichsam „alles“ zu kunstfähigem Material zu machen). Als Klavierstudent in Paris beschäftigte er sich mit Kompositionen von Erik Satie, einem unakademischen Autor par excellence. In den dreißiger Jahren kam er mit dem nach der amerikanischen Westküste emigrierten Arnold Schönberg in Berührung, der Cage in seinem Wunsch Komponist zu werden, nachdrücklich bestärkte. 1942 begann Cages Zusammenarbeit mit dem Tanzensemble des Choreographen Merce Cunningham, eine lebenslange freundschaftliche Verbindung. In den vierziger Jahren entstanden die ersten, aufsehe66


von John Cage

nerregenden Kompositionen Cages für „präpariertes“ Klavier. Der Klangcharakter des Instruments wurde „verfremdet“ durch auf die Saiten gesetzte Metallteile, Gummibänder, Geldmünzen u. a. Sodann entdeckte Cage Radios als Musikinstrumente: die beim Aufdrehen erklingenden „Programme“ oder Störgeräusche waren nicht voraussehbar, und das gefiel Cage. Nach und nach überließ er dem „Zufall“ einen großen Anteil der kompositorischen Entscheidungsgewalt. Cage suchte sehr subtile Methoden, den Zufall in seine Kompositionen einzubauen: Er warf Münzen, richtete sich nach Fehlern und Maserungen im Papier, arbeitete mit Computerprogrammen, schließlich mit dem chinesischen Orakelbuch „I Ging“. Herrschaftsfreiheit, Abkehr vom traditionellen Werk-Charakter manifestierten sich auch in der Möglichkeit, mehrere seiner Stücke gleichzeitig zu spielen. Spektakulär wurde insbesondere Cages „Klavierkonzert“ von 1957/58 aufgenommen, das mit variabler Besetzung und „punktuellen“ Klangereignissen ein radikales Gegenbild zu herkömmlicher Konzertmusik entwarf. Vielleicht am weitesten ins Imaginär-Mystische wagte sich Cage vor in seinem Tacet-Stück „44′33″“, wo ein Interpret (oder deren mehrere) sich während der Zeitdauer von vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden anschicken, Musik zu spielen, aber keinen einzigen Ton hervorbringen: das faktische Nichts ist zugleich Alles einer vorstellbaren, potentiellen Musik. Der giocose Tiefsinn solch einer dialektischen Parabel blieb auch bei Cage ein Einzelfall. Mit einer Fülle weiterer Arbeiten näherte sich Cage dem Happening, der Concept-Art, der Minimal Music, der Musique concrète, ohne jedoch mit solch griffigen Schlagwörtern identifizierbar zu werden. Auch als Bildender Künstler und Wort-Komponist („Silence“, 1961) erkundete Cage ästhetische Räume und wurde zu einem weit über die Grenzen der Avantgardemusik hinaus wichtigen Anreger. Mit seinen „Europeras 1&2“ (Frankfurt/M. 1987) schuf er einen originellen, kauzig-spannenden Beitrag zum modernen Musiktheater (es hätte nicht viel gefehlt, und Cage wäre damals, bei den Vorbereitungen im Opernhaus einlogiert, der Brandkatastrophe zum Opfer gefallen). Die Geburtstagsfestivitäten annoncieren zahlreiche neue Cage-Stücke; beim Grazer Musikprotokoll hätte der Jubilar eine Uraufführung selbst dirigiert. 67


Zum Tod von John Cage

John Cage tauchte erstmals 1954 in Deutschland (Donaueschingen) auf. Folgenreicher wurde seine Anwesenheit 1958 bei den Darmstädter Ferienkursen. In der Laborsphäre eines verbissenen Serialismus wirkten seine Konzepte als Sprengsätze. Gleichsam wider Willen ließen sich die jüngeren europäischen Komponisten von Cage in die Freiheit hineinziehen (dabei wurde Cage von maßgeblichen Foren der Neuen Musik eine Weile sogar geflissentlich boykottiert). Seit zehn, fünfzehn Jahren war Cage nun eine internationale Berühmtheit. Mit dem Ruhm ging er offenbar ebenso gelassen um wie früher mit Entbehrung, Unverständnis, Anfeindung. Ein Star, ein VIP war er kaum; als „Kulturfigur“ des Avantgardebetriebs beteiligte er sich mit gutem Humor an den ihm und seinen Werken geltenden Veranstaltungen wie einer, der nicht so recht weiß, was er von alldem halten soll. Er respektierte die biographischen und zeitgeschichtlichen Zufälligkeiten, die ihn in diese Rolle hineinbrachten. Die Verantwortung für sein Image übernahm er nicht. Keine Kontrolle. Und nun machte er sich uns, die wir seiner zum Jubeltag habhaft werden wollten, unkontrolliert davon. Zu Thoreau, in die Wälder, zu seinen geliebten Pilzen. Mögen Pilze sei Grab schmücken! Frankfurter Rundschau

68



Elias Canetti


* 25. Juli 1905 (Russe, Bulgarien) †14. August 1994 (Zßrich, Schweiz)


Zum Tod

Das Gewissen der Worte von Uwe Schweikert

Zum Tod von Elias Canetti Mit Elias Canetti starb der Patriarch der deutschen Literatur. Wenn auf einen zeitgenössischen Autor der Begriff des Dichters im emphatischen Sinn noch zutraf, dann auf ihn. Noch einmal, und wohl ein letztes Mal, verwirklichte sich in seinem Werk die Einheit von Denken und Schreiben, von philosophischer Universalität und künstlerischer Gestaltung. Wer das Glück hatte, Canetti persönlich zu begegnen, geriet schnell in den Bann seiner Persönlichkeit. Imponierend war schon die äußere Erscheinung: die lebendige Offenheit, die menschliche Wärme, nicht zuletzt die wache Neugier des Blick, von dem man sich sofort durchschaut zu fühlen begann. Zugleich war dieser Menschenfischer, dessen Leidenschaft im „Menschen erlernen“ bestand, „auf charakteristisch unpersönliche Weise extrem mit sich selbst beschäftigt“ (wie Susan Sontag einmal bemerkte). Wenn er sprach, gar vorlas – und Canetti war, wie sein Lehrer Karl Kraus, ein hinreißender Rezitator seiner eigenen Werke –, dann schien die Märchenerzählerin Scheherezade zu neuem Leben erwacht. In seiner Stimme entstand ein ganzer Kosmos, ein ganzes Drama mit all seinen Figuren und Schattierungen. Gleichmaßen bezwingend war aber auch der Ernst, die Unbedingtheit des intel72


von Elias Canetti

lektuellen Anspruchs, die nicht nachlassende Begierde. Als Schriftsteller blieb Canetti lange so gut wie unbekannt., ein unbequemer Einzelgänger gegen die Zeit, ein unnachsichtiger Kritiker der herrschenden Lügen. Erst die 1963 veranstaltete Neuausgabe seines erstmals bereits 1935 erschienenen Romans Die Blendung brachte ihm den Durchbruch zum späten Ruhm: den Nobelpreis für Literatur 1981 und das Interesse einer breiten Leserschaft. Hauptfigur dieses Romans ist der Sinologe Kien, der in einer Art intellektueller Unzucht mit seinen Büchern gegen die Wirklichkeit anlebt. (Sein Vorbild soll ein Wiener Sinologe gewesen sein, der den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erst zwei Jahre danach aus einer alten Pekinger Zeitung erfuhr.) Der kopfstimmige Gelehrte wird von seiner Haushälterin durch einen Trick – listig zieht sie sich zum Lesen Handschuhe an, das Buch legt sie auf ein Samtkissen – geblendet und zur Ehe verführt. Mit diesem Schritt liefert Kien sich den Niederungen des Lebens aus: banal-grotesken Figuren wie dem Hausbesorger und dem Intriganten Fischerle, in denen die intellektuelle Kritik eines Karl Kraus am Wiener Hausmeisterfaschismus erzählerisch verflüssigt ist. Am Ende des schonungslosen Machtkampfes zwischen Geist und Wirklichkeit zündet Kien schließlich seine mehr als 20000 Bände umfassende Bibliothek an und verbrennt mit seinen Büchern – ein beklemmendes, vielstimmig instrumentiertes Menetekel von der Entzündbarkeit der Welt. Der kollektive, totalitäre Wahn des Faschismus, dessen Vernichtungsfeldzug in diesen Jahren begann, scheint in dem 1930/31 geschriebenen Buch in hellsichtiger Analyse vorweggenommen sein. Geboren wurde Elias Canetti am 25. Juli 1905 in der bulgarischen Donauhafenstadt Rustschuk. Für den Sohn sephardischer, spanisch-jüdischer Eltern waren Spagnolisch und Bulgarisch, später, nach der Übersiedlung der Familie nach Manchester, Englisch die ersten Sprachen, die er lernte. Canetti war gerade sieben Jahre alt, als der Vater plötzlich starb. Vielleicht war es dies Ereignis, dies Erlebnis, das ihn zum Dichter werden ließ. „Mich brennt der Tod!“, wird er später schreiben. Er hat den Tod, diesen Tod zum Angelpunkt und Eckpfeiler seines literarischen Werkes gemacht. Nach dem Tod des Vaters zog die Mutter mit ihren drei Kindern 1913 zuerst nach Wien, 1916 nach Zürich, 1921 nach Frankfurt. Erst 73


Zum Tod

im Alter von acht Jahren lernte Canetti unter der Anleitung seiner Mutter Deutsch – „Eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache“. Die magische Welt seiner frühesten Kindheit, die Bizarrerie und Faszination des Balkans, schließlich die Eroberung der Wirklichkeit durch die Sprache und die Schrift hat er mit fesselnder Eindringlichkeit in Die gerettete Zunge (1977), dem ersten Band seiner Autobiographie, beschrieben. 1924 ging Canetti nach Wien zurück, begann dort das ungeliebte Studium der Chemie, das er 1929 mit der Promotion abschloß. Dort lernte er auch seine erste Frau Veza Taubner-Calderon kennen (selbst eine veritable Autorin, wie die spät von Canetti zum Druck gegebenen Erzählungen beweisen). Seine Entwicklung zum Schriftsteller im Wien der zwanziger Jahre, unter der „Leibeigenschaft“ des bewunderten Satirikers Karl Kraus, schildert Die Fackel im Ohr (1980). Den Abschluß von Canettis dreiteiligem Lebensroman bildet Das Augenspiel (1985), das mit dem Tod der Mutter 1937 endet. Als Schriftsteller, dies zeigen die Bänder der Autobiographie, geht Canetti äußerst behutsam mit seinen Erinnerungen um. In seiner unstillbaren Passion sucht er den Weg zu den „in sich selbst eingebundenen Menschen“. In ihren Stimmen und Gesten läßt er sie, ein unersättlicher Beobachter und Zuhörer, wieder auferstehen, enthüllt er seine Wahrheit ihres Lebens. Stärker noch als die Galerie berühmter Zeitgenossen, denen er begegnete, prägen sich dem Gedächtnis des Lesers die überscharf belichteten Gestalten des bürgerlichen Pandämoniums ein: die deformierten von der „tobsüchtigen Bewegung des Geldes“ und der Machtblindheit geknechteten Zimmerwirtinnen, Pensionäre, Hausmeister und Dienstmädchen. Canetti ist ein Meister des Grotesken, der präzisen Übertreibung vor allem in seinen beiden Theaterstücken Hochzeit (1932) und Komödie der Eitelkeit (1933/34), die er selbst höher einschätzte als die ungleich bekanntere Blendung. Wie Nestroy, wie Karl Kraus beherrschte er die Technik der von ihm so bezeichnenden „akustischen Maske“: arglos plappern die Menschen noch ihre geheimsten Wünsche, ihre verbrecherischsten Gedanken aus. Zum zweiten Schlüsselerlebnis, nach dem Tod des Vaters, wurde für Canetti der Brand des Wiener Justizpalastes, den die empörte Arbeiterschaft am 15. Juli 1927 anzündete. „Die Polizei“ – so 74


von Elias Canetti

erinnert er sich mehr als fünfzig Jahre danach – „erhielt Schießbefehl, es gab neunzig Tote… Es ist das nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe… Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ Das Geheimnis der Masse – und damit das von Macht und Überleben – ließ ihn von nun an nicht mehr los, steigerte sich vielmehr durch die immer abschüssigere Fahrt der Geschichte, die Machtübernahme des Faschismus, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki zur Erkenntnis der universellen Bedrohung, in die die Menschheit sich selbst gebracht hatte. In der das Schubkastendenken aller universitären Disziplinen verwerfenden Abhandlung Masse und Macht sowie in den diese Arbeit begleitenden aphoristischen Aufzeichnungen Die Provinz des Menschen, gelang es Canetti, über Freud hinausgehend die Wurzeln der Gewalt zu entschleiern: Triebverdrängung und Aggressivität, Ordnung und Destruktion zeugen und stützen sich wechselseitig. Seit seiner Emigration im Herbst 1938 nach London hatte Canetti sich jede literarische Beschäftigung verboten, um ausschließlich an Masse und Macht zu schreiben. Eingehende Studien der Anthropologie, der Ethnologie, der Sozialpsychiatrie, vor allem aber der chinesischen Philosophie und der Mythenüberlieferung der Menschheit haben die Arbeit von Anfang an begleitet. Lange bevor sie Mode wurden, hat Canetti so die bedrängenden Themen unserer Zeit benannt: die Lust zum Untergang, die Zerstörung von Psyche und Umwelt, die Ausrottung der Natur. Am meisten mißverstanden wurde seine Besessenheit durch den Tod. Ein ganzes Stück, Die Befristeten (1952), hat er gegen den Tod geschrieben. Es ist sein unbekanntestes Werk und war ihm selbst doch das wichtigste: „Wie bei keinen anderen Werk in meinem Leben“ – so hat er sich mir gegenüber im Gespräch geäußert – „habe ich mir für dieses die weiteste Verbreitung in allen Ländern und Sprachen gewünscht. Mein heimlicher Ehrgeiz dabei war, daß alle Leute auf diese Weise über den Tod und die Einstellung zum Tod erfahren.“ In seinem Werk erkennt Canetti den Tod nicht an, weil dies hieße, sich der Macht zu beugen. Im Tod verkörpert sich für ihn alles Böse, alles Übel, weil er alle Unterschiede gleichmacht. Seine 75


Zum Tod von Elias Canetti

Tod-Feindschaft kennzeichne ihn, so hat es Susan Sontag in ihrem glänzenden Essay gesagt, als einen unverbesserlichen, bestürzten Moralisten, aber auch als einen unerbittlichen Don Quixote. Als ich die Nachricht von Canetti Tod hörte, fiel mir als erstes ein Aphorismus von ihm ein: „Vielleicht ist jeder Atemzug von dir der letzte Hauch eines anderen.“ Als eine archaische, selbst schon mythische Gestalt ragte Canetti in die Literatur der Postmoderne – ein sprachbegeisterter Schriftsteller, ein universaler Denker, dem die Menschen so wichtig waren wie die Worte. Denn der Beruf des Dichters bestand für ihn in der Kraft zur Verwandlung, in der „Verantwortung für das Leben, das sich zerstört, und man soll sich nicht schämen zu sagen, daß das diese Verantwortung von Erbarmen genährt ist.“ Frankfurter Rundschau

76



Henri Chopin


* 18. Juni 1922 (Paris, Frankreich) + 3. Januar 2008 (Paris, Frankreich)


Zum Tod

Klangtheater Körper von Michael Lentz

Zum Tod des französischen Lautpoeten Henri Chopin »Eclater la page«, die Buchseite sprengen, lautete ein Schlachtruf, dem der große visuelle Poet, bildende Künstler, Experimentalfilmer und Lautdichter Henri Chopin bis zu seinem Lebensende treu geblieben ist. Er, der mehr als ein Dutzend Theaterstücke geschrieben hat, eine sehr eigenwillige Darstellung der Geschichte der Lautpoesie (»Poésie sonore internationale«, 1979) und viele Essays und Streitschriften, hilft den Buchstaben als Schriftmedium für überholt, und so sollte seine »poésie sonore« ausschließlich für und durch das Tonband gemacht sein. In einem Interview äußerte er: »Als ich in den frühen Fünfzigern das Tonbandgerät entdeckte, war es ein totaler Schock! Zu dieser Zeit war Poesie eine geschriebene Form, und sobald ich mit Tonbandaufnahmen meiner Poesie begann, fand ich das Schreiben sehr inadäquat.« Spektakulär und hierzulande denen unvergessen, die ihn zum Beispiel beim Berliner Poesiefestival 2003 der literaturwerkstatt erleben konnten, sind seine Live-Auftritte, die er als Stimmkünstler und Tonbanddirigent seiner »poésie sonore« inszenierte. Das Magnetophon hatte für ihn schon fast kultische Funktion; er ist ihm als Aufnahme und Klang veränderndes Kompositionsmedium von 1955 an bis zuletzt treu geblieben, auch im Zeitalter der Digitalisierung. 80


von Henri Chopin

Das stimmliche Artikulationsspektrum erweitere Chopin durch die elektroakustische Verarbeitung eigener Körpergeräusche wie etwa Herzschlag, Geräusche der Luftröhre, der Bronchien, des Magens, indem er (kleine) Mikrophone in den Mund und die Luftröhre einführte oder sie ganz verschluckte. Den Körper verstand er als tönende Fabrik, seine elektroakustische »Poesie sonore« als Klangtheater des Körpers. Das Mikrophon diente ihm als akustisches Mikroskop, mit ihm unternahm er Entdeckungsreisen im Kosmos ungehörter Klänge. Geradezu enzyklopädisch mutet das über 35 Minuten lange Audiogedicht »Le Corpsbis« (1981/83) an. Am 18. Juni 1922 in Paris geboren und unterbrochen von Aufenthalten in England auch dort lebend, war Chopin eine durch seine Herausgeberschaften (u. a. »Revue Ou/Cinquième Saison«) zentrale und nie um Polemiken verlegene Schlüsselfigur der Nachkriegsavantgarden. Ein großer Verdienst im Zusammenhang mit seiner Zeitschrift »Ou« war es, den Dadasophen Raoul Hausmann 1956 in Limoges aufzusuchen und mit ihm Tonbandaufnahmen seiner Lautgedichte zu machen. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Henri Chopin am 3.Januar in Paris gestorben. Frankfurte Rundschau

81


Merce Cunningham


* 16. April 1919 (Centralia, USA) †26. Juli 2009 (New York City, USA)


Zum Tod

Es gibt keine festen Punkte im Raum von Wiebe Hüster

Er war der große Erfinder und Vollender des modernen Tanzes im zwanzigsten Jahrhundert: Zum Tode des Choreographen Merce Cunningham Dass der Tanz im zwanzigsten Jahrhundert seine maßgebliche Stellung im Reigen der Künste einnehmen könnte, lag an dem beeindruckenden Kanon herausragender Werke, den eine kleine Handvoll von Choreographen schuf. Die Ballets Russes, mit denen alles begann, einmal außen vor gelassen, waren das Frederick Ashton in London, sowie George Balanchine und Merke Cunningham in New York. Wenn Ashton Anna Pawlowa als seinen Leitstern begriff, dem Tanz ihre leichtfüßige Quecksilbrigkeit verlieh und aus dem Zauber des neunzehnten Jahrhunderts die Fähigkeit entwickelte, Tragödien wie Komödien in Bewegung zu erzählen wie niemand sonst; und wenn Balanchine, der auch ein großer Dramatiker war, mit Strawinsky an seiner Seite eine letztgültige Synthese der Musik und des Tanzes von geradezu barocker Ordnung erreichte – so revolutionierte Merce Cunningham nicht nur den Tanz als Technik, sondern zugleich, mit John Cage und Robert Rauschenberg als Mitstreiter, das Verhältnis der Bühnenkunst zueinander. 84


von Merce Cunningham

Musik, Tanz und Ausstattung entstanden bei ihm unabhängig voneinander und wurden erst bei der Generalprobe, oft auch erst bei der Premiere zusammengeführt. Von dieser Aufregung, dem Gefühl, etwas ganz Neuem, Nie-Erlebtem beizuwohnen, war darum jede Uraufführung der Merce Cunningham Dance Company gekennzeichnet. Die Dissonanzen, aber auch die überraschenden Koinzidenzen sorgten für Spannung, aber auch für ihre Abfuhr, den Witz. Denn auch davon waren Cunninghams Stücke voll: Nicht-erzählerisch-abstrakt, wie sie waren, schufen sie doch Situationen auf der Bühne, die nichts weniger als poetisch waren: hier ein Solo in verschwenderisch-solipsistischer Schönheit und Isolation, dort Begegnungen, zwischen zweien, dreien, oder vieren, die die Tänzer mit Virtuosität für eine Weile zusammenschmiedeten, als könnte nur der Tod sie scheiden, um sie dann wie einen Schwarm Vögel unversehens auseinanderwehen zu lassen. Mit Merce Cunningham, der in der Nacht des 26. Juli zu Hause in New York gestorben ist, verliert die Welt nicht nur einen Choreographen, dessen Tänze zu den überwältigendsten und schönsten unserer Zeit zählen, sondern im Grunde den letzten Heroen der Moderne. John Cage, der musikalische Direktor der Merce Cunningham Dance Company von der Gründung 1953 an, starb bereits 1992, Robert Rauschenberg, der von 1953 bis 1964 der künstlerische Direktor des Ensembles war, im Mai vergangenen Jahres. Diese Generation war die letzte, der es gegeben war, zugleich klassisch zu werden und revolutionär zu bleiben. Nie, nicht einmal auf Cunninghams letztes Stück „Nearly Ninety“, das zu seinem neunzigsten Geburtstag am 16. April in der New Yorker Brooklyn Academy of Music uraufgeführt wurde, konnte man auf seine Werke Begriffe wie „Spätphase“ oder „Alterswerk“ anwenden. Der Künstler Cunningham tat, was er tag, einfach sein Leben lang, nicht aus persönlichem Ausdrucksbedürfnis heraus. Es ging ihm immer nur um die schier unerschöpflichen Möglichkeiten des menschlichen Körpers, sich im Tanz zu bewegen. Deshalb erkannte er früh mit und durch John Cage, welche Chancen in der Anwendung der „Chance procedures“, der Zufallsprozeduren, lagen. Cunningham verwendete Karten, Würfel und das chinesische Buch der Verwandlungen, das „I-Ging“, um Entscheidungen etwa über die Anzahl der Tänzer, ihre Auf- und Abtritte 85


Zum Tod

oder die Dauer und Reihenfolge ihres Erscheinens, unabhängig von Idiosynkrasien, zu treffen. Choreographische Konventionen sollten gar nicht erst entstehen, auch ging es nicht darum, persönliche Empfindungen ausdrücken. In dieser Technik liegt – ohne die Wirkung der Werke zu schmälern, die Kosig oder David Tudor und Künstler wie Rauschenberg, Jasper Johns, Frank Stella, Andy Warhol oder Roy Lichtenstein für Cunningham schufen – der Schlüssel zu der unglaublichen Faszination der Arbeiten Cunninghams. Als Balanchines Impresario Lincoln Kirstein seiner Verwunderung darüber Ausdruck verlieh, dass der bei Martha Graham als Tänzer beschäftigte junge Merce an seiner „School of American Ballet“ Unterricht nahm, sagte diese nur: „Ich mag alle Arten von Tanz.“ Von der klassischen Schulung stammt Cunningshams einzigartig brillante Fuß- und Beinarbeit. Neu bei ihm war, wie er deren ohnehin trickreiche Schrittfolgen mit erfundenen Oberkörperbewegungen kombinierte: „Arch“, „Twist“ und „Turn“, die Hebung des Dekolletés zur Decke, das Drehen und Kippen des oberen Torsos mit entsprechenden Armhaltung. Das auszuführen ist eine Frage der Körperintelligenz – sie so zu trainieren, dass man etwa eine Arabeske auf halber Spitze mit zur Decke emporgehobenem Dekolleté und Kopf halten kann, dauert Jahre. So war Cunningham, selbst einer der technisch vollkommensten und fesselndsten Tänzer seines Jahrhunderts – und bis in seine achtziger Jahre eine atemberaubende Erscheinung auf der Bühne –, auch der Erste, der den modernen Tanz mit klassischer Virtuosität verband. Nichts ist bis heute schwerer zu tanzen. Um die Kombinationsmöglichkeiten noch und noch zu erweitern und auch, um seine durch Arthritis eingeschränkte Bewegungsfähigkeit auszugleichen, begann der Choreograph 1989, mit dem Computerprogramm Life Forms Tänze zu entwickeln. Viel Gelächter im Studio entsprang Situationen, in denen die Tänzer daran scheiterten, ihre virtuellen Modelle nachzuahmen. Dann wurde die Sequenz menschlichem Maß angepasst. „Biped“ hieß schließlich das berührende Stück, in dem reale Tänzer ihren virtuellen Kollegen – mit „Motion Capture“ aufgenommenen 3-D-Projektionen – auf der Bühne begegneten. Cunningham wäre nicht Cunningham gewesen, hätte er nicht 86


von Merce Cunningham

alle in der Luft liegenden Anregungen aufgegriffen und in sein Werk einfließen lassen. Die Technik war einer dieser Inspirationsquellen. Aber natürlich war er auch insofern ein Kind der Moderne, als ein Blick aus dem Fenster auf eine belebte New Yorker Straßenkreuzung ihm vorführte, wie Einsteins Satz „There are no fix points in space“ choreographisch umzusetzen wäre. Die Zentralperspektive war uninteressant geworden. Rhythmisch interessant hingegen wurde der natürlichen wie zivilisatorischen Phänomenen abgeschaute Wechsel zwischen Adagio und Allegro, zwischen Stopps und Bewegung. Die Natur hat über viele seiner Stücke ihren Zauber gelegt – über „Summerspace“ (1958), „Rain Forest“ (1968), „Beach Birds“ (1991), „Ocean“ (1994) und „Pond Way“ (1998). Zuletzt saß er bei den Proben in einer Ecke des Studios auf einem Liegesessel in einem kleinen Dschungel aus Grünpflanzen. Geboren als Rechtsanwaltssohn Mercier Philip Cunningham in Centralia, Washington, choreographierte er zwanzig Jahre für Künstler und Insider, bis er 1964 aus London endlich den Weltruhm mitbrachte, was ihn, den bescheidenen, liebenswürdigen Buddhisten, nicht ein Quentchen veränderte. Aber dafür, wie er unsere Welt verändert hat, gebührt ihm unendlicher Dank. Frankfurter Allgemeine Zeitung

87


Hilde Domin


* 27. Juli 1909 (Köln, Deutschland) † 22. Februar 2006 (Heidelberg, Deutschland)


Zum Tod

Außerhalb jeder Regel von Marcel Reich-Ranicki

Mit der Kraft zum Optimismus: Über die unbeirrbare Dichterin Hilde Domin Hilde Domin war - wie sie selber freimütig feststellte „außerhalb jeder Regel“. In der Tat ist sie mit anderen deutschen Dichterinnen unserer Zeit nicht vergleichbar, immer ging sie ihren eigenen Weg, trotzig und eigensinnig. Sie hat zur Fortsetzung und Intensivierung unseres Gesprächs über die Literatur viel beigetragen - mit Essays zur Theorie der Dichtung und mit wichtigen Anthologien, mit temperamentvollen Ansprachen auf Kongressen und auch, nicht selten, mit heftigen Leserbriefen. Doch vor allem war Hilde Domin Lyrikerin. Wo ist ihr Platz in der Geschichte der deutschen Literatur? Wir haben in der Poesie drei große Ströme - den feierlichen, priesterlichen, sakralen von Hölderlin bis zu Stefan George und Paul Celan und den weltlichen und rationalen, der der Logik mehr als den dunklen Trieben verbunden war, den Strom also, für den Schiller und Heine stehen und Brecht. Goethe übrigens gehört hierhin und dorthin, er vereint (wie kein anderer) beide Ströme. Und Hilde Domin? Sie hatte im Leben ungewöhnliches Glück: Sie hat in ganz jungen Jahren Erwin Walter Palm kennengelernt und mit ihm 90


von Hilde Domin

beinahe ihr ganzes Leben verbracht. Er war ein glänzender Kenner der Literatur, ein Archäologe und Kunsthistoriker und ein vorzüglicher Berater der Gattin, auf die er bisweilen sanft bremsend zu wirken vermochte. Und zweitens: Die Jüdin Hilde Domin hatte das Glück, die Zeit des „Dritten Reiches“ geradezu in einem Paradis zu verbringen. Sie lebte in einer fremden Welt, in der sie aber schreiben, dichten und lehren konnte. Sie war Lektorin an einer Universität in der Dominikanischen Republik. Was schrieb Hilde Domin im Exil, wo si zu dichten anfing? Ihre früheste Poesie ist Widerspruch und Widerstand, Prüfung und Protest, Revision und Rebellion. Nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland bleibt ihre Dichtung Widerspruch und Rebellion - gegen Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit, gegen Opportunismus und Konformismus. Sie ließ sich nicht beirren, sie hatte die Kraft zum Optimismus. In ihren besten Gedichten verband sie die Vorliebe für die knappe und prägnante, die schmucklose und weitgehend auf Metaphern verzichtende Sprache mit gedanklicher Klarheit. Hilde Domains Poesie ist kühl und ruhig und auf eindrucksvolle Weise souverän, was nicht immer für ihre Prosa gilt. Auch diese ist hochherzig, doch neigt sie bisweilen zu jener Euphorie, die nicht jedermanns Sache ist. Falsch und bedauernswert ist es, daß man Hilde Domin oft auf Protestgedichte festgelegt hat. Man sollte ihre vor vierzig, ja fünfzig Jahren entstandenen Liebesgedichte nicht vergessen. Wie auch immer: Zur sakralen, zugpriesterlichen Dichtung gehörte sie nie. Und nicht vergessen sollte man, was für Hilde Domin das „Jude-Sein“ bedeutete - keine Glaubensgemeinschaft und keine Volkszugehörigkeit, vielmehr eine Schicksalsgemeinschaft: „Ich habe sie nicht gewählt wie andere Gemeinschaften. Ich bin hineingestoßen worden, ungefragt wie in das Leben selbst.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

91


Zum Tod

Dem Wunder die Hand hinhalten von Harald Hartung

Eine Mutmacherin, nobel, zart und energisch: Zum Tod von Hilde Domin Hilde Domin hat ein wahrhaft biblisches Alter erreicht. Es war ein wahrhaft gesegnetes. Gesegnet bis zuletzt, bis zum unerwarteten Tod der Sechsundneunzigjährigen am Mittwoch, durch Gesundheit und geistige Frische. Wer sie auch nur flüchtig kannte, staunte darüber, wie sie ihre, freilich spärlich werdenden, Auftritte absolvierte und bei Diskussionen mithielt. Klar, pragmatisch und mit einer Vernunft des Herzens. Vor allem aber vergessen wir nicht, daß noch die Neunzigjährige einen Gedichtband vorlegte, der sie auf der Höhe ihrer Kunst zeigt. Sein Titel: „Der Baum blüht trotzdem“. Es war ein alt-junger Baum, der blühte und Früchte trug. Manche Zeilen in diesem wundersamen Spätbuch glimmen wie Phosphor, andere wirken frisch und grün. Kein Zweifel: Es war ein Buch des Abschieds. Des eigenen Abschieds, vor allem aber des Abschieds von dem, was ihr lieb war. Das schönste und anrührendste Gedicht steht gleich am Anfang. „Mein Herze“, beginnt es. Nicht: Mein Herz. Wann hat ein kleines e soviel Charme, soviel Zärtlichkeit entfaltet? So beginnt das erste von drei Abschiedsgedichten, die Hilde Domin ihrem 1988 gestorbenen Mann Erwin Walter Palm gewidmet hat: „Mein Herze / wir sind 92


von Hilde Domin

verreist / nach verschiedenen Weltteilen.“ Die Dichterin sieht sich als Eurydike: „Ich komme hinter dir her.“ Der Weggefährte ermahnt sie: „‚langsamer‘, sagst du wie immer / ‚Sei langsam.‘“ Daran hat sich die Schreiberin gehalten. Bereits im Oktober 1932 waren der Archäologiestudent Palm und die 1909 in Köln geborene Tochter eines Jüdischen Rechtsanwalts nach Italien gegangen. Die jungen Leute heirateten 1936, und Hilde Palm promovierte über die Staatstheorie der Renaissance. Dann, nach einem kurzen Englandaufenthalt begann das eigentliche Exil, zwölf Jahre Santo Domingo, verbracht im Windschatten der Trujillo-Diktatur. 1954 kehrten die Palms nach Deutschland zurück, 1961 wurde Heidelberg der Ort von Leben und Arbeit. Hans-Georg Gadamer der Freund, hat Hilde Domin die „Dichterin der Rückkehr“ genannt. Es war eine Rückkehr in die Sprache. Wie prekär sie in den frühen Nachkriegsjahren war, zeigt der Titel ihres ersten Gedichtbandes „Nur eine Rose als Stütze“(1959). Er wurde gleich ein außerordentlicher Erfolg. Wenige Dichter sind von ihrem Publikum so geliebt worden. Geliebt wegen der so zarten wie kräftigen Gedichte. Geliebt auch wegen der Art, wie die Autorin auf ihr Publikum zuging, freundlich und energisch zugleich. Hier gab es eine Autorin, die ihre Gedichte als magische Gebrauchsgegenstände begriff, „die, wie die Körper der Liebenden, in der Anwendung erst richtig gedeihen“. Hilde Domins Gedicht ist nie wirklich schwierig, keines aber ganz ohne Geduld zu lesen. Ihre Lyrik hob in glücklichen Momenten die Unvereinbarkeit von Artistik und Engagement auf. Das zeigen die „Gesammelten Gedichte“ von 1987, das zeigt der Abschiedsband „Der Baum blüht trotzdem“. So wuchs über die Jahre der Ruhm, wurde die Dichterin in vielen Sprachen übersetzt und durch viel Preise und Auszeichnungen geehrt. All das werden die Leser Hilde Domins nicht vergessen. Vor allem aber wird uns ihre noble wie zarte Gestalt in Erinnerung bleiben. Hilde Domin war eine große Mutmacherin. In einem ihrer späten Gedichte beschwört sie sich und uns zugleich, nicht müde zu werden. Wir sollen vielmehr heißt es da, „dem Wunder / leise / wie einem Vogel, / die Hand hinhalten“. Frankfurter Allgemeine Zeitung

93


Friedich D端rrenmatt


* 5. Januar 1921 (Konolfingen, Schweiz) + 14. Dezember 1990 (Neuenburg NE, Schweiz)


Zum Tod

Im Labyrinth von Jürgen Peters

Zum Tod von Friedich Dürrenmatt Das Personal: Richter, Henker, Militärs, Idioten, Krüppel. Die hat er in Tunnel getrieben, in Labyrinthen ausgesetzt, vor Tribunale gestellt. Sein Stoff: die eigne Biographie. Aber, er hat das Kunststück fertiggebracht, das Biographische nicht auszustellen, er hat es literarisch, zeichnerisch verwertet. Er hat so eine große Anzahl von Konstellationen und Figuren vor unsere Augen gesetzt, in unsere Köpfe geworfen, die ihn lange überleben werden. Die Alte Dame sucht Güllen heim. Dürrenmatt hatte ein Faible für Große Rächer, für große Katastrophen, für das Chaos. Seine Stoffe fanden nach Hollywood, sie sind integraler Bestandteil des deutschen Schulunterrichtes. Dieser große Schriftsteller war eine Institution. Er war immer für eine Überraschung gut. Er hat eine Irrenanstalt auf die Bühne gebracht – Die Physiker (1962) –, er hat Romane vorgelegt, die – Justiz (1985), Durcheinandertal (1989) – von der Kritik gnadenlos verrissen wurden. Zu Unrecht. Man hat ihm Mangel an handwerklichem Professionalismus vorwerfen wollen. Man hat ihm angekreidet, er wiederhole sich. Da war was dran. Dürrenmatt hat nur ein Thema gekannt: seine Arbeit. Er war ein Profi – des Theaters, des Erzählens –, aber er hat nie geltende Standards akzeptiert. Er war, gerade in ästhetischen Fragen, immer gern ein Spielverderber. Hatte ihn einmal einer tatsächlich rangekriegt wie der Filmproduzent (Es geschah am hellichten Tag [1958]), hatte er also ein Drehbu96


von Friedrich Dürrenmatt

ch abgeliefert mit einem regelrechten Happy-End – Heinz Rühmann taucht auf in letzter Sekunde und rettet das Meitschi, das wir schon von Gert Fröbe hingemacht sahen mit Hilfe eines Rasiermessers – so rächte er sich, auch an sich selber, indem er den Roman dem Drehbuch nachlieferte: Der Verdacht. Und schon war er, waren wir wieder in Dürrenmatts own country. Der im Film reibungslos erfolgreiche Kommissär wird nun von Dürrenmatt lebenslang strafversetzt in die Provinz. Der Fall ist unlösbar. Kriminalfälle sind überhaupt kaum lösbar. Das haben sie mit dem Leben gemeinsam. Dürrenmatt hat sein Leben lang gern Gegenrechnungen aufgemacht. Seine Kriminalromane wollen die Gattung Kriminalroman widerlegen, sein Theater will die Dimensionen des herkömmlichen Theaters sprengen. Aber, die Stadttheater haben ihn geliebt, bis hin zu Achterloo (1983). Dürrenmatt hat sich in seinen Schriften zum Theater (1966) mit Schiller auseinandergesetzt, er hat den als deutschen Sonderfall bewundernd abgetan. Dabei waren die beiden sich näher, als er es hat wahrhaben wollen, beide waren vernarrt in grelle Effekte, für beide galt der nun schon zum Sprichwort gewordene Satz Dürrenmatts, nach dem eine Geschichte erst dann „zuende gedacht“ sei, wenn sie ihre „schlimmstmögliche Wendung genommen“ habe. Sein Urteil über Grabbe hätte mich interessiert. Hitchcock hätte ihn verfilmen sollen; schon wegen des Romans, den Dürrenmatt nachgeliefert hätte. Schiller und Brecht. Beide negative Fixsterne. Bei Brecht hat ihn die Botschaft gestört, dieser Glaube hat ihm gefehlt; jeder Glaube. Das ist bei einem gelernten Pfarrerssohn nicht überraschend. Ein Skeptiker, der die Wahrheit geliebt hat. Der wusste, daß es die Wahrheit nicht gibt. Daher seine lebenslange Sucht, den Konsens zu stören. Das Alter macht nicht weise, die Justiz ist nicht an Gerechtigkeit interessiert, das Christentum hat niemanden erlösen können, und überhaupt die Schweiz. Seine Schweiz wurde für ihn, dann für uns zum Modell der westlichen Welt. Untertunnelt, korrupt, voll der schönen Phrasen und Nummernkonten. Und schließlich immer eine wunderschöne Katastrophe, ein Untergang. Grimmig. Realistisch. Wenn aber ein Untergang zur etablierten Lehrmeinung gehörte – wie der Roms –, dann hat Dürrenmatt auch den umfunktioniert. Romulus der Große (1949), Roms beklagenswerter letzter Kaiser, war 97


Zum Tod

in Wahrheit einer, der diesen Untergang systematisch geplant und professionell ausgeführt hat. Man hat Dürrenmatt häufig für einen Satiriker halten wollen, für einen Querulanten, einen, der mit Entsetzen Scherz treibt. Das war ein Irrtum. Er hat in seinen Stoffen dargestellt, daß es ihm immer bitterernst war, daß er wortwörtlich verstanden werden wollte. Er war kein Spieler. Er war auch an Fragen der Ästhetik mäßig interessiert; er hat die Literaturwissenschaft aus gutem Grund und natürlich folgenlos gemahnt, ihr eigentliches Thema – die Probleme des schriftstellerischen Handwerks – endlich bedenken zu wollen. Dürrenmatt war ein genialer Handwerker, der Zeit seines Lebens immer wieder an einigen wenigen Prototypen gebosselt hat. Immer wieder große Fassungen letzter Hand. Er hat sich mit seinen Stoffen entwickelt, sein Personalstil blieb sich seit seiner ersten Veröffentlichung gleich. Der hat ihn wenig interessieren wollen. Gefesselt war er von seiner Vorstellung der Welt. Die Welt als Labyrinth, das Labyrinth als Welt; so sah es aus, seit der pubertierende Dürrenmatt in die Großstadt verschlagen wurde. Verstehbar zu machen, daß es wirklich nicht zu verstehen ist, blieb sein Thema. Lebenslänglich. Es wird unser Thema bleiben. Lebenslänglich. Frankfurter Rundschau

98



Axel Eggebrecht


* 10. Januar 1899 (Leipzig, Deutschland) + 14. Juli 1991 (Hamburg, Deutschland)


Zum Tod

Axel Eggebrecht ist Tod von Annette Rogalia

Der zornige alte Mann des Rundfunks In Tucholskys ’Weltbühne’ fing er an, gehörte 1945 zu denen, die in Hamburg den Rundfunk aufbauten, und wurde Lehrer einer ganzen Generation kritischer Journalisten. Am Sonntag starb Axel Eggebrecht 92jährig an den folgen eines Sturzes. Jede Biografie werde erfunden, konstatiert er gleich zu Beginn seiner eigenen und mahnt zur Vorsicht vor der „Mischung aus Größenwahn und falscher Demut“. Vielen wurde Der halbe Weg, die Autobiographie Eggebrechts, zum Bericht über ein exemplarisches Leben. Eggebrecht wächst als Bürgerkind im Kaiserreich auf. Mit 18 Jahren geht er in den Krieg, genießt ihn als Abenteuer. Daran ändert auch rückblickend seine schwere Verwundung nichts. Zurück in Leipzig studiert er Germanistik und Philosophie, bricht das Studium aber nach vier Semestern ab. Schlägt sich als Packer, Bücherbote, und Regieassistent durch die Nachkriegswirren. in einer Studentenkompanie beteiligt er sich am Kapp-Putsch. Als er sieht wie eine Horde Rechtsradikaler die Tür einer Schneiderei einschlägt und den Inhaber mit Kolbenschlägen vor sich her schiebt, wirft er sich blindlings dazwischen: „Mich packt die rasende Wut, ich stoße die Peiniger weg, sie umringen mich, gleich wird es mir übel ergehen.“ Eggebrecht wird zum Pazifisten. Fasziniert vom puritani102


von Axel Eggebrecht

schen Ethos der Idee des Klassenkampfes tritt er der KPD bei. In der Partei macht er eine Blitzkarriere. Für Willi Münzenberg geht er nach Moskau, ein Jahr bleibt er dort. Der 5. Weltkongress der Komintern enttäuscht ihn. Lenin ist tot Trotzki kaltgestellt, im Hintergrund wartet Stalin auf eine Chance. Die Weltrevolution wird vertagt, die meisten deutschen Delegierten kuschen. Verzagt kehrt Axel Eggebrecht nach Deutschland zurück. In Berlin unternimmt er erste Schreibversuche. Siegfried Jacobsen wird sein Mentor, zeigt ihm den Weg zur ’Weltbühne’. De Schreibunerfahrene leidet unter Versagensängsten, fürchtet, sich zu blamieren, obgleich „Tucho findet, daß Sie schreiben können“ (Jacobsen). Er tippt, verbessert, kürzt, bleibt viel zu lang, wirft alles um, fängt von vorn an. Dann, am 16. Juni 1923, steht sein erster Text in der ’Weltbühne’: Die Russische Wirklichkeit. Bald zieht Eggebrecht mit seinem journalistischen Bauchladen durch alle großen liberalen Tageszeitungen, veröffentlicht in der Literarischen Welt, erste Bücher erscheinen, 1927 sein Prosaband Katzen, zwei Jahre später der Roman Leben einer Prinzessin. Gelegentlich spricht er im Rundfunk. Eine hoffnungsvolle Karriere zeichnet sich ab. Doch der Nationalsozialismus zieht herauf und verschlingt die Weimarer Republik. Der Kampf gegen den Faschismus wird fortan Eggebrechts Lebensinhalt. Mit Kollegen organisiert er einen Selbstschutz gegen den NS-Terror. Wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung wird Eggebrecht verhaftet, nur mit einer gehörigen Portion Glück kommt er aus dem Konzentrationslager frei. Bis 1935 ist es verboten, Eggebrecht zu veröffentlichen. Dann darf er sich als Autor unpolitischer Filmbücher durchschlagen. So unsägliche Schinken wie Bel Ami oder Wiener Blut finden sich darunter, beides Willi-Forst-Filme. Die Folgen seiner Verwundung retten ihn vor einer Einberufung zum Krieg, selbst vor dem Volkssturm. Die Briten ziehen in Hamburg ein, besetzen das Funkhaus an der Rothenbaumchausee und suchen engagierte Mitarbeiter. Eggebrecht gehört zu den Gründungsmitgliedern des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR). Bis 1949 darf er die Abteilung „Woher“ leiten. Aufklären mittels intensiver Ansprache – das und nur das ist sein Ziel. Kollegen von damals geraten noch heute in Schwärmen. In den 60er Jahren spricht Eggebrecht jeden Sonntagnachmittag 103


Zum Tod von Axel Eggebrecht

zur besten Sendezeit um halb sechs über Gott und die Welt auf der populäre Welle von NDR 2. Eine viertel Stunde kommentiert er das Zeitgeschehen. Sein damaliger Chef, Wolfgang Jäger, erinnert sich: immer vertrat er einen außerordentlich gezielten Standpunkt. Auch wenn ich ihn nicht immer teilte, kamen wir gut miteinander aus.“ Kaum jemand durfte seine Manuskripte redigieren. Jäger gehörte zu den wenigen, die die Beiträge vor Sendung zu Gesicht bekamen. Axel Eggebrecht , der scharfzüngige, der mit Worten Räder schlug. Alle, die ihn kannten, schwärmen: ein Egozentriker, aber ein fabelhafter Mensch. Obgleich befreundet und nur wenige Meter voneinander entfernt wohnend, erschien es Wolfgang Jäger als „großes Ereignis, wenn wir bei Axel eingeladen wurden“. Denn Beruf und Privatleben trennte Eggebrecht scharf voneinander. Nur in den ersten Jahren war er fest beim Rundfunk angestellt. 1950 feuerte ihn der damalige Rundfunkintendant Grimme. Axel Eggebrecht, der immer wieder zum Rundfunk zurückkehrte, gilt vor allem als Meister der freien Rede vor dem Mikrophon. Generationen von Journalisten lernten bei ihm, der eine „spezifische Rhetorik ausgebildet hat, die durch einen unermüdlichen Eros belebt wird“ (Schüler Banjo Festhing, heute NDR-Hannover) Eros, Wahrhaftigkeit, Streit – wo findet man diese Paarung heute noch? Frankfurter Rundschau

104



Raymond Federman


* 15. Mai 1928 (Montrouge, Frankreich) †06. Oktober 2009 (San Diego, USA)


Zum Tod

Wer dem Schrank entkommt, entkommt ihm nicht von Oliver Jungen

Zum Tode des avantgardistischen Schriftstellers Raymond Federman Dem Künstler Raymond Federman begegnete wohl kaum jemand ohne diese Ungeheuerlichkeit im Hinterkopf: am 16. Juli 1942 in Paris von der Mutter in einen Wandschrank gestoßen und damit vor der Deportation durch die Gestapo gerettet, zugleich aber dazu verdammt, als Vierzehnjähriger dem Abtransport seiner gesamten Familie zusehen zu müssen, die wenig später in Auschwitz ermordet wurde. Federman, der nie als Holocaust-Literat, nicht einmal als jüdischer Schriftsteller bezeichnet werden wollte, schien mit seinem lebenslangen Um- und Überschreiben dieser Urszene prädestiniert für den endgültigen Nachruf auf das Trauma des zwanzigsten Jahrhunderts. Memoiren eines Davongekommenen, urteilte die Literaturkritik pathetisch, um dann das Ermüdende der hochgradig selbstreflexiven Form zu bekritteln. Aber diese Form war kein Spaß. Davongekommen sind für Federman nur die Toten: „Ich meine, dass sie nicht mehr leiden können, 108


von Raymond Federman

wenn sie einmal tot sind.“ Es sind die Lebenden, die am Tod der Toten leiden. Aufgehoben wird das Leiden nur im Lachen: Nur „Laughterature“ ließ Federman gelten. So findet sich etwa in das Porträt eines weiteren Federman ein Gedicht namens „Museum der imaginären Ärsche“ eingeschaltet, in dem voller Enthusiasmus all der großen Hintern der Kunstgeschichte gedacht wird. Auf höchstem Niveau Selbstreflexion mit Ironie zu kreuzen machte Federman zu einem der interessantesten amerikanischen Dichter. Nichts jedenfalls geht den Hunderten Stimmen, die sich in Federman mit Federman über Federman unterhalten, so sehr am Allerwertesten vorbei wie Pathos oder Rührung. Auch das hat er wieder literarisch reflektiert. In der „Nacht zum einundzwanzigsten Jahrhundert“ tritt ein Starlet auf, dem die Geschichte eines durch Zufall dem Tod entronnenen Jungen so nahegeht („Das ist Ihre Geschichte, ich weiß es, so wie Sie das Ganze erzählen, kann es gar nicht anders sein“), dass sie den Erzähler physisch bedrängt: „Dieses Biest wollte mich aus Mitleid vögeln.“ Was sie dann auch ausgiebig tut. Und auch der „Herr eierloser Redakteur“, der die Handlung des entkommenen Judenjungen für gelungen, aber die Machart für „zu self reflexive“ hält, erhält im „Pelz meiner Tante Rachel“ (1996) den Bescheid: „Das musst du verstehen, du Trottel, wenn man sich vom Sichtbaren ins Unsichtbare verlagert, wenn man in die Unsichtbarkeit der Sprache eintaucht.“ Erst in dieser Verlagerung beginnt für Federman die Kunst. Die Form ist Abkehr von der Handlung, auch und gerade von der traumatischen Schrank-Erfahrung: „Interessant ist ihre Ausradierung, die Stornierung, die Blockade.“ Dennoch nicht loszukommen von diesem Moment, gibt dem Überleben die einzig mögliche, instabile Form. Vielleicht kann man Federmans Werk als Variationen über ein Thema verstehen. Nach seiner Übersiedelung in die Vereinigten Staaten im Jahre 1947 hat er sich in New York als Jazz-Saxophonist durchgeschlagen, bis er zur Armee eingezogen wurde und als Fallschirmspringer nach Korea kam. Es folgten Studium, Promotion über Beckett, Lehrstühle für Vergleichende Literaturwissenschaft. Als Guggenheim-Stipendiat in Frankreich Schrieb er 1966 ein Zweites Buch über Beckett und begann zugleich mit dem ersten Roman, „Double or Nothing“ (Alles 109


Zum Tod

oder Nichts), der 1971 erschien und seinen Ruhm begründete. Diese assoziativ am eigenen Leben entlanggeschriebene Erzählung quillt über vor Ideen, macht sattsam Anleihen bei der konkreten Poesie und verweigert sich der linearen Lesbarkeit, was der zweite, nicht weniger opake Roman von 1976, „Take It Or Leave It“ (Friss oder stirb), fortsetzt. Doch mit dem Rätselhaften kokettierte Federman nur kurz, kam seinen Lesern bald näher. In den Neunzigern interpretierte er das alte Thema völlig neu, wuchtig und atemlos: „Nein, das ist nicht, um ihnen guten Tag zu sagen, coucou me revoilà, dass ich in dieses Drecksland zurückgekommen bin nach zehn Jahren Amerika, zehn Jahren auf der Verliererstraße“, heißt es im Tante-Rachel-Roman. In Amerika, wo Federman bis zuletzt lebte, war es eben auch nicht einfach: Die Wohnung kam dem Erzähler ebenso abhanden wie seine „Biene“ Susan, genannt Sucette. Von Sucette stammt übrigens auch Federmans Lieblingspseudonym „Moinous“, das Wir-Ich. Dieser konjunktivistischen „Liebesgeschichte oder so was“ hatte er bereits einen eigenen Roman gewidmet, der 1986 den „American Book Award“ gewann.Wieder und wieder kreisen die weiteren, gut zwei Dutzend Bücher Federmans um das innere Schwerkraftzentrum der Versehrung durch das Böse. Jeder einzelne Lebensmoment muss dabei auf diesen Nullpunkt des Menschlichen zurückgeführt werden, für den der Schrank das Symbol geworden ist und an dem unendliche Liebe auf unendliche Kälte trifft. Zuletzt wagte sich Federman mit dem Buch „Psst! Geschichte einer Kindheit“ (2008) erstmals weiter als bis zum Moment seiner „zweiten Geburt“ in die Vergangenheit zurück, ohne dabei das Verlorene zu überhöhen. Die Toten leiden nicht mehr. In seinem Blog hat Federman bereits im Juni einen launigen Nachruf auf sich selbst verfasst. Ende Juli fügte er ein Gedicht hinzu, „final escape“. Er ahnt, dass der Tod nur eine weitere Ausflucht sein könnte: „The final escapes from the great cunts of existence“. Aber meint er das ernst mit der Endgültigkeit? Natürlich gilt auch hier das frühere Wort: „Stell dir mal vor, wie verdammt interessanter das leben doch wäre, wenn die zeit in irgendeine richtung fortschreiten würde, sogar rückwärts.“ Raymond Federman war einer der letzten Avantgardisten. 110


von Raymond Federman

Er ist jetzt im Alter von einundachtzig Jahren in San Diego gestorben. Frankfurter Allgemeine Zeitung

111


Erich Fried


* 06. Mai 1921 (Wien, Österreich) †22. November 1988 (Baden-Baden, Deutschland)


Zum Tod

Zuerst immer den Menschen gesehen von Barbara Schmitz-Burckhardt

Zum Tod von Erich Fried Irgendwann im Sommer 1983 stand im englischen „Guardian“ eine kleine Meldung: Auf dem West-Berliner TheodorHeuss-Platz hatte sich ein Mann, ein Penner, auf der „ewigen Flamme“ seine Erbsensuppe warmgemacht. Der Mann war festgenommen worden, wahrscheinlich wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“. Am Morgen dieser Zeitungsnotiz saß ich mit Erich Frieds Frau Catherine in der Küche seines Hauses in der Londoner Dartmouth Street. Ich hatte kurz zuvor ein Interview mit ihm gemacht, wir kannten uns kaum, aber wie jeder, der in den Bannkreis der grenzenlosen Friedschen Gastfreundschaft geriet, war ich jederzeit unkompliziert willkommen. Fried erschien, noch im Morgenrock, in der Küche, in der Hand zwei Zettel mit Gedichten, die er gleich nach dem Aufwachen geschrieben hatte. Was ich davon hielte, ob die Fußnote (Fried, der Aufklärer, liebte Fußnoten) bei dem einen Gedicht nicht vielleicht doch überflüssig sei, fragte der Dichter mit den höchsten Buchauflagen eines Lyrikers der Nachkriegszeit. Dann stieß er auf die Meldung im „Guardian“. Der Morgenkaffee wurde kalt, Fried telefonierte: mit einem Anwalt, mit Amtsper114


von Erich Fried

sonen in Deutschland, die er kannte. Der Penner in Berlin, dem „Guardian“ acht Zeilen als Kuriosität wert, setzte Frieds unermüdlichen und lustvollen Trieb in Gang, sich einzumischen, zu intervenieren. Der lebendigste Mensch, der sich denken läßt, und damals schon ein todkranker Mann: seinem langjährigen Krebsleiden erlag Erich Fried am Dienstag in einem Baden-Badener Krankenhaus. Der kleine Vorgang ist auf zweierlei Art bezeichnend für den Dichter und Menschen Erich Fried (und sicher kann jeder seiner vielen Hausgäste ähnliches erzählen). Er zeigt, neben der erstaunlichen sozusagen omnipräsenten Produktivität Frieds (Hans Mayer nannte das seinen „Ausdruckszwang“), die Umstandslosigkeit, das ganz Uneitle von Frieds Dichtertum. Um ihn war kein Elfenbeinturm, und jede Art von auratischem Gemäuer wäre von ihm auch als äußerst störend empfunden worden bei seiner unersättlichen Lust auf die direkte Begegnung mit Menschen. Schreiben und Leben waren für Erich Fried nie getrennte Bereiche. Der zweite Teil der Geschichte rückt gerade, was Fried für viele zu einem Ärgernis machte: er war ubiquitär. Kein Kongreß, keine Solidaritätsveranstaltung, auf der Erich Fried gefehlt hätte. Er kam, wohin man ihn rief. Wenig politische Ereignisse blieben von ihm (lyrisch) unkommentiert. Seine Gegner, und er hatte viele, legten ihm den Drang, überall mitzumischen, gerne als Wichtigtuerei aus. Wer Fried erlebt hat, weiß, daß der Mann böser nicht zu verkennen war. Fried war wenig mit sich selber befaßt, um so heftiger mit den anderen. Der Penner (dessen anarchische Respektlosigkeit) war wichtig. Wenn etwas zu tun war: Fried tat es, sofort, unbemerkt von der Öffentlichkeit oder skandalträchtig hörbar wie bei seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1987, eine Gelegenheit, die er nicht verstreichen lassen konnte, ohne auf die Vertreibung der Roma aus der Büchner-Stadt Darmstadt aufmerksam zu machen, auf den fortdauernden Skandal der Behandlung Peter-Jürgen Boocks durch die deutsche Justiz, auf Mißachtungen des Humanen, gegen die er immer wieder und hier im Namen Büchners protestierte. Ob es seine Freunde, und er hatte viele, verstanden oder nicht. Viele, die ihm folgen konnten, als er Ulrike Meinhof „die größte deutsche Frau seit Rosa Luxemburg“ nannte, waren entsetzt, als er sich für den Neo-Nazi Michael Kühnen einsetzte. Gefolgschaft 115


Zum Tod

wie wütende Abkehr basierten auf einem Mißverständnis: Fried war kein Ideologe. Den mörderischen Strategien Ulrike Meinhofs galt sein Beifall nicht, die abstrusen Polit-Vorstellungen des sehr jungen Neo-Faschisten waren ihm natürlich zuwider. Aber beiden bescheinigte er „subjektive Ehrlichkeit“. Fried sah immer zuerst und zuletzt den Menschen, und im Menschen sah er das Kind, das einmal war und durch unmenschliche Verhältnisse deformiert wurde. Gegen diese Verhältnisse rannte er an. Seine unerschütterliche Menschenliebe machte nicht einmal vor den Repräsentanten der Systeme halt, die er bekämpfte. Der jüdische Emigrant, dessen Vater von der Gestapo erschlagen wurde, konnte lange und einfühlsam erklären, Warum Hitler das wurde, was er war. Der von der Geschichte des Hasses Gezeichnete war selber unfähig zum Haß. Es war nicht Altersweisheit, die Erich Fried zum mitfühlenden Verständnis, zum „Sympathisanten alles Lebendigen“ machte (nie dämpfte ja auch das Alter seine Lust am Kampf, seinen gerechten Zorn). Es war seine Konstitution. Gleich nach dem Krieg schrieb der Endzwanziger einen Roman, seinen einzigen. „Ein Soldat und ein Mädchen“ hat ein, angesichts der Zeitumstände, angesichts des Autors persönlicher Situation, schier skandalöses Thema, die Liebesgeschichte zwischen einer zum Tode verurteilten KZ-Aufseherin und einem aus dem Krieg zurückgekehrten Juden. Schon hier besteht Fried, jenseits von Schuld und Sühne, auf der Möglichkeit zur Liebe, die er in jedem Menschen angelegt sah. Der Agnostiker, Vater von sechs Kindern, ließ sich nicht davon abbringen, daß der Mensch von Anfang an gut, nämlich liebesfähig sei. Daß das Gute, die Liebe, die Wärme erstickt wurde in einer Welt, die Fried als kalt und ungerecht erlebte, machte seinen hitzigen Zorn aus, der der Motor seiner Arbeit war. Sein Handwerkszeug war die Sprache. 17jährig emigrierte der am 6. Mai 1921 in Wien geborene Jude nach der Ermordung seines Vaters nach England, um „ein deutscher Dichter zu werden“. Die fortdauernde Sprachisolation schenkte ihm jenen „fremden Blick“ auf die eigene Sprache, der sein lyrisches Schaffen unverwechselbar und stilprägend machte. In seinen schönsten Gedichten werden Worte so lange gewendet, bis sie zu einem ungeahnten Bedeutungsreichtum aufblühen. Fried war ein Meister des Sprachspiels, der einprägsamen 116


von Erich Fried

Sentenz und nicht zuletzt, auch dies Frucht seines Pendlerlebens zwischen Deutschland und England, ein Übersetzer, der dem deutschen Theater wunderbar spielbare, klare Shakespeare-Übersetzungen schenkte. Die enorme Auflagenhöhe seiner Gedichtbände ist kaum erklärt durch die formale Meisterschaft vieler Gedichte (daneben gibt es, nicht verwunderlich bei der Heftigkeit der Produktion, manch Mißlungenes, nur gut Gemeintes). Es ist wohl viel mehr der Ton, die Integrität, die Menschlichkeit Frieds, die viele, vor allem junge Menschen, die sonst nie einen Gedichtband zur Hand nehmen würden, Zu Fried-Lesern machte. Wie Heinrich Böll War Erich Fried die Stimme, welche die heute 30jährigen aus dem Mund ihrer Väter hätten hören müssen. Was von seinem Werk bleibt, wird die Literaturgeschichte entscheiden. Was fehlt, werden wir nach seinem Tod sofort spüren: ein großer Menschenfreund. Ein furchtlos und lustvoll Lebender. Ein Hoffnungsträger. Seine Gegner, die ihn ein Leben lang notorisch mißverstanden, mit Dreck bewarfen, aus Schulbüchern verbannten, Werden ihm nicht nachweinen: Dennoch hatten gerade sie ihn am nötigsten. Frankfurter Rundschau

117


Max Frisch


* 15. Mai 1911 (Z端rich, Schweiz) + 4. April 1991 (Z端rich, Schweiz)


Zum Tod

Was bin ich? von Wolfram Schütte

Zum Tode des Schweizer Schriftstellers Max Frisch Leben, hat der Einundsechzigjährige in seinem „Tagebuch II“ 1972 geschrieben, sei ein „Vorgang ohne Gegenwart. Was wir erleben können: Erwartung oder Erinnerung“. Dem Alter, dem er sich früh ausgeliefert sah, schwindet beides hin; angesichts des absehbaren Endes, das sich mit Gedächtnisverlust und Unlust auf Erwartung eines Neuen ankündigt, wird „alles eitel“. Leben heisst dann: Gegenwart ohne Vorgang. In diesem Wartezustand hat er, wie Samuel Beckett, mit immer länger werdenden Schweigezonen ausgehalten. Er hat, wiewohl das „Tagebuch II“, – Dieser Versuch über das Altern – , mehrfach um den Gedanken des Selbstmordes und der Euthanasie zentriert ist, Jean Amérys verkürzenden „Weg ins Freie“ nicht gewählt hat auch nicht, wie der Freund Wolfgang Hildesheimer, den endgültigen Abschied von der Kunst mit deren fundamentaler Sinnlosigkeit angesichts der „absehbaren Apokalypse” begründet. Gegen die Resignation, deren literarische „Zeichen“ er „als indiskret“ empfand, hat er dennoch schreibend „revoltiert“ (Améry): mit dem, was man seine „Marienbader Elegie“ nannte, die autobiografische Liebes-Erinnerung ohne Erwartung, „Montauk“ (1975); mit den trostlosen Totengesprächen des (un)dramatischen „Triptychons“ (1978); und mit dem bislang unterschätzen, grandiosen kleinen Prosastück ,,Der Mensch erscheint im Holozän“ 1979, einem ebenso gespenstischen wie tapfer-heiteren 120


von Max Frisch

Nachruf auf den Menschen zu dessen Lebzeiten. Noch ganz spät hat er mit seinem szenischen „Palaver: Schweiz ohne Armee“1989 in die Debatte zur Volksabstimmungüber das Schweizer Bundesheer eingegriffen und seinen Kollegen zugerufen „Nur nicht die Wut verlieren.“ Ein „Alterswerk“, in seinen retrospektivenZügen wie in seiner ebenso rigorosassoziativen Form dem Heinrich Manns ähnlich; dem Leben, dem beide Oeuvres jedoch abgewonnen wurden, war das Bewußtsein des Scheiterns einbeschrieben. Max Frisch war - in seiner, in unserer Zeit - mehr als „ nur “ der erste der zwei großen Schweizer Nachkriegsautoren. Am 15. 5. 1911 in Zürich als Sohn einesArchitekten geboren, zeitweilig sowohl als Architekt, Journalist und Romancier arbeitend, hat er zusammen mit dem 10 Jahre jüngeren Friedrich Dürrenmatt ‑ etwa zeitgleich zwischen 1950 und 1975 ‑ den weltliterarischen Rang der Schweizer Literatur behauptet. Aber viel früher, stetiger und umfassender als Dürrematts dramatisches und erzählerischer Oeuvre wurde das Max Frischs als ein deutsches, genauer: west‐deutsches bei uns verstanden und angenommen. Kein nicht‐deutscher Schriftsteller, keiner aus Österreich und auch keiner aus dem anderen deutschen Staat hatte damals derart „zu uns” gehört wie der urbane Schweizer Autor. Er gab seinem „Heimweh nach der Fremde“ reisend und mit langen Auslandsaufenthalten in den USA und Italien nach und hat sich doch, trotz des „Gefühls der Un‑zugehörigkeit”, direkt und indirekt von der Enge seiner eidgenössischen Heimat als Schriftsteller provozieren lassen. Wie nur noch Brecht und Böll (vor Grass und Walser, Handke und Bernhard), war Max Frisch ein integrierter Teil des literarischen Diskurses und der literaturpolitischen Debatten im „Adenauen-Deutschland“. Ein singuläres Phänomen: diese erwählten(Wahl-) Verwandtschaften? Drei Glücksfälle stifteten die Voraussetzung.- Kurt Hirschfeld, der als Dramaturg und späterer Direktor das Züricher Schauspielhaus während des Zweiten Weltkriegs zur wichtigsten deutschsprachigen Bühne machte und Brecht spielte, hat den damals 35jährigen Autor von zwei Romanen und Erzählungen zu Bühnenversuchen ermutigt. Aber ihn lernte er Brecht (auf dem Rückweg aus der US Emigration nach Berlin) kennen, der Frisch wie kein zweiter Kollege imponierte. 121


Zum Tod

Die weit wirkenden Spuren von Frischs Auseinandersetzung vor allem mit dem „Epischen Theater“ und der Spielanordnung des Verfremdungseffekts sind nicht nur an seinen „Lehrstücken“ (aber „ohne Lehre“)und Parabeln - wie „Die chinesische Mauer“ (1946), „Biedermann und die Brandstifter“ (1958) und „Andorra“ (1961) abzulesen; sondern auch noch in der anti-epischen Struktur des Romans „Mein Name sei Gantenbein“ (1964), wenn nicht sogar in der Entscheidung, ein öffentliches Tagebuch in Form eines „Arbeitsjournals“ zu führen. Brecht war es wohl auch, der Frisch mit seinem Verleger Peter Suhrkamp zusammenbrachte; und daß der Schweizer Schriftsteller im Suhrkamp-Verlag, der besten verlegerischen Adresse in der sich herausbildenden Bundesrepublik, publizierte, dürfte seiner Präsenz bei uns nicht die schlechteste Förderung zur Aufmerksamkeit gewesen sein. Aber diese „ Glücksfälle einer literarischen Karriere erklären nicht die unvergleichliche Resonanz, die Max Frisch in der Kritik und beim Publikum in Westdeutschland fand: auf der Bühne wie in den Buchhandlungen ‐ und die ihn sogar bis in die Schulbücher hinein zu einem „Klassiker zu Lebzeiten“ machten. Verständlich wird Frischs „Akzeptanz“ nur aufgrund der thematischen und motivischen Konstanz seines Oeuvres, das mit jedem neuen Theater- oder Prosastück eng beieinanderliegende, wenn nicht gar die gleichen Saiten zum Klingen brachte: über einem individuell und kollektiv vorhandenen sozialpsychologischen Resonanzboden. Wenn Frisch anläßlich seines Stücks „Biografie“ (1967) von einem „Permutations“- Theater, von einem „Varianten - Spiel“ gesprochen hat, so. hat der Autor, der von jeher „die Repetition am meisten fürchtete“ („Stiller“, 1954), gleichwohl sein gesamtes Oeuvre charakterisiert. Es ist Permutation, Grundthema mit Variationen: „Wir haben wohl die Wahl der Mittel, aber die Wahl der Themen haben wir kaum“ (Frisch). Sein Thema ( unseres , damals – und heute?): der einzelne und sein Eigentum: lch „Das menschliche Leben vollzieht oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst“ (Frisch). Aber „lch ist ein anderer“, behauptete schon Rimbaud, der, als er gesagt hatte , was er zu sagen hatte, von der europäischen Bildfläche nach Afrika in ein anderes Leben verschwand. Fluchtphantasien, Versteck122


von Max Frisch

spiele, die auch Frischs allemal scheiternden Helden von „Stiller“ bis „Gantenbein“ (und dem Autor in der Erotik seines Lebensweges und seinen „Tagebüchern“) nicht fremd waren. Ich - als Selbst- und/oder Fremdprojektion: vertrautes Gelände der zeitgenössischen existentialistischen Philosophie (Sarte, Camus). ldentitätskrise als individueller, intellektueller, emotionaler, erotischer und gesellschaftlicher Dauerzustand; ldentitäts-Wechsel, Selbst‑ Verlust & Findung; Bestimmung durch Geschichte - und Flucht im Verschwinden durch Geschichten („Abschwimmen ohne Geschichte“: die Utopie im ,,Gantenbein“). Transparenz, Brüchigkeit und Verlust der Ich-Identität ist keine „Erfindung” Max Frischs; das hat eine lange europäische und speziell deutsche Geschichte: seit der Romantik (Hoffmann , v. Arnim, Kleist), kehrte wieder im fin de siécle (Hofmansthal, Schnitzler). Ein soziokulturelles Zeitphänomen schubweiser Entfremdungen in der Lebens- und Arbeitswelt, kollektive Verwerfungen der gesellschaftlichen und politischen Umbruchs, Bichsel über Max Frisch (Zwischenüberschrift – eingezogener Text, kursiv). Max Frisch ist beharrlich. Er beharrt zum Beispiel darauf, nicht zu begreifen. Für Spießer aller Schattierungen ist das das letzte, auch für Literaturspießer. Ein ewig Pubertierender nennt man das, und man beweist es damit, daß jener sich ja mit sich beschäftige. Das sagen die, die sich irgendeinmal haben überreden lassen, zum Begreifen überreden lassen. Frisch lässt sich nicht überreden. Er nimmt seinen Trotz persönlich. Wie wir es augenblicklich kaum einschneidender erfahren können. Wobei der eine (west-)deutsche Teil um seine bisherige „Identität“ fürchtet, der andere (ost-)deutsche nichts mehr fürchtet, als die alte zu behalten. Frisch sei ein Autor, hat einmal Helmut Heißenbüttel lakonisch und vielleicht auch abschätzig gemeint, „der sich über etwas klar werden will , was ihn privat angeht“; aber was ihn unablässig beschäftigte, seit er 1940 in den „Blättern aus dem Brotsack“ fragte: „Was bin ich?“, ging ihn - wie noch den einsamen Vordenker der Moderne, Montaigne-, nicht nur „privat“ an. Hat er seine „Sache“ auch „auf nichts” anderes gestellt als sein „Furcht und Zittern“ (Kierkegaard) um sein Ich, dessen Versagen und Scheitern, so war die Form seiner stetigen Fragen, die Intensität, mit der er sich mit Lösungen nicht beruhigte, der Physiognomie der Zeit einbeschrieben. 123


Zum Tod

Wo hätte solches Fragen nach Schuld und „Versagen“ – „Kein Wort”, scheint Christa Wolf, „ließe sich bei ihm häufiger finden als: versagen“ – tieferen Grund und nachhaltiger Berechtigung, als dort, wo „die Unfähigkeit zu trauern“ einer „vaterlosen Gesellschaft“ beklagt wurde; dort, wo das Fragen nach dem „Was bin ich?“ oder dem „Was warst Du?“ (und die Leugnung: „Das war ich nicht!“ oder „Das war nicht ich!“) zwischen den Überlebenden und den Generationen nach dem größten geschichtlichen Verbrechen öfter unausgesprochen als ausgesprochen schwelte? Vielleicht kann, ja muß man sagen: er hat uns aus der Seele gesprochen. Frisch hat diese Fragen sehr früh schon in dem Drama „Nun singen sie wieder“ (1945) nicht als einer „von draußen“, sondern als einer „der zufällig verschont war“, aufgegriffen; er hat, lange vor Dürrenmatts „Physikern“ und Hildesheimers Absage an die Zukunft der Kunst im Zeichen der atomaren Hochrüstung, mit der „Chinesischen Mauer“ (1946) die Alternative gestellt: „Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit stehen wir vor der Wahl, ob es ‚die Menschheit geben soll oder nicht. Die Sintflut ist herstellbar. Es gibt keine Arche gegen die Radioaktivität.“ Er hat dann in „Biedermann und die Brandstifter“ (1957) mit Witz und Stringenz dargestellt, wie individuell Feigheit und kollektive Ahnungslosigkeit den Brandstiftern noch das Streichholz zur Vernichtung des Eigentums übergibt; schließlich hat „Andorra“ (1961) - ebenso aktuell geblieben wie die „Brandstifter“ am Beispiel eines Außenseiters, der von der Gesellschaft zum Juden „definiert“ wird, nicht nur den psychologischen Mechanismus des Antisemitismus. sondern jeglichen rassistischen Umgangs mit dem Anderen und Fremden bloßgelegt. Gerade in diesem Stück tritt das politisch gesellschaftliche Moment des Identitätskonflikts zutage: in der Fremdbestimmung des andorranischen Juden und der Selbstbestimmung, nicht so zu sein wie der Fremde. In der ersten Prosaskizze des späteren Stücks - wie viele Themen und Motive schon keimhaft im „Tagebuch 1946/49” vorhanden - endet der „Andorranische Jude“ mit diesen Sätzen: „Du sollst Dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, des, was nicht faßbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns 124


von Max Frisch

begangen wird, fast ohne Unterlaß, wieder begehen / Ausgenommen, wenn wir lieben.“ Max Frisch „reprivatisierte“ hier das Bilderverbot des Dekalogs, das für die große, von der jüdischen Theologie inspirierte deutsche Philosophie‚ der „Frankfurter Schule“, aber auch Kracauers und Blochs, das Movens für Hoffnung, Utopie und das Verlangen nach „dem ganz anderen“ war. Frisch, der von Kierkegaard ebenso stark beeinflußt war wie Dürrenmatt (und der späte Camus des ‚.Falls”, dessen selbstbefragerische Insistenz des Moralisten auch einer Frischs hätte sein können): dieser Schweizer Autor sieht im „ Bilderverbot“ sowohl die Grundvoraussetzung einer gegenseitigen Toleranz das je eigene des anderen an & hinzunehmen, als auch die Möglichkeit einer „Erwartung“, eines (produktiven „geglückten”) Identitäts-Wechsels. „Du sollst Dir kein Bildnis machen“ (von Dir und von Anderen), heißt das Leben für die Zukunft offen zuhalten: für einen anderen, für einen Neu-Beginn; ebenso auch: die Schuld des mißglückten Ichs anzunehmen. Auf dem moralphilosophischen, zwischenmenschlichen, geschlechtsspezifisch-erotischen Gebiet solcher bis in subtilste Nuancen dargestellten „Minima moralia“ bewegen wir uns vor allem in der erzählerischen Prosa Frischs, der dort und in seinen beiden „Tagebüchern” durchaus, ohne sie je zu zitieren, das Werk der großen französischen (vorrevolutionären) Moralisten fortsetzt. Der seinen ersten großen Roman mit dem Satz „ Ich bin nicht Stiller“ beginnen und der in seinem zweiten den „Homo Faber“ (1957) von einer Schuld einholen läßt‚ die der Held technokratisch verdrängt hatte und der schließlich einen vorgeblich Blinden als Hell Sehenden durch die Gesellschaft schickt, wo er „nach einer Erfahrung, die er gemacht hat“ die Eifersucht -‚ nun „die Geschichte seiner Erfahrung sucht” und der ihn so lange ausschickt, „Geschichten wie Kleider anzuprobieren“, bis er den Plunder nicht mehr braucht und „Gantenbein“ ist und zuletzt sagt: „Leben gefällt mir“:dieser Romancier inszeniert (ja: auch mit „trivialem“ Mobiliar und Ambiente) intime und gesellschaftliche Maskenspiele deren Ernst in Ironie und sogar Heiterkeit umkippen können wie vice versa. Es sind gleichwohl ebenso genaue, lakonische Gegenwartsanalysen aus dem Intim- & Öffentlichkeitsbereich einer prosperie125


Zum Tod

renden Gesellschaft. Ihre Strategie der Selbstvergewisserungen, der Macht und der Selbst-Verflüchtigungen werden vom Bewußtsein des verfehlenden Lebensgewinns und des Erfahrungs- und Entsinnlichungsverlustes geprägt; ebenso aber auch von der Ahnung einer immer wieder verdrängten Schuld. Man hat Frisch natürlich immer wieder „das Private“, das Ego-Zentrische, das erkennbar „autobiografische“ Stoffmuster seiner Arbeiten vorgehalten; die einen verlangten mehr diskursive Abbildlichkeit der Gesellschaft, die anderen „praktikable“ Lösungen; wieder andere haben von seinem „Exhibitionismus” gesprochen. Dabei war es Frisch, der wußte, daß man, um „wahrhaftig“ zu sein, „bis zum Exhibitionismus“ gelangen kann, „um einen einzigen Punkt, den wunden, übergehen zu können“; oder: daß „man alles erzählen kann, nur nicht sein wirkliches Leben“. Der Ich sagt und eine Rolle spielt; der Er sagt und sich meint: - der besaß ein eminentes, vor allem luzides Kunst Bewußtsein. Denn „die Wirklichkeit muß man nicht nur in Fakten, sondern auch in Fiktionen suchen”: im Erzählen, im Zitat, im Fragment. Vor allem seine beiden „Tagebücher“, deren offene, assoziative Mischform nicht nur,wie besonders beim ersten „Tagebuch“, als Steinbruch späterer „bearbeiteter“ Werke vor unseren Augen liegt, sondern erst recht im zweiten, das er durch Fragebögen, Verhöre und Zitate strukturierte, hat er zu seinem Genre sui generis geformt. Auf die zu Bildern und Definitionen erstarrte Welt antwortete er mit einem Mittel wie kein zweiter: mit der Insistenz, der Intelligenz und dem Witz des Fragenden, mit Fragen eines lebenden Schriftstellers. Die gelungene Frage - und wenn ihm Großes gelang, dann als Fragender - öffnet den Horizont des Lebens, indem sie den Leser in sich einschließt. Solange wir offen waren für seine Fragen an sich & uns solange wir weder in dubiose Identitäten geflüchtet, noch auf einer falschen verstockt beharrt, sondern von (s)einer nicht versöhnten Unruhe bewegt wurden - hat er, der „Künstler als Statthalter der Utopie“ (& ihrer Bezweifelung), eine Generation und eine Epoche mitbestimmt: bis ins Intim-Privateste und bis ins Große der öffentlichen Debatten, in die er eingriff. Max Frisch: - ein „Zeitphänomen“, das der späte Künstl126


von Max Frisch

er selbst „überlebt“ hatte? Mag sein, das auch, vielleicht Mit dem Tod des Autors ist sein Werk endgültig historisch geworden: „also Erinnerung. Aber ich stellte mir vor: weil es Spiel ist, ästhetische Konstruktion, poetische Form, in der Frisch „einen grundlegenden Zeit-Widerspruch an sich selbst zu erleben und ihn auszudrücken, zugleich zu erhöhen und fassbar“ zu machen vermochte (Christina Wolf); und weil es offen und luftig von diesem unbestechlichen unsentimentalen Prosa-Architekten gebaut ist , wird es den Stürmen der Zeit, die es durchwehen werden, eher widerstehen als mancher hermetisch abgedichteter Erzählbau: also in Erwartung bleiben offen für fragende Leser. Frankfurter Rundschau

127


Franz F端hmann


* 15. Januar 1922 (Rochlitz, Tschechoslowakei) †8. Juli 1984 (Ost-Berlin, Deutschland)


Zum Tod

Gedenkrede von Christa Wolf

Zum Tod von Franz Fuehmann Die Stimme von Franz Fühmann hörte ich zum letzten Mal genau eine Woche vor seinem Tod. Es war ein Sonntagabend, es war eine fast unveränderte Telefonstimme, es war – wie nennen ich es – ein normales Gespräch unter Freunden, von denen aber der eine gesund, der andere krank war. Es war von seiner Seite auch ein leidenschaftslos, ohne Selbstmitleid gegebener Bericht von seinem Ergehen in den Wochen davor, und in diesen Bericht ein Satz eingeworfen, der eine Ahnung, vielleicht ein Wissen andeutete, das in dem ganzen letzten Jahr niemals laut geworden war. Falls es ein solches Wissen gab, hat es ihn nicht gehindert, Streit mit mir anzufangen über einen Autor, den ich ihm empfahl und den er rundweg ablehnte: wegen mangelnder Konsequenz. Seine Kritik bleibe in Symptomen stecken, stoße zum Kern der Sache nicht vor, treffe, vor allem, die Falschen, obwohl er, der Autor, ganz gut wisse, wer die Richtigen wären. Halbheiten, also. Entschieden widersprach ich ihm und erbot mich, ihm bei dem Besuch, den wir verabredeten, zu beweisen, daß er sich irrte. Tu das! sagte er.Als ich den Hörer auflegte, hatte mein ungutes Gefühl sich verstärkt. Aber die Verabredung dachte ich doch einhalten zu können. Dann wurde die Operation vorverlegt. Dann konnte ich ihn nicht mehr besuchen. Dann traf mich die Nachricht von seinem Tod doch unerwartet. Warum hatte ich den Aufschub für ihn so erhofft? 130


von Franz Fuehmann

Seinetwegen? Meinetwegen? Und wenn auch meinetwegen: Warum? Jetzt würde er, da die Frage einmal gestellt ist, gründlich vorgehen. Und was das bei ihm heißt, “gründlich”, daß muss man nachlesen, zum Beispiel in seinem Trakl-Essay. Zum Beispiel anhand seiner Verfolgung – das Wort trifft den Vorgang! – eines einzigen Motivs aus seiner Zeile eines Gedichts: Der Wahnsinnige ist gestorben. Aus Trakls „Psalm“. Da erlebte man, erlebte ich in diesen Tagen erneut mit herzklopfender Spannung, was das sein kann, „eine Dichtung empfangen“. Wie du aufgerufen und herausgefordert bist, mit allem, was du weißt; mit all deiner Erfahrung, und besonders mit jener Erfahrung aus den Krisen und Brüchen deines Lebens; wie du alle Quellen in dir erschließen musst, aus denen dein Mut sich speist, denn den wirst du brauchen: Je tiefer du dich auf das Gedicht einlässt, umso näher rückt der Augenblick, da eine Kraft dich zwingt, „die Augen zu schließen, als ob das Haupt der Wahrheit sich erhebe“; und wen blicken die Augen dieses Medusenhauptes an, wenn nicht dich, und nun hast du ein weiteres Mal auszuhalten, was das Gedicht, auf rechte Weise empfangen, dir zufügt: „Der Wahrheit nachsinnen – / Viel Schmerz“. Die Poesie, sagt Fühmann, wieder und wieder, die Poesie wirkt wie das Verhängnis. Und er zitiert Baudelaire: „Das Wort verrät, wovon“ ein Dichter „besessen ist“. In diesen wenigen Tagen, seit er starb, und seit ich ihn unaufhörlich lese, habe ich ihm nicht die Ehre der Genauigkeit antun können, die er Trakl erweist, indem er dessen häufigste Worte anführt und zählt. Doch will ich es wagen, diejenigen Worte zu nennen, die ich für seine wesentlichen halte; es sind dies: Wandlung. Wahrheit. Wahrhaftigkeit. Ernst. Würde. Sie alle stehen, wie selbstverständlich in einem Werk, das von einem zentralen Widerspruch her geschaffen ist, zueinander in Beziehung; ihre Antriebskraft, ihre Richtung und ihren Inhalt aber bekommen sie von dem Wort Wandlung, das Thema, in das Fühmann sich „eingeschmolzen“ weiß: seinen unausgesetzten, inständigen Versuch, sich wandelnd und den Prozess dieser Wandlung beschreibend, sich dem Verhängnis zu stellen, ein Generationsgenosse und, bis zu einem gewissen Grad (das schränke ich ein, nicht er!), Teilhaber jenes mörderischen Wahndenkens gewesen zu sein, das Auschwitz hervorbrachte. „Vor Feuerschlünden“: Dahin hat er immer 131


Zum Tod

wieder zurückkehren müssen. „Von Auschwitz komme ich nicht mehr los“. „Meine Generation ist über Auschwitz zum Sozialismus gekommen.“ Und, unerbittlich weiterfragend, damit die Wahrheit ihr Haupt erhebe, mochte der Blick der Medusa ihn auch vernichten: wie hätte ich mich verhalten, wäre ich nach Auschwitz kommandiert worden. Wieder und wieder. Und da Fühmann sich – und uns – keine Scheinfragen stellt, kann man, lesend, konnte ich, bekannt mit der Tatsache seines Todes, das heißt: vom Ende her, aus den Landschaften seiner Bücher jene Struktur sich abzeichnen sehen, die gesetzmäßig und nicht beliebig ist; jene Richtung, zu der er - einmal die Wahl angenommen: Wandlung! – nun gezwungen war. Ein strenges Leben. „Künstler ist , wer nicht anders kann – und dem dann nicht zu helfen ist.“ Er hat sich abgearbeitet. „Ich übe einen Beruf aus, Momente des Glücks sind darin selten, sie stehen sehr nahe dem Unerlaubten.“ Einmal, in den letzten Zeilen des Trakl-Essays, gesteht er, „am Ende“ seiner „Kraft“ zu sein. „Wir werden weiter der Wahrheit nachsinnen.-Mehr Schmerz?-Wir werden es erfahren.-Aber es kann wohl nicht anders sein.“ Wenn ich mich frage, wie er es sich wohl gewünscht hätte, dass hier und heute über ihn gesprochen werde, so glaube ich eines zu wissen: Er hätte es sich verbeten, jenen Widerspruch zu verharmlosen, zwischen dessen Polen er „bis zur Grenze des Zerbrechens gespannt“ war. „Der Konflikt zwischen Dichtung und Doktrin war unvermeidlich“, formulierte er als Einsicht in eben dem gleichen Essay, in dem er fragt, warum, unter welchen Umständen er bereit gewesen ist, das Geheimnis der Dichtung einer Doktrin zu opfern. „Beide waren in mir verwurzelt, und beide nahm ich existentiell. Es war mir ernst mit der Doktrin, hinter der ich noch durch die verzerrtesten Züge das Gesicht der Befreier von Auschwitz sah, und es war mir ernst mit der Dichtung, in der ich jenes Andere ahnte, das den Menschen auch nach Auschwitz nicht aufgab, weil es das Andere zu Auschwitz ist... Mein Konflikt brach von innen aus, nicht von außen, also war er nicht vermeidbar. Sein Ende ist noch nicht abzusehen.“ Was bleibt einem Schreibenden in einer derart exemplarischen Situation? Er muss sich selbst als Exempel setzen, das Exempel an sich statuieren. Es ist sein ästhetisches Programm, und das Gleichnis, an dem er seit fast einem Jahrzehnt in Gedanken arbeitete, für das er Material zusammentrug, das er wohl als sein Hauptwerk 132


von Franz Fuehmann

sah, hieß: Das Bergwerk. Er sprach darüber, erzählte Episoden, den Grundgedanken, bezog alles, was er inzwischen tat, auf dieses Buch – oft als Störung, oder Abhaltung –, und erklärte mir und anderen vor zehn, zwölf Monaten: Er habe es aufgegeben. Ich bin damals sehr erschrocken und hatte Mühe, diesen Schreck wenigstens in den Ausdruck des Bedauerns zu mildern. Nun fand ich beim Wiederlesen seiner letzten Bücher, dass sie ja alle schon Teile, nicht nur Vorarbeiten, jenes geträumten Lebensbuches sind: Bestandteile einer Gesamtarbeit, deren Richtung in die Tiefe ging, in immer weniger bekannte, immer dunklere Bereiche, zu den Ursprüngen hin, den Mythen und Märchen, und in das eigene Innere, die Höhlen des Unbewussten, des Schauerlichen, der Schuld und der Scham. „Bergwerk der Träume“ finde ich, doch überrascht, schon in „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“ – ein Buch, in dem er ganz zu sich kommt, ganz bei sich ist. Und das mich getröstet hat: Er hat es gehabt, Lebensgenuss und Lebensfülle, Daseinsfreude und Freundesnähe. Er hat die Verzweiflung durchgestanden, die Versuchung der Sucht und der Selbstvernichtung überwunden und ist erneut an die Arbeit gegangen. Er machte sich an die Untersuchung der Gründe.
Unser Dialog, der in den fünfziger Jahren begonnen hatte – ich erinnere ein Gespräch an einem der kleinen runden Tische des “Café Praha”, er zeigte uns ein Manuskript, das hieß: “Fahrt nach Stalingrad” – muß in den sechziger Jahren aus Gründen, die ich auch bei mir suchen untersuchen müßte, spärlicher gewesen sein. Eine gemeinsame Ungarnreise; die Stätten, an denen Attila Joszef, dessen Gedichte Fühmann nachdichtete, gelebt hatte. Der Bahnübergang, an dem er gestorben war. Gespräche auf einer Schiffsfahrt auf der Donau, immer und immer wieder über unser Thema, von dem wir besessen waren: Politik, Kulturpolitik in diesem Land. Eines der Erinnerungsbilder, das ich von ihm habe. wie er, noch als dicker Mann, schnaubend und prustend, mit Schlingpflanzen behängt, aus dem flachen Ostseewasser vor Ahrenshoop auftaucht. Dann plötzlich – habe ich da vor einige Jahre verpaßt? – steht er als ganz Veränderter, Abgemagerter vor mir, und er lehnt alles Eßbare ab. Ja, rigoros ist er gewesen, und er war mir ein wenig unheimlich in seiner Unbedingtheit, doch nun kann ich ein Wort wie “unheimlich” gar nicht mehr denken und niederschreiben, ohne mir die Deutung 133


Zum Tod

zu vergegenwärtigen, die er, Fühmann, ihm in seinem Aufsatz “Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann” gegeben hat. Ich weiß noch, daß mich schon sein Essay – ”über das mythische Element in der Literatur” erregt hatte, und daß ich ihm aus der germanistischen Bibliothek in Edinburgh eine entsprechende Karte schrieb. Seine Antwort liegt vor mir: “…Der liebe Gott der Schriftsteller macht’s schon, daß wir einander finden, wenn wir einander brauchen…” So war es. Von nun an kann ich fast für jedes seiner neuen Stücke den Ort angeben, an dem ich es las – oft noch als Manuskript, und das Fräulein Veronika Paulmann brachte Fragen wie diese: “Werden müssen, was man flieht – ist es unabwendbar?” Und über das “Degradieren seiner Mitmenschen zur bloßen Sache, um Mittel”, Sätze wie den: “Und daß es so gewöhnlich ist, daß man’s nur bemerkt, wenn es einen selbst trifft, doch dann mitten ins Herz. “ Auch meine Sache wurde da verhandelt.Phasen gab es, da hatte ich das Gefühl – er auch? Das weiß ich nicht –, daß wir einander zuarbeiteten. Und andererseits: Die Reibeflächen, gerade an Gegenständen der größten Annäherung. War er verletzbar? Ja. Allein – er vertrug Kritik. Jemand wie er, der sich immer neu von Grund auf in Frage stellte. Nur ernst mußte er genommen werden. Ich entsinne mich der Geste und der Miene, mit der er sich nach einer Versammlung, in der Würdelosigkeit und Feigheit dominiert hatten, erhob: So, Freunde. Das ist’s gewesen. Hier seht ihr mich nicht wieder. – Und man hat ihn in jenem Gremium nicht wiedergesehen. “Ernst und Würde, das sind Worte, die mir gefallen”; hatte er geschrieben. Kritik als Farce – das ertrug er nicht. Er konnte verachten, anhaltend und unversöhnlich. Aber er konnte auch – fast möchte ich sagen: vor allem – rückhaltlos bewundern und bejahen. Ernst, ganz ernst nahm er die Jungen. Nicht nur die Kinder: Alle seine Freunde mit Kindern wissen davon zu erzählen, wie er für Stunden aus dem Kreis der Erwachsenen ins Kinderzimmer entschwunden und sich mit einem achtjährigen Mädchen oder einem fünfjährigen Jungen in profunde Gespräche verstricken könnte, zum Beispiel – das war das letzte Gespräch, dem ich beiwohnte – über Wesen und Natur der Hexen. Und seine Bücher für Kinder! Aber ich wollte von den Jungen reden, die nicht mehr Kinder sind, und 134


von Franz Fuehmann

die Gedichte schreiben. Dadurch fielen sie zwangsläufig unter eine Menschengruppe, für die er sich verantwortlich wußte. Er war ihr Freund, Bewunderer, Kritiker, Berater, Helfer, wenn es denn sein mußte, auch Geldgeber, und ihr Anwalt. Die Briefe, die er um ihretwillen an die Behörden schrieb! Nichts, dachte ich in den letzten Jahren manchmal, quälte ihn so wie die Zwangsvorstellung, er könne ein unterstützungsbedürftiges Talent, ein Genie gar, übersehen, so daß es verloren gehn, verderben könnte. Ob in diesem Land Dichter nachwuchsen; ob es eine Literatur geben wird, die diesen Namen verdient – das war seine ureigene Sorge und Bekümmernis. Ja, es ist vorgekommen, daß es auf einen traf, der sich selbst nicht ernst, nur wichtig nehmen konnte. Nie vergesse ich, wie er, ein gezeichneter nach der ersten Operation, noch auf der Intensivstation, an all diese Schläuche angeschlossen, dahockte und manisch reden mußte über die letzte Enttäuschung, die ihm einer zugefügt hatte, und ich vergesse nicht, wie jeder Ansatz zur Besserwisserei in mir wegschmolz. Ich blicke mich um, auf der Suche nach dem, der in seine Fußstapfen treten könnte, und mir wird bange. Ein anderes Bild: Sein Krankenzimmer, umhängt mit den Grishaberschen Darstellungen des Todes. Das war nach einer späteren Operation. Er habe sich gedacht, das werde vielleicht nichts mehr. Da habe er sich den Alten hingehängt, mal so zum Drangewöhnen. – Und wer dabei war, wird ihn im Gedächtnis behalten, wie er, wenig später, in diesem Saal unter Schmerzen, die man ihm nicht anmerken sollte, sein Plädoyer für Franz Kafka hielt. Aus seinen Briefen zu zitieren, ist noch zu früh. Nur einen Absatz möchte ich anführen, aus einem Brief, den er mir vor zwei Jahren schrieb, und ich möchte mir erlauben, zu zitieren, was ich ihm antwortete. “Wenn du in die Mythologie sinkst”, schrieb er, “dann begegnest Du sicher dem Prinzen Hyppolitos, der hat sein Leben der Artemis geweiht, dieser schrecklichen Jungfrau, der Jägerin, und hat darüber Aphrodite zu dienen versäumt, und die rächt sich nun. …Hyppolitos liegt am Schluß im Sterben, und nun hat er nur einen Wunsch: Die, der er sein Leben geweiht, seine Göttin, Artemis, die leichtfüßige Schweiferin, möge ihm in der Sterbestunde sich zeigen, und das tut sie auch, aber um zu sagen: Igitt, du stirbst ja, 135


Zum Tod von Franz Fuehmann

das ist nichts für mich, schön der Anblick von so einem verunreinigt mich; und sie haut ab. Irgendwie geht’s einem mit dieser Scheiß-Literatur so. Man kriegt Briefe, was man da geleistet habe (so wie sich um den Hyppolit das erlegte Wild häuft), aber das ist alles Papier für Papier, und die Göttin erscheint nicht, und täte sie’s, sagte sie sicherlich auch: Igitt.” “Lieber Franz”, erwiderte ich ihm. “Vorausgesetzt, daß Europa nicht in den nächsten Jahre in die Luft fliegt: Das Wichtigste ist doch, was wir schreiben. Mach doch bloß Dein Bergwerk. Die Artemis, die Jägerin, ist doch nur in der männlichen Ausdeutung eine ‘schreckliche Jungfrau’, ursprünglich war sie nur ein anderer Aspekt der Aphrodite, und die beiden lagen nicht miteinander in unmittelbarem Streit. … Und wenn die Göttin nicht herbeigezwungen, sondern auf die rechte Weise herbeigesehnt und -gewünscht wird, und sei es in der Sterbe- oder Schreibestunde, dann kommt sie ganz selbstverständlich, leichtfüßig und wohlgesonnen, und was sie sagt, ist keineswegs: Igitt. Sondern: Na, Alter, immer noch nicht klüger geworden? Und dann lächelt sie auf ihre unnachahmliche Weise, und …dann hörst Du sie atmen, und alles läßt sich machen. So wird es sein.” Ob es so war? Wie ich es ihm wünsche. Ob es so sein wird? Was wissen denn wir. Wie sagte doch Franz Fühmann, eine Gedichtzeile Georg Trakls umkehrend: “Die Sonne ist das, was keiner begräbt.” Frankfurter Rundschau

136



Swetlana Geier


* 26. April 1923 (Kiew, Ukraine) †7. November 2010 (Freiburg, Deutschland)


Zum Tod

Wo ich bin, ist Russland von Urs Heftrich

Kämpferisch: Zum Tod der Übersetzerin Swetlana Geier Übersetzer sind die großen Unsichtbaren des Literaturbetriebs. Auch in dieser Hinsicht war Swetlana Geier, die siebenundachtzigjährig am Sonntag in Freiburg gestorben ist, eine Ausnahme. Sie selbst empfand die Unsichtbarkeit als „die Rolle meines Lebens“, aber damit war es spätestens vorbei, als ein Dokumentarfilm sie als „die Frau mit den 5 Elefanten“ verewigte. Wer ihn sah, konnte nur staunen über die Verwegenheit, die jemand braucht, um im siebten Lebensjahrzehnt die Neuübersetzung der fünf letzten Romane Dostojewskijs anzupacken, eben jener fünf Dickhäuter, von denen Swetlana Geier gern scherzend sprach: Noch erstaunlicher aber ist, dass sie die Arbeit - 4762 Seiten - tatsächlich zu Ende brachte und, als sei das nicht genug, ihr noch ein Elefantenkälbchen hinterherschickte: eine neue deutsche Fassung von Dostojewskijs Kurzroman „Der Spieler“. Die hätte sich kein schöneres Grabmal setzen können. Denn „Der Spieler“ handelt ja nur vordergründig vom Glücksspiel. Alles in ihm dreht sich um den Auftritt einer Greisin, deren Lebenshunger lange dem Tod einen Strich durch die Rechnung macht: Großmütterchen, la baboulenka. Statt der stündlich erwarteten Nachricht von ihrem Ableben tritt die alte Dame selbst auf den Plan, und das mit 140


von Swetlana Geier

einer Energie, die nur eine so quicklebendig ins Deutsche bringen konnte: Swetlana Geier. Hören wir sie ein letztes Mal: „Ja, das war sie persönlich, la baboulenka, derentwegen Telegramme geschickt und empfangen wurden, die Sterbende und nicht Gestorbende, die nun plötzlich, in eigener Person, wie der Blitz aus heiterem Himmel, unter uns erschien ...wie immer nach ihrer Art kämpferisch, einfallsreich, selbstzufrieden, kerzengerade, laut und herrisch Befehle erteilend. “Wer sie kannte, wird in dieser Charakteristik viel von ihr selbst wiederfinden. Kämpferisch, einfallsreich war die Überlebende zweier Diktaturen und zwölffache Urgroßmutter ohnehin, und trotz ihren krummen Rückens kerzengerade, ja gebieterisch in der Art, wie sie einen von unten herauf musterte. Ja, und such sichtbar mit sich zufrieden, wenn sie Sätze wie die folgenden losließ: „Mich haben die Männer nie gestört, es gibt sehr charmante. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, einen an meiner Seite zu haben. Ich bin selbst abendfüllend.“ Die Sprache war ihr Lebenselixier, und wenn sie sprach, hatte man das Gefühl, sie schmecke jedes einzelne Wort. Sie hatte ein ausgesprochen orales Verständnis vom Übersetzen. Legendär geworden ist ihr Verfahren: Auswendiglernen des Originals, „bis die Seiten Löcher kriegen“, Diktat der deutschen Fassung, Lauschen auf die Rythmen der Schreibmaschine, schließlich Anhören des eigenen, nunmehr fremd klingenden Textes als dem Mund eines Freundes. Ihr ohrenphilologisches Verhältnis zum Wort entwickelte Swetlana Geier schon als Studentin in Freiburg, wo sie auch Heideggers Vorlesungen besuchte: „Wenn man rausging, wusste man nichts mehr. Aber das Zuhören war ein kolossaler Genuss.“ Dass die junge Frau aus Kiew überhaupt studieren konnte, verdankte sie einer Reihe von Zufällen, die eher an Dickens als an Dostpjewskij erinnern. Ihre Mutter entstammt einer zaristischen Offiziersfamilie, ihr Vater wird als „Volksfeind“ verhaftet; die Sechzehnjährige pflegt ihn nach seiner Entlassung, bis er den Folgen der Folter erliegt. Im Krieg klopft ein deutscher Offizier an die Tür; er hat sich verfahren. Swetlana, deren Mutter überzeugt ist, es könne „in unruhigen Zeiten nur eine Aussteuer geben: Sprachen“, hat Deutsch gelernt, seit sie fünf ist. Bald darauf arbeitet sie als Übersetzerin für den Feind. Als die Rote Armee die Besatzer wieder zurückdrängt, flüchtet sie ins Land der Täter. Ein Stipendium öffnet ihr die Univer141


Zum Tod

sität.

1953 erschien ihre erste literarische Übersetzung, Auftakt zu einer Serie von rund vierzig Titeln, quer durchs russische Alphabet, von Afanasjews Russischen Märchen bis zu Woinowitsch. So hielt sie das Heimweh in Schach. In ihrem Freiburger Haus errichtete sie ihr eigenes russisches Reich. „Wo ich bin, ist Russland“, sagte sie. Oder: „Ein Russe sein heißt kein Russe sein.“ Die Übersetzerin Swetlana Geier ist tot. Die Aphoristikerin Swetlana Geier werden wir erst noch entdecken.

142



Robert Gernhardt


* 13. Dezember 1937 (Tallinn, Estland) †30. Juni 2006 (Frankfurt am Main, Deutschland)


Zum Tod

Gevatter Tod war nur der Gehilfe dieses Dichters von

Hubert Spiegel

Zum Tod des Lyrikers, Malers und Schriftstellers Robert Gernhardt Bis zuletzt, solange es ihm nur irgend möglich war, hat Robert Gernhardt getan, was er sein Leben lang getan hatte. „Rückblick, Einsicht, Aussicht“, das Gedicht, das wir auf dieser Seite mehrmals veröffentlichen, gehört zu seinen jüngsten Werken. Er hat es uns erst vor wenigen Wochen zum Vorabdruck anvertraut, und es zeigt den Dichter, wie er am Lebensabend über jene Kunst nachdenkt, die er als junger Mann an den Akademien in Stuttgart und Berlin studiert hatte und die ihm als die „schönste, weil leiseste aller Künste“ erschienen war, die Malerei. Die Skizze des Totentanzes, ebenfalls auf dieser Seite abgedruckt, ist das letzte Werk des Zeichners Robert Gernhardt, entstanden in der vorigen Woche, ein Entwurf für eine größere Arbeit, die nun unausgeführt bleiben wird und so ihre höhere Bestimmung erreicht: als wundersames Memento mori eines Künstlers, der den Tod buchstäblich bis zuletzt auf staunenswerte, mitunter geradezu unheimliche und wohl einzigartige Weise für die eigene Produktion einzuspannen wußte. Gevatter Tod, das war für Robert Gernhardt 146


von Robert Gernhardt

immer auch Gehilfe Tod, ein unwilliger Zuarbeiter beim schwierigen Geschäft, das Wort noch einmal über den Körper, die Poesie noch einmal über die Physis, die Kunst noch einmal über die Krankheit triumphieren zu lassen. So hat der gewiefte Dialektiker Gernhardt die wahren Machtverhältnisse immer wieder umzudrehen gewußt. In seiner Kunst, also auch in seinem Leben. Dieses Leben begann 1937 in Reval, dem heutigen Tallinn, wo Gernhardt als Sohn eines Richters geboren wurde. Nach der Flucht, der Vater war gegen Kriegsende gefallen, ließ die Familie sich in Göttingen nieder. Mit siebenundzwanzig Jahren ging Gernhardt nach Frankfurt, ein staatlich geprüfter Kunsterzieher, der Malerei und auch Germanistik studiert hatte, der freier Künstler werden wollte, der malte, zeichnete und schrieb, rasch zur Satirezeitschrift „Pardon“ stieß, dort zusammen mit seinen Freunden F. K. Waechter und F. W. Bernstein die legendäre Kolumne „Welt im Spiegel“ (WimS) betrieb und Ende der siebziger Jahre zu den Gründern der „Titanic“ zählte. Dem „endgültigen Satiremagazin“ blieb Robert Gernhardt wie Bernd Eilert und Eckart Henscheid lange Jahre als prägende Gestalt verbunden. Immer Maler, Zeichner und Schriftsteller zugleich, veröffentlichte Gernhardt seit den frühen achtziger Jahren mit staunenswerter Produktivität Buch um Buch, darunter so klassisch gewordene Titel wie „Ich Ich Ich“ (1982), „Reim und Zeit“ (1990) oder „Lichte Gedichte“ (1997). Auf Sprachakrobatik und Wortspielwut der frühen Jahre folgte die Hinwendung zum Alltagsleben, aus dessen Splittern, von der Kontaktanzeige bis zur Fahrt im ICE, zahllose Gedichte entstanden sind. Oft relativieren diese Gedichte ihre hohe, nicht selten klassische Form durch ihren banalen Inhalt, oder sie adeln ihre schlichte Form durchs hohe Thema. Der komische, oft aber auch nur scheinbar komische und in Wirklichkeit bittere Effekt vieler solcher Verse entsteht durch das Aufeinandertreffen des vermeintlich Inkommensurablen. Das ist der Gernhardt-Effekt, und die Virtuosität, mit der er gehandhabt wurde, garantiert seinem Schöpfer alles, was ein moderner Klassiker an Nachruhm und bleibender Dauer erwarten darf. Sein Leben lang, seit der in Göttingen verbrachten Schulzeit, hat Robert Gernhardt, gezeichnet und gedichtet, skizziert und entworfen, gereimt - und auch gerichtet. Denn daß nur ein einziger 147


Zum Tod

Buchstabe das Gedicht vom Gericht unterscheidet, gehört zu jenen Zufällen der Sprache, die den sensiblen Sprachspieler stets fasziniert haben. Der Dichter war auch Richter, und Robert Gernhardts Werk trägt oft die Züge eines spielerischen Weltgerichts, wenn er zum Beispiel im Band „Körper in Cafés“ (1987) seine Mitmenschen im Steakhaus, auf der Frankfurter Fressgass’, oder beim Tretbootfahren auf dem Main beobachtet. Die bösen Huldigungen, die er den Städten Metzingen oder Mülheim am Main darbrachte, haben sogar die Anwälte beschäftigt, denn der Dichter wurde ihretwegen verklagt. Aber mehr noch ist Gernhardts lyrisches Werk, zumal in den späten Jahren, zum Selbstgericht geworden. In einem unablässigen Selbstverhör haderte der Künstler mit sich und seiner Arbeit, mit seinen Talenten und mit der Tradition. Seine Gedichte sind die Substrate dieses Verhörs, ihre poetischen Protokolle, und es sind einige der schönsten deutschen Gedichte zur Künstlerproblematik überhaupt darunter. So wollen wir Robert Gernhardt in Erinnerung behalten als einen, der nicht nur Maler, Zeichner, Lyriker, Satiriker, Erzähler, Theaterautor und Essayist war, sondern auch den Ankläger und den Angeklagten, den Zeugen und den Richter in seiner Person zu vereinen wußte. Daß ihm das Unmögliche möglich war, verdankte Robert Gernhardt einer wie leichthin formulierten, aber wohl tiefempfundenen Hoffnung: „Das Dichten wird’s schon richten“. Gernhardt war kein Skeptiker, der angesichts einer verbrauchten, verhunzten und verschlissenen Sprache an seinem Material verzweifelt und über der Verzweiflung verstummt wäre. Im Gegenteil, im trotzigen Beharren auf der Sagbarkeit der Welt, auf der Unverwüstlichkeit des Reims, der kalauernd, artistisch, beschwörend oder magisch aufzutreten vermag, hatte Gernhardt eine Aufgabe gefunden, der er unverbrüchliche Treue hielt: Es war die „Wacht am Reim“. In seiner Frankfurter Poetikdozentur führte Gernhardt 2001 durch das „Haus der Poesie“ und versammelte in fünf Vorlesungen Belege für die These, die der Dozent zu Beginn der Veranstaltung in den Raum gestellt hatte: „Was das Gedicht alles kann: alles.“ Gernhardt führte durch die Geschichte der Lyrik, als handelte es sich um eine Schloßbesichtigung, präsentierte die Prunkstücke der Sammlung „danke, danke, danke, Herr Brecht!“, leuchtete aber auch in dunkle Ecken, bat die Kollegen aufs Podium und schob sie bei Mißgefallen 148


von Robert Gernhardt

ungnädig wieder herunter: „Schade, Herr Neumann, danke, Herr Neumann.“ Gernhardt war ein Vortragskünstler, erprobt in unzähligen Lesungen, der die Dichterrolle niemals öffentlich zelebrierte, sondern fast schon im Kleinkünstler und Kabarettisten zum Verschwinden brachte. Die Souveränität, mit der er über den Fundus der Lyrikgeschichte gebot, war beeindruckend, aber noch beeindruckender war seine Fähigkeit, Verse anderer prüfend zu drehen und zu wenden, zu betasten und zu beklopfen, zu zitieren und zu parodieren, sie umzudichten oder aber, in der gefürchteten Gernhardtschen „Umkehrprobe“, sie als Wortgeklingel zu entlarven und vom Podest zu stoßen. Dichtkunst war ihm immer auch Handwerk, und wer die Regel der Metrik nicht beherrschte oder ihnen schlau ein Schnippchen zu schlagen wußte, durfte nicht mit Gnade rechnen. Der Dichter als Richter, das konnte heftige Kollegenschelte bedeuten. Man kann nur vermuten, wieviel ihm die relativ späte Anerkennung, die hohen Auflagen seiner zahlreichen Bücher und die Flut der späten Preise und Auszeichnungen bedeutet haben. Sie dürften wohl frühere Verletzungen und Kränkungen gemildert haben, denn die Anerkennung als Lyriker wurde ihm lange verweigert. Gernhardt wurde gern der Oberflächlichkeit geziehen und so auf die oberflächlichste, leichtfertigste Weise in die Schublade des Humoristen gestoßen. Daß ihm der Büchnerpreis verwehrt blieb, sei der Darmstädter Akademie in Ewigkeit nicht verziehen. Aber auch diese Auszeichnung hätte ihn nicht versöhnt mit dem Ungenügen an sich selbst, das er als Produktivkraft hegte und brauchte und von dem noch das Gedicht auf dieser Seite spricht. Ver Gernhardt kannte und ihn im Kreis von Freunden oder als Gastgeber zusammen mit seiner Frau Almut erleben durfte, sah sich einem Genießer gegenüber, dem Selbstzufriedenheit fremd war, einem fröhlichen Grübler, der sich vom Leben nicht mehr überraschen, aber gerne verblüffen ließ und der die Kunst als Aufgabe verstand, die nicht zu bewältigen war und ihm deshalb auch nicht abhanden kommen konnte. Daß er dem jahrelangen Kampf gegen den Krebs nicht nur die zutiefst berührenden „K-Gedichte“ abgerungen hat, sondern in den letzten Monaten noch zwei Bände mit Gedichten und Erzählungen 149


Zum Tod

vollenden konnte, grenzt dabei schon ans Unglaubliche. In der Nacht zum Freitag ist Robert Gernhardt gestorben. Und dennoch, es bleibt dabei: Gevatter Tod war nur der Gehilfe dieses Dichters. Frankfurter Allgemeine Zeitung

150


von Robert Gernhardt


Helmut HeiĂ&#x;enbuettel


* 21.06.1921 in (Rüstringen, Deutschland) † 19.09.1996 (Glückstadt, Deutschland)


Zum Tod

Seine Bücher: „Texte“ und „Projekte“ von Karl Riha

Zum Tod des Schriftstellers und Essayisten Helmut Heißenbüttel Als anläßlich seines 75. Geburtstags in Hamburg zu unserer Überraschung Zeichnungen von ihm gezeigt wurden, tauchte er – durch einen zweiten Hirnschlag gezeichnet – aus seinem Borsflehter Domizil noch einmal auf, aber schon der Feier, die man ihm aus eben diesem Anlaß in Stuttgart ausrichtete, mußte er fernbleiben. Nun ist Helmut Heißenbüttel gestorben: es war zu erwarten, und trifft doch unverhofft! Heißenbüttel was einer der Anreger experimenteller Tendenzen in der deutschen Nachkriegsliteratur. Mit Max Bense bildete er das Zentrum der sogenannten Stuttgarter Schule, die der „konkreten Poesie“ wichtige theoretische, aber auch eigene kreative Vorgaben setzte. Dabei zeichnete sich Heißenbüttel gleichermaßen als literaturkritischer Essayist wie als Autor aus. Mit seinen Aufsatzbänden Über Literatur (1966) und Zur Tradition der Moderne (1972) markierte er – von „Vater“ Arno Holz und „Mutter“ Gertrude Stein her – alle wichtigen Trends und Bewegungen jener Literatur, die das Etikett „experimentell“ verdient. In seiner eigenen literarischen Produktion löste sich 154


von Helmut Heißenbüttel

Heißenbüttel früh aus den Einflüssen Rilkes, Georges und Benns. In der Reihe seiner Textbücher, die er 1960 startete, führte er ein sehr viel weiteres Spektrum moderner Textmöglichkeiten vor, wobei er mit grammatischen Verfremdungen operierte, den Reiz von Wortund Satzreihungen anstelle der herkömmlichen Aussage-Schemata entdeckte und bei aller Ausrichtung aufs Formale zeigte, daß er sich brisanter, auch politischer Themen anzunehmen wußte. So fixierte er – aus eigener Erinnerung an die Kriegszeit, in der er schwer verwundet wurde – den Zustand Hitler-Deutschlands unter dem Titel Deutschland 1944 wie folgt: „hängt ihr am Leben sie geben es brünstig für Höheres niemand zwang sie dazu denn ihres Herzens Schlag ihrer Seele Gebot hängt ihr am Leben sie geben brünstig für Höheres (…)“. Fast 20 Jahre nach den Textbüchern startete Heißenbüttel seine Reihe der Projekt-Bücher, mit denen er sich nun als Verfasser von „Märchen“, „Novellen“ und wohl gar „einfachen Geschichten“ vorstellte. Das war alles andere als eine Kehrtwende, ein Einschwenken in die herkömmliche Poetik, sondern der gewagte Versuch, die experimentelle Poetik auf traditionelle Formen anzuwenden. Er knüpfte ausdrücklich an Autoren des 19. Jahrhunderts wie Raabe, Fontane oder Ottilie Wildermuth an: nicht, um sich epigonal in deren Schlagschatten zu stellen, sondern um vorzuführen, daß sich deren Erzählmodelle interessant in die Gegenwart brechen lassen. Zwischengestreut sind Kurztexte mit dem Titel Herbst, die ihre Energie aus dem Abbruch des Erzählens holen, die deutlich machen, daß das „Ende des Erzählens“, das damals als Parole durch die Lande geisterte, gar kein „Ende“, sondern ein „neuer Anfang“ sei. Sprachwitzig und spottlustig griff Heißenbüttel die unterschiedlichsten Themen auf. Zum Beispiel: „Ein älterer Buchhändler las einmal in einem Buch, in dem ein älterer Buchhändler ein Buch las“ oder „Eine Reitlehrerin heiratete einmal Bühnenbildner“. Alle diese Kurz - und Kürzestgeschichten enden mit dem formelhaften Satz, mehr sei dazu eigentlich nicht zu sagen, bzw. mit Variationen wie: „Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.“ Von solchen „Cut-up“-Texten stieg Heißenbüttel auf zu längeren Erzählungen, ja sogar Romanen und verblüffte durch die Energien, die er diesen Formen zuführte. Eingeschlossen sind immer wieder Auseinandersetzungen, die der 155


Zum Tod

Autor mit sich selbst führt. Dabei schlägt er den Bogen von der Kindheit – er wurde am 21. Juni 1921 im Wilhelmshaven geboren – bis in ein künstlich hochgeschraubtes Alter: „Er hatte schon in jungen Jahren, so hat er gelegentlich erzählt, nicht begreifen können, woher die Leute so im Lauf eines Tages eigentlich den Stoff für ihr ununterbrochenes und oft ununterbrechbares Gerede herannahmen. Was beschäftigte sie denn so, daß sie den ganzen Tag darüber reden konnten? Später hatte er selber größere Mengen an Redestoff angesammelt, Anekdoten, Floskeln, Klatsch, Gedanken usw., ja er war in den mittleren Jahren seines Lebens mit der Gabe des Einfalls gesegnet gewesen, konnte blitzschnell kombinieren und vermochte damit zu brillieren. / Im Alter hatte er erkannt, daß das alles nur Untersuchungen und Machenschaften waren, die dazu dienten, sich die Fallgruben der Eitelkeit, und der Angst zu verheimlichen, sich darum herumzudrücken, aus sich selbst zurückzustürzen, vergebliche Versuche, am Ende, dem Alleinsein zu entrinnen.“ Ein resignativer Grundzug ist solchen Einlassungen eingegraben. Buchtitel wie Das Ende der Alternative (1980) erhalten von hier aus ihre Füllung. Quer durch diesen Erzählband werden in Momentaufnahmen immer wieder Situationen angepeilt, die kaum mehr Raum für Alternativen bieten. Wie die Vorstellung der „alt gewordenen Revolution“ gerät Heißenbüttel auch der „Abschied der Alternative“ selbst als Allegorie: eine schöne, große Frau mit üppigen Körperformen schreitet aufs Meer zu und watet ins Wasser hinaus. Vielleicht sei sie, heißt es, einen allzu heftigen Pessimismus relativierend, an einem Fremden Ufer ans Land gestiegen, vielleicht auch – ohne daß jemand sie erkannt hätte – schon wieder zurückgekehrt. Der Autor Heißenbüttel ist unwiderruflich dahin, aber er wird in den Köpfen derer am Leben bleiben, die sich daran machen, in der Literatur das Experiment zu suchen, oder, mit Heißenbüttels eigenen Worten zu seinem Poem Gedichtgedicht, „den quasi unsterblichen Triumph der Phantasie, des Traums, provoziert, festgehalten und konserviert durch Sprache“. Frankfurter Rundschau

156



Wolfgang Hilbig


* 31. August 1941 (Meuselwitz, Deutschland) †02. Juni 2007 (Berlin, Deutschland)


Zum Tod

Der Boxer und der Duft des Ginsters von Ingo Schulze

Gespenstergeschichten vom Grauen und von der Schönheit: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Hilbig Als ich Wolfgang Hilbig Ende März dieses Jahres zum letzten Mal sah und der von der Diagnose seiner Ärzte erzählte, saß ich sprachlos vor ihm. Er war, wie man so sagt, von der Krankheit gezeichnet und wog wahrscheinlich nur noch halb so viel wie früher. Obwohl im schwindlig war, eine Auswirkung der Chemotherapie, die er gegen den Rat der Ärzte auf sich genommen hatte, sprach er, wie um mich zu erheitern. „Die haben mir gesagt, ich kann jetzt so viel rauchen, wie ich will.“ Er schilderte Krankenhausszenen, als lese er aus seinen Büchern vor. „Ach weißte“, sagte er und lächelte, „ich nehme das ganz cool.“ Man muss sich diese Sätze, vor allem aber dieses endlos gedehnte „cool“ im Sächsisch-Meuselwitzer Dialekt vorstellen. „Ich nehm das sportlich“, sagte der Boxer mit dem gebrochenen Nasenbein und intoniertewie beim Vorlesen die vorletzte Silber sehr hoch, als müsse jeder Satz einen anderen nach sich ziehen. Er könne sich nicht vorstellen zu sterben. Zahn Jahre gab er sich noch. Ich weiß nicht, ob er wirklich daran glaubte. Ihm wäre es zumindest zuzutrauen, dass er diese Prognose auch seinen Gesprächspartnern zuliebe äußerte, der nun – angesichts von zehn Jahren Zukunft– die 160


von Wolfgang Hilbig

Sprache wieder fand und fragte, ob und was er denn in letzter Zeit geschrieben habe. „Gespenstergeschichten“, sagte er, „ich schreibe Gespenstergeschichten.“„Gespenstergeschichten?“ Doch noch im selben Moment fand ich die Antwort vollkommen einleuchtend, ja folgerichtig. Jedes seiner Bücher war mir immer wie sein letztes erschienen, weil ich geglaubt hatte, dass sie in ihrer Radikalität nicht zu übertreffen wären, dass er selbst nur schwer darüber hinauskommen könnte. Was sollte auf „Die Weiber“, was auf „Alte Abdeckerei“, was auf „Ich“, was auf das „Provisorium“ folgen? Doch zugleich begriff ich bei jedem neuen Buch, dass dieses neue bereits im vorangegangenen angelegt gewesen war. Wie sprachen, nur wenige Sätze letztlich, über die Pfade, die zu diesen Gespenstergeschichten führten – und auch zurückführten. Der Name seines Förderers und Freundes Franz Führmann fiel, die mit seinem Essay „Das mythische Element in der Literatur“ einen poetologischen Grundtext nicht nur für Wolfgang Hilbig geschrieben hat. Und von Führmann führte auch ein Weg zu E.T.A. Hoffmann, der unter den für Wolfgang Hilbig so wichtigen Romantikern wohl der ihm wichtigste war. Und ich zitierte sinngemäß, was Wolfgang Hilbig schon in den Siebzigern in Prosa und Essay geschrieben hatte, nämlich dass der Gespensterglauben in der Arbeiterklasse vielleicht verbreiteter war sei als das Klassenbewusstsein und das neben die Götterlehre der Gespensterglauben trat. „Das hast du gelesen?“, fragte er, als überraschte ihn das. Er lachte, hustete lange, zündete sich eine neue Zigarette an. „Die Literatur, die sich weigerte, der Zerstreuung zu dienen, wurde auf dem Markt mit Nichtbeachtung bestraft…“, heißt es irgendwo im „Provisorium“. Der Krebs stecke in den Knochen. Dass jetzt zweimal am Tag jemand komme, um ihm die Medikamente zu bringen, freue ihn. Er fühle sich versorgt. Und abends komme oft C. Er schlafe viel, aber wenn die Chemo erstmal vorbei sei, dann werde er auch wieder was machen… Gedichte vielleicht. „Ich nehme das sportlich.“ Ich musste an die Eröffnungssequenz des „Provisoriums denken, an den Boxkampf mit der Schaufensterpuppe: „Im nächsten Moment war er erstaunt, wie prachtvoll seine Instinkte noch funktionierten. Automatisch flog ihm die Linke aus der Hüfte, übercrosste den drohend erhobenen 161


Zum Tod

Arm und knallte trocken auf einen Kinnwinkel, den er noch gar nicht rechts im Auge gehabt hatte…“ Es ist schwer, bei Wolfgang Hilbig von einem Opus Magnum zu sprechen. Ob die frühen oder die späten Gedichte, die frühe Kurzprosa, seine Romane, die Erzählungen. Eigentlich ist bei ihm alles gut. Für mich ist „Das Provisorium“ das wichtigste deutsche Buch der letzten zwanzig Jahre. Ihm vorangestellt sind zwei Zitate, das erste von Strindberg: „Um meine Werke schreiben zu können, habe ich meine Biographie, meine Person geopfert. Ich habe nämlich schon früh den Eindruck gehabt, mein Leben sei für mich in Szene gesetzt, damit ich es von allen Seiten sehen solle. Das versöhnte mich mit dem Unglück, und es lehrte mich, mich selbst als Objekt aufzufassen.“ Das zweite zitiert Nicolás Davila und gehört dazu: „Ich wandle in der Finsternis. Doch mich leitet der Duft des Ginsters.“ Diese Rückhaltlosigkeit, mit der Hilbig gegen sich als Autor vorgeht, nimmt einem den Atem. Aber diese Rückhaltlosigkeit macht es überhaupt erst möglich, durch das Nadelöhr des autobiographischen Materials ins Offene zu finden, in die Bedeutsamkeit für andere. Es ist immer beides bei ihm, das Grauen und die Schönheit. Er, der 1941 geborene Werkzeugmacher und Heizer aus Meuselwitz, dessen Vater in Stalingrad fiel, dessen Großvater Analphabet war, der als Arbeiter und Schriftsteller die DDR beim Wort nahm und nolens volens damit ad absurdum führte, stochert im Bodensatz seiner Seele und unserer Gesellschaft. Um das überhaupt auszuhalten, muss er davon in einer Sprache Bericht geben, die die deutschen Romantiker und (am ehesten wohl) William Faulkner als Bezugspunkte hat und die eine Magie entwickelt, der sich wohl niemand entziehen kann, der nicht harthörig ist. Beim Abschied hätte ich gern ein Wort zur Verfügung gehabt, das all das, was ich in ihm sah, was er mir bedeutete, zusammengefasst hätte. Stattdessen tätschelte er mir zum Abschied den Bauch und sagte: „Ich hatte auch mal so einen schönen Bauch, meiner ist jetzt leider weg.“ Er lachte ich lachte. In der Hoffnung, ihn wiederzusehen, schrieb ich eine Preisrede auf ihn, deren Überschrift dem letzten Satz von „Alte Abdeckerei“ entlehnt war: „Der Ort, an dem die Minotauren weiden.“ Mein Zwiegesprächmit dem Minotaurus, zu dessen Zeugen 162


von Wolfgang Hilbig

ich mir Wolfgang Hilbig sehnlichst gewünscht hatte, fand bereits ohne ihn statt. Spätestens da war klar, wie kurz die zehn Jahre werden würden. An diesem Nachmittag im Peter-Huchel-Haus bei Potsdam schilderte mir aber ein Freund, der mit Wolfgang Hilbig noch zwei Wochen zuvor beim Bob-Dylan-Konzert gewesen war, wie der Dichter Hilbig plötzlich von seinem Sitz aufgesprungen war und mit einem Schrei seine rechte Faust emporgereckt hatte. Das war, sagte der Freund, sein Abschied von Bob Dylan. Ich glaube, es war überhaupt sein Abschied. Ich sehe diese Szene vor mir, als hätte ich sie selbst erlebt, eine Geste und ein Schrei von diesem Mann Mitte Sechzig – und da wusste ich auch das Wort, das all das gesagt hätte, was ich in ihm sah, weil nur er, Wolfgang Hilbig, dieses fragwürdige und bis zur Lächerlichkeit verhunzte Wort mit Würde und Größe erfüllen konnte: Wolfgang Hilbig, du bist der Champion! Frankfurter Allgemeine Zeitung

163


Wolfgang Hildesheimer


* 9. Dezember 1916 (Hamburg, Deutschland) †21. August 1991 (Poschiavo, Schweiz)


Zum Tod

Wo man das, was der Fische Sprache wäre, ohne sie spricht von Adolf Muschg

Zum Tod von Wolfgang Hildesheimers Ein Nachruf aus einem Ort, wo ich kein Buch von ihm in die Hand nehmen, keinen Satz wörtlich zitieren kann: das hätte ihn wohl erheitert. Aber ein Nachruf überhaupt? Wolfgang Hildesheimer ist tot? Das kann nicht sein Ernst sein. Wie gern würde ich jetzt am tiefen Ernst seiner Heiterkeit zweifeln. Das erste, was ich von ihm las, noch als Student: Die lieblosen Legenden. Wie habe ich über das „Pilzjahr“ buchstäblich Tränen gelacht: die Geschichte des Mannes, dessen Genie darin bestand, Kunstwerke zu verhindern; daß zum Beispiel Rossini von der Oper auf den Tournedos ablenkte. Von Pilz zu Marbot, vom verhinderten Meisterwerk zur fingiertenReal-Biographie: welche Karriere eines Œuvres; welcher atemberaubende Fortschritt des trompe-l’oeil. Bis zu dem in aller Form angekündigtenVerschwinden des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimers aus der Literatur im Jahre 1984. Von da an gab es nur noch die Collagen – aber was heißt hier: nur noch? Ginge es um Kriterien des Gelingens: der Bildende Künstl166


von Wolfgang Hildesheimers

er brauchte sich vor dem Schriftsteller nicht zu verstecken. Und wer diesen kennt, kann ermessen, was das bedeutet. Nur: wer durfte sagen, er habe ihn gekannt? Fast noch etwas getroster getraute ich mich zu sagen, wir seien befreundet gewesen – auf die Solidarität seiner Menschlichkeit war Verlaß, unbedingt. Das Verbot, den bedeutenden Künstler kennen zu wollen, stand zwischen allen seinen Zeilen. Und gab ihnen ihre faszinierende Richtigkeit. Ein einziges Mal habe ich es auch explizit bei ihm gelesen: für Mozart und gegen dessen Verehrer. Auch dafür war er ihm als Gegenstand zu teuer. Oder umgekehrt: Was ihm am liebsten und teuersten war, sollte nicht Gegenstand werden. Es ist schon mehr als gut, wenn man den Prozeß zu Protokoll geben kann, in den es einen verwickelt und den die Selbstkritik der Verehrung ebenso unerbittlich wie spielerisch macht. Der hier komponierte war ein analysierter Autor; und er erwartete einen Leser, der im Aufbau einer Figur zugleich ihren Abbau genießen konnte. Denn sein Bildnisverbot war das Gegenteil eines Tabus. Und, bei Gott, nicht jenseits des Lustprinzips angesiedelt. Es verbot nur, was der gute Stil verbot: Anbiederung, Kumpanie, Treuherzigkeit. Diesem Autor brauchte niemand zu sagen, Kunst sei das Gegenteil von gut gemeint. Das aber hatte etwas damit zu tun, daß er vom Menschen etwas Gutes erwartete und allerhand unternahm, es zu befördern. Keinen Kollegen hätte leichter – aber nicht leichtsinnig – „gut“ genannt, verläßlich und hilfreich. Keiner hat, nachdem er der Literatur den Abschied gegeben hatte, die Zukunft so wenig verabschiedet wie er, obwohl er nicht mehr an sie glaubte. Greenpeace oder die Rettung der Greina, eines unberührten Bergtals: das blieb ihm der Mühe wert, ihrer wahrscheinlichen Vergeblichkeit ungeachtet, ja diese eingeschlossen. Credo Quiz absurdum? Nein, er gab keine Gläubigkeit zu erkennen – dafür ersparte er sich auch das Pathos des Absurden. Er tat es, weil es nichts anderes gab. Er hat mit dem Verschwinden gespielt, aus großem künstlerischen Ernst und menschlicher Gewissenhaftigkeit. So hat er, in den Mitteilungen an Max, dem Spiel mit Wort, Spruch und Redensart, aus allem, was in der Sprache gegen sie selber spricht, ein Abschiedsfest gegeben und dem verwandten Meister gewidmet, Max Frisch, dessen Landsmann er geworden 167


Zum Tod

war. Er ist Schweizer geworden mit allem Ernst, den er, der ansässig gewordene Jude, für geboten hielt und den er sich von den Dummheiten der Fremdenpolizei nicht verderben ließ. Die Überschwemmung seines Tales, des Puschlav und seines Hauses, hat seine Lebensgeister nicht deprimiert, sondern ermutigt. Seine Kunst war immer am Rand geschichtlicher Katastrophen angebaut gewesen: für die natürlichen hat er etwas wie Rührung aufgebracht. Das Versteckspiel seiner Figuren war sein Beitrag zum Realitätssinn der Zeitgenossen; das Surreale daran hat er nicht gesucht, es hat ihn gefunden. Und das war es ebenso eine Sache des Überlebens wie des ehrlichen Kunstgewissens, auf seiner Höhe zu bleiben. Aus dieser Höhe kein Wesen, sondern ein Wunder von Prosa zu machen: das ist das Werk seiner Erfindungen von Tynset bis Marbot, an denen nichts erfunden ist und alles. Im Labyrinth gibt es kein Versteck. Das ist die Prämisse eines Lebens, das sich ins Kunst verwandelt und ihr das Beste und Genaueste abgewinnt aus dem Wissen, daß es in ihr nicht aufgeht. Daß läßt er die Kunst so wenig büßen wie den Leser. Wer das Schwarze an der Heiterkeit seiner frühen Bücher für Mutwillen zugunsten des Lesers gehalten hat, wurde später einer noch stärkeren Gunst gewürdigt: einer unerbittlichen Höflichkeit, die dem Leser nichts schenkt außer der Hauptsache: das Spiel. Und je graziöser es daherkommt, desto weniger ist es eine Bagatelle. So war Wolfgang Hildesheimer ungegenständlich aus Respekt vor seinen Gegenständen und aus dem Wunsch, ihnen keine Spielchance schuldig zu bleiben. Er war ein Klassiker, weil er der Sprache ein strenges Maß zu nehmen wußte auch für ihre Unhaltbarkeit, die er zu Bewegung erzog: und darin war er modern. Diese Zuschreibungen nehmen sich heute alle ein wenig läppisch aus – wie jedes Lob. Vor diesem Werk gibt es keine Eloge, die nicht ein Euphemismus wäre. Zum Glück ist es auch ein unstatthafter Nachruf, daß es vollendet sei. Es wird noch manchem Leser den Prozeß machen und dabei einen Begriff dafür geben, was Unterhaltung auch heißen könnte: Gericht und Selbstgericht als Vergnügen. Man wird ihm gewachsen sein müssen, um eine Kultur zu bleiben. Dieser Tod ist sein Ernst, daran gibt es nichts zu verkleinern. Er fehlt. Seine menschliche Gegenwart, sein Charakter als Zeitge168


von Wolfgang Hildesheimers

nosse – keine Erfindung kann ihn ersetzen, auch nicht seine eigene. Wenn überhaupt etwas bleibt (er glaubte nicht sehr daran), werden seine Bücher bleiben. Für jetzt bleibt nur der Dank für die Arbeit eines Lebens und an die Frau, die es mitgetragen und tragbar gemacht hat. Frankfurter Allgemeine Zeitung

169


Ernst Jandl


* 01.08.1925 (Wien, Schweiz) †09.06.2000 (Wien, Schweiz)


Zum Tod

Ich werde hinter keinem her sein! von Karl Riha

Im übrigen schreibe ich Texte, deren Einordnung ich anderen überlasse: Zum Tod des großen Dichters Ernst Jandl der tod des todes den tod dem tod Zu seiner Poetik-Vorlesung an der Frankfurter Universität im Wintersemester 1984/85 reichte einer der großen Hörsäle mit 500 Sitzplätzen nicht aus, und es musste per Bild- und Tonübertragung ein zweiter Hörsaal angeschlossen werden, um den Andrang bewältigen zu können. In den ersten Reihen versammelte sich die gesamte Germanistendozentenschaft, die sich sonst eher in ihre historischen Gegenstände vergräbt, hier aber doch wohl das Gefühl hatte, dass man etwas verpasst, wenn man sich nicht auf die Beine macht und die Ohren spitzt. Dass dem so war, davon kann man sich heute noch durch den Videomitschnitt überzeugen; im übrigen bestätigte Ernst Jandl die Ereignishaftigkeit seiner Leseauftritte an unterschiedlichsten Orten, sogar in der entlegenen Provinz. Die Vorlesung handelte vom Öffnen und Schließen des Mundes, vom Röcheln der Mona Lisa und von den Theaterstücken Die Humanisten und Aus der Fremde. Sie wurden ergänzt durch frühe Statements zum eigenen Werk, in denen zum Beispiel der für Jandls Lyrik so charakteristi172


von Ernst Jandl

sche Terminus „Sprechgedicht“ geprägt wird, durch Reden anlässlich einiger Literaturpreise, die ihm bereits bis dahin verliehen worden waren – der Tackl-Preis, der Große Österreichische Staatspreis, der Georg-Büchner-Preis etc. – oder durch Hinweis auf diverse, ihm nahestehende Autorinnen und Autoren, darunter als Zentrale Mitglieder der Wiener Gruppe, mit der er eng kommunizierte und der er wichtige Anstöße zu verdanken hatte, an besonderer Stelle H.C. Artmann und Konrad Bayer. Die Einblicke, die er in das eigene Schaffen eröffnet, schließen sich zu einer Art Werkpoetik zusammen. Ihr Spannbogen reicht von Anschlüssen an experimentelle Neufindungen der Primärmoderne zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, zum Beispiel an das dadaistische Lautgedicht, bis hin zu einprägsamen Eigenformeln – so etwa: „Im übrigen schrieb und schreibe ich Texte, deren Einordnung ich anderen überlasse, in einer auf verschiedene Weise aus dem gewohnten in ein ungewohntes Gleichgewicht gebrachten Sprache.“ Ferner hielt er fest:“Es gibt viele Möglichkeiten, ein Gedicht zu machen, und jeder, der ein Gedicht macht, müßte immer neue Möglichkeiten dafür entdecken; dann wird diese Arbeit für ihn selbst immer wieder etwas Neues sein, und das Ergebnis seiner Arbeit, das Gedicht für den Leser jedesmal ein Abenteuer.“ Dies nachzuprüfen, hatte und hat der Leser Gelegenheit in Einzelpublikationen unter Titeln wie Laut und Luise, sprechblasen, der künstliche baum, dingfest, serienfuss die bearbeitung der mütze, der gelbe hund bis herauf zu stanzen und peter und die kuh oder aber in gleich zwei Ausgaben Gesammelter Werke in den Jahren 1985 bzw. 1997, beide bei Luchterhand erschienen, herausgegeben von Klaus Siblewski. Die Hinwendung zur experimentellen Poesie im Sinne der Wiener Gruppe bzw. der zeitlich parallel sich etablierenden Stuttgarter Gruppe um Max Bense erfolgte nach der Veröffentlichung eines ersten, eher traditionellen Gedichtbandes mit dem Titel Andere Augen, 1956. Dass es sich hierbei jedoch um keinen radikalen Bruch handelt, zeigt die Aufnahme früherer Gedichte in spätere Ausgaben – wie überhaupt der Rekurs auf herkömmliche Gedichtarten (vom klassischen Sonett bis zum mundartlichen Stanzerl) bis in das Spätwerk Jandls hinein in eine eigene Kontinuität hat. Er zeigt eben, dass sich avantgardistische Positionen nicht nur zur Dekomposition 173


Zum Tod

der Tradition, sondern gerade auch zu ihrer innovativen Rekomposition eignen. Erste „Sprechgedichte“ trug Jandl im November 1957 im Rahmen der Lesereihe „Experimentelle Dichtung“ im Klubsaal der Wiener Urania vor, bei der auch Friederieke Mayröcker mit „Magischem Realismus“ sowie H.C. Artmann und Gerhard Rühm mit Wortgestaltungen, Montagen und „absoluter Lyrik“ mit von der Partie waren. „meine Experimente nahmen oft züge der traditionellen lyrik auf“ notierte Jandl zu seinem Beitrag in Reinhard Döhls Anthologie zwischen-räume und verwies gleichzeitig auf seine „ausgangspunkte“ bei August Stramm, Hans Arp und Gertrude Stein. Dieses Wechselspiel zwischen traditionellen und experimentellen Gedicht-Dispositionen erlaubte es 1966 Helmut Heißenbüttel, in seinem Nachwort zu Laut und Luise davon zu sprechen, es handle sich hier um „Gedichte wie eh und je“, allerdings mit dem markanten Zusatz:(„soweit es je Gedichte wie eh und je gegeben hat)“. Von einem radikalen Misstrauen in die Kommunikationsfähigkeit der Sprache, das geradewegs ins „Gerade-noch-Sagbare“ oder gar ins „Schweigen“ führt, kann bei Jandl nur bedingt die Rede sein. Seine Texte balancieren vielmehr ein elementares Sprachspiel-Vergnügen aus, das seinen Reiz der verzerrenden Artikulation, dem Buchstabentausch, dem Fehl- und Falschsprechen entnimmt: „eile mit feile“, „nach dem okitus“, „bette stellen sie die tassen auf den tesch“ oder „spül düch, meun künd“. Assoziationsreich wird der Spaß dort, wo sich Hintersinn-Fallgruben auftun wie bei jenem längst in den Kanon der Sprüchekultur abgesunkenen Fünfzeiler: manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern / werch ein illtum. Dass Botschaften heute mehr denn je der Verderbnis ausgesetzt sind, verrotten, wird nicht rhetorisiert, sondern der Sprache selbst eingeschrieben und an ihrem Schrift-Bild vors Auge gehoben: schim schanflang war das Wort schund das wort war bei flott / schund flott war das wort schund das wort schist fleisch / gewlorden schund schat schunter schuns gewlohnt.

174


von Ernst Jandl

1965 erschien die erste Schallplatte mit Texten Jandls; in die Jahre zwischen 1967 und 1971 fiel eine umfänglichere Hörspielproduktion, wobei etwa die Hälfte der Stücke gemeinsam mit Friederike Mayröcker verfasst wurden. Für Fünf Mann Menschen erhielten beide den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“. Nach einigen ersten Anläufen gelang Jandl mit der 7-szenigen Sprechoper Aus der Fremde sogar der Zugriff aufs Theater: Erstaufgeführt im Rahmen der Grazer Veranstaltungsreihe „Steirischer Herbst“, übernahm die Berliner Schaubühne Anfang 1980 das Stück. Spätestens seit er als Soldat in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen wurde, war der Tod für den Österreicher ein fixes literarisches Thema. Als eigenes Erlebnis war er ein langer Prozess, auf den er in seinen Texten zu sprechen gekommen ist – dokumentarisch etwa, durch die Aufzeichnung von Marterlsprüchen, wie man sie auf österreichischen Friedhöfen findet, sprachspielerisch im Lautgedicht im reich der toten, schonungslos offen sich selbst und seinen Qualen gegenüber, verzweifelt: lieber gott, laß mich eher sterben / als den nächsten morgen erben. Oder – in eigenwilliger grammatikalischer Diktion – absolut desperat, anscheinend am Ende bar jeder Hoffnung: doktor ich nicht aufhören krepieren / du mir geben mittel für krepieren. Und schließlich – auf uns gemünzt, die wir ihn überleben dürfen auch in folgender form: abgesang wenn ich tot bin seid ihr mich los wer muß soll tränen vergießen wer will mag sich die hände reiben wer will mag die achseln zucken wer kann muß keine miene verziehen die meisten werden keine notiz davon nehmen ich werde hinter keinem hersein ich werde niemandem erscheinen ich werde nie in leere spiegel blicken. Spätestens hier jedoch falle ich ihm in die Parade, erinnere ihn daran, ehe man den Sargdeckel endgültig über ihm schließt, dass ihm doch zeit seines Lebens eine große Neugierde nach dem Neuen und Unbekannten umgetrieben hat, fassbar etwa in seinem so merkwürdig auf Deutsch und Englisch gemixten calypso-Song: 175


Zum Tod von Ernst Jandl

wer ich was not yet / ich laik du go sehr – und versichere ihm, dass er uns auch als Toter noch oft genug höchst lebendig gegenüber treten wird, wenn wir nur nach einem seiner Bücher, die er uns hinterlassen hat, greifen oder einen jener Texte erinnern, die uns so fest im Kopf hängen geblieben sind, dass wir ihn auswendig zu zitieren wissen. Ernst Jandl, der im Deutschen wohl einflussreichste Sprachspieler, starb am Freitag, wenige Wochen vor seinem 75. Geburtstag. Frankfurter Rundschau

176



Thomas Kling


* 5. Juni 1957 (Bingen am Rhein, Deutschland) †1. April 2005 (Dormagen, Deutschland)


Zum Tod

In Bilder denken von Daniel Kothenschulte

Das Pathos zertrümmern, die Gemütlichkeit zerstören - die Sprache retten. Zum Tod des Lyrikers Thomas Kling „Die Totenrede stirbt aus!“ hat der Dichter Thomas Kling einmal geschrieben und: „Jeder Greis, der stirbt, heißt es in Afrika, ist eine brennende Bibliothek.“ Greis? Thomas Kling wurde 47 Jahre alt. Aber die Bibliothek, die brennt. Und was für eine. Das helle, augenschmerzende Lodern. Hier ist ein Bild- und Sprachspeicher gestorben, ein Memorizer, ein Historiker, ein Medienbewandeter und Menschenkenner wie nur wenige. Sein unbestechlicher Blick, sein Scharfsinn, seine Bildmächtigkeit: fortan werden wir uns an sein Werk halten müssen, an den kompakten Präsenzbestand von knapp zwanzig Gedichtbänden, Essansammlungen, Editionen, Künstlerbüchern, Übertragungen und Tonträgern mit Auftrittsaufzeichnungen aus fünfundzwanzig Jahren. Und es gibt wenig - lässt sich jetzt schon sagen - an europäischer Dichtung der Gegenwart, was auf derselben Reallöhne steht. Als Thomas Kling Mitte der achtziger Jahre die literarische Bühne betritt, betritt er sie konkret als Bühne, mit einer Sprech- und Körperhaltung, die signalisiert: Hier wird, hellwach, etwas vorgetragen. Eine Lesung in der Düsseldorfer Kunsthalle, Ende September 1986: Vorab stellt Thomas Kling ein Gläschen Löwensenf aufs Pult, den extra-scharfen, dann liest er- genauer: rezitiert, weil er sie selbstverständlich auswendig kann - drei Gedichte aus Typoskript, das, mehr als die 180


von Thomas Kling

reine textvorlage, ein optisches Ereignis ist, in Form einer Stempelarbeit der Düsseldorfer Schule. Thomas Kling spricht sein heutiges Gedicht „Düsseldorfer Kölemik“, und als eine Zuschauerin empört den Saal verlässt, versäumt er nicht, ihr bitten im Gedicht „Auf Wiedersehen“ hinterherzurufen. Dr Auftrittsort, das Requisit, die Typoskriptgestaltung und das Parieren- nichts Zufälliges daran. Denn als 1986 mit „Erprobung herzstärkender Mittel“ sein erster umfangreicher Gedichtband erscheint, hat Thomas Kling bereits andere Szenen intensiv studiert, ungleich vitaler als der Literaturbetrieb seinerzeit: Mit dem Theater steht er seit seiner Schulzeit in Kontakt. Er schreibt Filmkritiken. Mit der Kunstwelt kommt er in Düsseldorf fast zwangsläufig in Berührung - später wird es für eine Weile für eine Kölner Galerie tätig sein. Bei seiner Zusammenarbeit mit Musikern wie Frank Köllges und Jörg Ritzenhoff hat er sich im Klang- und Auftrittswesen umgesehen. Die Kunst des verbalen Schlagabtauschs hat Thomas Kling Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in seiner wichtigen Wiener Zeit verfeinert, wo man den Rheinländer, den Piefke auf der Szene mit einem Spruch begrüßte, in dem sich - das geht nur wienerisch - „Düsseldorf“ auf „Rüssel-scharf“ reimt. Auf so jemanden, der die Kunstparten kennt, der eine sehr genaue Vorstellung von Bild und Raum und Ton mitbringt, reagiert die literarische Öffentlichkeit erst einmal verschreckt. Und natürlich hat Thomas Kling auch die Drastik nicht gescheut, wo sie vonnöten war. Da verhaspelt sich (in „Letzter take: bogart“) der alternde Schauspieler: „reich- /lich bestürzt als sie mir ihre / achtjährige ihre achtzehnjährige / Uschi, also, äh, nicht von schlechtn Eltern / (zeigte? vorwies?)“, da taucht auch ds „UNGELÖSCHTE / MEGELE VIDEO“ plötzlich auf. So was galt Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in feinsinnigen Lyrikkreisen als unfein, wenn nicht unverschämt. Dabei fiel aus dem Blick, wie fein die Dichtung Thomas Klingt gearbeitet ist: Denn „ungelöscht“ war bis zur Erfindung der Magnetaufzeichnung bloß der Kalk, in dem man Leichen verschwinden lässt. Schonungslos richtet Kling sein Dichterauge auch auf Unappetitliches, nicht um zu provozieren, sondern weil er das Gedicht als Erkenntnisinstrument begreift. Bei ihm erscheint der Mensch in 181


Zum Tod

seiner ganzen Größe und damit auch in seiner ganzen Monstrosität. Kling fehlt entschieden der Sinn fürs Sentimentale - Sentimentalität, das weiß er, das wissen seine Gedichte, ist nur die Kehrseite der Bestialität. Wer unter diesen Vorraussetzungen dichte, dessen Blick darf man bitte nicht als „bald“ missverstehen. Ein Missverständnis auch die Sprachzertrümmerung“, von der im Zusammenhang mit Kings Arbeit immer wieder die Rede ist. Nichts wäre abwegiger. Patmoszertrümmerung, Gemütlichkeitszertrümmerung: Ja. Aber Sprache zertrümmern, diesen riesigen, unendlich viel gestaltigen Satz? Niemals. So hat schon das Kind als Sprachsammler und Sprachprobierter gelesen: „Ich saß am Tisch, allein, mittags, die Großeltern schliefen, die Mutter ruhte sich aus, ich saß bei geöffnetem Fenster und las den Kluge-Götze, das sprachgeschichtliche Wörterbuch. Ein Krimi.!“ Und in derselben autobiographischen Skizze heißt es hinsichtlich der Prägung durch den Großvater: „Mein Großvater hatte kurz nach 1900 in Berlin studiert. Diese Zeit, und spätere Jahrzehnte, waren mir als Kind absolut gegenwärtig, die Zeit war für mich Jetzt.“ Man muss ergänzen: Auch das Mittelalter, auch die Antike - die Menschheitsgeschichte war Thomas Kling präsent. Jene Gedichte etwa, in denen er sich an archäologische Ausgrabungsstätten begibt, sind folgerichtig als kriminalistische Spurensicherung inszeniert. Und zur Spurensicherung gehört unendliche Geduld. Die hat er aufgebracht. Mit der Zeit haben die Leser das auch in seinen Arbeiten erkannt. War man anfangs vom hohen Tempo und de Dynamik überwältigt, mit denen seine Gedichte sich aufs Gegenüber zu bewegten, so war ab Mitte der neunziger Jahre zu bewundern, wie langsam ein Gedicht vorgelesen werden kann, ohne die Spannung zu verlieren. Die Drosselung des Vortragstempos entsprach genau dem, was in diesen Gedichten jetzt geschah: Sorgsames Graben, vorsichtiges Berühren, zartes Abtasten auch, und das Betrachten der zum Vorschein kommenden Sprachgegenstände in Zeitlupe, bis an den Rand des Schmerzes. In dieser dichterischen Arbeit kam ihm seine Medienprofessionalität zugute. es stimmt, er griff die Praxis der Gegenwartsmedien in seinen Gedichten auf und wandte den Techniken, deren wahrnehmungsverändernde Wirkung auf das 182


von Thomas Kling

Gedichtschreiben an: Gewissermaßen Bildreporter und danebengehender Tonmann in einem. Darüber sollte nicht vergessen werden, wie gut er sich, dem alles gegenwärtig war, zudem in alten, in uralten Medien auskannte. Ich erinnere mich an eine spontane Kirchenführung im Kloster Knechtsteden zwischen Neuss und Köln. Der tote Bildspeicher, der tote Sprachspeicher: Indem Thomas Kling uns erzählte, indem er uns die Bilder vorlas, wurde das Kircheninnere zum Film. So hat er nebenher verschollene Bedienungsanleitungen für alte Medien neu geschrieben. Und jetzt erst wird mir klar, Totes hat es für Thomas Kling gar nicht gegeben. Also für den Übersetzer aus dem Lateinischen und Mittelhochdeutschen auch keine toten Sprache: Wenn er ein Wort im Vinschgauer Dialekt nicht verstand, das ihm ein alter Knecht sagte, schlug er - Reisegepäck! in Lesers Mittelhochdeutschem Taschenwörterbuch nach. Und fand es. Sprache ist alles was lebendig ist. Niemand hat es mit Thomas Kling aufnehmen können, was seine Kenntnis der Kulturtechniken angeht, sein Lexikon und seine Fähigkeit, blitzschnell Verbindungen zu erkennen. Thomas Kling war hochgebildet, keine Frage. Aber zur Bildung trat - und hier zeigt sich die Einmaligkeit - eine ungeheure Fertigkeit als Bilderbücher. Es reicht ja nicht, dass man die Wörter kennt, man muss die bezeichneten Dinge zeigen können. So zeigt sich in Klingt Dichtungen das scharfe Denken, als Bilderfolge von höchster Plastizität. Die Bilder denken. Und wir lernen sehen. mit Thomas Klingt Gedichten kann der Leser ebenso in vorchristliche Zeiten wie in die Botanik gehen. Dann kommt, vor einem Jahr, die Krankheit. Der Tod fordert Thomas Kling zum Duell? Das kann er haben. Der Tod, der Ungeklärte, erhält seinen Auftritt, und Thomas Kling, der immer offene Mensch, von ungetrübter Neugier bis zur letzten Stunde, setzt ihm etwas entgegen. Er fängt, als Dichter, an zu staunen: Über sich selber. Und über das, was in seinen Atemorganen vor sich geht. Noch einmal entdeckt der Atemkünstler, der Beobachter (nachlesen im Zyklus „Gesang von der Bronchoskopie“ im eben erschienen Band „Auswertung der Flugdaten“) ein ganz neues Terrain, während sein Inneres, sein Innenleben, seine Lungen mittels avancierter Medizintechnik von Außenstehenden beobachtet werden. In den Nachrufen auf Thomas 183


Zum Tod von Thomas Kling

Kling ist vom „ausgezeichneten Lyriker“ die Rede, vom „Ausnahme. Lyriker“ und vom „zweifellos bedeutendsten Dichter seiner Generation“. Gewiss. Wir werden noch eine Weile brauchen, bis wir begreifen: Der Verlust dieses Dichters ist nur mit jenem zu vergleichen, den der Tod Paul Clans bedeutet hat, mit 49, zwei Jahre älter als nun Thomas Kling. Die Bibliothek, die brennt. Frankfurter Allgemeine Zeitung

184



Astrid Lindgren


* 14. November 1907 (Schweden) †28. Januar 2002 (Schweden)


Zum Tod

Wiedersehen in Nangijala von Hannes Gamillscheg

Aufmüpfige Kinder haben Löwenherz: Zum Tod der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren So hat es Jonathan Löwenherz seinem kleinen Bruder erzählt, und der hat es erlebt, als er selbst starb. Doch Nagijala ist noch kein Paradies, auch wenn man dort den geliebten großen Bruder wiedersehen kann, denn es gilt noch, den letzten Kampf gegen das Böse zu gewinnen. Erst wenn Ritter Kato besiegt ist und der Drache Katla, dann erst kann man nach Nangilima kommen, wo alles gut ist. Das wissen wir dank Astrid Lindgren, denn sie hat das Buch von den Brüdern Löwenherz geschrieben, das Buch vom Tod. Nicht weil ihr selbst der Tod so wichtig war, auch wenn sie immer älter wurde und sah, wie die Menschen, die sie geliebt hatte, rings um sie wegstarben. „Döden, döden“, so leitete sie die täglichen Telefongespräche ein, die sie bis zuletzt mit ihrer jüngsten Schwester führte. „Der Tod, der Tod“. „Damit war das Thema abgehakt und wir konnten uns lustigeren Dingen zuwenden“, berichtete sie schelmisch, als sie neunzig wurde. Die Brüder Löwenherz schrieb sie, als sie auf einem Friedhof das frische Grab eines Kindes sah und dachte, wie wohl Kinder mit dem Sterben zurechtkommen konnten. Sie hat ihnen Nagijala geschenkt. Jetzt ist sie selbst dorthin gereist. Als ich Astrid Lindgren 188


von Astrid Lindgren

das letzte Mal besuchte, war sie sehr alt geworden, sehr schwach, blind fast, und sie klagte, dass sie müde geworden sei. Doch geistig war sie frisch wie stets, voll mildem Witz und einer Freundlichkeit, die nur große Menschen so großzügig austeilen können. Sie lebte immer noch in der selben Drei-Zimmer-Wohnung in der Stockholmer Dalagata, die sie mit ihrem Mann schon teilte, noch ehe sie das erste ihrer 44 Bücher schrieb, und wäre da nicht die Bücherwand gewesen, die voll war von den bunten Ausgaben ihrer eigenen in 76 Sprachen übersetzten Werke, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass hier eine weltberühmte reiche Frau zuhause sei. Sie fragte mich, worüber wir reden sollten und ich dachte, dass ihr die ständig gleichen Journalistenfragen auf die Nerven gehen mussten und fragte zurück, was sie erzählen wolle. Da wollte sie statt über sich zu reden von mir hören, von meiner Kindheit. Doch dann sprachen wir natürlich doch über sie, denn meine Kindheit ist von Astrid Lindgren nicht zu trennen. Das schönste der Spiele war Bullerbü, wenn ich tat, als sei ich Lasse und als sei der Hinterhof einer Essigfabrik, in dem ich auswuchs, der Mittelhof des schwedischen Bergdorfs, in dem ich mit Bosse und Lisa wohnte, auch wenn sie in Wirklichkeit Ernst und Marlenchen hießen. Die Pipi Langstrumpf kannte ich damals nur vage, denn meine Mutter hielt ein Buch über ein Mädchen, das Pferde stemmen konnte, nicht für gute Literatur. „Ja, die Erwachsenen“, lachte Astrid Lindgren, als ich ihr das erzählte, denn solche Kritik hatte sie oft gehört. Als sie 1944 ihr Pippi-Manuskript dem berühmten Bonnire-Verlag schickte, lehnte dieser die Veröffentlichung ab. Die aufmüpfige Heldin der damals 37jährigen Debutantin war nichts für Kinder, meinten die Lektoren. Bei Bonnier beißt man sich wohl heute noch aus Wut in den Hintern, denn Astrid Lindgren ging statt dessen zu Raben & Sjögren, wo sie blieb und achtzig Millionen Bücher verkaufte. Dass sie zu schreiben begann, habe sie ihrer Kindheitsfreundin Edit zu verdanken, und dem Glatteis sagte sie. Als Astrid fünf war, las ihr Edit in einer Gesindeküche das Märchen vom Riesen Bam-Bam und der Fee Viribunda vor, und seither war sie gefangen von der Macht des Wortes. Und weil sie sich im Eiswinter 1944 das Bein brach, im Bett liegen musste und nichts Besseres zu tun hatte, begann sie die Geschichten aufzuschreiben, die sie ihrer kranken 189


Zum Tod

Tochter Karin erzählt hatte. Später kamen Karins Freundinnen hinzu und sie konnten sich gar nicht satthören an den Abenteuern der starken, lieben Göre. Drum wusste Astrid Lindgren, dass die Bonnier-Lektoren unrecht hatten, als sie ihr Manuskript ablehnten. Auf das Urteil der Kinder hat sie stets mehr gegeben als auf das Erwachsener. Die wollten immer nur rumdeuten an ihren Texten, Erklärungen finden. „Ich schrieb, weil ich daran Spaß hatte“, sagte sie. Basta. Und für die Kritiker, die mal den schlechten Einfluss der antiautoritären Pippi auf brave Kinder fürchteten, dann die heile Welt von Bullerbü anprangerten oder motzten, warum die Brüder Löwenherz gegen Drachen kämpfen mussten, wo doch die soziale Wirklichkeit Konfliktstoff genug biete, für die hatte sie nie mehr übrig als ein ärgerliches „Ach Was!“ Was sollte sie denen erklären? Die Kinder verstanden sie. Da war das wichtige. „Es gibt Kinderbuchautoren, die über die Köpfe der Kinder hinweg den Erwachsenen zuzwinkern“, sagte Astrid Lindgren. „Das ist schrecklich.“ Das hat sie nie getan. Sie hat für Kinder geschrieben, in einer einfachen, klaren, klischeefreien Sprache, so witzig, dass man beim Vorlesen einfach lachen und beim Selbstlesen kichern muss. Wer glaubt, er könnte beim Firmungsfest der eigenen Tochter von der Geburt der Ronja Räubertochter vorlesen, wie ich dies versuchte, ohne feuchte Augen und eine belegte Stimme zu kriegen, dem sei gesagt: geht nicht. Denn was Astrid Lindgren schrieb, war mehr als lustige Geschichten über nette Kinder. Sie schuf Figuren, die Persönlichkeiten waren, die schmerzvolle Konflikte auszutragen hatten und gerade deshalb für ihre Leser so wertvoll wurden: wie Ronja, die zwischen Freund und Vater wählen muss, wie Mio, der bei lieblosen Adoptiveltern aufwächst und vom Vater träumt. Und auch ein Strolch wie Michel, Astrid Lindgrens Lieblingsgestalt, ist uns deshalb so ans Herz gewachsen, weil er das seine am rechten Fleck trägt; weil er Alfred, den Knecht und Freund, vor dem Tod rettet und den Ärmsten im Dorf den üppigsten Weihnachtsschmaus beschert. Dass viele Kinder heute ihre Figuren nur noch aus Film und Fernsehen kennen, ist nicht im Sinne der Erzählerin, obwohl es unter den zahlreichen Verfilmungen einige gibt, die man als konge190


von Astrid Lindgren

nial bezeichnen muss. Die erste Pippi - nicht die Comic-Version! -, die Ronja, der Michel aus Lönneberg sind auch auf dem Bildschirm Meisterwerke, die Kinder und ihre Eltern immer wieder sehen können. Doch Astrid Lindgren sah mit Sorge, dass Kinder heutzutage immer weniger spielen und immer mehr zusehen, wenn ihnen etwas vorgespielt wird. Wo, fragte sie, bleibt da noch Raum für die Fantasie? Später, viel später wurde Astrid Lindgren auch eine politische Figur, die durch das Märchen von der Fee Pomperipossa, die mehr Steuern zahlen musste als sie verdiente, entscheidend zur ersten sozialdemokratischen Wahlniederlage nach 44 Jahren Regierungsmacht beitrug. Sie hat die Tierquälerei der industriellen Viehzucht angeprangert, rassistische Skinheads getadelt und über den Verkauf schwedischer Sommerhäuser an reiche Deutsche gemeckert. Doch das waren Nebenprodukte ihres schriftstellerischen Ruhms. Was bleiben wird, ist der Einfluss, den sie durch ihre Bücher auszuüben vermochte, die ganz ohne pädagogischen Zeigefinger humanistische Manifeste sind, für die Rechte von Kindern, gegen Gewalt. Sie hat das Böse schon zu Lebzeiten - humorvoll - bekämpft. Gestern starb Astrid Lindgren in ihrer Stockholmer Wohnung im Alter von 94 Jahren. Sie wird sehr bald in Nangilima sein. Frankfurter Allgemeine Zeitung

191


Zum Tod

In Bilde denken von Daniel Kothenschulte

Als Filmautorin wirkte Astrid Lindgren im Verborgenen Wie alles, was ihr im Leben gelang, muss auch das Drehbuchschreiben Astrid Lindgren so leicht gefallen sein, dass sie nicht viel Aufhebens darum machte. „Bilder habe ich eigentlich immer im Kopf“, war ihre einfache Erklärung. „Und wenn ich ein Drehbuch schreibe, steht links das, was im Bild passiert, und rechts steht, was die Menschen sagen, und so geht es weiter.“ So einfach ist das also mit dem Drehbuchschreiben, kinderleicht eigentlich. Erstaunlich nur, dass es heute kaum jemand so leichthändig beherrscht wie Astrid Lindgren. Wie kommt es dann, dass ihre intensive persönliche Filmarbeit so unbekannt geblieben ist, dass ihr Name etwa unter den 6000 Einträgen des soeben erschienen „großen Personenlexikon des Films“ von Kai Weniger fehlt? 56 Filme entstanden bis heute nach Lindgrens Büchern, die meisten unter ihrer aktiven Mitwirkung; Fernseharbeiten eingerechnet, tragen 80 Drehbücher ihren Namen. Dies erklärt auch die erstaunliche qualitative Kontinuität, die die klassischen Lindgrenverfilmungen zumindest bis zum Meisterwerk Ronja Räubertochter (1984) auszeichnet. Selbst die vier frühen Kalle-Blomquist-Filme (1947-1957) kann man heutigen Kindern noch unbesehen zeigen, ebenso wie Rasmus und der Vagabund (1955), dessen Geschichte erst danach als Buch erschien. Gern sähe man auch einmal die Erstverfilmung von Pippi Langstrumpf, entstanden bereits 1949. 192


von Astrid Lindgren

Spätestens als die klaren Farben des schwedischen Sommers hinzukamen, bei Ein Wiedersehen auf Bullerbü (1960), war jeder zeitlose Stil der Lindgrenfilme geboren, der ihre Werke nicht altern lässt und weltweit zum Maßstab für Kinderfilme wurde - und uns man manchmal zwei Mal hinsehen lässt, um das alte Bullerbü im Fernsehen von Lasse Halströms liebevoller Neuverfilmung aus den späten 80ern zu unterscheiden. Unbemerkt von der internationalen Filmkritik, gescholten sogar mitunter im eigenen Land, wurden Lindgrens Filme in den 50er und 60er Jahren zum Rettungsanker der schwedischen Filmindustrie - neben denen ihres Bewunderers Ingmar Bergman. Der plante übrigens höchstselbst eine Verfilmung der Kinder aus der Krachmacherstraße, bevor schließlich sein Sohn Daniel 1988 Lindgrens Polly-Geschichten verfilmte. Regisseuren gegenüber verhielt sie sich dabei stets diskret, hielt sich mit Kritik jedoch auch nicht hinter dem Berg. Während sie sich prinzipiell nicht in die Bildgestaltung einmischte, behielt sie doch in aller Regel die Hand auf den Dialogen. Wer hätte ihr da auch etwas vormachen können? „Für mich ist natürlich der Dialog das Wichtigste“, sagte Lindgren dann. „Ich weiß, wie Kinder sprechen. Die Kinder von heute sprechen natürlich ganz anders, aber meine Bücher sind Märchen, und im Märchen spricht man so, wie ich mir das vorstelle, und nicht wie die Kinder von heute sprechen.“ Das mochte sein. Verstanden jedoch wird sie stets, und daran wird sich wenig ändern.

193


Luigi Malerba


* 11. November 1927 (Parm, Italien) †8. Mai 2008 (Rom, Italien)


Zum Tod

Ein Spontangewächs verreist am liebsten im eigenen Kopf von Dirk Schümer

Er zettelte mit Querköpfen und Romanrittern ironische Dialoge an: Zum Tode des Schriftstellers Luigi Malerba Was ist die Gesellschaft anders als ein Hühnerhof? Wohl jeder, nicht nur jeder Verhaltensforscher, denkt zuweilen so über seine gackernden, aufgeplusterten, rastlos scharrenden und pickenden Mitmenschen. Luigi Malerba ist der Einzige, der aus dieser Beobachtung Literatur gemacht hat. In seiner Anekdotensammlung „Die nachdenklichen Hühner“ kommt die Menschheit gar nicht mal schlecht weg: Malerbas Hühner sind hemmungslos versponnen wie das psychoanalytische Huhn, das seinen Mutterkomplex am Ei abarbeitet; sie sind produktiv, wie das Huhn, das goldene, aber leider kontaminierte Eier legt. Sie sind fromm, wie das Huhn, das so gerne wie die heilige Johanna auf dem Scheiterhaufen enden will, es aber nur zum Broiler bringt. Und natürlich sind sie auch geschwätzig und 196


von Luigi Malerba

anarchistisch, denn sie sind allesamt - Italiener. Malerba, vor einundachtzig Jahren im bäuerlichen Berceto bei Parma geboren, hat sein Leben lang das Wesen der Gesellschaft in Geschichten gekleidet. Weil er mit allen Menschen plaudern wollte, hatte er auch niemals Berührungsängste mit volkstümlichen, ordinären oder gar kommerziellen Medien. In den sechziger Jahren war er Chef einer Werbeagentur und ließ einige seiner Bücher mit Reklameseiten erscheinen. Er arbeitete als Drehbuchautor für den neorealistischen Kinoregisseur Alberto Lattuada, schrieb für die Rai eine Soapopera aus dem Mittelalter, machte erfolglose Theaterstücke und verfasste zahlreiche Kinderbücher, denn die kleinen Hühnchen, deren Mist durchaus viel einbringt, sind die literarischen Gockel von morgen. Diese bewundernswert vielfältige und zur Welt sperrangelweit offene Œuvre hat aber seit dem Erstling „die Entdeckung des Alphabets“ (1963) auch seine dunklen Seiten. Im historischen Roman „das griechische Feuer“ denkt sich der Autor mit der Klaustrophobie eines Piranesi in Geheimgänge, Folterkammern, Alkoven des byzantinischen Kaiserpalastes hinein. Hier wie auch im prall verlotterten Rom giftmordender Kardinäle („Die nackten Masken“) drang Malerba ins Herz der Macht vor: Sie schafft Futter und Obdach, wird aber allzeit eklig bis gewalttätig, und man muss schon ein aufmüpfiges und listiges Huhn sein, um nicht im Suppentopf des Regierenden zu landen. Solcher schlauer Überlebensstrategie verdankt sich auch Malerbas Einsatz fürs scheinbar Marginale, wenn er für aussterbende Tiere oder darbende Dialekte stritt: „Malerba“ - standesamtlicher Name Luigi Bonardi - bedeutet nicht zufällig „Unkraut“, und mit der wuchernden Vitalität eines stachligen Spontangewächses meldet sich dieser Autor als Literaturkritiker, Reiseschriftsteller, Psychoanalytiker bis zuletzt zu Wort. Dieser Schreibprofi, der in Rom Karriere machte, zeitlebens vom Käse- und Schinkenparadies Parma träumte, sich aber am liebsten in sein umbrisches Landhaus bei Orvieto zum Schreiben zurückzog, gehört zu jener unausrottbaren Spezies italienischer Kommunikationstalente, die endlos mit der Sprache und deren Tradition spielen, um die Wirklichkeit, wenigstens etwas, aus den Angeln zu heben. 197


Zum Tod von Luigi Malerba

In Deutschland endet solches ästhetische Unterfangen meist in Aufruhr oder in schwarz vergrübelter Romantik. Im mediterranen Licht hingegen gedeihen milde Spinner, die gerne im eigenen Kopf verreisen und mit antiken Querköpfen wie mit Romanrittern ironische Dialoge anzetteln. Neben Italo Calvino, Antonio Tabucchi, Umberto Eco, Daniele del Giudice bevölkert diesen lateinisch gackernden Hühnerhof der Literatur auch der große Luigi Malerba, der in der Nacht zum Donnerstag in Rom gestorben ist. Das köstliche Omelette seiner Werke wird ihn lange überdauern. Frankfurter Allgemeine Zeitung

198



Marcel Marceau


* 22. März 1923 (Straßburg, Frankreich) † 22. September 2007 (Paris, Frankreich)


Zum Tod

Der Clown, der keiner war von Joseph Hanimann

Körperkontrolle als Überlebensgeheimnis Ein Franzose, der schweigt. Das Staunen der amerikanischen Zuschauer in den fünfziger Jahren über den blassen Mann mit leuchtenden Mund, den umschatteten Augen unter zu hohen Augenbrauen, Zylinderhut und Streifentrikot, der sie mit seinem Gehen am Ort, mit dem Betasten imaginärer Scheiben und dem Zerren an unsichtbaren Seilen im Bann hielt, war die Brücke zum Welterfolg. Wäre er in den Pariser Kleintheatern geblieben, in denen er 1947 seine Figur „Bip“ erfand, hätte er in jenem kleinen Kreis von Kennern Karriere gemacht, die sich um den Standardvorwurf nicht kümmern: für Innovationshungrige agiert Marcel Marceau zu klassisch, für Klassiker der Pantomime spielt er zu frei. Als Schüler des Theaterpädagogen Charles Dullin, des Schauspielers Jean-Louis Barrault und des Pantomimenmeister Étienne Decroux standen dem Zwanzigjährigen bei Kriegsende die Wege des sprechenden Clowns oder des streng codierten Mimenkünstlers offen, für den Decroux begonnen hatte, eine Gesten-Grammatik zu entwickeln. Dass Marcel Mangel sich auf keinen der beiden begab, mochte auch an seiner Herkunft liegen. Noch während des Krieges hatte der 1923 in einer polnisch-jüdischen Gemeinde in Straßburg Geborene, der mit seiner Familie vor den Deutschen nach 202


von Marcel Marceau

Südfrankreich ausgewichen war, sich halb inkognito an der Kunstschule in Limoges eingeschrieben. Zeichnen und Malen waren seine erste Leidenschaft, die er im Untergrund auch fürs Ausweisfälschen in der Résistance nutze. Besser als Stift und Pinsel beherrschte er aber nach den Theaterkursen seinen Körper. Dieser Zugang, nicht aus einer ausdrucksfixierten inneren Empfindung heraus, sondern durch akrobatisch exakter Körperkontrolle bis hin zum feinsten Nerv, bestimmte den Stil, den er unter seinem Künstlernamen Marcel Marceau in den ersten Nachkriegsjahren entwickelte und bis zuletzt beibehielt. Sein entzauberter, nach allen Seiten elastisch gewordener Pierrot lunaire scheint den Fuß auf die Erde gesetzt zu haben und sich auch in den aktuellen Erfahrungshorizont seiner Zuschauer schmiegen zu können. Das große Vorbild war der Charlie Chaplin der Stummfilme, der mit seinen überdehnten Gesten in den kleinen Erwartungsrahmen der zahlreichen Kinogängern passte und die Dinge doch nie zu deutlich benannte. Mit der Figur seines „Bip“ suchte Marcel Marceau auf der Theaterbühne dasselbe Ergebnis und schuf jenen Stil, der Generationen nach ihm beeinflusste. Trauer lächelt bei ihm still in sich hinein, absurde Ausweglosigkeit schafft Momente der Auflehnung, die immer wie die vorletzten aussehen, Überraschung dauert meistens eine Sekunde zu lang, als zweifelte sie in Vorahnung der Ewigkeit an sich selbst. Der Pantomime Marceau zögerte nicht, mit diesen Wirkungen auch auf konkrete Ereignisse der Aktualität Bezug zu nehmen, wie in den letzten Jahren noch auf den Irak-Krieg - nie jedoch so, dass man seine Standpunkte für dogmatisch hätte halten können. Kriegskritik war die thematische Vorgabe, die Besetzung von Opfern und Tätern überließ er den Zuschauern. Seine Auftritte waren auch nicht fest komponierte Programme, sondern Variationen aus einem Grundmuster von Existenzlagen, das immer weiter entwickelt wurde. Der Erfolg, der den Mimen nach 1955 auf dem Umweg über Amerika nach Europa zurückführte, schuf ihm in seinem Heimatland jene Berühmtheit, die auch Politiker zum Handeln drängt. Der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac bot dem Künstler 1978 an, in der Hauptstadt eine Schule zu eröffnen, die „École internationale de 203


Zum Tod von Marcel Marceau

Mimodrame Marcel Marceau“, die trotz mancher Übergangsschwierigkeiten noch heute besteht. Vorab in den ersten Jahren hatte der Meister dort versucht, Decroux Grammatik der Gestensprache weiter zu entwickeln und für die Ausbildung nutzbar zu machen. Eine Schule im Sinne eines festen Konzepts und einer Nachfolgerschaft hat der große Einzelgänger Marceau aber nie hervorgebracht. Das leicht Schreckhafte angesichts der tückenreichen Realität, das er auf der Bühne oft mimte, schien auch ein Zug seiner Persönlichkeit zu sein. Selbst zu den bewunderten Meistern wie Jean-Louis Barrault oder Charlie Chaplin hielt er Distanz. Letzterem ist er nur einmal begegnet, 1967 bei den Dreharbeiten zu dem Film „Barbarella“ von Roger Vadim, in dem er eine Rolle hatte. Was es bedeutet, zwischen Klassik und Eigensinn unschlüssig zu bleiben, konnte der Clown, der keiner war, in den letzten, immer noch aktiven Jahren erfahren. Es war bei seinen Auftritten, als spielte er die Rolle seiner selbst. Die Auffassung, sie hätten vor sich auf der Bühne, den Sohn des Marcel Marceau, wolle er seinen Zuschauern gerne lassen, scherzte er manchmal. Der Vater ist am Samstag vierundachtzigjährig gestorben, der Sohn lebt weiter.
 Frankfurter Allgemeine Zeitung

204



Harry Mulisch


* 29. Juli 1927 (Haarlem, Niederlande) †30. Oktober 2010 (Amsterdam, Niederlande)


Zum Tod

Der himmlische Puppenspieler von Dirk Schümer

Zum Tod von Harry Mulisch Wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit versuchte Harry Mulisch den nationalsozialistischen Schrecken zu ergründen. Als Deuter des Eichmann-Prozesses übertraf er Hannah Arendt. Der Philosoph der historischen Ursünde war aber auch ein Dandy, ein Zauberer, dessen schwerelose Novellist von Liebe erzählt. Am Samstag ist der niederländische Autor in Amsterdam gestorben. Für Niederländer haben der Literaturnobelpreis und die Fußball-Weltmeisterschaft eine merkwürdige Gemeinsamkeit: In beiden Fällen sind die Niederlande dasjenige Land, das es am ehesten verdiente, den Wettbewerb zu gewinnen. Dreimal haben die Holländer das WM-Finale knapp verloren. Und noch nie hat ein Niederländer den Literaturnobelpreis gewonnen, was dieses Volk der eifrigen Leser und großen Schriftsteller mit guten Gründen fast so ungerecht findet wie den ewigen zweiten Rang auf dem Fußballplatz. Wenn man Niederländer fragt, welcher ihrer Autoren den Nobelpreis verdient hätte, gibt es nur eine Antwort: Harry Mulisch. Seit seinem leichthändigen Debütroman „Archibald Strohalm“, der vor fast fünfundsechzig Jahren auf den Markt kam, gehört Mulisch zu den groben Namen der nationalen Literatur. Und seit 1982, als „Das Attentat“ zum Weltbestseller wurde, kenn man diesen bemerkenswerten 208


von Harry Mulisch

Schriftsteller in aller Welt. Beide Romane umreißen das einzigartige Talent Mulischs in gültiger Weise: „Archibald Strohalm“, eine Parabel der Kreativität, erzählt trotz oder gerade wegen der frischen Schrecken des Zweiten Weltkriegs scheinbar harmlos von einem schrulligen Puppenspieler, dessen Theater am Ende in Stücken liegt. „Das Attentat“ hingegen arbeiten in genialer Adaption eines Thriller die Gemengelage von Täter und Opfer, Gut und Böse, Kollaboration und Widerstand unter deutscher Besatzung derart aberwitzig heraus, dass bei den Lesern nach der Lektüre alle feststehenden Muster der nationalsozialistischen Zeit erschüttert sind. Dabei geht es Mulisch beileibe nicht um eine Verharmlosung; er möchte die Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts bloß in all ihrer Komplexität begreifen und begreifbar machen. Der Grund für diese lebenslange, ungemein fruchtbare Obsession: Mulischs eigene Biographie ist irrwitzig un Weltkriege und Holocaust verwickelt. Als Sohn eines österreichischen Offiziers des Ersten Weltkriegs und einer jüdischen Bankierstochter aus Antwerpen konnte sich der kleine Harry, 1927 in Haarlem geboren, mit Fug als Geschöpf der Katastrophe von 1914 bis 1918 begreifen; Vater und Großvater mütterlicherseits kannten sich von der Front. 1936 hatten sich die Eltern bereits wieder getrennt. Harry wuchs beim Vater auf, der nach dem Überfall der Wehrmacht als „Reichsdeutscher“ schnell bei einer Amsterdamer Bank zum maßgeblichen Arisierer jüdischer Vermögen - also zum Handlanger der „Endlösung“ - avancierte. Als ranghoher Kollaborateur konnte Vater Mulisch seine getrennt lebende Frau und seinen jüdischen Sohn jedoch vor der Deportation schützen; Groß- und Urgroßmutter des Schriftstellers wurden gleichwohl vergast. Er habe den Krieg nicht nur erlebt, erzählte Harry Mulisch gerne, sondern schlimmer: „Ich bin der Zweite Weltkrieg.“ Was Antisemitismus bedeutet, ging bei diesem mystischen Agnostiker, der qua Religionsgesetz Jude war, als Riss durchs eigene Herz. Die Absurditäten hörten nach dem Krieg mit einer Umkehrung der Schicksale nicht auf: Während Mulisch Mutter die Schon überlebte und 1951 auf Nimmerwiedersehen in die Vereinigten Staaten emigrierte, starb der hassgeliebte Vater bald nach dem Krieg an den Entbehrungen in einem Straflager für Kollaborateure. 209


Zum Tod

Wer in diesem Drama Täter und Opfer, schuldig und unschuldig blieb - das ließ sich, um nicht verrückt zu werden, wohl nur mit höherer Mathematik in eine Formel gießen. Oder eben als Literatur erzählen. Harry Mulisch hat dann auch einige der packendsten und prägendsten Werke zum Nationalsozialismus und dessen Folgen verfasst: „Das steinerne Braubett“ erzählt aus der Perspektive eines alliierten Piloten vom Verbrechen der Zerstörung Dresdens, als das Bombardement in West und Ost noch ein Tabuthema war. Als junger Reporter berichtete Mulisch dann über den Eichmann-Prozess in Jerusalem. Trotz Hannah Arendt Report von der „Banalität des Bösen“ ist Mulisch Vergleichswerk „Strafsache 40/61“ das bessere Buch. Mit der profunden Weisheit der eigenen Familienschizophrenie und am Ende in einer Berliner Abbruchvilla an Eichmanns Schreibtisch sitzend, gelingt es Mulisch, die unterwürfig-perfide Mentalität seines Objekts so eiskalt zu umreißen und in die Bürokratie des Bösen einzupassen, dass man grausam versteht, wie das alles funktionieren konnte. Neben dem Philosophen der historischen Ursünde von Familie und Kontinent gibt es indes einen ganz anderen Harry Mulisch: den Zauberer, Märchenerzähler, Fabulierer, der einmal im Jahr ein Wochen im „Des Bains“ am Lido Hof hielt und ganz licht von Sex und Liebe und Sonne erzählen konnte. Die immense Kraft dieses Autors, der sich schon in frühester Jugend provokant als Genie zu stilisieren begann, erweist sich an seiner anmutigen Fähigkeit, die Ketten der Politik und Gesellschaft zu brechen und schwerelose Novellistik auf dem Niveau der Romantiker zu verfassen. Mulisch Niederländisch, vorher gerne als calvinistisch-karge Sprache verkannt, mutierte ausgerechnet beim Schulabbrecher Mulisch zu einem geistreichen, biegsamen Idiom voller Ironie. In „Höchste Tijd“, einem überbordenden Shakespeare-Roman mit dem unverwüstlichen Kospatrioten Johannes Heuesters als verklapptem Prospero, fanden beide Stile - der zeithistorische und der meta-ironische - wundersam zusammen. Leider hat gerade das Meisterwerk „Höchste Zeit“ in Deutschland viel zu wenig Leser gefunden. Die himmlische Ironie prägt auch Werke wir „Die Elemente“, das vom absurden Sterben eines westlichen Wohlstandsbürgers erzählt, der im griechischen Badeurlaub mit den antiken Göttern 210


von Harry Mulisch

konfrontiert wird und am Ende, versehentlich aufgesogen im Tank eines Löschflugzeugs, eine letzte Reise durch Erde, Wasser, Luft und Feuer durchmacht. „Die Entdeckung des Himmels“, angelegt als niederländischer Epochenroman und geprägt durch die Generationserfahrung der wilden Provoziert der Amsterdamer Linken, betrachtete der Autor nicht völlig zu Recht als sein Opus Magnum. Mulisch verwob präzise Erinnerungen an niederländischen Alltag mit einem phantastischen Erlösungskrimi um Mythos und religiöse Offenbarung, der lange vor Dan Brown im geheimen Vatikan endet. In den besten Passagen kommt Mulisch, der sich außer für Borges, Goethe und Thomas Mann ostentativ für Literatur nicht interessierte, dabei an die südamerikanischen Phantasie-Realisten heran. Doch konnte sich auch das Genie Mulisch nach der Glanzzeit der achtziger Jahre eigentlich nurmehr selbst zitieren. In „Siegfried“, einem späten Roman über einen vermeintlichen Sohn Hitlers, ging das durchaus auch einmal schief. In Amsterdam bewohnte Mulisch - wenn der Vater dreier Kinder nicht seiner offiziellen Nebenfrau zusammenlebte - lange ein verwinkeltes, etwas dunkles Dachgeschoss beim Leidseplein, also bewusst nicht an den edlen Grachtengassen, sondern mitten im Viertel der Junkies und Nutten. Seit den wilden Achtundsechziger brachte Mulisch seine Existenz als glühender Verehrer Fidel Castros, als patriotischer Ritter des königlichen Ordens von Nassau-Oranien und als stadtbekannter Grachtendandy mühelos unter einen Hut. Er schrieb fürs Theater, verfasste Opernlibretti und als Goethe redivivus etwas krude Essays über Physik und Mathematik. Stets formvollendet, erlesen gekleidet, blieb der Mensch Mulisch auch durch inszenierte Caprice eines Gentiluomo unvergesslich. Einmal, in der Frühzeit des Personalcomputers, öffnete er seinem Gast bedeutsam den großen Büro-Safe, in dem nur eine einzige Diskette lag: die Urfassung des Romans, der bereits in allen Schaufenstern lag. Der zweisprachig aufgewachsene Mulisch, der gerade unter Niederländern Wert auf die korrekte Aussprache seines sudetendeutschen Namens legte, wurde im kleinen Literaturbetrieb des Landes durch seine hautaine Art, vor allem aber durch seinen internationaler Erfolg auch zum Hassobjekt. Dass mancher Sarkasmus dem 211


Zum Tod von Harry Mulisch

Selbstschutz diente, wollte man diesem hageren Pfeifenraucher nicht abnehmen. Pamphlete erschienen, die ihm oberflächlichen Zynismus unterstellten und jede literarhistorische Größe absprachen; in bösen Travestien des alten Weggefährten Remco Campert erschien er als eitler Sexprotzliterat. Zuletzt wollten ihn Zeitzeugen in der Uniform der niederländischen Faschistenjugend gesehen haben - eine Kolportage, deren mangelnden Wahrheitsgehalt der Schriftsteller selbst aufrichtig bedauerte: Als fanatischer Pimpf hätte er einen hübschen Romanstoff mehr gehabt. Der niederländischen Literatur schenkte Mulisch, was sie bisher trotz des Décadence-Autors Louis Couleurs, trotz des wilden, homoerotischen Katholiken Gerard Reve, trotz des zynischen Polterer Willem Frederik Hermans und erst recht trotz des gefällig-sympatischen Reiseschriftstellers Cees Nooteboom nicht kannte: einen Klassiker der Weltliteratur. Er selbst fasste diesen Status in die - wie auch anders? - ironische Worte, in Holland sei er jetzt weltberühmt. Und während die Niederländer dieses Jahr wieder einmal den Fußball-Weltmeister-Titel knapp verpasst haben, konnte Mulisch auch die narzisstische Kränkung des vorenthaltenen Nobelpreises am Ende souverän wegstecken: Als man ihm mitteilte, dass nun ein Asteroid nach ihm benannt sei, sah Mulisch dies als Indiz echter Unsterblichkeit: „Viele Nobelpreisträger werden nämlich schnell vergessen.“ Am 30.Oktober ist der Weltweise und Privatmythologe Harry Mulisch, der sich nach eigenen Bekundungen seit 1931 während einer Reise in den Berliner Tiergarten zum Autor berufen fühlte, in Amsterdam gestorben. Frankfurter Allgemeine Zeitung

212



Heiner M端ller


* 9. Januar 1929 (Eppendorf, Deutschland) †30. Dezember 1995 (Berlin, Deutschland)


Zum Tod

Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel von Peter Iden

Im eiseskalten Niemansland zwischen den Fronten Das Drama Heiner Müllers Florenz, es wird zu Anfang der achtziger Jahre gewesen sein. Nachts in der Bar des Bagnoli, mitten im Whisky, von der verhängten Zukunft der Staaten des furchtbar angewandten Sozialismus war munter die Rede, beschwor Horst Laube dem Müller bis tief in den Rausch die wandernden Steine am Grunde der Moldau. Am nächsten Morgen in den Boboli-Gärten, Florenz zu Füßen, das angesehen werden sollte an diesem Tag, Brunelleschis Domkuppel, der Turm der Signoria, S. Maria Novella, S. Croce, Orsanmichele. Die ganze Pracht. Aber, sagte da Müller, los Angeles ist auch schön; und wichtiger sicher. Gerade war er aus Kalifornien zurückgekommen von einer seiner zahlreichen Westreisen damals, zu irgendwelchen Kongressen, derer mysteriöser Stargast er nicht ungern war, immer wollten rührige Veranstalter, daß er erklären sollte, sich selber, sein Werk, die Lage; doch ließ er sich allenfalls bewegen zu ein paar dunkel chiffrierten Sätzen. Das Bild des gefügten Florenz jetzt brachte ihn auf den maßlosen Sog des Zeitgenössischen in L.A.; Monica Boulevard, das Äußerste an Gegenwart, Simultaneität disparater Reize, schneller 216


von Heiner Müllers

Härte der Gegenschnitte, also sinnlicher Aktualität, das eine Straße bedeuten kann. Zu einer Montage schoben sich ineinander an dem Tag die Stadt am Arno und die andere am Pazifischen Ozean. So war Heiner Müller, seit er zuerst im Westen auftauchte, nie festzulegen auf einen Ort. Das Erkennungszeichen war: nicht zugehörig. Das Klischee, das ihm zugedacht wurde während der Jahre der Ost-West-Konfrontation hieß „Pendler zwischen den Welten“ – es war ihm angemessen. Heute, da wir ihn nicht wiedersehen werden und das Werk sich nicht fortsetzen wird, will das Bild der Person und des Schriftstellers sich der Erinnerung nur geben als ein zerrissenes, durchkreuzt von den Naht- und Bruchstellen der Montage, als welche die Existenz des Subjekts ihm einzig doch denkbar schien, vor allem die eigene. „Mir selbst so fremd wie möglich“: Die Bestimmung, Konsequenz aus den Widersprüchen der Epoche, hat er selbst getroffen, sie beschließt das sonderbarste Theaterbuch der Deutschen in diesem Jahrhundert, Krieg ohne Schlacht, Müllers „Memoiren“, anderen auf Band gesprochen, und aus mehr als tausend Seiten der Abschrift redigiert, montiert von anderen. „Wer ist Ich?“ So wenig der Autor, außer im zynischen Reflex, sich noch fassen kann, die Metapher längst klüger als er, so entgleitet in den Stücken Müllers auch Geschichte in der Aufhebung der Unterscheidbarkeit von Rollen, Zeiten, Räumen, Ursachen und Wirkungen. (Hans-This Lehmann hat, Text und Kritik Nr. 73 von 1982, zu Recht auf den Zusammenhang dieses Entgleitens von Geschichte bei Müller mit dem französischen Poststrukturalismus hingewiesen.) Schon in Die Umsiedlerin von 1961, das von der Kollektivierung der Landwirtschaft in Mecklenburg Szenen lieferte, welche die SED fünfzehn Jahre lang nicht zu ertragen imstande war – aber Moritz Tassow von Hacks ist zum Thema doch das bessere Stück – schieben sich plötzlich „Hitler mit Eva-Braun-Brüsten, angebissenem Teppich und Benzinkanister, und Friedrich II von Preußen, zwischen den Beinen seinen Krückstock“. Schreiben als Bewegung und Aufenthalt in einem Material, das immer „total“ ist, das heißt: bewußter Weltstoff, in dem zur Gleichzeitigkeit zusammenschießt und verfügbar wird was war, was ist und was sein könnte. Müllers Dramaturgie. Nur so, im Übertritt des Ichs ins Kollektiv, in der Suspendierung des Einfürallemal der Kontur der Handelnden und der Epochen, können die Muster des 217


Zum Tod

Alten sichtbar werden am Neuen, und kann an dessen Anfang der Schrecken sich erweisen als herüberreichend aus dem Alten. Freilich, was dabei politisch noch hoffen machen kann auf einen günstigen Ausgang dennoch, auf die lineare Entwicklung zum jedenfalls Besseren – „Kommunismus macht Spaß“, das ist in Die Umsiedlerin wie in Lohndrücker (1958) immerhin noch die Hoffnung – hat Müller schon früh, und später immer nachdrücklicher kontrapunktiert mit dem Bild des fatalen, tautologischen Kreislaufs, geformt und durchwirkt vom Leidensdruck vergangener und immer aufs neue „vor unseren Augen gerinnender Gegenwart“: „Mit dem Messer in das Messer, heißt die Laufbahn“ (Macbeth, 1972); „Die Revolution ist die Maske des Todes. Der Tod ist die Maske der Revolution.“ (Der Auftrag 1980); „Begraben immer wieder von der Scheiße / Und aus der Scheiße steht es wieder auf.“ (Wolokolamsker Chaussee, 1988). In Der Auftrag, der Text korrespondiert mit Mauser (1970) und Hamletmaschine (1977), findet sich eine der mächtigsten Metaphern, die Müller entworfen hat, Beispiel für die außerordentliche Herausforderung des Theaters durch eine Dramaturgie des unvermittelten Ineinanders der Rollen, Zustände, Zeiten. Das Kolorit ist historisch, es geht um die nach Haiti exportierte Idee und Praxis der Französischen Revolution, um das Funktionieren der revolutionären „Maschinerie“, dann um deren Zusammenbruch: durch den Verrat und den Verlust des Auftrags, sie in Gang zu setzen und zu halten. Aus dem geschichtlichen Dekors verfällt der Revolutionär Sasportas, ohne Übergang, in die Beschreibung eines Angestellten mit Schlips und Kragen, der in einem Aufzug zum Termin mit seinem Chef in der vierten Etage will, eines Auftrags wegen (nimmt er an), der ihm erteilt werden soll. Aber der Aufzug verfehlt die Etage und der Angestellte, in wachsender Panik, den Zeitpunkt der Verabredung. Rasend beschleunigen sich die Wörter des Mannes im Fahrstuhl, der Druck der Angst – „Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag?“ – zerstört seine Identität; dann verändert sich die Szenerie des Alptraums, aber nicht das Bedrohliche der Situation: Der Mann findet sich fremd in einer verlassenen Landschaft, „die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten“. Müller hat (in Krieg ohne Schlacht) sich erinnert, welche Erfahrung einer Realität in dieser Szene einer mehrfachen Transfor218


von Heiner Müllers

mation verarbeitet ist: „Mein Bittgang zu Honecker im Gebäude des Zentralkomitees, der Aufstieg mit dem Paternoster. In jeder Etage saß dem Paternoster gegenüber ein Soldat mit Maschinenpistole. Das Gebäude des Zentralkomitees war ein Hochsicherungstrakt für die Gefangenen der Macht.“ Und dann die Verschiebung in die bedrohliche Landschaft: „ein Traumprotokoll, der Traum das Produkt eines Nachtgangs von einem abgelegenen Dorf zur Hauptstraße nach Mexico City, auf einem Feldweg zwischen Kakteenfeldern, kein Mond, kein Taxi. Ab und zu tauchten dunkle Gestalten wie von Goya-Bildern auf, gingen an uns vorbei, manchmal mit Taschenlampen, auch mit Kerzen. Ein Angst-Gang durch die dritte Welt.“ Derart schreiben zeit und Wirklichkeit sich ein in die Texte. Die Epoche Maskiert sich – und zeigt doch ihr wahres Gesicht, auch und nicht zuletzt am Personal und in den Konstellationen der anverwandelten antiken Stoffe, in Philoktet (1965) zum Beispiel oder in der Oedipus-Bearbeitung im folgenden Jahr wird sie sichtbar, Oedipus plötzlich „ein Stück über Chruschtschow und die Krise der Landwirtschaft in dem Sinne, daß ohne die Pest in Theben keiner das Orakel ernst genommen hätte“, Parallele zu dem Sturz von Chruschtschow, der über den Zusammenbruch eines Landwirtschaftprogramms, eine Mißernte, gestürzt war. Zur Fratze verzerren sich die Züge der Zeit durch die Paradoxie, daß, wenn es um die Emanzipation der Menschheit geht, der Feind der Feind der Menschheit ist, mithin als ein Mensch nicht mehr gelten kann. Darum gebiert Revolution Unterdrückung und zwanghaft den Verrat an ihrem Ideal, mußten die Panzer der Sowjetmacht aufgeboten werden, gegen die Unzufriedenen, in Budapest, in Prag und damals in Berlin, „Unter den Ketten fault die Rote Rosa / Breit wie Berlin Wir sind die Totengräber“ (Wolokolamsker Chaussee). Aber, an gleicher Stelle: „Wie löst man einen Widerspruch Indem / Man sich hinein begibt geradeaus“. Mitte im Widerspruch (und die Lösung nicht in Sicht): Heiner Müllers Ort, sein Schauplatz. Die Stücke und Texte, in ihrer Form beeindruckt von Brecht (Müller: „Brechts wegen konnte man für die DDR sein“) wie von den Entdeckungen des Surrealismus und von Artaud, aber auch von Hemingway und Faulkner, später reagierend auf Beuys und Rauschenberg wie auf das Theater des Robert Wilson – sie haben 219


Zum Tod

die Bühnen und das Regime der DDR beschäftigt mit einer Wirkung, die im Westen kaum nachvollziehbar war. Wer Müllers Erzählungen bei seinen Westbesuchen hörte und in seinen Erinnerungen gelesen hat, konnte und kann noch immer kaum glauben, welche Bedeutung die Funktionäre des Systems den Stücken zumaßen, wie sehr sie das Theater fürchteten. Noch unveröffentlichte Texte wurden von den Blockwarten des verrottenden Regimes bis hinauf zu Ulbricht und Honecker eingesehen und abgeschätzt – und immer wieder angelehnt. Manche haben im Westen diese unerhörte Beobachtung von Literatur und Theater im Osten fast mit Neid wahrgenommen: Könnten wir doch auch so viel gelten. Daß Müller dann, etwa seit Beginn der siebziger Jahre, auch von den westdeutschen Bühnen – in Frankfurt, in München, in Bochum, in Köln – gespielt wurde, hatte nicht zuletzt mit dieser Wirkung im Osten zu tun. Sie war freilich im Westen, weil hier die Positionen, die sie politisch behaupteten, ohne die Dimension gesellschaftlicher Praxis peripher blieben, nicht annähernd zu erreichen. Am Werk Müllers wurden vor allem dessen formale Qualitäten, die Provokation bürgerlicher Theatererwartung wahrgenommen, die Freiräume in den Texten, die sich als Projektionsflächen anboten. Das war allerdings ein dramaturgischer, hermeneutischer Reiz, der auch (und gerade) im geschlossenen System der DDR besonders jüngere Theaterleute stimuliert hat, sich an Müller zu definieren. Wo er im Westen gespielt wurde, hat er die Ensembles, vor allem wenn er selber zu Endproben auftauchte, in den Theatern stets mehr beschäftigt als das Publikum. Müller verlangte von den Schauspielern, was sie nicht gelernt hatten (und was auch ihrem Publikum fremd war): einen Text nicht so zu bedienen, daß die Festlegung auf eine Bedeutung mögliche andere Bedeutungen verdeckt und damit dem Zuschauer die Freiheit der Wahl nimmt. Seines verstand er als Theater des Projekts, eine Kunst der vorläufigen, mehrdeutigen und widerrufbaren Entscheidungen. Darin wirkten auch Vorstellungen von Brecht weiter. Im Ergebnis allerdings war das Theater Müllers, weil die ästhetisch-dramaturgischen Perspektiven den Strukturen und Haltungen der Gesellschaft weder im Westen noch im Osten entsprachen, wichtig weniger für Zuschauer als für die Macher selber. Es war nicht nur ein Hirngespinst zu fortgerückter Stunde, als Müller mit dem Dramaturgen 220


von Heiner Müllers

Laube anläßlich von Leben Gundlings in Frankfurt 1978 den Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum so breit wollte, daß schließlich das Publikum ganz aus den Häusern verschwände. Als er dann in Bochum (1980) selbst, in einem kühnen Raum Erich Wonders, Der Auftrag inszenierte, näherte er sich dem Wunschbild, indem er zwischen die Sitzreihen einen vergitterten Laufstall legte, mit einem leibhaftigen Panther, jederzeit bereit, ausbrechend die Zuschauer zu vertreiben, jedenfalls sie degradierend zu Voyeuren im Zoo. Das westliche Interesse an der Form der Stücke hat hier zunehmend auch den Manierismus, sogar das Epigonale am Sprachfall der Texte bemerken lassen. Müller hat schwer am Erbe Brechts getragen, von dem er fortwollte und dem er verfallen blieb; später ist er, manchmal bis zur Mimikry, den Innovationen der aktuellen Moderne im Westen hörig geworden, mit dem Geruchsgemisch der DDR aus Lysol und Pisse zwischen den Zeilen. Es verbrauchten sich aber nicht nur die Formen: Auch die Stoffe selber wurden alt. Als 1988 Wolokolamsker Chaussee an den Münchner Kammerspielen gegeben wurde, Erinnerung an die ideologischen Kämpfe und Krämpfe der DDR, war das schon ein sehr vergangenes Stück, die Aufführung nur noch eine modische Übung. Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung verlor Müller die Position auf dem Terrain zwischen den Fronten. Als er sich nun doch für „zugehörig“ erklärte, dem niemals gelebten Programm des untergegangenen Staats, als auch er, wie die alten Hardliner des Systems, von dessen „Kolonialisierung“ durch den Westen sprach, im Streit um die Berliner Akademie, in dem er eine Führungsrolle übernahm, der Vergeßlichkeit das Wort redete, rücksichtslos gegen die Opfer, die nicht vergessen konnten, ließen sich viele Fehleinschätzungen der neuen Situation nicht einfach übergehen mit dem Hinweis auf Müllers notorisch zynischen Anarchismus. „Kunst hat und braucht“, so hat er sich festgelegt, „eine blutige Wurzel“. In diesem Sinn war Deutschland, „ein gutes Material für Dramatik – bis zur Wiedervereinigung“. Indem er es auf die Bühne zwang, hat das „Material“ diesen Autor gebildet – solange es währte. Müllers Kraft und seine Wirkung reichten bis dahin. Frankfurter Rundschau

221


Oskar Pastior


* 20. Oktober 1927 (Hermannstadt,Deutschland) †4. Oktober 2006 (Frankfurt am Main, Deutschland)


Zum Tod

Im Exil bei Freunden von Hubert Spiegel

In zwei Wochen sollte er den Büchner-Preis bekommen: Zum Tod des Dichters Oskar Pastior Hinnehmen könnte man diese Nachricht nicht, schreibt der Dichter Michael Lentz in seinen Erinnerungen an Oskar Pastior auf dieser Seite.Denn wie sollte man hinnehmen, dass ein Dichter, der vierzig Jahre lang beharrlich an seinem Werk gearbeitet hat, aus dem Leben gerissen wird - nur vierzehn Tage, bevor er endlich die große Würdigung dieses Werkes hätte erfahren sollen? Am 21. Oktober ist der Lyriker in Frankfurt gestorben. Der Tod hat ihn plötzlich und überraschend ereilt. Mit Oskar Pastior verlieren wir einen experimentellen Lyriker, der nie ein großes Publikum erreicht hat, aber von seinen Lesern und Freunden mehr als nur im üblichen Maße geschätzt wurde. Sein Verleger Michael Krüger hat ihn in einer ersten Reaktion als den liebenswürdigsten Dichter bezeichnet, der sich denken lasse. Das müssen viele so empfunden haben, denn wann immer man von Oksar Pastior sprechen hörte, geschah dies in einem ungewöhnlich warmherzigen Tonfall. Pastior war ein Dichter, der geliebt wurde. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingen mag. Selbst Wolfgang Hildesheimer, nicht gerade für übermäßige Jovialität bekannt, verneigte sich vor Pastiors Sprachkunst: 224


von Oskar Pastior

„Wenn ich Verse schreiben könnte“, so schrieb er 1983 in dieser Zeitung, „würde ich mir an Pastior ein Vorbild nehmen.“ Hildesheimers Bewunderung bezog sich auf Pastiors „Abendlied“ aus dem 1980 erschienenen Band „Wechselbalg“, eine Terzine mit, wie Hildesheimer schreibt, „ fünfzehn klaren Aussagen“. Aber wie klingen eigentlich die klaren Aussagen eines experimentellen Lyrikers, der seinen Büchern so kryptische Titel gab wie „Gimpelschneise in die Winterreise“ (1997), „Höricht“ (197X) oder „Minze Minze flaumiran Schpecktrum“ (2004)? Zum Beispiel so: „Es kehrt das heiße Fett sich nicht an // Kind und Kragen - Phänomenen wächst die Spu- / le an den Kern. Postalisch wird ein schlankes / Haar geboren.“ Hildesheimer verglich Pastiors Sätze mit den geflügelten Worten aus Schillers Drama „Wilhelm Tell“. Während jeder wisse, dass die Axt im Hause in der Regel keineswegs den Zimmermann erspart und der brave Mann auch nicht an sich selbst zuletzt denkt, Schillers Sätze also nicht stimmen, erlaubten Pastiors Aussagen keinen Widerspruch. Sie seien nicht zu widerlegen und müßten folglich stimmen. Hildesheimer empfahl, Pastiors Sätze als Gleichnisse zu lesen, ohne sie bewusst umsetzten zu wollen - ein Lesekunststück, das freilich Empfänglichkeit für „sublimen Unernst“ voraussetzt. Empfänglichkeit ist wohl die wichtigste Voraussetzung, die Pastiors Leser mitbringen müssen. Empfänglichkeit für den sublimen Unernst, für das Verspielte einer Sprachakrobatik, die gleichwohl strengsten Regeln folgt; Empfänglichkeit aber auch für Konsequenz und Beharrlichkeit und den großen existenziellen Ernst, die diesem Werk zugrundeliegen. Dieser Ernst ist zunächst in der Form zu spüren. Pastior, so könnte meinen, brauchte das strenge Formenkorsett der klassischen Versmaße, er brauchte die enganliegenden Gewänder der Sonette und Terzinen. Seine Lyrik ist eine Mischung aus wilden Faunsprüngen und klassischem Ballett - ausgeführt auf dem Hochseil ohne Netz. Jeder Fußbreit, jede falsch gesetzt Silbe könnte den Absturz bedeuten, und das diffizile Spiel mit Wortsinn und Unsinn wäre in Unfug abgegliten. Deshlab wohnt Pastiors Werk ein unaufhebbarer Widerspruch inne: Die Freiheit vom Joch der sinngebundenen Rede ist nur um den Preis der Kontrolle zu haben. Die kontrollierte Anarchie von Pastiors Sprache ist nie Freiheit von, sondern fast immer Freiheit in der Form. 225


Zum Tod

Der Magier der Sprache, wie er so oft genannt wurde, der „letzte große Schamane des Experimentellen“ (Michael Krüger), war sich bewußt, wie oft seine Lyrik den alten „Zaubertricks“ folgte, wie wichtig der mündliche, von ihm virtuos beherrschte Vortrag war, weil dem Zuhörer das „Beschwören & Bannen“ eindringlicher ist als dem Leser. Noch in der Freude über seine Werkausgabe beklagte er deshlab, das „letzlich aber doch, leider ... alles nur auf der dem Papier zugewandten Seite des Buches“ stattfinden würde.
Pastior, 1927 geboren, aufgewachsen im rumänischen Hermannstadt, wurde 1945 von der Roten Armee in ein ukrainisches Arbeitslager deportiert, wo er fünf Jahre lang Zwangsarbeit leisten mußte. Nach dem Militärdienst in Rumänien, dem im Fernstudium nachgeholten Abitur und dem Studium der Germanistik in Bukarest, arbeitete er als Redakteur des Rumänisches Rundfunks, der ein Programm für die deutschsprachige Minderheit betrieb. Eine Auslandsreise im Jahr 1968 nutze Pastior, um sich nach Deutschland abzusetzen. Das erste Jahr im Exil verbrachte er in der Wohnung von Michael Krüger, der Tod ereilte ihn jetzt im Haus von Frankfurter Vertrauten - Oskar Pastior, der „geliebte König der Poesie“, wie Michael Lentz schreibt, lebte im Exil unter Freunden. Rasch folgte dem noch in Bukarest erschienenen Debütband „Offene Worte“ das zweite Debüt unter dem Titel „Vom Sichersten ins Tausende“. Mit ihm begann die Befreiung von der rumänischen „Dogmalaria“, und die ersten „Diasporen“ wurden erworben. An die dreißig Bände sind seitdem erschienen, verstreut auf Zahlreiche Verlage und gefüllt mit Anagrammen und Palindromen, Terzinen und Sonetten, Prosatexten, „ Gedichtgedichten“, „Kunstmaschinen“ und „Gimpelstiften“. Vieles davon ist längst vergriffen, und deshalb unternimmt der Hanser Verlag eine Werkausgabe, von der drei Bände bereits erschienen sind (F.A.Z. vom 4. Oktober). Der Dichter selbst hat das rühmliche Unterfangen auf seine für ihn typische Weise kommentiert: „Ich wandle zur Zeit sehr defizitär durch sehr sporadische Lektüreerwartungen sehr etwaiger künftiger Leser - dem also abzuhelfen soll ich nun sukzesive wieder mit dem insgesamten Gliedmaßen versehen werden. Darauf, solange ich dabei bin, freue ich mich.“ Er hat bei weitem nicht lange genug dabei sein können, und man hätte Oskar Pastior auch gewünscht, dass der Rückenwind 226


von Oskar Pastior

des Büchner-Preises, seine poetischen Segel schon viel früher, vor zehn oder zwanzig Jahren, gebläht hätte. Zu spät. Und doch liegt etwas Schönes und Tröstliches in dem Gedanken, daß er sich fünf Monate lang, seit der Bekanntgabe im letzten Mai, an der Auszeichnung erfreut hat. Sie kam also in größter Verspätung rechtzeitig. Ein paradoxer Gedanke. Womöglich hätte er Oskar Pastior gefallen. Gewiss aber hätte der Dichter ihn ganz anders formuliert. Frankfurter Allgemeine Zeitung

227


Peter R端hmkorf


* 25. Oktober 1929 (Dortmund, Deutschalnd) †8. Juni 2008 (Roseburg, Deutschland)


Zum Tod

Der Verfassungspoet aus Övelgönne von Patrick Bahners

Gedichte entstanden ihm nicht aus Worten, sondern aus Einfällen. So streng es in der Lyrik zugehen sollte, so ungezwungen wünschte er sich die Gesellschaft: Zum Tode von Peter Rühmkorf. “Schaut nur nicht so bedeppert in diese Grube. / Nur immer rein die gute Stube. / Paar Schaufeln Erde, und wir haben / ein Jammertal hinter uns zugegraben.” Das lassen wir uns gesagt sein, das können wir jetzt gebrauchen, dieses Blatt aus dem letzten Gedichtband von Peter Rühmkorf, wir halten es uns vor Augen. Wir lassen lieber niemanden sehen, wie wir jetzt daherschauen, nachdem die traurige Nachricht eingetroffen ist, mit der man hat rechnen müssen: Peter Rühmkorf ist gestorben. Er war sehr krank gewesen, hatte die Routine seines seit Jahrzehnten geordnenten Arbeitslebens ändern müssen. Die Spuren der Krankeit hatte man in diesem letzten Buch, “Paradiesvogelschiß”, finden können, natürlich nur in poetischer Verarbeitung und Verwandlung, nicht im Sinne eines Nachlasses der Kräfte, sonst hätte er das buch nicht herausgehen lassen. Dass er selbst daran gegangen 230


von Peter Rühmkorf

war, letzte Hand an seine Papiere zu legen, sah man nicht daran, dass er sich ein Lied vom Tod pfiff und mit ihm ein Tänzchen wagte, denn das hatte er ja sein Dichterleben lang getan. Er hatte einen Schnitt gemacht und sich entschieden, in das Buch auch Unvollendetes zu packen. Wohlgemerkt: in einem Gedichtband. Schon immer hatte er Einblick in seine Werkstatt gewährt, seine Memoirenbücher und Journale sind voll von Angefangem und Abgelebtem. Es entsprach seinem radikalen Gerechtigkeitssinn, einem Vermögen seelentief und unterhalb allem impliziert ausgehandelten, also hintenherum doch kalkulierten Empfinden, dass er sich vor der Kritik die Blöße gab, seine Materiallisten auszulegen - hatte er doch poetische und kritische Produktion von vornerein zusammegeführt und schon als Student in der “Konkret”- Kolumne “Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof” die Hervorbringung der Kollegen am strengsten handwerklichen Standard gemessen. 1989 ließ er einen Wälzer drucken, der auf siebenhundert Seiten ein einziges Gedicht bot - mit sämtlichen Vorstufen, Sprungbrettern und Falltüren des Schaffensprozesses: “Selbst III/88. Aus der Fassung”. Der Dichter als sein eigener kritischer Editor mag in der deutschen Literaturgeschichte keine neue Figur sein, aber Rühmkorf traktierte sich selbst auf dem Niveau der damals fortgeschrittensten kritischen Editorik eines D.E. Sattler oder Roland Reuß, machte als Dichter ernst mit der von der Wissenschaft gar nicht einzuholenden Idee, alle verworfenen Versionen eines Werkes seien als Teile des Werkes zu betrachten, hätten, obwohl sie doch durchgestrichen zerknüllt wurden, Anteil an der Endgültigkeit des Werkes. Dieses Denkmal, das er sich selbst errichtete, zeigt das Doppelgesicht des Dichters Peter Rühmkorf. Die Sehnsucht nach Anschluss und Verknüpfung, ja nach Auflösung und Zertrennung, wo sie das Knüpfen neuer Fäden und das Legen neuer Netze möglich machen soll - das ist der politische Rühmkorf, der Gemeinschaft stiften will. Die Selbstbetrachtung, ja Selbstbespiegelung, die der gedichttitel ankündigt und das Buch dann durchspielt unter Übertretung aller Schicklichkeitsgrenzen, die von bürgerlichen Offenbarungskulturprodukten wie Brief, Testament und Diavortrag gewahrt werden - das ist der Künstler, der seine unübersetzbaren Eigenarten kultiviert und von der universellen Aussagekraft seiner krakeligen 231


Zum Tod

Handschrift überzeugt ist. Vollkommen zu Recht. Das Eröffnungsgedicht des Bandes “Paradiesvogelschiß” entfaltet in Balladenform noch einmal Rühmkorfs Poetik der geduldigen Bearbeitung von Urideen, die in der Hingabe ans hingeworfene, vom Himmel gefallene, nirgendwo im Verwertungskreislauf benötigte Details unabsichtlich ein Ganzes entstehen lässt. Gedichte, das war der Streit, den er mit Benn suchte und nun im Olymp fortsetzten kann, werden, so glaubte er, nicht aus Wörtern, sondern aus Einfällen gemacht. Zwischen dem Programmgedicht am Anfang und den häufig zuerst in dieser Zeitung gedruckten Gedichten am Schluss streute Rühmkorf nun in diesem einen Band Einfälle aus, denen zum Gedicht der letzte Reim, die letzte Drehung noch fehlte. Als könnten diese Setzlinge in der Paradiesvogelschissbaumschule flüstern wie der Birnbaum des Herrn Ribbeck in Havelland und als wollten Sie uns zu verstehen geben: Dichtet ihr doch weiter! Und: Ihr werdet schon sehen, wie weit ihr kommt. Rühmkorfs Havelland lag an der Elbe, in Hamburg-Övelgönne. Seine Ortsfestigkeit im Inbild einer Beharrlichkeit, mit der er unter den deutschen Schriftstellern seiner Generation einsam dasteht. 1929 als unehelicher Sohn einer Pfarrerstochter und Lehrerin geboren, erlebte Peter Rühmkorf als Jugendlicher die letzten Kriegstagen nie verlassen hat. In den für seine Generation typischen Schüben des politischen Engagements bewahrte er sich eine innere Unabhängigkeit, die ihn nie in die Verlegenheiten des Renegatentums geraten ließ. Seine Memoirenband “Die Jahre die ihr kennt” und seine Tagebücher der Jahre 1971 und 1972 (veröffentlicht als “Tabu II”, 2004) halten seine Gedanken über die Verschlingung von Protest und Gewalt fest. Er treibt die Gesellschaftskritik auf die Spitze, indem er sich im Selbststudium zu der provisorischen Diagnose vorarbeitet, die Engagierten hätten die Natur unterschätzt, die Untrennbarkeit seelischer und körperlicher Prozesse. Wie nach christlicher Lehre auch die Tiere an den Folgen des Sündenfalls zu tragen haben, so lebt Rühmkorfs Werk aus dem Gefühl, dass die ganze Schöpfung unter der Individuation leidet. Zufällig erscheinende Korrespondenzen verweisen auf einen Sinn, den es wiederherzustellen gilt: Aus einer solchen ontologischen Naturge232


von Peter Rühmkorf

schichte hat Rühmkorf den Reim hergeleitet. Es ist für ihn kein Zufall oder wenn doch, dann ein Zufall, dem die gesamte deutsche Literaturgeschichte einen Sinn hat zuschreiben und erarbeiten müssen, dass diese Geschichte mit den Merseburger Zaubersprüchen beginnt: Formeln für die Heilung gebrochener Glieder. Rühmkorfs Poetik und Politik sind ein lebendiges Wesen, das sich niemals in sich selbst getrennt hat. Vergemeinschaftung ist das Zauberwort seiner Theorie der Dichtung: Wie die Einfälle sich gewaltlos zum Werk fügen, so sollen sich auch die Bürger in schöner Ungezwungenheit miteinander arrangieren. Dass das Gedicht sich, indem es Gestalt annimmt, eine Verfassung gibt, war für Rühmkorf - darauf kommt alles an - keine Metapher. In seinem Tagebuch der Wendejahre (veröffentlicht als “Tabu I”, 1995) notierte er als böses Omen für den Vereinigungsprozess die schlechten Verkaufszahlen seiner Bücher und insbesondere von “Selbst III/88”. Wir werden noch merken, dass wir mit diesem Verfassungspoeten unseren Nationaldichter verloren haben. Vor dem Tod versagt das heilige Wort des Dichters. Nach dem Tod tröstet es. Das Loch für den Sarg als die gute Stube: Aus dem Volksvermögen der Redensarten alimentierte der Dichter sich bis zum Schluss. Wenn er in galgenhumorvoller Voraussicht das zugeschaufelte Grab als das dem Erdboden gleich gemachte Jammertal beschreibt, dann beschwört er im Ton äußerster Lakoknie noch einmal den ganzen Reichtum der seelenheilsgeschichtlichen Bilderwelt der christlichen Überlieferung. “Irdisches Vergnügen in g” hieß vor neunundvierzig Jahren Peter Rühmkorfs erster Gedichtband. Die Parodie des “Irdischen Vergnügens in Gott” des Hamburger Senators Barthold Heinrich Brockes war Rühmkorfs Stil der Nachfolge. Schlagen wir die schlanken Bände physikalischer und moralischer Gedichte auf, die Peter Rühmkorf etwa alle zehn Jahre in Reinbek zum Druck gab, und lassen wir uns im traurigen Augenblick vom Dichter erheitern. Wir können doch nicht im Ernst so tun, dass wir von seinem Tod überrascht wären. Schauen wir nicht so bedeppert. Frankfurter Allgemeine Zeitung

233


JosĂŠ Saramago


* 16. November 1922 (Azinhaga, Portugal) †18. Juni 2010 (Dias, Lanzarote)


Zum Tod

Abenteuerlust des Geister von Paul Ingendaay

Erst Kommentator, dann Dichter: Zum Tode von José Saramago Er war Maschinenschlosser, Beamter, Versicherungsangestellter, Journalist, Übersetzer, Lyriker, parteitreuer Marxist, Romanschriftsteller und noch einiges mehr, und vermutlich hätte er auf die Frage, was er denn als Erstes sei, geantwortet: ein Mensch. Das jedenfalls wäre der Satz, der zu José Saramagos literarischen Figuren passt, kleinen Leuten, denen an den simplen Widrigkeiten ihrer Alltagsexistenz die großen Fragen des Lebens aufgehen. Plötzlich halten sie inne, kommen ins Grübeln und versenken sich in philosophische Dispute, von denen sie kurz zuvor niemals gedacht hätten, dass sie zu ihnen fähig sind. Die Welt ist veränderbar! lautet der Generalbass von Saramago Werk, in dem fast nur liebe, keine bösen Figuren auftauchen. Denkt nach und krempelt die Ärmel hoch! Eigentlich erstaunlich, dass man das Werk eines Mannes mit so transparenter humanistischer Botschaft dennoch – streckenweise mit Begeisterung – gelesen hat. Daran erkennt man den großen Epiker. Auch Jeremias Gotthelf war ja sehr fromm und trotzdem ein Romanschriftsteller kapitalen Ausmaßes. Für Saramago gilt ähnliches, nur in anderer Himmelsrichtung. Der kleine José, geboren 1922 in Azinhaga in der Provinz 236


von José Saramago

Ribatejo, rund hundert Kilometer von Lissabon, war drei Jahre alt, als seine Familie in die Hauptstadt zog und die Elendserfahrung auf dem Lande mit jener der Metropole vertauschte. Saramago hat der Herkunft seiner Eltern zahlreiche literarische Denkmäler gesetzt und die eigenen Ursprünge nie vergessen. Als erster und bis heute einziger Literaturnobelpreisträger aus Portugal verstand er sich als literarische Stimme jener, die nicht gehört werden und in politischen oder wirtschaftlichen Machtspielen nicht zählen. Man tut ihm kein Unrecht, wenn man erwähnt, dass er in seinen öffentlichen Äußerungen eine Art portugiesischer Günter Grass war, also durchaus sentenziös, gelegentlich umsubtil und fast immer vorhersehbar. Seine besten Romane jedoch – darunter „Das Todesjahr des Ricardo Reis“, „Die Stadt der Blinden“, „Alle Namen“ und „Das Zentrum“ – verbinden die Einfachheit einer packenden Handlung mit der Höhenluft des avancierten europäischen Romans. In „Das Todesjahr des Ricardo Reis“ folgt Saramago den Reflexionen eines abgehobenen Ästheten, der 1935, im Todesjahr von Fernando Pessoa, nach Portugal zurückkehrt, den aufkommenden Faschismus erlebt und mit dem Geist des verstorbenen Dichters Gespräche führt. Vertrackt wird das Ganze dadurch, dass Ricardo Reis eines von Pessoas Pseudonymen war, Saramago also eine eigene literarische Figur mit der Maske eines wirklichen Schriftstellers verzahnt. Die Konversation zwischen „Reis“ und „Pessoa“ kann also kaum real sein, erscheint aber auf der Buchseite als literarische Realität aus eigenem Recht. Darin liegt Saramago eigentliche Macht, seine Gabe, sein Geheimnis: Er konnte einen Stoff mit nahezu jedem literarischen Mittel, das er zur Hand nahm, lebendig werden lassen. Er vermochte Skepsis und Zweifel aufzuheben und den Leser in ein magisches Reich hineinzuziehen, in dem weniger die exotischen Blüten von Liebe, Tod und Teufel gediehen als die hellen Abenteuer des Geistes. In diesem Sinne war er immer ein intellektueller Autor – jemand, der wissen wollte, wozu sein Buch dienen konnte und gegen welche Ideologie es sich verwenden ließ. Saramago hat eher spät zum Schreiben gefunden. In seinen Lehrjahren war er ein vielbeachteter Journalist und tagespolitischer Kommentator. Als Mitglied der Kommunistischen Partei engagierte er sich gegen das Salazar-Regime, ging aber bald 237


Zum Tod von Josè Saramago

nach der „Nelkenrevolution“ auf Distanz zur Politik. Der Saramago, den wir kennen, debütierte eigentlich erst mit mehr als fünfzig Jahren. Dann jedoch schrieb er ein Buch aufs andere. Manche von ihnen waren für handfeste Skandale gut, ein Umstand, der ihn immer angestachelt zu haben scheint. Der Parabelform, der er Meisterwerke wie „Die Stadt der Blinden“ (1995) und die furiose Attacke auf einen blinden Kapitalismus („Das Zentrum“, 2000) verdankt, ist Saramago in den meisten der späten Romane treu geblieben. Auch wenn er seinen Orgelton immer beherrschte – nicht jedes dieser Bücher ist unentbehrlich. Man kann kaum genau begründen, warum es beim einen Roman klappt und beim anderen nicht; manchmal fällt ein Werk auch in ungünstige Umstände hinein, wirkt müde oder verpufft. Seine Leser haben auch ein schlichtes Spätwerk wie „Die Reise des Elefanten“, das demnächst bei Hoffmann und Campe in deutscher Übersetzung erscheint, oder seine jüngste antiklerikale Version der Kin-und-Abel-Geschichte konsumiert. Saramago war eben auch ein Markenprodukt und verkaufte sich als solches. Im Alter von siebenundachtzig Jahren ist José Saramago jetzt in Trass auf Lanzarote gestorben. Über seine Bücher hat er einmal gesagt: „Ich zeige meinen Lesern, wie man einen Roman schreiben kann, der ohne Verrat, Mord, Neid und Begierden aller Art auskommt.“ Das klingt heute nicht merkwürdiger als damals, und doch ist die Rechnung im Fall des portugiesischen Weltliteraten José Saramago aufgegangen. Dass er irdische und überirdische Autoritäten ankratzte, politische Macht untergrub, den Beglückungen der Moderne gegenüber misstrauisch blieb und sich reflexhaft auf die Seite des Einzelnen stellte, der es mit finsteren Apparaten aufnahm, mag zur Grundausstattung einer traditionellen demokratischen Linken gehören; dass er von uns als Menschen etwas forderte und uns zugleich als Leser jeden Frohsinn und allen Enthusiasmus, jede Akrobatik der Phantasie zutraute, macht ihn zu einem der wenigen modernen und zugleich volkstümlichen Erneuerer des Romans. Frankfurte Allgemeine Zeitung

238



Gert Westphal


* 5. Oktober 1920 (Dresden, Schweiz) † 10. November 2002 (Zürich, Schweiz)


Zum Tod

Der Stimmbildner von Gerhard Stadelmaier

Tief ist der Brunnen der Vorlesezeit Zum Tod von Gert Westphal „Ach, Pierre...” Es ist nur wie ein verzweifeltes Luftholen aber sozusagen von ätherisch schärfster Luft, durchflirrt wie von mikroskopisch kleinen Eiskristallen, die in die Lunge und die Seele der jungen Frau schneiden, die da ihren älteren Mann mit einem „Ach” schon um lange nichts mehr bittet. Außer hie und da um ein Quentchen Schmerzensodem. Wenn Gert Westphal diese Stelle aus Theodor Fontanes Roman „Cécile” vorlas, wenn er das „Ach” wie nebenbei im „Pierre” verschwinden und verwehen ließ, als seien die „Pierre” - Vokale und Konsonanten gleichgültig nebeneinander gemauerte Pfeiler, durch die ein Seufzer hindurchgehen kann, ohne daß er einen Stein erweichte - dann sah man in den zwei Worten vor sich: einen blassen, kranken, lebensmatten Frauenteint, auf dem sich eine ganze Ehe- und Lieblosigkeitskatastrophe abspielt. Aber nur so nebenbei. Als lägen dem Vorleser das Gesicht dieser Frau und der kaltlederne Ladestockgatte neben ihr im Eisenbahncoupé („Zweiter, Thale”) und auch die Trübnis des Tages und die Leere des Lebens wie selbstverständlich szenisch auf der Zuge.Diese Zunge, eine der nuancenbegnadetsten in deutschen Landen, war Gert Westphals Bühne. Wenn das dumme, unsinnliche Wort vom “Sprechtheater” einmal einen sinnlichen Sinn gehabt haben könnte, dann bei ihm. Der 1920 in Dresden geborene 242


von Gert Westphal

Schauspieler, der nach dem Krieg die Tour von Bremen, Hamburg, Stuttgart bis nach Zürich machte, war auf der Bühne zwar ein eleganter, aber wenig mehr als wackerer Mime. Zum wahren Theatraliker wurde er immer erst, wenn er sich als Erscheinung ausblendete und ganz und gar nur zur Stimme wurde. Wenn er, den die Etikettensüchtigen den „Vorleser der Nation” nannten, auf Band und Platte oder im Rundfunk stundenlang laut las, dann wurde all das, was der Mime Westphal nie herzustellen vermochte, sofort zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk aus Bildern, Szenen, Charakteren, möglichen und unmöglichen Menschen. Wenn er tief hinabstieg in den Brunnen der Vorlesezeit und dort das Schönste hervorholte, dann wurde aus altem Papier: gegenwärtiges Leben. Wer hören wollte, mußte es fühlen. Er war als Stimmeninszenator ein Welttheaterregrisseur. So inszenierte er die fragilen, auf Gesellschafts-, Gefühls- und Untergangsmarmorklippen wundersam robust taumelnden Welten der Bürger mit seiner weichen, sonoren, herrlich schmieg- und biegsamen Herrenbaritonstimme. Das stimmbildnerische Westphalsche Welttheater, angefangen von den Provinztollhäusern der „Buddenbrooks” oder des „Stechlin” über Bennsche und Heinesche Requisitennischen bis hin zu den Kammergiftspielen der „Madame Bovary” oder dem Krankenfestspielhaus des „Zauberbergs” und dem ironischen Orgien - und Hysterienstaatstheater des „Joseph”, wird als Konserve weiterleben, hat aber seinen Chefregisseur und Hauptschauspieler verloren. Er ist jetzt im Alter von zweiundachtzig Jahren in Zürich gestorben. Frankfurter Allgemeine Zeitung

243


Christa Wolf


* 18. März 1929 (Landsberg an der Warthe, Deutschland) †1. Dezember 2011 (Berlin, Deutschland)


Zum Tod

Feuilleton von Volker Weidermann

Zum Tod von Christa Wolf Das war dieser Amerika-Moment, 1992 in Los Angeles: Christa Wolf war auf Einladung des Getty Centers für einige Monate an die amerikanische Westküste gekommen, um zu forschen, zu lesen, zu schreiben und um etwas Abstand zu finden, zu Deutschland und zur deutschen Politik. Was ihr natürlich nicht gelang. Irgendwann hat es ein anderer Stipendiat nicht mehr mit ihr ausgehalten, und er fuhr sie an,sie müsste jetzt sofort mit ihrer verdruckten Herumschleicherei aufhören. Ihre demonstrative Art, von der Last der deutschen Geschichte gebeugt, die Gänge des Getty Centers entlangzuschleichen, mache ihn verrückt. So hat es Christa Wolf in ihrem letzten, stark autobiografisch gefärbten Roman „Stadt der Engel“ selbst beschrieben. Und, nein, verwandelt hat sie sich daraufhin nicht. Aber vielleicht die Schultern kurz gehoben und ein wenig gelächelt, über sich selbst und den Eindruck, den sie auf den jungen Schriftsteller aus einer anderen Welt offenbar machte. Am Abend setzte sie sich mit einer Margarita und Erdnüssen vor den Fernseher und schaute sich ihre Lieblingsserie „Star Trek“ an, deren Besatzung sie für die Verknüpfung von „unbedingter Disziplin mit reifer Menschlichkeit“ verehrte.Die Ideale musste da längst schon jenseits der Wirklichkeit gesucht werden. Auch von Christa Wolf. „Soll den Mund verziehen, wer will: Einmal im Leben, zur 246


von Christa Wolf

rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben„ so heißt es in ihrem Roman „Nachdenken über Christa T.“, den sie 1966 geschrieben hat. Da glaubte Christa Wolf selbst schon nicht mehr an unmögliches. Da war sie auf dem 2 Plenum des ZK der SED mit ihrer Forderung nach mehr „echter Erfahrung“ und weniger „Typik“ in der Literatur der DDR schon auf klare Ablehnung gestoßen. und hatte doch weitergeschrieben, um sich zu retten, aus einer extendieren Krise, wie sie schrieb, ein Buch der Selbstverständigung: Christa T. - eine Rückschau auf ein Leben, das nicht gelingen konnte und das schon zu Ende ist. Wenn das Buch beginnt: „ Wir haben uns neben die unfertigen Fundamente eines kleinen Sommerhauses ins Gras gelegt, in den Schatten einer knorrigen, zerzausten Kiefer, Der Himmel, wenn man lange genug hinsieht, sink ja allmählich auf einen herunter, nur die Rufe der Kinder reißen ihn immer wieder hoch.“ Am Donnerstag, dem Dezember ist Christa Wolf im Alter von 82 Jahren gestorben. Bücher, wie sie sie schrieb, wird es nicht noch einmal geben. und dass eine deutsche Schriftstellerin je noch einmal eine solche Bedeutung für ein Land, für ihre Leser haben wird, ist unwahrscheinlich. Mit dem Tod von Christa Wolf geht eine Epoche zu Ende, eine Epoche, in der die Literatur von extendiere Bedeutung sein konnte. Man musste nur einmal in den letzten Jahren bei einer Christa-Wolf-Lesung dabei gewesen sein, um das zu erleben. Oft las sie in Kirchen, und die Leser, meist Frauen jenseits der siebzig, kamen zu ihr wie in einen Gottesdienst. Ihre Leserinnen glaubten an Christa Wolf und an ihre Bücher, das Leben ihrer Romanfiguren war zu einem wesentlichen Bestandteil des Leben ihrer Leser geworden. Das Geheimnis des Erfolges von Christa Wolf liegt in ihrer Authentizität. das Leiden der Heldinnen ihrer Bücher ist immer unbedingt authentisch, und das Glück, die Hoffnung und die Resignation sind es auch. Diesem Eindruck kann sich kein Leser der Bücher von Christa Wolf entziehen. Die Autorin lebt das Leben Ihrer Heldinnen mit jeder Faser mit. Sie sind leicht erschütterter, diese Heldinnen, und sie stehen dazu. In keinem Werk der Weltliteratur wird so oft und hemmungslos geweint wie bei Christa Wolf. Oft schon auf der ersten Seite, bevor die tragische Handlung sich entfaltet hat. In dem Krankheitsroman „Leibhaftig“ heißt es, nachdem die Protagonistin vom Schicksal einer 247


Zum Tod

jüdischen Familie in Nazideutschland erfahren hat: „Da kommen mir die Tränen. Ich fange an zu weinen, das hätte ich längst tun sollen, ich weine und weine und kann nicht mehr aufhören“ - bis schließlich ihr Engel sie zu trösten versucht mit einem billigen „Alles wird gut“, und sie sagt: „Nein. Es kann nichts gut werden. Als mir das klar ist, kann ich aufhören zu weinen.“ Die Geschichte geht immer mitten durch das Leben der Wolfschen Romanfiguren. Sie sind gelebte Geschichte, gelebte deutsche Geschichte, und da gibt es nun einmal nicht viel zu lachen.

Die Farben der Erinnerung Am Anfang ihres Werkes waren die Hoffnungen groß und Zweifel verboten, am Ende Stand der Zusammenbruch: Christa Wolf hat sich, und ihr Leben und ihre Bücher immer exemplarisch gesehen. Am Donnerstag ist sie gestorben. Und eine Epoche ist zu Ende gegangen. „Die zielen genau auf mich“, schreibt Christa Wolf. Geschichte hat sie krank gemacht. Wörtlich. Auch in der Weltgeschichte nicht: In einem Tagebucheintrag aus dem September 2001 schreibt sie über den Angriff auf die Zwillingstürme von New York: „Während mein Gehirn noch ungläubig nach Erklärung suchte, mein Körper schon begriffen hatte und jenes unangenehm ziehende Gefühl erzeugte, das mit immer anzeigt, das etwas Unwiderrufliches, zumeist schreckliches passiert: Kriegsbeginn 1939; Flucht aus der Heimatstadt 1945; Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. - Im Alter wäre ich gern von Geschichte verschont geblieben.“ Am Anfang dieses Werkes waren die Hoffnungen groß. Ihren allerersten literarischen Text, „Moskauer Novelle“ aus dem Jahr 1960, hat sie später selbst für ihre Verherrlichung der Hauptstadt der Sowjetunion scharf kritisiert. dann erschien 1963 „Der geteilte Himmel“ , und die Zeit des Ruhms begann: Eine Liebe in einem gespaltenen Land. Manfred geht in den Westen, seine geliebte heißt Rita, und Rita bleibt da. Sie hat sich für ihre Ideale entschieden, für ihr Land und gegen die Liebe: Manfreds Vater sagt, nachdem sie nach einem langen besuch im Westen endgültig in die DDR zurückgekehrt ist: „Ihre Rückkehr ist mir, offen gestanden, bis heute ein Rätsel. 248


von Christa Wolf

Sie mögen mich altmodisch nennen; aber zu meiner Zeit war die Liebe romantischer. Und unbedingter. Ja, das auch.“ Zu jener Zeit ist Christa Wolf noch Kandidatin des ZK der SED. Und verbietet sich Zweifel. Doch ein Wanken ist schon diesem Buch eingeschrieben. Manfred ist kein Idiot. Manfred hat gute Gründe für seine Entscheidung, die DDR zu verlassen. Das sie bleibt, dass sie sich statt für die Liebe für ihren Staat entscheidet, nennt Rita einen Anschlag, den sie auf sich selbst verübt, auf sich und auf ihr Seelenheil, auf ihr Glück. Die Mauer geht durch ihr Leben. Der Himmel ist teilbar. das muss sie ihrem Manfred erst mühsam beibringen, der meint, das bleibe ihnen, der ungeteilte Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? „Doch“, sagt sie leise. „Der Himmel teilt sich zuallererst.“ ja, das ist kitschig, exemplarisch, übersymbolisch, aber auch immer wieder schön und fremd und sonderbar, dieser Rita auf ihrem Pfad der stolzen Selbstkasteiung zu folgen. In eine Welt, in der Politik wichtiger ist als die Liebe und Patriotismus eine sozialistische Selbstverständlichkeit. Rita ist romantisch und kämpft um Nüchternheit: „Eine Sternschnuppe fiel, aber sie wünschte sich nichts.“ Ein Satz gibt es in dieser Erzählung, der steht einmal auf der ersten Seite und dann noch einmal kurz vor dem Schluss, er heißt: „Die zielen genau auf mich.“ Die - das sind die anderen, die Handelnden, die „Tatmenschen“ wie sie in „Christa T.“ später heißen. „Die zielen genau auf mich“, das heißt auch: die Geschichte zielt auch mich, immer wieder bin genau ich gemeint und getroffen. Christa Wolf hat sich und ihr Leben immer auch exemplarisch gesehen. Geschichtliche Katastrophen machen sie im wörtlichen Sinne krank. Das zu beschreiben, dagegen anzuschreiben war eine existentielle Notwendigkeit. Und das Hadern mit diesem Land. Das hadern mit dem Sozialismus. DieKompromisse, die sie einging, die Opposition, zu der sie sich sich in einigen, ausgesuchten Momenten durchrang. Die Unterzeichnung des Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann vor allem. SED-Mitglied war sie fast bis zuletzt. Sie hat selbst, sehr früh, sehr wenige und für die Beobachteten eher schmeichelhafte Berichte für die Stasi verfasst. Danach wurde sie selbst fast ein leben lang bespielt. Nach der Biermann-Petition auch offensiv und offen. 249


Zum Tod von Christa Wolf

Das sie ihren Bericht darüber, „Was bleibt!, ein Buch, das sie 1986 geschrieben hatte, erst 1990, als es kein Risiko mehr bedeutete, veröffentlicht hat - darüber war nach Erscheinen einer der heftigsten Literaturfehden der deutschen Nachkriegsgeschichte entbrannt. Ja. Eine Heldin ist Christa Wolf nicht gewesen. Es war ein schmaler Grat, auf dem sie sich als Repräsentantin ihres Staates bewegte. Er war aber wohl nicht ganz so schmal, wie sie selber fürchtete. Und dass Menschen, die das Land verließen, weil sie es nicht mehr aushielten, sich von einer Christ Wolf, die jederzeit reisen konnte, wie es ihr gefiel, nicht auch noch tadeln lassen und sich ausgerechnet von ihr nicht zum Bleiben überreden lassen wollten, auch das kann man gut verstehen. und für anderen war ihr Wort Gesetz, bis zum Schluss. Das liest sich heute schon wie aus einer anderen Zeitrechnung, wenn man zum Beispiel die Leserbriefe nimmt, die sie im Herbst 1989 bekam, als sie in der „Wochenpost“ den Anklagetext „Das haben wir nicht gelernt“ veröffentlichte. Für oder gegen sie - für die Leser war sie eine Mutterfigur, eine Matrone. Ein A. Richter aus Berlin berichtete: „Heute früh beim Friseur eine ‚Wartegemeinschaft‘. Zwei Frauen neben mir, eine legt die ‚Wochenpost‘ auf den Tisch, liest vor, was Christa Wolf geschrieben hatte. Vom Nachbartisch drehen sich Frauen um und beginnen, aus der‚ Wochenpost‘ abzuschreiben. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr zum Haarschneiden, sondern suchte nach der ‚Wochenpost‘. In der Frühstückskantine lag sie auf dem Tisch. Ihre Seite gibt es jetzt in vielen Abzügen, und jeder in unserer Gruppe hat sie schon gelesen.“ Ja. Jeder hatte sie gelesen. Eine Epoche geht zu Ende. Die Christa-Wolf-Epoche. Und mit ihr ein deutsches Autorenmodell: der Autor als Instanz. Und Literatur als Landesseelenkunde. Vom Tod hat sich viel geschrieben und von der Erinnerung, die bleibt. Wie schwer es sein wird, Abschied zu nehmen, vom Leben, von der Hoffnung, „dass die Zweifel verstummen und man sie sieht“, in Christa T. und das „Klagen, Tränen, Vorwürfe nutzlos zurückbleiben“, am Ende. Am traurigsten und schönsten hat sie es in „Was bleibt“ geschrieben, ausgerechnet: „Daß es kein Unglück gibt außer dem, nicht zu leben. Und am Ende keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben. Frankfurter Allgemeine Sonntagzeitung

250



Hans Wollschl채ger


* 17. M채rz 1935 (Minden, Deutschland) + 19. Mai 2007 (Bamberg, Deutschland)


Zum Tod

Der größte aller Diener von Paul Ingendaay

Der Übersetzer und Schriftsteller Hans Wollschläger ist tot. Alle, die Hans Wollschläger kannten, aber auch alle, die über ihn redeten oder schrieben, mussten sich eingestehen, dass sie seinen Leidenschaften nur zum Teil - oft zum geringen Teil - folgen konnten. Kein anderer Name der deutschen Nachkriegsliteratur ist so fest an künstlerische Wahlverwandtschaften und bedingungslose Loyalitäten gebunden wie der Hans Wollschlägers. Einmal erwählt, war dem Objekt seiner Bewunderung lebenslange Treue sicher, die sich in hingebungsvoller philologischer Arbeit niederschlug. Da war die frühe Karl-May-Biographie (1965) und das jahrzehntelange Werben um einen angeblich unterschätzten, als „Jugendautor“ abgestempelten Epiker; die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Arno Schmidt, der neben vielem anderen eine gemeinsame Übersetzung von Poes Gesamtwerk entsprang; die große Friedrich-Rückert-Edition, der bis zuletzt Wollschlägers Einsatz galt. Und da sind die kürzeren und längeren Essays, seine eigentliche Form, seine Paradedisziplin, in der er zu den paar Großen der letzten Jahrzehnte gehörte. Vielleicht gab es auch das nur einmal in der deutschen Literatur: einen Schriftsteller, Essayisten und Herausgeber von solchen Graden, der zwar die eigene Position mit hochfahrendem Sprachgestus verteidigte, aber nie aufhörte, ein Jünger zu sein. 254


von Hans Wollschläger

Im Alter von zweiundsiebzig Jahren ist Hans Wollschläger jetzt in Bamberg gestorben. Auf der Strecke blieb sein ehrgeizigstes literarisches Projekt, der Roman „Herzgewächse oder der Fall Adam“, dessen erster Teil 1982 erschien und dem (trotz des Gerüchts, Arno Schmidt habe die Fortsetzung gelesen) keine weitere Lieferung mehr folgen sollte. Vor den experimentellen Verfahren, der Anspielungsfülle und den verschiedenen Schrifttypen dieses Buches stand die Literaturkritik respektvoll, aber einigermaßen ratlos da. Zu Recht: Was darin begonnen wurde, konnte nicht eingelöst werden, und jenseits der routinierten Verbeugung vor dem avantgardistischen Wollen dieses Künstler- und Bewusstseinsromans bleibt festzuhalten, dass Wollschläger kein Erzähler und der Roman eindeutig nicht seine Gattung war. Am Ende, so berichtete einer seiner Freunde, habe er jedem Satz eigener Fiktion misstraut und kaum noch ein Wort gelten lassen. So ist es nicht als Ironie, sondern als zwingende Lebenswendung aufzufassen, dass einer der originellsten Köpfe der deutschen Literatur erst als Diener zu echtem Ruhm kam, nämlich mit seiner hochgelobten Übersetzung von James Joyces’ „Ulysses“ (1975). Auf Lesungen erzählte Wollschläger, der ein glänzender Rezitator war, der Übersetzer sei hier und dort naturgemäß versucht gewesen, den epochalen Roman ein wenig zu verbessern. Dass er ihn in dieses Deutsch brachte, wird der Nachwelt aber reichen. Das Bewusstsein eigener Überlegenheit hat sich im stilistischen Gestus des Kirchenmusikers und psychoanalytisch geschulten Schriftstellers durchaus niedergeschlagen. Auch in dem, was man seinen aufklärerischen Furor nennen muss. Ihm verdanken seine Leser hier brillante, dort wütende und in ihrer Wut enervierende Seiten. In den kirchenkritischen Büchern „Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem“ (1973) und „Die Gegenwart einer Illusion“ (1979) zum Beispiel rennt Wollschläger ein paar offene Türen zu viel ein, und allein bei dem Gedanken, dass er sich durch viele tausend Seiten Theologenprosa gekämpft hat, um den endgültigen Essay gegen Helmut Thielicke zu schreiben, wird einem flau. Der pausbäckige Titel eines Thielicke-Buches. „Zu Gast auf einem schönen Stern“, muss dem Mann aus Bamberg, der sich ein wenig als 255


Zum Tod

Nachfolger von Schopenhauer und Karl Kraus begriff, wie gellender Hohn in den Ohren geklungen haben. Nimmt man die Produktion der letzten Jahre und Wollschlägers Stellung im deutschen Literaturbetrieb, bleibt der Eindruck eines ewigen Jünglinge, der dem Versprechen auf die eigene Größe dicht auf den Fersen bleibt, am Ende aber seine Energieen - es muss seine Wahl gewesen sein - auf zahlreiche kleinere und mittlere Aufgaben verteilte, darunter die Streitschrift „Tiere sehen dich an“ (2002), die bewegende Erinnerung an seinen Lehrer Adorno („Moments musicaux“, 2005) und die Bündelung seiner literaturkritischen Schriften in zwei Bänden unter dem Titel „Vom Sternen und Schnuppen“ (2006). Am Beispiel vom Glenn Gould hat wird einem flau. Der pausbäckige Titel eines Thielicke-Buches, „Zu Gast auf einem schönen Stern“, muss dem Mann aus Bamberg, der sich ein wenig als Nachfolger von Schopenhauer und Karl Kraus begriff, wie gellender Hohn in den Ohren geklungen haben. Nimmt man die Produktion der letzten Jahre und Wollschlägers Stellung im deutschen Literaturbetrieb, bleibt der Eindruck eines ewigen Jünglings, der dem Versprechen auf die eigene Größe dicht auf den Fersen blieb, am Ende aber seine Energien - es muss seine Wahl gewesen sein - auf zahlreiche kleinere und mittlere Aufgaben verteilte, darunter die Streitschrift „Tiere sehen dich an“ (2002), die bewegende Erinnerung an seinen Lehrer Adorno (“Moments musicaux“, 2005) und die Bündelung seiner literaturkritischen Schriften in zwei Bänden unter dem Titel „Von Sternen und Schnuppen“ (2006). Am Beispiel von Glenn Gould hat Wollschläger über die „Kultfigur“ geschrieben, was er selbst tief empfunden haben dürfte: „Die Masse erdrückt, auch mit ihrer Zuneigung; wälzt sie sich ihrer nächsten Begeisterung zu, so lässt sich mit dem hinterbliebenen Rest nichts mehr anfangen; nichts ist so tot wie der Kultus von gestern.“ In diesem Sinne also wird er nicht sterben können. Längst erscheint beim Wallstein Verlag in Göttingen eine Gesamtausgabe, die seiner würdig ist und die editorische Verstreuung seines Werks beenden wird. „Ich meide ,die Menschen’ keineswegs“, hat Hans Wollschläger einmal mit apartesten Anführungszeichen gesagt, „ich fürchte sie nicht und hasse sie nicht; ich bin nur - sagen wir - zunehmend wählerisch im Umgang mit ihnen geworden.“ Auch für Bücherl256


von Hans Wollschläger

eser ist das eine meisterhafte Lektion. *Infobox Anfang* Hans Wollschläger über den Tod: »Eine Weile dürfte die Maschine noch weiterlaufen, auch wenn ich mich in Kürze wohl nach Entkalkern und Rostumwandlern werde umsehen müssen, um die Frist ein Endchen zu verlängern; der übermächtige Tod hat’s ja vielleicht ganz gern, wenn man sich ihm nicht ohne Widerstand ergibt, und gewährt deshalb kleine Feuerpausen? Aber ein Vergnügen wird’s, da ich täglich klüger werde, wohl kaum sein, und ein Problem ist das ›Wie lange?‹ für mich nicht; ›zu wenig Zeit‹ war immer für alles, was sich mir schön illusorisch als Ziel und Zweck und Endursach’ speziell all meiner Plackerei gemalt hat, und wenn die Schicksale von Bachs Kunst der Fuge und Bruckners Neunter den Verdacht nähren, dass Gott unmusikalisch sei, so mag ich ihm auch nicht genügend Literaturverstand zumuten, um mich meine vertrackten Altersbücher schreiben zu lassen; ich müsste mir auch mindestens noch 100 Jahre dafür ausbedingen.« Aus Hans Wollschläger: „Kleine Mauerschau des Alterns oder Anderrede vom Weltgebäude herab“, *Infobox Ende*

Frankfurter Allgemeine Zeitung

257


Peter Paul Zahl


* 14. M채rz 1944 (Freiburg, Deutschland) + 24. Januar 2011 (Port Antonio, Jamaika)


Zum Tod

Elf Schritte zu einer Tat und dann weg von Lorenz Jäger

Von der Arbeitswelt ins Reggae-Paradis: Zum Tod des Schriftstellers Peter Paul Zahl Am 22. Mai 1976 veröffentlichte diese Zeitung in der „Frankfurter Anthologie“ das Gedicht eines Mannes, der damals im Gefängnis saß – von Peter Paul Zahl. Es hieß „mittel der obrigkeit“ – die Kleinschreibung und der Verzicht auf Interpunktion waren Stilmittel – und handelte von schlagenden Polizisten. Zahl sah die reine Brutalität: „man muss sie gesehen haben / diese gesichter unter dem tschako / während der schläge“. Sie schlagen weiter, und im gleichen Rhythmus ergeht die Aufforderung zum Blick in ihre Gesichter.Am Ende wird ihnen dennoch eine mögliche Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung nicht versagt: „sag nicht: die schweine / sag: wer hat sie dazu gebracht“. Ob Zahl auch dem Polizisten ins Gesicht zu sehen vermochte, den er im Dezember 1972 bei einem Schusswechsel schwer verletzt hatte? Wegen dieser Tat wurde er zunächst zu vier Jahren Haft verurteilt – die Anklage hatte auf „gefährliche Körperverletzung“ gelautet –, das Urteil aber wurde aufgehoben, und am Ende stand eine Strafe von fünfzehn Jahren wegen versuchten Mordes. 260


von Peter Paul Zahl

1982 wurde Zahl entlassen. Am 14. März 1944 wurde Zahl in Freiburg im Breisgau geboren. Zum Dichter, Verleger und Schriftsteller wurde er in Berlin, wohin er gegangen war, um dem Wehrdienst auszuweichen, auf dem eher praktischen Weg einer Druckerlehre. Er machte sich in literarischen Kreisen bald einen Namen, aber zunächst nicht in den akademischen Zirkeln – er hatte nur die Mittlere Reife –, sondern in der „Gruppe 61“, die in der industriellen Arbeitswelt den vornehmsten Gegenstand der schriftstellerischen Aufmerksamkeit zu finden glaubte. 1968 erschien sein Gedichtband „Elf Schritte zu einer Tat“. Nach der Haftentlassung und einem Praktikum an der Berliner „Schaubühne“ wurde Zahl ein Weltenbummler, bis er sich endgültig in Jamaica niederließ. „Müßiggang ist aller Tugenden und Künste Anfang“ heißt es in seinem Roman „Miss Mary Huana“, dessen Titel sicher dem Genius loci der Insel angemessen war. Noch einmal schrieb die Presse über ihn, als ihm, der die jamaicanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, der deutsche Pass entzogen wurde, den er dann doch zurückbekam. Sein „Rose Hill Cottage“ vermietete er und fristete davon seinen Unterhalt. Auch schrieb er weiter, Kriminalromane, einen Reiseführer, ein Drama über den Hitler-Attentäter Georg Elser. Am Montag ist Peter Paul Zahl in Port Antonio (Jamaica) gestorben. Frankfurter Allgemeine Zeitung

261




impressum Adieu Eine Sammlung von Nachrufe

Font

Print

Cambria Regular Text.........9,5pt/3,3mm Cambria Italic Text..........9,5pt/3,3mm Cambria Bold Namen.........10pt/3,5mm

Medienteam

Liberation Mono Regular

Buchbinderei Plum

Adieu cover....64pt/22,5mm

Weizenmühlenstraße 16

Index..............9pt/3mm

40221 Düsseldorf - DE

Blasiusstraße 49-51 40221 Düsseldorf - DE

Binding

Zum Tod von........9pt/3mm Liberation Mono bold Adieu cover....64pt/22,5mm

Book

Authors............9pt/3mm A project realised during Interline spacing.........

the course of Buch,

................13pt/4,6mm

Magazin und Zeitschrift by Victor Malsy. Peter Behrens School of

Page

Arts and Architecture, Hochschule Düsseldorf,

Size.............140x210mm

Wintersemester 2016.

Paper.............100gr/m² Transparent paper......... .................100gr/ m²

Designed by Cinzia Bongino



zum Tod a von d Günther Anders Hans Carl Artmann Pina Bausch Jurek Becker Samuel Beckett Thomas Bernhard John Cage Elias Canetti Henri Chopin Merce Cunningham

Hilde Domin Friedich Dürrenmatt Axel Eggebrecht Raymond Federman Erich Fried Max Frisch Franz Fühmann Swetlana Geier Robert Gernhardt Helmut Heißenbuettel Wolfgang Hilbig Wolfgang Hildesheimer Ernst Jandl Thomas Kling Astrid Lindgren Luigi Malerba Marcel Marceau Harry Mulisch Heiner Müller Oskar Pastior Peter Rühmkorf Josè Saramago Gert Westphal Christa Wolf Hans Wollschläger Peter Paul Zahl

i

e

u


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.