58. Jahrgang | 6 Euro
Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen
KulturAustAusch Ausgabe 1v/2008
Zeitschrift für internationale Perspektiven
Anders gedacht Neues aus der Türkei In dieser Ausgabe Ahmet Altan: Die Schattenmänner Oya Baydar: Leidenschaftlich Türke Yousef Alsharif: Gibt‘s in der Türkei Muslime? Şeyla Benhabib: Der Club der weißen Herren Buket Uzuner: Zuviel der Ehre Giuliana Sgrena: Das Kopftuch der Männer Ayhan Kaya: Die Kulturfalle Gunter Pleuger: Die Verantwortung, einzugreifen
PDF-Ausgabe eines vergriffenen Titels der Zeitschrift Kulturaustausch
editorial
„Gibt es in der Türkei Muslime?“, wurde Yousef Alsharif, Mitarbeiter des Al-
Dschasira-Büros in Ankara, kürzlich bei einem Besuch in Jordanien gefragt. In der Türkei hingegen wollen die Menschen wissen, warum man sie zu Vertretern der muslimischen Zivilisation mache, wie Ayhan Kaya, Direktor des Europa-Instituts an der Bilgi Universität in Istanbul, berichtet. Vor nicht allzu langer Zeit nämlich hätten sich die Türken noch als Teil der westlichen Welt verstanden. Doch seit dem 11. September 2001, sagt die deutschtürkische Journalistin Semiran Kaya, gelte in Deutschland jeder Migrant automatisch als Muslim. In dieser Ausgabe geht es um die Türkei. Muslime kommen auch vor. Die Religion spielt zwar in der Türkei oft eine große Rolle – etwa in den Konflikten zwischen neuen und alten Eliten. Sie ist aber längst nicht alles, was das Land ausmacht. Die Autoren dieses Hefts schauen auf die politischen Machtkriege und kulturellen Identitätskrisen, auf die Demokratieentwicklung und den Umgang mit der Kurdenfrage. Wir haben uns mit einem Arzt über den Glauben an Magie und mit einer Lehrerin über körperliche Nähe in der Kindererziehung unterhalten. Und wir haben die Schriftstellerin Oya Baydar gebeten zu erklären, warum in der Türkei die Emotionen oft so hochkochen – ein Umstand, der rational versierte, aber in ihren Gefühlen eher verhaltene Europäer schnell verschreckt. Menschen in aller Welt flüchten sich schnell in Pauschalurteile über „die islamische Welt“ oder „den Westen“. Wir wollen in dieser Ausgabe die Türkei und die Türken besser kennenlernen. Wir sehen: ein Land in Ungewissheit über das, was kommt. Viele Beteiligte müssen sich sehr mühsam über ihre gemeinsame Zukunft einigen. Und das wiederum ist eigentlich etwas, das wir Europäer sehr gut kennen.
Fotos: Ali Ghandtschi (1), privat (3), Cansu Özer (2)
Ausgezeichnet: KULTURAUSTAUSCH erhält für die Ausgabe „Was vom Krieg übrig bleibt“ (1/2007) den internationalen Designpreis „red dot award“. Prämiert wurden 343 von 6.000 eingereichten Arbeiten.
Die Bilder im Thementeil über die Türkei stammen von dem türkischen Fotografen Attila Durak und sind auch in seinem Buch „Ebru: Reflections of Cultural Diversity in Turkey“ veröffentlicht. Durak lebt in Istanbul und New York.
Jenny Friedrich-Freksa
KÜLTÜR DIYALOĞU: Der Thementeil zur Türkei in dieser Ausgabe von KULTURAUSTAUSCH erscheint auch in türkischer Sprache. Das Heft kann am Kiosk gekauft oder unter www.ifa.de bestellt werden.
Die T체rkei Zwischen Glauben, Demokratie und Milit채r: Berichte aus einem Land im Umbruch Thema: T체rkei, Seite 14-65 Sunnitische Araberin, Mardin, Juni 2002
Inhalt 6 8 9 10 11 12
Die Welt von morgen Top Ten: Die erfolgreichsten Medikamente in Brasilien Kulturleben Fokus: Dominica Wählen in: Litauen Fokus: Dänemark
THEMA
Allein auf weiter Flur von Zafer Şenocak Einer für alle, alle für einen von Mazhar Bağlı „Magie hilft zweifellos“ Interview mit Akif Poroy Land der Gründer von Rauf Ateş Umarmen und Schulterklopfen Interview mit Özgür Şen Back to Bosporus von Semiran Kaya
M ag a z i n
Die Schattenmänner von Ahmet Altan Vereinzelte Kurden von Gülistan Gürbey Der Club der weißen Herren von Şeyla Benhabib Die Kulturfalle von Ayhan Kaya Zahlen und Fakten Gibt es in der Türkei Muslime? von Yousef Alsharif Geht das denn? von Ioannis N. Grigoriadis Das Kopftuch der Männer von Guiliana Sgrena „Abschied vom Scharia-Denken“ Interview mit Ekin Deligöz Die stolzen Hüter der Republik von Loay Mudhoon
Kultur
40 42 44 47 48 50
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Die Türkei
Politik
16 19 20 24 26 27 32 34 36 37
Gesellschaft
Leidenschaftlich Türke von Oya Baydar Ankara für Anfänger ... von Dilek Zaptçıoğlu Bitte nicht stören von Övül Durmuşoğlu Zuviel der Ehre von Buket Uzuner Was die Türken gerne ... sehen, hören und lesen
von Kemal Çalık „Die Volksmusik ist mündlich überliefert“ Gespräch zwischen Marc Andre, B. Dilara Özdemir und Koray Sazli
66 69 71 73 74 75 76 79 80 81 82 83 84 85 86 88 91 96 98
Heimatdesign von Gudrun M. König „Jede Generation hat ihre Toten“ Interview mit Elisa Ramírez Da war doch was von Susanne Grindel und Winfried Speitkamp Politik der Träume und Mühen von Olaf Schwencke „Kultur ist basisdemokratisch“ von Martin Kobler „Nicht als Missionare auftreten“ von Klaus-Dieter Lehmann Die Verantwortung, einzugreifen von Gunter Pleuger Pressespiegel „Stalin wird positiv gesehen“ Interview mit Irina Scherbakowa Lernen auf einem anderen Stern von Karola Klatt Miss Daisy und ihr Chauffeur von Christine Müller Kalkulierte Kunst Interview mit Claus Noppeney Impressum Leserbriefe / Kommentare Kulturorte Francisco José Viegas über das Café Majestic in Porto Köpfe Bücher Neuerscheinungen Weltmarkt
Fotos: linke Seite: Attila Durak; rechte Seite: picture alliance / KPA (1), ullstein bild - imagebroker.net (2), © Redman Design / International Slavery Museum (3), picture alliance / ZB (4)
Diese Ausgabe enthält eine Beilage von Cicero – Magazin für politische Kultur.
Viagra und Co. Schlank und potent: welche Pillen Brasilianer kaufen, um ihre Körper zu perfektionieren Top Ten: Seite 8
Überraschungen aus Ankara
Dunkle Vergangenheit
Lost in Germany
Was Sie noch nicht über die türkische Hauptstadt wussten
Kontrovers, akademisch oder gar nicht: Wie sich europäische Länder der Kolonialgeschichte stellen
Thema: Seite 32
Magazin: Seite 71
Warum so viele chinesische Studenten in Deutschland scheitern Magazin: Seite 81
Die Welt von morgen
Grönland: Lange Leitung
USA: Gestatten, García In einer kürzlich veröffentlichten Statistik des U.S. Census Bureau gehören mit „García“ (Platz 8) und „Rodríguez“ (Platz 9) zum ersten Mal zwei lateinamerikanische Familiennamen zu den zehn häufigsten Nachnamen in den USA. Die Zahl der Hispanoamerikaner ist in den 1990er-Jahren um mehr als die Hälfte angestiegen. Zurzeit liegt ihr Anteil an der US-Gesamtbevölkerung bei knapp 13 Prozent.
Seit Mitte Juli 2008 wird der Meeresboden zwischen Grönland und Neufundland von Geröll und alten Fischernetzen befreit. Denn schon bald werden hier die ersten Abschnitte eines 4.700 Kilometer langen Seekabels verlegt, das die Insel im Nordmeer ab März 2009 mit Kanada und Island verbinden soll. Mit der umgerechnet 100 Millionen Euro teuren Datenleitung werden die Städte Nuuk und Uummannaq in Zukunft ähnlich gut mit der virtuellen Weltgemeinschaft vernetzt sein wie Berlin oder New York.
England: Schafe im Park Nach mehr als 50 Jahren siedeln die südenglischen Küstenstädte Brighton und Hove wieder Schafe in ihren öffentlichen Parks an. Nun werden Freiwillige gesucht, die für ein paar Stunden pro Tag als Schäfer arbeiten. In einem Einführungskurs lernen die „sheep-watchers“ unter anderem, wie man ein Schaf befreit, das sich in Dornengestrüpp verfangen hat: ganz langsam nähern, dann fest zupacken und das Schaf auf den Rücken drehen – denn in dieser Lage ist ein Schaf am fügsamsten. Saudi-Arabien: Moral geht vor die Hunde In der saudischen Hauptstadt Riad ist es jetzt verboten, Hunde und Katzen zu verkaufen oder mit ihnen spazieren zu gehen. Warum? Nach Angaben der staatlichen Tugend-Kommission setzen immer mehr junge Männer ihre Vierbeiner gezielt ein, um Kontakt mit Frauen aufzunehmen. In Saudi-Arabien sind private Treffen zwischen Männern und Frauen, die nicht verwandt oder verheiratet sind, grundsätzlich verboten.
Ägypten: Blogosphäre wächst Die Zahl der Ägypter, die im Internet ihre Meinung äußern, liegt nach jüngsten Schätzungen des Regierungszentrums für Organisationsmanagement bei etwa 160.000. Noch im Jahr 2004 gab es in Ägypten bei 72 Millionen Einwohnern nur 40 offiziell registrierte Blogs. Mehr als 75 Prozent der Blogger verfassen heute ihre Einträge auf Arabisch. Die Anzahl englischsprachiger Blogs liegt bei unter zehn Prozent.
Top Ten D i e M e d i k a m e n t e , d i e i n B r a s i l i e n a m m e i s t e n U m s a t z b r i n g e n
hemmer, Muskelentspanner 116.525.000 US-Dollar
2 Cialis – Potenzmittel 103.870.000 US-Dollar
3 Viagra – Potenzmittel 87.483.000 US-Dollar
4 Neosaldina – Schmerzmittel 87.374.000 US-Dollar
5 Tylenol – Schmerzmittel 85.110.000 US-Dollar
6 Yasmin – Antibabypille 76.069.000 US-Dollar
7 Lipitor – Cholesterinsenker 67.363.000 US-Dollar
8 Sibutramina – Appetitzügler 63.205.000 US-Dollar
9 Diovan HCT – Blutdrucksenker 55.170.000 US-Dollar
10 Rivotril – Epilepsiemedikament 51.921.000 US-Dollar
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Muskelentspanner
In Brasilien und dort besonders in Küstenstädten wie Rio de Janeiro ist Sport eine beliebte Freizeitaktivität. Morgens füllen Jogger die Uferpromenaden, später zieht es zahllose Bewegungsfreunde zum Beach-Volleyball, Fußball oder Yoga an den Strand. Brasilien ist das Land mit der zweithöchsten Anzahl an Sportstudios der Welt. Bei großer Hitze oder Regen können die Sportler auf 12.682 Fitnessakademien im ganzen Land ausweichen. Für einen durchtrainierten Körper nimmt man auch mal einen Muskelkater oder kleine Verletzungen in Kauf. Mit Entzündungshemmern und Muskelentspannern werden sie wieder kuriert.
3 Potenzmittel
Auch in Brasilien ist Viagra bekannt und berühmt. Konkurrenz erhält es nur von Cialis, der Potenzpille der zweiten Generation, die schneller und länger wirkt als ihr Vorgänger. Hier scheint sich doch ein Klischee zu bewahrheiten: Impotenz mag für jeden Mann traumatisch sein – für brasilianische Männer ist es schlicht ein Tabu, an entscheidender Stelle Schwäche zu zeigen. Den traditionellen, auf Märkten feilgebotenen Pf lanzenölen und Pülverchen aus Amazonien wird immer weniger Vertrauen entgegengebracht. Stattdessen verbuchen gleich zwei chemische Erektionshelfer riesige Umsätze auf dem brasilianischen Pharmamarkt.
8 Appetitzügler
In kaum einem Land der Welt wird so viel Wert auf das Aussehen gelegt wie in Brasilien. Sich dem nationalen Schönheitsideal anzupassen, bedeutet für Frauen neben der sportlichen Formung ihrer Rundungen auch die ständige Gewichtskontrolle. Da die brasilianische Ernährung sehr süß und fett ist – die klassischen Straßensnacks sind frittierte Teigtaschen, und selbst frisch gepresste Fruchtsäfte werden großzügig mit Zucker gesüßt –, greift so manch figurbewusste Frau gerne zu einem Appetitzügler. Viele Brasilianerinnen glauben an eine wundersame Gewichtsabnahme mithilfe von Medikamenten, die eigentlich zur Behandlung von Fettleibigkeit vorgesehen sind. Quelle : IDUM – Instituto Brasileiro de Defesa dos Usuários de Medicamentos. Die Zahlen geben den Umsatz an, den Pharmaunternehmen im Jahr 2007 mit den jeweiligen Medikamenten erzielten.
Zusammengestellt von Laura Geyer
Kulturaustausch 1v /08
Fotos: picture alliance / KPA (1), www.neckermann.de (2), picture-alliance / dpa (3)
1 Dorflex – Entzündungs-
Kulturleben
Fotos: Reuters/Albert Gea (1), Christian Thiel (3)
was anderswo ganz anders ist
Warum an Weihnachten ganz Spanien Lotto spielt
Woran man in Uruguay am 29. Tag eines Monats denkt
Weshalb sich die Russen neuerdings grüßen
Die Weihnachtslotterie ist eine tief verwurzelte spanische Tradition. Zum ersten Mal fand sie im Jahr 1812 statt – zur Feier der Verabschiedung unserer ersten Verfassung. Heute beträgt der Hauptgewinn, „el gordo“ („der Dicke“) genannt, satte drei Millionen Euro. Und er wird sogar gleich 180-mal verlost. So werden insgesamt 540 Millionen Euro ausgeschüttet. Weihnachten fängt so in meinem Land schon am Morgen des 22. Dezember an, wenn die Kinder der Madrider Schule San Ildefenso drei Stunden lang die Gewinnzahlen vorsingen. Die Ziehung wird von allen wichtigen Fernsehsendern übertragen. Und fast alle Spanier haben eines der schon seit Monaten angebotenen Zehntellose gekauft oder geschenkt bekommen. So verfolgen wir die Kugeln, an denen unser Glück hängt, wie sie durch die riesigen goldenen Trommeln rollen, und setzen alle Hoffnungen auf die 20 Kinder, die mit ihren glockenhellen Stimmchen die Siegerzahlen verkünden. Um 15 Uhr, wenn in Spanien die Nachrichten laufen und gegessen wird, weiß man, wer die glücklichen Gewinner sind. In den Läden, in denen die Trefferlose verkauft wurden, fließt der Sekt, während der Rest der Spanier in die strahlenden Gesichter der Gewinner auf den Bildschirmen starrt und sich noch einen Happen mehr in den Mund schiebt. Doch es gibt Hoffnung für diejenigen, die vor Weihnachten leer ausgegangen sind. Die „Lotterie des Jesuskindes“ am 5. Januar ist die zweitwichtigste Ziehung Spaniens. An diesem Tag versuchen fast alle noch einmal ihr Glück.
Neben Arbeitskraft und Unternehmergeist brachten die europäischen Immigranten, die im 19. Jahrhundert nach Uruguay kamen, auch eine Vielzahl von Volksbräuchen mit in ihre neue Heimat. Eine besondere Gepflogenheit, die mit der großen Gruppe italienischer Einwanderer an den Rio de la Plata gelangte und später von weiten Teilen der Bevölkerung übernommen wurde, beruht auf einer Legende aus dem 8. Jahrhundert. Zu dieser Zeit machte der junge Arzt Pantaléon in Norditalien durch Wunderheilungen von sich reden, für die er später heiliggesprochen wurde. Eines Tages bat er ein paar arme venezianische Bauern um etwas Brot. Diese luden ihn ohne Zögern zu ihrer spärlichen Mahlzeit ein. Aus Dankbarkeit prophezeite Pantaléon seinen Gastgebern für das folgende Jahr eine reiche Ernte. Seine Vorhersage ging in Erfüllung. Da sich dieses denkwürdige Gastmahl an einem 29. abgespielt haben soll, wird heute an jedem 29. durch ein besonderes Gericht an den Heiligen Pantaléon erinnert: Als Reminiszenz an die einfache Kost der venezianischen Bauern servieren Restaurants in ganz Uruguay gnocchi oder ñoquis – kleine Klöße aus Kartoffeln und Mehl. Die Tradition will es, dass man vor dem Essen eine Münze unter den Teller legt. Diese Geste soll Pantaléon gnädig stimmen und dafür sorgen, dass der folgende Monat Wohlstand und Reichtum bringt.
Letztens bin ich in Moskau über eine Veränderung der dortigen Mentalität gestolpert: Die für ihre Grimmigkeit bekannten wie bewunderten Russen grüßen. In Geschäften, in Hotels, manchmal sogar auf der Straße. Die Polizisten, die uns immer völlig grundlos angehalten haben, um ihre unstillbare Sehnsucht nach Korruption zum Ausdruck zu bringen, grüßten uns plötzlich ausgiebig und wünschten einen guten Tag, bevor sie nach Geld und Ausweisen verlangten. Der Grund ist, dass Sachbücher aus Amerika, die Glück und Erfolg versprechen, in Russland derzeit der Renner sind. Genau wie die Amerikaner neigen die Russen zu einfachen Lösungen und glauben ebenso naiv, alles auf der Welt sei nur eine Frage der inneren Einstellung. Bücher wie „Die Formel des Erfolgs“, „Richtig atmen – länger leben“ und der Bestseller „Das Geheimnis meines Aufstiegs“ von einem Kerl namens Carnegie suggerieren, alle Probleme seien mit einem Dauergrinsen zu lösen. Die Russen glauben an diesen Schwachsinn, weil sie an das gedruckte Wort glauben. So wie sie früher an die sozialistischen Schriften geglaubt haben, halten sie nun die kapitalistischen für wahr – auch wenn das Lächeln noch nicht allen leichtfällt. „Mir hat Carnegie sehr geholfen, ich lache und bin froh. Ich bin ein ganz anderer Mensch!“, schwärmte eine Blondine im Eiscafé gegenüber ihrer grimmigen Freundin. „Und mir hat der verdammte Scheiß-Carnegie gar nicht geholfen, so ein Mist“, erwiderte die Freundin und schlug mit der Handkante auf den Tisch.
Marina Beltrán wurde 1980 in Múrcia, Spanien,
Conrado Silveira ist Konsul an der Botschaft von Uruguay in Berlin.
Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, lebt als Schriftsteller in Berlin.
geboren und arbeitet als Kulturmanagerin. Kulturaustausch 1v /08
Fokus: Dominica
Vor der Nase weggefangen Die Bewohner der Antilleninsel Dominica streiten mit ihren Nachbarn um die Fischbestände
Von Thomson Fontaine Eingebettet zwischen den Nachbarinseln Guadeloupe und Martinique, liegt Dominica im östlichen Teil der Karibik. Die Insel wird oft mit der weiter nördlich gelegenen Dominikanischen Republik verwechselt. Auf der 790 Quadratkilometer großen „Naturinsel“, wie ihr inoffizieller Beiname lautet, leben derzeit etwa 72.500 Menschen. Steil abfallende, sturmgepeitschte Küsten und tropischer Regenwald prägen das Antlitz der Antilleninsel. Idyllisch erscheint Dominica auf den ersten Blick. Doch das seit 1978 politisch unabhängige Land hat viele Probleme: Hurrikane verwüsten in regelmäßigen Abständen Teile der Plantagen, die hohe Arbeitslosigkeit treibt viele junge Leute dazu, ihr Glück im Ausland zu suchen, und die Wirtschaft ist stark bestimmt von der Produktion sogenannter „Cash Crops“ – Feldfrüchte, die nur als Devisenbringer angebaut werden. Einen großen Anteil seines Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet die einstige englische Kolonie mit Bananenexporten nach Großbritannien. Die Regierung will die Wirtschaft künftig stärker diversifizieren, um die einseitige Abhängigkeit des Landes zu verringern und den Nahrungsmittelbed a r f der Bevölkerung stärker selbst zu decken. In Zeiten steigender Energiepreise sind gerade kleine Inselstaaten, die nur einen Teil ihrer Grundnahrungsmittel selbst produzieren, übermäßig stark von der Verteuerung der Lebensmittelimporte betroffen. Neben Tropenfrüchten sind vor allem Fisch und Meeresfrüchte auf dem Speiseplan der Dominicaner zu finden. Doch um die Nachfrage zu stillen, wird derzeit mehr als ein Drittel des Fischs eingeführt. Das müsste nicht so sein: Rund um die Insel gibt es reiche Fischgründe.
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Bislang wird diese Ressource von den Bewohnern nur wenig genutzt. Der Fischereisektor ist unterentwickelt, Experten sehen hier ein großes Potenzial für die Wirtschaft. Doch die Schwärme gehen längst anderen ins Netz. Immer wieder registriert die Küstenwache das Eindringen von Booten aus Martinique und Guadeloupe, die ohne Erlaubnis in der 200-Meilen-Zone Dominicas fischen. Das Nachsehen haben die dominicanischen Fischer mit ihren meist kleinen, nur für küstennahe Gewässer geeigneten Booten. Die Aufregung in der Hauptstadt Roseau über den illegalen Fischfang ist groß. Nicht nur, dass die Fischer aus Martinique und Guadeloupe über gut ausgerüstete und moderne Schiffe verfügen, beide Nachbarinseln gehören auch als Überseedepartements zu Frankreich – und damit zur Europäischen Union – und sind so wirtschaftlich bessergestellt. Das Entwicklungsland Dominica fühlt sich von seinen reichen Nachbarn ausgenutzt. Anfang Juli 2008 wendete sich der Oberste Fischereibeamte der Insel, Andrew Magloire, an die französische Regierung. In einer Protestnote fordert er Frankreich auf, die territorialen Ansprüche Dominicas zu respektieren und die Fischer aus Martinique und Guadeloupe entsprechend zu unterweisen. Eine Reaktion der Regierung Sarkozy ist bislang ausgeblieben, wie Magloire auf Anfrage mitteilte. Zwar beschweren sich dominicanische Fischer schon seit Jahren über die Übergriffe aus Martinique und Guadeloupe, doch angesichts der jüngsten Regierungsanstrengungen zur Steigerung der Fischproduktion rückt der nicht genehmigte Fang jetzt stärker ins Blickfeld. 150 Kilo Fisch würde jedes einzelne der bis zu 25 Boote aus Martinique und Guadeloupe jeden Tag in Dominicas Hoheitsgewässern erbeuten, schätzt Magloire auf Grundlage von Ermittlungen der Küstenwache. Hochgerechnet auf
ein Jahr kommt man damit auf gut 780 Tonnen fremd gefangenen Fisch. Viel, wenn man bedenkt, dass die dominicanischen Fischer in den vergangenen Jahren im Schnitt nur an die 1.000 Tonnen Fisch aus dem Wasser zogen. Für den Fischereireferenten Magloire haben sich die Probleme mit den Nachbarn verschärft, seitdem Dominica mehr Fangkapazitäten schaffen will. „Die Franzosen fischen seit vielen Jahren in unseren Gewässern. Tatsache aber ist, dass wir jetzt unseren Aktionsradius auf Gebiete erweitern wollen, in denen wir nie gefischt haben“, erklärte der Beamte gegenüber der einheimischen Presse. Schätzungsweise 3.100 Menschen verdienen in Dominica ihren Lebensunterhalt in der Fischereibranche: Fischer, Fischverkäufer sowie Handwerker, Wartungsspezialisten und Netzflicker. Auf Vollzeitbasis sind in diesem Sektor 996 Menschen beschäftigt – Tendenz steigend. Hauptsächlich werden vor den Küsten Dominicas Thunfische, Speerfische, Makrelen, Halbschnäbler, Hummer und Langusten gefangen. Die Produktion wandert bislang ausnahmslos auf heimische Teller. Um die Produktion zu steigern, sollen nun Lager- und Kühlkapazitäten an Land ausgebaut und die Flotte modernisiert werden. Bislang gibt es auf Dominica nur sehr wenige Schiffe, die mit professioneller Thunfischfangausrüstung ausgestattet sind, die meisten Fischer verwenden immer noch einfache, offene Boote mit Außenbordmotor. Nicht nur im Fischereisektor zeigt sich die starke Abhängigkeit Dominicas von den Beziehungen zu anderen Staaten in der Region. In Zeiten der Globalisierung steht die Insel Kulturaustausch 1v /08
Fokus: Dominica
Wählen in: Litauen
großen Herausforderungen gegenüber. Trotz der vielen Verhandlungsbemühungen für eine besondere Behandlung von Kleinstaaten unterliegen Länder wie Dominica den Wettbewerbsregeln auf einem offenen Weltmarkt und müssen mit Staaten konkurrieren, die aufgrund ihrer Größe und ihres Entwicklungstandes mit mehr Ressourcen gesegnet sind. Dominica bemüht sich deshalb stets um neue Geschäftsmöglichkeiten. Im Juni 2005 unterzeichnete die Regierung das „Petrocaribe-Abkommen“ für Öllieferungen zu Vorzugsbedingungen an verschiedene karibische Staaten. Die Initiative geht auf Venezuela zurück. Erst Mitte des Jahres hat die Regierung in Caracas das Abkommen um eine weitere Bonusregelung ergänzt. Danach müssen die Importländer für 40 Prozent des eingekauften Öls erst innerhalb von 90 Tagen zahlen, die restlichen 60 Prozent sind auf weitere 25 Jahre verteilt. Roosevelt Skerrit, im Januar 2004 auf Dominica mit 31 Jahren zum damals jüngsten Premierminister der Welt ernannt, vollzog als erste seiner Amtshandlungen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China. 2007 schloss er sich der von Präsident Hugo Chávez gegründeten „Bolivarischen Alternative für die Völker unseres Amerika“ (ALBA) an, einer Allianz mit Venezuela, Kuba, Nicaragua und Bolivien. Chávez schlug ALBA als Pendant zur gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) vor. Skerrit verbindet mit dieser Initiative die Möglichkeit, Wirtschaft und Handel zum Vorteil seines Landes auszuweiten. Auch die Europäer unterstützen Dominica. Im Dezember 2007 erhielt die Regierung in Kulturaustausch 1v /08
Am 12. Oktober 2008 werden die 141 Mitglieder der Seimas, des litauischen Parlaments, gewählt. Die Stimmung vor der Wahl ist getrübt. Aufgrund des schnellen Wirtschaftwachstums der vergangenen Jahre galt Litauen lange als „Tiger des Baltikums“. Doch zurzeit herrscht Rezession. Eine ständig wachsende Inflation, steigende Preise und die Angst vor einer Energieknappheit nach der Schließung eines Atomkraftwerkes sind Themen des Wahlkampfes. Das negative Meinungsklima wird voraussichtlich eine Tendenz weiter verstärken, die schon seit einigen Jahren zu beobachten ist. Umfragen zufolge sind die meisten Litauer mit ihrer Demokratie unzufrieden. Am stärksten misstrauen sie dem Parlament und den politischen Parteien. Nur ein geringer Prozentsatz der Bürger ist der Ansicht, dass ihre Interessen durch die demokratischen Institutionen genügend vertreten werden. Die Vorbehalte der Bürger gegenüber dem demokratischen System haben dazu geführt, dass die Wahlbeteiligung beständig abnimmt: Bei den letzten Kommunal- und Parlamentswahlen 2004 gaben weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Eine ähnlich hohe Wahlabstinenz wird auch im Oktober erwartet. Und eine weitere Besonderheit charakterisiert das Verhalten der Litauer: Viele Bürger entscheiden sich erst am Vorabend oder am Tag des Urnengangs, für wen sie stimmen. Für die Demoskopen ist es deshalb sehr schwer, den Ausgang der Wahlen zu prognostizieren. Die Hauptsieger dieser Wahl stehen dennoch schon fest: Vier Parteien werden sicher die geltende Fünf-Prozent-Hürde überspringen. Die noch regierende Sozialdemokratische Partei, deren Zuspruch bei den Bürgern stark abge-
Roseau 9,1 Millionen Euro als Fördermittel aus dem Entwicklungshilfeetat der EU. Mit den Geldern sollen der Tourismus und der Agrarsektor weiterentwickelt werden. Dominica nutzt die vielfältigen wirtschaftlichen Kooperationen, um den Rückgang der Bananenexporte zu kompensieren. In den 1980er-Jahren und bis in die 1990er-Jahre trugen die Exporterlöse aus dem Bananenhandel wesentlich zum Bruttoinlandsprodukt bei. Seit 2001 hat Großbritannien die einstigen Handelserleichterungen aufgehoben. Der Fischereisektor bietet die Chance, die Wirtschaft
nommen hat, kann nur noch mit zehn Prozent der Stimmen rechnen. Auf ein vergleichbares Ergebnis kann die linke Arbeitspartei hoffen, die ebenfalls Teil der noch amtierenden Regierungskoalition ist. Das Rennen um die Wählergunst werden Umfragen zufolge zwei Oppositionsparteien machen. Der konservative „Heimatbund Christdemokraten“ und die liberaldemokratische „Ordnungs- und Gerechtigkeitspartei“ werden beide derzeit von je fünfzehn Prozent der Bürger unterstützt. Niemand kann jedoch vorhersehen, wer das Land nach den Wahlen regieren wird. Die ideologischen und programmatischen Unterschiede der litauischen Parteien sind zum einen unscharf, zum anderen wurden sie in der Vergangenheit bei der Bildung von Koalitionen kaum beachtet. Zur Zusammenarbeit über die Grenzen politischer Lager hinweg wurden in der Regel „stille“ Parteibündnisse geschlossen: Der rechte „Heimatbund Christdemokraten“ unterstützte die jetzige Regierung bei wesentlichen Fragen. Koalitionen werden in Litauen von den Spitzen der Parteien hinter den Kulissen geschlossen oder kommen auf Druck von einflussreichen, die Parteien finanziell unterstützenden Unternehmensgruppen zustande. Der Einfluss der Bürger auf die Parteipolitik ist ziemlich begrenzt, das Problem der Konsolidierung der Demokratie wird also auch nach den Parlamentswahlen aktuell bleiben.
Aus dem Litauischen von Jonas Kilius Vytautas Radžvilas ist Professor am Institut für internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an der Universität Vilnius.
Dominicas weiterzuentwickeln. Nicht nur die Einheimischen schätzen die Fischgerichte der Insel, auch für eine Ausweitung des Tourismus wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob der Bedarf an maritimen Köstlichkeiten im Land selbst gedeckt werden kann. Aus dem Englischen von Karin Weidlich Thomson Fontaine wurde in Grand Fond auf Dominica geboren und lebt heute in Washington D.C., USA, wo er als Ökonom für den Internationalen Währungsfonds (IWF) arbeitet. Mitarbeit: Timo Berger
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Fokus: Dänemark
Was war noch mal Freiheit? Wie die Dänen sich an die Prinzipien der Volksherrschaft erinnern sollen
Von Mikkel Bording Am 11. März 2008 wurde auf Schloss Chris-
tiansborg, dem Sitz des dänischen Parlaments, ein offizieller Demokratiekanon vorgestellt. Anschließend gab es Wein, Wasser und Häppchen. Vorher jedoch sollte eine von der Regierung einberufene Kommission das präsentieren, was den Dänen zu einer besseren Kenntnis der Prinzipien von Freiheit und Volksherrschaft verhelfen soll, die Grundpfeiler also, auf denen die die dänische Gesellschaft aufbaut. Der Reihe nach kamen drei Kabinettsmitglieder zu Wort – Außenminister Per Stig Møller, Kulturminister Brian Mikkelsen von der Konservativen Volkspartei und Bildungsminister Bertel Haarder von der rechtsliberalen Venstre-Partei – anschließend auch der Vorsitzende der Regierungskommission für den Demokratiekanon, Knud J.V. Jespersen. Der Professor für Geschichte an der Süddänischen Universität stellte fest, dass der Arbeitsprozess an sich ein Lehrstück in demokratischer Praxis gewesen sei. Im Mai 2007 hatte eine von der Regierung berufene Arbeitsgruppe sich der Aufgabe angenommen, einen Demokratiekanon zu erarbeiten. Die Gruppe sollte zentrale Ereignisse, philosophische Strömungen und politische Texte auswählen, die für die Entwicklung des dänischen Gesellschaftssystems von herausragender Bedeutung gewesen sind. 35 Punkte umfasst der nun veröffentlichte dänische Demokratiekanon. Neben wichtigen Ereignissen aus der Geschichte des skandinavischen Landes, wie der Unterzeichnung des Grundgesetzes 1849 und der Bauern- und Volkshochschulbewegung des 19. Jahrhunderts, und bedeutenden Schriftstücken wie den rechtstheoretischen Abhandungen des Juristen Alf Ross, finden sich in dem Dokument auch internationale Meilensteine der Demokratieentwicklung: von den Volksherrschaftsideen
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in den griechischen Stadtstaaten über Montesquieus Konzept der Gewaltenteilung bis hin zum Fall der Berliner Mauer. Auch die Verfassung der USA und die Gründung des Europarats und die Verabschiedung der europäischen Menschenrechtskonvention finden sich unter den Punkten. Die Zusammenstellung stieß sofort nach ihrer Veröffentlichung auf Kritik. Auf den Meinungsseiten großer Tageszeitungen meldeten sich Politologen und Demokratieexperten zu Wort, in Leserbriefen und im Internet diskutierten Bürger und Blogger über Sinn und Unsinn des Kanons. Am Tag nach der Ministerparade auf Schloss Christiansborg strich Tim Knudsen die 35 Punkte zur Entwicklung der Demokratie in Dänemark zu einem Wort zusammen: „Selbstgefälligkeit“. Der Professor in Staatslehre an der Universität Kopenhagen verwies in seiner Kritik auf den dänischen Theologen und Philosophen K.E. Løgstrup, der die vernünftigsten Worte zu Demokratie gesagt habe: Sie sei eine anständige Form, geteilter Meinung zu sein. Folgerichtig ist Knudsen mit dem Ergebnis der Kanonkommission alles andere als einverstanden: Die 35 Punkte seien „ein lexikalischer Mischmasch“, schimpfte er. Würde der Demokratiekanon in der vorliegenden Form an den Schulen verpflichtender Unterrichtsstoff, wäre das Ergebnis, dass die Grund- und Gymnasialschüler zwar eine Reihe dänischer und ausländischer Namen ohne jeden Zusammenhang aufsagen könnten, sie würden jedoch in keinster Weise selbstständig denken lernen. Knudsen hat aber auch inhaltliche Bedenken gegen die Zusammenstellung. Seiner Meinung nach legt der Kanon einen zu starken Fokus auf das Individuum und vernachlässigt den Kollektivgedanken der Volksherrschaft. Eine ähnliche Auffassung äußerte auch der Demokratieforscher Mogens Herman Hansen.
Der Dozent an der Universität Kopenhagen kritisiert, dass die Auftragsstellung, die dem Kanon zugrunde liegt, den Demokratiebegriff einseitig verzerrt habe: Dort wird nur eine Form von Demokratie genannt, die sich auf den Inhalt der Regierungsform bezieht: die konstitutionelle, liberale Demokratie, die „Nachtwächterstaat“ genannt wird. In dieser Regierungsform beschränkt sich die Rolle der Staatsmacht darauf, die Rechte der Bürger untereinander und in Bezug auf den Staat zu überwachen. Ein Ergebnis, das nach der Ansicht des Demokratieforschers Hansens keinen Anlass zur Verwunderung gibt. Die Vorgaben, welche die Kanonkommission von der Regierung erhalten habe, hätten bereits eine eine bestimmte politische Tendenz gehabt. Es sei deshalb keine Überraschung, dass der „Nachtwächterstaat“ in dem Kanon ausdrücklich genannt werde, schreibt der Demokratieforscher in seiner Besprechung des Dokuments auf der Internetseite www.demokratiekanon.dk. Bei Demokratie ginge es aber, wie Hansen betont, ebenso sehr um das Prinzip der Freiheit wie um das Prinzip der Gleichheit. Auch weite Teile der linken Opposition im dänischen Parlament werteten den Demokratiekanon als Füllhorn liberaler Ideen und Staatsvorstellungen. Die Kanonkommission wollte die geballte Kritik nicht unerwidert stehen lassen. Mehrere Mitglieder wiesen die negativen Rezensionen und Kommentare zurück. Obwohl der Gleichheitsbegriff in der Aufgabenstellung nicht auftauche, so sei er doch im fertigen Produkt mit dabei, versichert das Kommissionsmitglied Ole Thyssen. Der Professor am Institut für Führung, Politik und Philosophie an der Copenhagen Business School verwies auf einzelne Punkte des Kanons, in denen der Gleichheitsgedanke zum Ausdruck komme: Die Stichwörter zur Arbeiter- und Frauenbewegung würden das Prinzip der Gleichheit enthalten – „sogar in der mehr als nur rein formellen Bedeutung des Wortes“, verteidigte der Wissenschaftler das gemeinsame Werk. Sein Kommissionskollege Ove Korsgaard räumte allerdings ein, dass die Definition von Demokratie an sich politisch strittig sein könne und dass es noch nie einen Konsens zu Demokratie gegeben habe. Der Leiter des Instituts für Pädagogik an Dänemarks Pädagogischer Kulturaustausch 1v /08
Fokus: Dänemark
Universitätsschule in Aarhus ist der Ansicht, dass man innerhalb der Demokratiediskussion entweder die Dimension der Freiheit oder die Dimension der Gleichheit betonen könne. Beides entspreche zwei unterschiedlichen Traditionen des Verständnisses von Volks-
die Mohammed-Karikaturen und die daraus entstandene Krise mit der arabischen Welt in einem dänischen Demokratiekanon nur zwei Jahr spärter keine Rolle mehr spiele, bemängelte Michael Jalving in seinem Internetblog. Bei der Krise, die als Dänemarks schlimmste
Foto: Anthony Cox
Alle Dänen sollen Demokratie üben
herrschaft. Auch der Kommissionsvorsitzende, Knud J.V. Jespersen, nahm den Kanon gegen die Angriffe in Schutz. Die Zusammenstellung schaffe auf ihre Weise einen Überblick und eine Diskussionsgrundlage. Kritisch wurde aber nicht nur die Ausrichtung des in dem Kanon entworfenen Demokratiebegriffs kommentiert, sondern auch, dass jüngste gesellschaftliche Debatten wie die um das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Religion in dem Dokument keinen Niederschlag finden. Es sei „unterwürfig“, dass der Streit um Kulturaustausch 1v /08
außenpolitische Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gilt, gehe es um Meinungsfreiheit und damit in höchstem Maße um Demokratie, betonte der Blogger. Auch ein Kommissionsmitglied, die Pastorin Katrine Lilleør, vermisst die Diskussion um die Karikaturen im Demokratiekanon. Es habe darüber eine Auseinandersetzung in der Kommission gegeben, räumte sie bei der Veröffentlichung des Kanons ein und klagte: „Ich bin furchtbar ungehalten, dass wir das nicht mit untergebracht haben“. Auch bei der national-
konservativen Dänischen Volkspartei, welche die aktuelle Regierung im Parlament toleriert, herrscht Befremden und Unzufriedenheit darüber, dass weder der 11. September 2001 in den USA noch die Mohammed-Krise in Dänemark, die beiden schwersten Anschläge auf Freiheit und Volksherrschaft in neuerer Zeit, in der Auswahl berücksichtigt wurden. Gerade der sogena nnte Kampf gegen den Terror und die Karikaturenkrise sind auch nach Meinung des Professors in Rechtsgeschichte an der Universität Kopenhagen Ditlev Tamm „sehr wichtige“ Themen. Diese wären für die heutige Demokratie in Dänemark „interessanter und relevanter“ gewesen als das Jütische Recht von 1240. Doch gerade um diese Themen habe der Demokratiekanon einen weiten Bogen gemacht. Wenn man tatsächlich das Verständnis für Demokratie weiterentwickeln wolle, ist der Jurist überzeugt, dann müsse man auch eine Diskussion darüber führen, dass die Demokratie auch bedroht sei, wenn man es unterlässt, satirische Zeichnungen zu veröffentlichen. Trotz aller Kritik hält die Regierung an dem Demokratiekanon fest. Ein großer Teil der Auflage von 25.000 Exemplaren wurde an öffentliche Bildungseinrichtungen, Schulen und Bibliotheken in Dänemark, den Faröerinseln und Grönland geschickt und kostenlos verteilt. Die restlichen Exemplare stehen für 125 Kronen, umgerechnet 16,75 Euro, zum Verkauf. Das Dokument kann aber auch frei im Internet unter www. uvm.dk heruntergeladen werden. Aus dem Dänischen von Annalena Heber Mikkel Bording ist Journalist der dänischen Tageszeitung „Information“. Er lebt in Kopenhagen.
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1. Sunnitische Türken, Istanbul, Februar 2006 2. Syrierin, Midyat, Juni 2001
Ein Land, in dem viele Kräfte wirken: Alte und neue Eliten, Militärs und Islamisten, Konservative und Liberale streiten um die Macht in der Türkei. Wer wird sich durchsetzen? Wie wird sich die Demokratie entwickeln? Werden Minderheiten wie die Kurden oder Armenier neue Rechte erhalten? Die meisten der 70 Millionen Türken wünschen sich einen Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union. Doch kaum eine Frage spaltet die Europäer so sehr wie die nach der Aufnahme der Türkei in ihre Gemeinschaft. Wie sehen wir die Türken? Aber vor allem: Wie sehen sie sich selbst? Ein Themenschwerpunkt über die Türkei
Bildstrecke im Hauptteil von Attila Durak
Die Schattenmänner Von Ahmet Altan Die Türkei ist wie eine Hölle inmitten des Paradieses. Das
Ahmet Altan, 1950 in Ankara geboren, ist einer der erfolgreichsten türkischen Schriftsteller. Seine Arbeit als Journalist brachte ihn immer wieder in Konflikte mit der türkischen Regierung. Seit 1982 hat Ahmet Altan fünf Romane und zwei Essaybände veröffentlicht. Er lebt heute in Istanbul und arbeitet als Chefredakteur der türkischen Tageszeitung „Taraf“. Zuletzt erschien von Altan auf Deutsch „Der Duft des Paradieses“ (Fischer Verlag, Frankfurt 2004).
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Ergenekon wurde in der türkischen Presse teilweise auch mit Gladio verglichen. Die paramilitärische Geheimorganisation von NATO, CIA und britischem MI6 operierte während des Kalten Krieges von etwa 1950 bis 1990 im damaligen Westeuropa, in Griechenland und der Türkei. Gladio-Zellen sollten im Fall einer Besetzung der westeuropäischen Länder durch Truppen des Warschauer Pakts Guerillaaktionen und Sabotage durchführen. Ähnlich wie Gladio als „Staat im Staat“ gegründet, verwandelte sich Ergenekon im Lauf der Zeit aber in eine dem Westen feindlich gesinnte, nationalistische Organisation: gegen feindliche ausländische Mächte, welche die Türkei angeblich teilen wollen, gegen kurdische Separatisten und gegen türkische Intellektuelle, die den Feinden helfen. Die nationalistische Struktur kristallisierte sich erst heraus, als ein Teil der Kurden die staatlichen Repressionen nicht mehr widerstandslos über sich ergehen lassen wollte und zum bewaffneten Kampf in die Berge zog. Damit fing auch der Kampf Ergenekons gegen die Kurden an. Der Organisation werden von den ermittelnden Staatsanwälten schwere Verbrechen zur Last gelegt, deren Drahtzieher bis heute im Dunkeln blieben. Ergenekon steht im Verdacht, für die Morde von drei christlichen Missionaren in Malatya im Jahr 2007, den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink im selben Jahr und die Ermordung des katholischen Priesters in Trabzon 2006 sowie einen Sprengstoffanschlag auf die Zeitung „Cumhyriet“ mitverantwortlich zu sein. Die Organisation plante angeblich Anschläge auf den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, die kurdischen Politiker Ahmet Türk und Osman Baydemir, die ehemaligen Abgeordneten Leyla Zana und den Kolumnisten Fehmi Koru. Ergenekon betätigte sich auch im Drogenhandel und nahm mafiöse Strukturen an. Durch staatliche Unterstüt-
Land mit seinen Meeren, Bergen, Tälern, Wäldern, Blumen, Wasserfällen, den Spuren verschiedener Kulturen und Religionen, den Kirchen, Moscheen, Burgen, Festungsanlagen, den Schlössern der Byzantiner und Osmanen: ein Juwel, geschaffen von Gott und der Menschheit, mit einer etwas seltsamen und doch unvergleichlichen Kultur, die aus der Vermischung vieler unterschiedlicher Kulturen hervorgegangen ist. Inmitten solch eines Paradieses hat man nun eine Hölle geschaffen. Tod, Morde, Attentate, Banden, Bomben, politische Fallen, Rassismus, Religionskonflikte, Machtspiele, Gesetzlosigkeiten erzeugen immer wieder schreckliches Leid.Die türkische Hölle gleicht der Hölle, die auch die Italiener vor nicht allzu langer Zeit erlebt und dessen Feuer sie in sich gefühlt haben. Um zu verstehen, was die Türkei zurzeit durchmacht, genügt es, sich an die italienische Geheimloge Propaganda Due (P2) zu erinnern, eine Organisation die in den 1970er- und 1980er-Jahren an Attentaten, Putschversuchen und terroristischen Aktionen beteiligt war und der zahlreiche namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Militär, Wirtschaft und Geheimdienst angehörten. Ähnlich wie dieser Geheimbund agiert nun in der Türkei Ergenekon. Ergenekon, das sagenhafte Tal, in dem die Türken der Legende nach auf ihrer Flucht aus Zentralasien Zuflucht fanden, gab dieser Vereinigung den Namen. Den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft zufolge befinden sich in den Reihen der Verschwörer Angehörige aus Armee, Justiz, Die Mehrheit der Türken mit einem westlichen Bürokratie und Persönlichkeiten Lebensstil war gegen die westliche Demokratie aus Wirtschaftskreisen und Medien, die mit kriminellen und terroristischen Mitteln einen Militärputsch zu provo- zung gewann sie an Macht und beging weitere Straftaten. zieren versuchten. Der Staatsstreich sollte im Jahr 2009 Zwar wurden in der Vergangenheit einige Mitglieder gefasst, die Hauptkader blieb jedoch unangetastet. stattfinden. Als die Türkei die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in In einer groß angelegten Aktion hat die Staatsanwaltschaft seit Januar 2008 einen großen Teil der Mitglieder der Europäischen Union ernst nahm, versuchte Ergenekon, verhaften lassen. Die über 80 Angeklagten, darunter ehe- einen bis ins Detail geplanten Putsch zu provozieren, um malige Offiziere, Rechtsanwälte und Journalisten, werden die Verbindung der Türkei zu den westlichen Staaten zu sich ab dem 20. Oktober 2008 vor Gericht verantworten kappen und zu verhindern, dass im Land Demokratie müssen. Doch viele Mitglieder des Geheimbundes sind Einzug hält. Denn die größte Angst hat dieser „Staat im Staat“, in der Türkei auch „Derin Devlet“ – „Tiefer Staat“ immer noch in Freiheit. Kulturaustausch 1v /08
Foto: Nihat Obdabasi
Nicht Islamisten, Militärs oder alte Eliten sind gefährlich für den Staat. Die wirklichen Feinde wirken im Verborgenen
Politik
genannt, vor der Demokratie. Aus eigener Sicht dürfte das für Ergenekon folgendermaßen aussehen: Die Türkei ist eine von Generälen gegründete Republik. Diese Tatsache bedingt heute noch, dass sich die Armee immer auch im Zentrum der Politik befindet. Zivilregierungen werden zwar gewählt, dennoch können sie bei wichtigen Fragen nicht ohne die Erlaubnis des Militärs entscheiden. Die Öffentlichkeit erfährt die eigentliche Höhe der Militärausgaben nicht, militärische Themen dürfen nicht diskutiert werden, die Armee kann, wann immer sie will, die Regierung stürzen, auch weil sie von Medien und Justiz immer unterstützt wird. Mit der Annäherung an die Europäische Union wurden die gewohnten Strukturen empfindlich gestört, es wurden Reformen verabschiedet, Gesetze geändert. Dies führte dazu, dass Ergenekon, seine Militärs und Bürokraten, die um ihren politischen Einfluss bangten, unruhig wurden. Angefangen bei den Kommunalwahlen bis zu den Parlamentswahlen konnte die konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP – Adalet ve Kalkınma Partisi) aufgrund der wirtschaftlichen Lage Siege für sich verbuchen. Auch die Annäherung an die EU spielte hierbei eine starke Rolle. Die Unternehmer aus dem türkischen Herzland, aus Anatolien, fingen an, Fernsehgeräte, Kühlschränke, Autos, Textilien und Ersatzteile zu produzieren und in alle Welt zu verkaufen. Anatolien wurde reicher. Während die Produktion westliche Standards erfüllte und der Partner dieser religiös-konservativen Schicht eher die westliche Welt als der türkische Staat war, unterschied sich der Lebensstil dennoch weiterhin von dem der Europäer. Die Ehefrauen dieser religiös-konservativen Unternehmer trugen zumeist Kopftuch und sie mochten den Lebensstil Europas nicht. Aber die neureiche Schicht wollte auch eine Teilhabe an der politischen Macht, wogegen sich die Armee wehrte. Das einzige Hilfsmittel der Unternehmerschicht aus Anatolien schien deshalb eine wahre Demokratie zu sein, die aber nur mithilfe der EU hätte etabliert werden können. Paradoxerweise waren es also die „Konservativen“ in der Türkei, welche auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union setzten. Die Partei der „Konservativen“, die AKP, hat deshalb auch entsprechende Schritte in diese Richtung gemacht. Während dieser Zeit schmiedeten einige Armeegeneräle Umsturzpläne, unterstützt von Ergenekon. Da jedoch die Hilfe der USA und Europas fehlte, scheiterten sie. Europa und die USA wollten eine demokratische und wirtschaftlich prosperierende Türkei, denn dies hätte für die arme und instabile islamische Welt ein Zeichen sein Kulturaustausch 1v /08
können, dass ein demokratisch-islamisches Land durchaus Wohlstand und Stabilität erreichen kann. Zudem musste die Türkei reicher werden, um Güter, Computer und Elektrogeräte des Westens zu kaufen. Für Europa und die USA handelte es sich bei dem Land mit seinen 70 Millionen Einwohnern um einen wichtigen Markt. So kam es zum Kampf zwischen den vom Westen unterstützten „Konservativen“ und denjenigen, welche die Armee an der Spitze der Macht sehen wollten. Die Mehrheit der Türken, die einen westlichen Lebensstil haben, westliche Bildung erfahren haben und die
Europa und die USA wünschten sich eine aufstrebende Türkei als Hoffnung für die islamische Welt westliche Literatur kennen, die gerne ausgehen und gerne tanzen, kurz: diejenigen, mit denen sich ein Europäer in der Türkei eher anfreunden würde – sie waren gegen die westliche Demokratie. Denn sie dachten, sollte alles demokratisch zugehen, müsste sich die Armee von der Macht verabschieden und die „Konservativen“ könnten einen islamischen Staat gründen. Ein Teil war in seinen Ängsten aufrichtig, ein anderer Teil wollte die Zusammenarbeit mit der Armee, verbunden mit wirtschaftlichen Vorteilen und sozialem Status, nicht gefährden. So entstand eine Front zwischen denen, die dem Westen nicht ähnlich waren, jedoch eine westliche Demokratie forderten, und denen, die sich westlich verhielten, aber gegen eine Demokratie westlichen Vorbilds waren. Große Teile der Armee, der Bürokratie, der Intellektuellen, der städtischen Bevölkerung und der Medien waren gegen die Demokratie. Sie unterstützten den Umsturzgedanken und standen für eine Koalition mit Russland und dem Iran. Die von den USA und Europa unterstützten „Konservativen“ und ein Teil der staatlichen Bürokratie, die den Staat mithilfe von Ergenekon in mafiöse Strukturen driften sah, ein Teil der Intellektuellen und auch der Kurden wollten hingegen die Demokratie. Die Republik erlebte zum ersten Mal eine solche Konfrontation. Die Türkei könnte sich strukturell ändern, die Macht ernsthaft einer anderen Gruppe zufallen. Am 27. April 2007 verkündete der Generalstab über seine Internetseite, die Streitkräfte seien entschlossen, „die unantastbaren Merkmale der türkischen Republik zu schützen“. Damit wollte man verhindern, dass jemand zum Staatspräsidenten gewählt würde, dessen Ehefrau ein Kopftuch trägt. Diese eigentlich lächerliche Begründung war das Ergebnis ebendieser Machtkämpfe. Dennoch ließ sich die Regierung nicht beirren und wählte im August 2008 einen Politiker zum Staatspräsidenten,
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dessen Ehefrau ihren Kopf bedeckt. Allerdings kippte das Verfassungsgericht die Wahl des Parlaments. Daraufhin wurden vorgezogene Neuwahlen abgehalten. Deren Ergebnis bescherte der türkischen Justiz und der Armee einen weiteren Rückschlag im Kampf um die Macht: Die AKP wurde mit 47 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Nun waren die Fronten verhärtet, und noch etwas wurde klar: Solange demokratische Verhältnisse herrschen, können auch die „Konservativen“ siegen. Nach den Wahlen beschloss die AKP ein Gesetz, das Studentinnen ermöglichen sollte, mit Kopftuch zu den Vorlesungen zu gehen. Bis dahin war dies verboten. Allerdings kippte das Verfassungsgericht dieses Gesetz. Der Generalstaatsanwalt eröffnete gegen die AKP ein Verbotsverfahren mit der Begründung, die Partei sei gegen den Laizismus, der sich als ein Grundprinzip in der türkischen Verfassung wiederfindet. Es war offensichtlich, dass Gegner der Demokratie den Kampf nicht aufgeben würden. Währenddessen wurden Mitglieder des Geheimbundes Ergenekon verhaftet. Nach monatelangen Ermittlungen wurden auch Ex-Generäle ins Gefängnis gesteckt – ein Novum in der republikanischen Geschichte. Nach der Verlesung der Ergenekon-Anklage explodierte in einem belebten Istanbuler Stadtteil eine Bombe. Bilanz: 17 Tote, 150 Verletzte. Das Attentat wurde der PKK angelastet, bis heute hat man aber keine Beweise dafür, auch wenn einige PKK-Mitglieder verhaftet wurden. Das Verfassungsgericht indes war der Ansicht, dass die Regierungspartei AKP zwar gegen den Laizismus sei, sah
aber dennoch von einem Verbot ab. Damit wurde die Regierung zu einer „Geisel“ gemacht; das Gericht kann nun jederzeit die Partei verbieten. So glitt die Türkei ins Chaos. Um der Lage Herr zu werden, muss die Regierung zügig Reformen durchsetzen und demokratische Standards der EU umsetzen. Doch wie kann eine Regierung „in Geiselhaft“ diese Schritte machen? Sollten die Reformen nicht zeitnah angegangen werden, finden die „Konservativen“ bald eine andere Partei. Die Türkei befindet sich in Ungewissheit. Es scheint mit Blick auf die globale Lage und die Türkei sicher, dass letztlich die Demokratie als Siegerin hervorgehen wird. Ob aber neue Attentate oder Tricks der Justiz diesen Weg begleiten, ist ungewiss. Die Mehrheit der Bevölkerung ist heute gegen Ergenekon. Sie ist sich der putschistischen Struktur dieser Organisation bewusst. Besonders die AKPBasis hasst Ergenekon. Doch die Kemalisten, im Vergleich zur AKP-Basis in der Minderheit, gehören nicht zu den Gegnern. Sie sehen diesen Geheimbund als eine kemalistische Organisation an, die die AKP stürzen kann. Denn für sie bleibt das wichtigste Ziel die Entmachtung der AKP. Ob dies nun durch eine Bande oder einen Umsturz geschieht, kümmert sie nicht. Wir leben inmitten eines Paradieses, aber immer mit der Angst, dass das Höllenfeuer von Neuem entfacht wird. Aus dem Türkischen von Attila Azrak
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Politik
Vereinzelte Kurden Mit dem EU-Beitrittsprozess verbessern sich die individuellen Rechte der Kurden. Aber als eigenständige Gruppe will man sie nicht anerkennen Von Gülistan Gürbey Die Kurdenpolitik wird traditionell von der Kurdenfrage
Foto: privat
Gülistan Gürbey wurde 1962 in Bilice/Kigi geboren und kam als Gastarbeiterkind nach Deutschland. Derzeit ist sie Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. 2005 erschien von ihr „Außenpolitik in defekten Demokratien. Entscheidungsprozesse in der Türkei 1983-1993“ (Campus Verlag, Frankfurt).
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und der PKK-Frage bestimmt, wobei beide strikt zu trennen sind. Die Kurdenfrage meint ein sozioökonomisches und sicherheitspolitisches Problem, darin sind sich alle Akteure in Regierung und Militär einig. Die Regierungspartei AKP, liberale politische und zivilgesellschaftliche Kräfte verstehen die Lösung des Konflikts außerdem als Teil der Demokratisierung des Landes. Die PKK gilt als Gefahr für die nationale und territoriale Einheit des Staats und ist nach wie vor der Staatsfeind Nummer eins, den es militärisch zu bekämpfen gilt. Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zur Kurdenfrage hergestellt, indem betont wird, dass der Zulauf der Kurden zur PKK durch die desolate sozioökonomische Situation bedingt ist, die es zu verbessern gilt. Generalstab und Regierung sind sich einig, dass die PKK militärisch bekämpft werden muss und dass ihre Unterstützung und der Zulauf unterbunden werden müssen. Für das Militär stellt sich der Konflikt primär als Sicherheitsproblem dar. Es betrachtet die prokurdische DTP als Ableger und verlängerten Arm der PKK im Parlament und befürwortet deren Verbot. Hinsichtlich der Ausweitung der individuellen kulturellen Rechte wie des freien Gebrauchs der kurdischen Sprache in Bildungseinrichtungen und Medien oder auch der kurdischen Namensgebung hat es sich das Militär im Zuge des Reformprozesses nicht leicht gemacht und insgesamt eine deutlich restriktive Position eingenommen. Eine Ausweitung dieser Rechte wird als Gefahr für das unitäre Staatsprinzip und die territoriale Einheit betrachtet. Für das Militär sind das unitäre Staatswesen und der Grundsatz der Einheit von Staat und Volk unantastbar. Zu erwarten ist, dass das Militär weiterhin eingreifen wird, wenn es glaubt, dass die zu schützenden und unveränderbaren kemalistischen Prinzipien in Gefahr sind. Der Begriff „politische Lösung“ wird – auch von der Regierung – konsequent abgelehnt, weil er die politische Anerkennung und Aufnahme von Verhandlungen mit der PKK suggeriert. Spätestens nach dem Wahlsieg im Sommer 2007 ist die AKP besonders herausgefordert, sich den Anliegen der kurdischen Bevölkerung anzunehmen. Bisher hat sie trotz öffentlicher Statements aber noch kein umfassendes Programm oder Konzept vorgelegt.
Der Wahlsieg hat die parteipolitische Auseinandersetzung mit der DTP weiter verstärkt. Gespräche lehnt Ministerpräsident Erdoğan ab. Er fordert die DTP auf, die PKK als Terrororganisation anzuerkennen und macht dies zu einer Voraussetzung für die Aufnahme von Gesprächen. Die AKP hat sich in den letzten Jahren um die Ausweitung und Umsetzung der vereinbarten Rechte auf kultureller Ebene sehr bemüht – trotz der massiven Kritik der Opposition und der Auseinandersetzung mit dem Militär. So wird nun eine neue zivile Verfassung mit einer angekündigten Stärkung der Grundfreiheiten und Bürgerrechte erarbeitet. Insgesamt aber versteht die AKP den Konflikt im traditionellen Sinne als eine Frage der wirtschaftlichen Entwicklung, was die Konfliktdimension der kulturellen Identität außer Acht lässt. So hat sich Erdoğan gegen die Einführung der kurdischen Sprache in das staatliche Erziehungswesen ausgesprochen mit dem Argument, dass dann alle anderen Gruppen dieses Recht auch einfordern würden. Insgesamt fehlt auch der AKP eine umfassende Strategie zur Lösung der Probleme. Spätestens durch den EU-Beitrittsprozess ist der Rahmen für eine Konfliktlösung festgelegt. Dies stieß zwar nicht von vornherein auf den Zuspruch vor allem traditionell-kemalistischer Kräfte (Militär, Bürokratie, Justiz, Teile der Politik und der Öffentlichkeit), mittlerweile aber ist zu beobachten, dass dieser Rahmen grundsätzlich nicht infrage gestellt, wohl aber über die Details immer wieder gestritten wird. Der politische Rahmen ist durch das Kopenhagener Kriterium der Achtung und des Schutzes der Minderheiten gesteckt: Das bedeutet die Möglichkeit, die kulturellen Rechte auf individueller Ebene wahrzunehmen – nicht mehr und nicht weniger! Die Diskussionen im Laufe des Reformprozesses haben allerdings gezeigt, wie schwierig es ist, auch in diesem zunächst nicht so problematisch klingenden Punkt (Achtung und Schutz von Minderheiten) einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die bisherigen Reformen auf diesem Gebiet verdeutlichen, dass diese Rechte nur im Rahmen des unitären Staatswesens und des Grundsatzes der unteilbaren Einheit von Staat und Volk wahrgenommen werden können. Das führt dazu, dass Reformen zur Ausweitung der individuellen Freiheiten sehr restriktiv ausgelegt und umgesetzt werden. Der unitäre Nationalstaat mit seinem Grundsatz ist unveränderbar. Weitergehende politische Forderungen wie zum Beispiel Föderation oder Autonomie werden als auf eine Abspaltung ausgerichtete Ziele angesehen und abgelehnt. Hierin liegt der nationale Konsens der türkischen Kurdenpolitik, welche auch heute noch zwischen Dogmatismus und Liberalisierung schwankt.
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Der Club der weißen Herren Von Şeyla Benhabib
Şeyla Benhabib, geboren 1950 in Istanbul, ist Eugene-Meyer-Professorin für Politikwissenschaft und Philosophie an der Yale Universität (New Haven). Von 2002 bis 2008 war sie Direktorin des Yale-Programms Ethik, Politik und Ökonomie. Sie forscht unter anderem zu Multikulturalismus und nationaler Identität.
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von Ursprungsmythen begleitet, in denen die Einheit, die das Volk in der Zukunft erreichen möchte, auf die Vergangenheit projiziert wird. Plato nannte das die „edle Lüge“. Im Fall der Türkei mussten die Gründungsmythen aus dem vielzüngigen, multikulturellen und von allen möglichen Glaubensrichtungen geprägten Flickwerk des ottomanischen Millet-Systems, das anerkannten Minderheiten unter den Nicht-Muslimen gewisse autonome Rechte gewährte, eine vereinte Nation erschaffen. Im Verlauf der Mobilisierung der türkischen Nation inmitten der Ruinen eines maroden Reichs fand eine interessante Verkehrung statt: Die Türken, die das Osmanische Reich beherrscht hatten, wurden nun zu Opfern seines Niedergangs. Diese Verkehrung – vom Herrn zum Knecht, wie Hegel sagen würde – wurde für viele durch das Abkommen von Sèvres historische Realität. 1920 teilten die Sieger des Ersten Weltkriegs – Briten, Franzosen und Italiener – das Reich unter sich auf. Das „Heimatland“ wurde zerrissen. Beide Traumata – die Opferrolle, von der man sich in einem nationalen Befreiungskrieg emanzipieren musste, und die Tatsache, dass der Westen allgemein, besonders aber die Europäer, das Heimatland zerstückeln und verteilen wollten – sind tief ins Unterbewusstsein des türkischen Volkes eingegraben. Deshalb verwechseln viele in der Türkei die Verteidigung der republikanischen Staatsordnung mit einem autoritären Nationalismus. Militärs, Staatsangestellte, Rechtsanwälte, Justizbehörden und Lehrer: Sie alle betrachten sich als „Hüter der Verfassung“. Zwischen diesen alten republikanischen Eliten und der neuen Klasse von muslimischen Unternehmern, Industriebossen und
Im Herbst 2008 wird die Türkische Republik 85 Jahre alt – für ein Menschenleben ein eindrucksvolles Alter. Ein politisches Gemeinwesen hingegen kann meist auch noch auf das nächste Jahrhundert blicken. Seit Beginn der Beitrittsgespräche mit der Europäischen Union erlebt die Türkei in vielen Sphären ernsthafte Krisen. Nach einem Jahrzehnt eindrucksvollen wirtschaftlichen Wachstums sind die Exporte zurückgegangen, die Bevölkerung ist hoch verschuldet und die politische Instabilität schreckt ausländische Investoren ab. Die Türkei hat eine der merkwürdigsten Verfassungskrisen hinter sich. Einer demokratisch gewählten Regierungspartei drohte wegen einer legitim erlassenenen Gesetzesänderung ein Verbot. Mit allgemeinem Menschenverstand kann man nicht begreifen, dass ein Gesetzentwurf, der das Tragen von Kopftüchern an Hochschulen legalisiert, die laizistische Staatsordnung und damit die Verfassung zunichtemacht – wie die Opposition behauptete! Nur im Kulturbereich herrscht eine fast anarchische Freiheit und Vielfalt, wobei die türkische Öffentlichkeit die ernsthaften Versuche einer Vergangenheitsbewältigung erlebt. Heute dreht sich die Debatte nicht mehr darum, ob der Massenmord an den Armeniern stattgefunden hat, sondern darum, ob dieser einen Genozid am armenischen Volk darstellt Das schwerwiegendste Problem ist die kulturelle oder als legitime SelbstverteidiXenophobie gegenüber dem Islam gung des türkischen Militärs und der türkischen Bevölkerung gegen die separatistischen Bestrebungen armenischer Kämpfer kleinen Geschäftsleuten, die zusammen mit den Bauern gesehen werden kann. Dass auch Atatürk die Massaker die Basis der Regierungspartei AKP ausmachen, herrscht an den Armeniern als Kriegsverbrechen betrachtete, steht zurzeit ein Klassenkampf, der als „Kulturkampf“ in vienicht länger in Frage. Der Vorhang des Vergessens, der die len Lebensbereichen tobt. Als Folge davon haben sich die traumatischen Ursprünge der Türkischen Republik ver- Reformen, welche die Türkei als Kandidat für den EUhüllte, ist endlich beiseitegezogen worden. Damit wächst Beitritt noch unternehmen muss, verlangsamt. Hätte der die Auseinandersetzung um das repressive und autoritäre Verfassungsgerichtshof sich im August dieses Jahres für nationalistische Erbe des Landes, das die Eliten jahrzehn- ein Verbot der AKP entschieden, wäre die Europa-Kanditelang verblendete. Es ist dieser rachevolle Nationalismus, datur der Türkei völlig infrage gestellt gewesen. Leider spiegeln sich einige Entwicklungen in der Türkei der zur Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink führte. Wie ist der Fortbestand dieser Art von Na- auch in der Europäischen Union wider. Während die Türkei gegen ihre nationalistischen Ursprungsmythen kämpft und tionalismus zu erklären? Anfänge sind stets traumatisch. Besonders in der poli- die Traumata der Anfänge durcharbeitet, versucht die Eutischen Sphäre wird die Entstehung eines Gemeinwesens ropäische Union ebenfalls, ihr folgenschweres politisches Kulturaustausch 1v /08
Foto: Yale University
Die EU wird weltweit an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie es nicht schafft, die Türkei voll zu integrieren
Politik
Experiment zu stabilisieren, indem sie die Ideale eines Ich bin weniger zuversichtlich als vor einem Jahrzehnt, „Kerneuropa“ und der „europäischen Nation“, die jüdisch- dass Europa heute den Willen besitzt, die Türkei kulturell christlichen Werte (wo genau, so muss man indes fragen, und politisch zu integrieren. Der Kriegsausbruch in Gesind denn die Juden Europas?), die Renaissance und die orgien, das an die Türkei grenzt, wird viele europäische Aufklärung beschwört. Doch wir leben in einer Epoche Politiker dazu bewegen, die Grenzen Europas nicht bis in der Instabilität aller Kategorien der Identität. Die türkische die Berge des Kaukasus erweitern zu wollen. Andererseits Nation vermag genauso wenig ihre multikulturellen und wird eine „privilegierte Partnerschaft“, wie sie von Bunmultireligiösen Ursprünge zu verleugnen, wie die Europä- deskanzlerin Angela Merkel statt einer Vollmitgliedschaft ische Union ihre Grenzen ziehen kann, indem sie sich auf favorisiert wird, nicht nur als eine Niederlage für die Türreligiöse und kulturelle Homogenitäten versteift. kei empfunden, sondern auch als eine Verwandlung der Nach dem französischen, dem niederländischen und Europäischen Union in einen „weißen Herrenklub“. Die neulich dem irischen „Nein“ zur EU-Verfassung hat die Länder im Nahen Osten, aber auch Indien, Mexiko, China Union ein Stück demokratischer Legitimität verloren. Ein und Indonesien werden dies als ein klares Zeichen für fortVerfassungsentwurf, der nur von politischen Eliten voran- dauernden christlichen Eurozentrismus betrachten. Auch getrieben wird und der sich von der Volksmeinung abschirmen EU und Türkei werden nur eine gemeinsame muss, schafft kein Vertrauen. Zukunft haben, wenn es gelingt, die institutionelle Dennoch ist die Mehrheit der Fantasie der Gemeinschaft auszubauen türkischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt, sofern die Europäer das auch wollen. Ein Beitritt wird bedeutsame Herausfor- die USA befürworten mehrheitlich einen Eintritt der Türderungen für die institutionelle Architektur der Europä- kei in die Europäische Union, weniger aus geopolitischen ischen Union mit sich bringen. Läge die Bevölkerungszahl Erwägungen – die Türkei ist schon seit 1953 verlässlicher der Türkei zum Beitrittstermin bei 70 Millionen, dann NATO-Partner –, sondern eher aus dem Glauben heraus, müsste sie innerhalb des Europarats und des Europäischen dass der Schritt der Türkei in die Gemeinschaft der euParlaments zwar weniger Stimmen als Deutschland, aber ropäischen Staaten anderen muslimischen Ländern als mehr als jedes andere Land haben. Wie würden die Fran- Beispiel dienen könnte, auch den Weg der Demokratisiezosen, Briten oder Italiener dazu stehen? Schwierigkeiten rung einzuschlagen. Nach offizieller US-Meinung ist die sind auch bei der Landwirtschaftspolitik zu erwarten. Die Türkei die einzige entwicklungsfähige Demokratie unter wirtschaftliche Integration der Türkei in die Union würde den muslimischen Staaten, ein starker Freund Israels und europäische Investitionen und neue Arbeitsplätze in den der entscheidende Bündnispartner in der Region. Bereichen Kommunikation, Wohnungsbau, Finanzen und Der einzig vernüftige Weg für die Zukunft der BezieTourismus mit sich bringen. Verlierer wäre die türkische hungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei Agrarindustrie, die mit Spanien, Griechenland und Ita- ist meines Erachtens, weithin die institutionelle Fantasie lien um die europäischen Gemüse- und Obstmärkte kon- der Gemeinschaft auszubauen. Ich wage zu behaupten, kurrieren müsste. Es ist zu erwarten, dass dadurch viele dass die Türkische Republik einen Übergang von der türkische Bauern arbeitslos werden und in die Großstädte erzwungenen Gleichartigkeit seiner Bürger hin zu einer oder andere Länder der Union immigrieren wollen. Diese tatsächlichen demokratischen Gleichwertigkeit vollzieht. institutionellen Probleme sind jedoch nicht unüberwind- Die derzeitigen Auseinandersetzungen um das Tragen bar. So wie mit Polen und Ungarn kann die Gemeinschaft von Kopftüchern, die Anerkennung der kulturellen und auch mit der Türkei auf den Gebieten Agrarmarkt und freie sprachlichen Rechte des kurdischen Volkes, das EingeZuzugspolitik einen modus vivendi finden. Viel schwer- ständnis des multikulturellen Erbes der Türkei durch die wiegender scheint mir die kulturelle Xenophobie gegenü- Wiederentdeckung seiner griechischen, jüdischen und arber dem Islam zu sein, die gegenwärtig in Europa herrscht. menischen Spuren – all das sind Auseinandersetzungen im Die Kopftuch-Affäre in Frankreich und Deutschland, Übergang zu einer reifen Demokratie. Dieses Experiment der Mord an Theo van Gogh, der Karikaturen-Streit, die mag einige überfordern, wie es die Beinahe-Hysterie der nicht-endenden Debatten in der deutschen Öffentlich- alten nationalistischen Eliten zeigt. Schließlich kann das keit, die zur Kriminalisierung der türkischen Minder- Experiment aber auch daran scheitern, dass die Türkei heit führen, und schließlich das Umkommen türkischer sich wieder einmal von den Europäern ausgeschlossen Migranten bei dem Brand in Ludwigshafen – all dies sind fühlt, deren Motiven die Mehrheit ohnehin nicht traut. Ereignisse der jüngeren Geschichte, die auf ein tiefes Unbehagen gegenüber dem Islam in Europa verweisen. Kulturaustausch 1v /08
Veröffentlichungen von Şeyla Benhabib:
„Die Rechte der Anderen“, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008. „Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte“, Campus, Frankfurt am Main, 2008.
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1. Armenierinnen, Istanbul, November 2001 2. Sunnitische T端rkinnen, Istanbul, Februar 2006
Die Kulturfalle Von Ayhan Kaya Seit der Türkei 1999 die EU-Mitgliedschaft in Aussicht
Ayhan Kaya wurde 1968 in Erzurum geboren. Er ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Europa-Instituts an der Bilgi-Universität in Istanbul. 2005 erschien von ihm „Majority and Minority Politics in Turkey: Citizenship Debates on the way to the European Integration“ (TESEV Verlag, Istanbul).
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Untergrundorganisationen wie Ergenekon geschürt wurde. In jüngster Zeit gibt es kaum noch solche Proteste, was von einer steigenden Akzeptanz von Diversität zeugt. Dieser Wandel entspricht einer diskursiven Verschiebung, in deren Folge die Türkei nun offiziell als multikulturelles Land anerkannt wird. Trotz dieser ermutigenden Zeichen bleibt in der Türkei viel zu tun, und die Gesetze, die verabschiedet wurden, müssen nun vor allem angewandt werden. Außerhalb und innerhalb der Türkei wird weiterhin über die EU-Mitgliedschaft der Türkei diskutiert. Den EU-Staaten ist bewusst, dass ein Beitritt der Türkei zur Union die Diskussionen um eine „Europäische Identität“ und die „Grenzen Europas“ weiter verstärken würde. Dennoch muss mit Blick auf eine Vollmitgliedschaft der Türkei eine konstruktivere Debatte geführt werden, um so einen der fundamentalen Grundsätze der Europäischen Union wiederzubeleben – das „Friedensprojekt“. Die türkischen Europa-Bemühungen fielen zum Teil in die Zeit nach dem 11. September 2001, als die USA und die EU begannen, die Türkei mit ihrer Orientierung auf einen gemäßigten Islam als Modell für die muslimischen Nationen zu instrumentalisieren. Die Türkei wurde insbesondere in ihrer Brückenfunktion hervorgehoben – nicht nur zwischen den Kontinenten, sondern auch zwischen den Zivilisationen. Der gemäßigte Islam wurde von den westlichen Staaten in einer Weise gelobt, die die regierende proislamische Partei mit einbezog. Die Instrumentalisierung der Türkei als Vorbild für andere muslimische Staaten wurde auch von den politischen Eliten der Türkei begrüßt. Ministerpräsident Erdoğan sowie andere Politiker und Wissenschaftler nahmen diese neue Rolle in der Erwartung an, dass sie der Türkei im europäischen Integrationsprozess eine günstigere Position verschaffen
gestellt wurde, haben sich für viele ethnische, religiöse, soziale und politische Gruppen neue Perspektiven ergeben. Islamisten, Kurden und Aleviten sind ebenso wie Tscherkessen, Armenier und andere zu Anwälten der Europäischen Union geworden, die diese vor allem als Friedens- und Integrationsprojekt unterstützen. Derzeit wird die EU in den türkischen Medien als Friedensprojekt diskutiert, das sowohl die Aussöhnung der tief verwurzelten Abneigung zwischen Deutschland und Frankreich als auch – in jüngerer Zeit – zwischen Deutschland und Polen ermöglicht hat. Dabei wird die EU als politische Gemeinschaft verstanden, die Frieden nicht nur stiftet, sondern auch exportiert. Die Vorstellung einer Europäisierung der Türkei wurde nicht nur von Griechenland, sondern unter anderem auch von anderen Nachbarstaaten wie Syrien, dem Irak, Georgien, Armenien und Bulgarien begrüßt. Die Perspektive der EU-Mitgliedschaft war für die Türkei gleichbedeutend mit der Aussicht, ein wichtiger Stabilitätsfaktor im Nahen Osten zu werden. Die Europäische Union wurde für die Türkei so zu einem Leuchtturm, der ihr den Weg zu Demokratisierung, Liberalisierung und Europäisierung wies. Die Entscheidung von 1999 setzte in der Türkei zahlreiche Reformen in Gang. Dazu gehörte unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe; die Freilassung politischer Häftlinge; die Abschaffung der Folter durch Sicherheitskräfte; ein größerer Schutz für die Der Wandel bewirkt, dass die Türkei nun offiziell Presse; die Einschränkung der als multikulturelles Land betrachtet wird Kontrolle und Beeinf lussung von Justiz, Bildungswesen, Haushaltsentscheidungen und Medien durch das Militär; oder würde. Die Rolle der Türkei als Vermittlerin zwischen auch die Ausweitung der Gültigkeit der Zivilrechte auf der muslimischen und der nicht muslimischen Welt offiziell anerkannte Minderheiten (Armenier, Juden und wurde von den Vereinten Nationen bestätigt, indem sie Griechen) und die Reform des Strafgesetzbuchs. Die Aus- Recep Tayyip Erdoğan gemeinsam mit dem spanischen sicht auf eine EU-Mitgliedschaft bot darüber hinaus die Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero dazu Gelegenheit für eine Auseinandersetzung mit der eigenen ernannten, die Initiative einer „Allianz der Zivilisationen“ Geschichte. Die Bilgi-Universität in Istanbul organisierte ins Leben zu rufen. Die Bemühungen des türkischen Mi2005 und 2006 zwei Konferenzen über „Die osmanischen nisterpräsidenten und der Vereinten Nationen scheinen Armenier während des Zerfalls des Kaiserreichs“ und „Die jedoch fehlgeschlagen zu sein. Das Paradigma einer AlliKurdenfrage“. Bis dato formierte sich gegen Konferenzen anz der Zivilisationen hat bislang nur implizit unterstrizu solchen Tabuthemen oft öffentlicher Protest, der von chen, dass Zivilisationen, Religionen und Kulturen feste Kulturaustausch 1v /08
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Warum wir aufhören sollten, über Zivilisationen und Religionen zu diskutieren
Politik
Grenzen haben und daran auch weiterhin gebunden sein werden. Somit ist die Allianz der Zivilisationen beinahe identisch mit dem Paradigma vom „Kampf der Kulturen“ – wobei erstgenannte für einen Dialog zwischen den Zivilisationen und Religionen eintritt und zweiteres im Gegenteil die Unmöglichkeit der Verständigung zwischen ihnen betont. Es ist wichtig zu verstehen, dass beide Paradigmen prinzipiell auf denselben holistischen Kulturbegriff zurückzuführen sind, der auf der Idee basiert, die Welt durch eine ethnisch-kulturell und religiös konstruierte Optik wahrzunehmen. Die Weise, in der Samuel Huntington, Nicolas Sarkozy, Angela Merkel oder George Bush die Welt bis jetzt wahrgenommen haben, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Art, wie Erdoğan oder Zapatero die Welt sehen: Sie alle nehmen die Welt durch die Linse der Religion wahr. Allerdings sollte man die Annahme, dass es feste Grenzen zwischen Zivilisationen, Kulturen und Religionen gibt, infrage stellen. Denn Zivilisationen, Kulturen und Religionen stehen im Gegenteil stets mit anderen Gemeinschaften in Beziehung. Sie lernen voneinander und schaffen immer wieder hybride dritte Räume, in denen Grenzen verwischen und verschwinden, sich Kulturen nicht mehr länger als geschlossene Konstrukte gegenüberstehen, sondern fließend ineinander übergehen. Darüber hinaus führt die kulturalistische Rhetorik von der „Allianz der Zivilisationen“ im Westen zur Vorherrschaft einer Sichtweise, die die Europäer dazu nötigt, Nichteuropäer in einem Bezugssystem von Differenz, Religion, Kultur und Zivilisation wahrzunehmen. Diese Rhetorik hat in der letzten Zeit auch einige prominente Figuren der türkischen Politik und Justiz beunruhigt, die sich nun fragen: „Vor einiger Zeit dachte ich noch, die Türkei wäre ein Teil der westlichen Zivilisation. Wann hat sich das geändert? Wann sind wir zum Vertreter der muslimischen Zivilisation geworden?“ Die Meinungsforscher Jiménez und Torreblanca verdeutlichen, dass weder die Instrumentalisierung der Türkei noch die Kulturalisierung der Beitrittsfrage innerhalb der kollektiven Vorstellungswelt der europäischen Öffentlichkeit ein positives Bild der Türkei erzeugen. Andererseits haben die Betonung der Funktion der Türkei als Brücke zwischen den Zivilisationen und der Vereinbarkeit von europäischer und türkischer Identität bislang keinen wesentlichen Einfluss auf die türkische Öffentlichkeit ausüben können, auch nicht hinsichtlich einer Unterstützung der EU. Was bleibt also zu tun? Offensichtlich bringen instrumentalistische und kulturalistische Sichtweisen die EU und die Türkei einander nicht näher. Es scheint, dass die Kulturaustausch 1v /08
einzige Möglichkeit für eine Revision der Beziehungen zwischen beiden Seiten darin besteht, die Vorherrschaft des Zivilisations-, Kultur- und Religionsdiskurses aufzubrechen, der bislang scharfen nationalistischen, religiösen und regionalen Gegensätzen innerhalb der EU ebenso wie in der Türkei den Weg geebnet hat. Die europäische Öffentlichkeit sollte daran erinnert werden, dass die EU ein Projekt der Integration und des Friedens und nicht der Aufspaltung ist. Die Magnetwirkung der Union sollte nicht nur für die europäische Öffentlichkeit, sondern auch
Wir brauchen eine postkulturelle Europäische Union für die benachbarten Länder und die ganze Welt wiederhergestellt werden. Das kann einzig und allein dadurch gelingen, ein postnationales und postwestliches Europa aufzubauen. Die Grenzen eines solchen Europa unterliegen permanenten Veränderungen und transzendieren die rückwärtsgewandten zivilisatorischen, kulturellen und religiösen Konturen des essentialistischen Projekts der Europäischen Union. Es ist eine solche politische, postzivilisatorische, postkulturelle, post-jüdisch-christliche und zukunftsorientierte Europäische Union, die sowohl die Türkei als auch die übrige Welt brauchen. Diese Art von politisch definiertem Europa, das der Entwicklungslogik der Erweiterung unterliegt, ist auch genau das, was die EU benötigt, um die anhaltenden Strukturprobleme innerhalb der Gemeinschaft zu bewältigen. Während die Türkei auf die Wende zu einem postnationalen und postwestlichen Europa wartet, bleiben für sie noch Hausaufgaben zu erledigen. Sie sollte vor allem die strukturellen Rechtsreformen vorantreiben, um die europäische Öffentlichkeit von der türkischen Entschlossenheit zur Demokratie zu überzeugen. Außerdem sollte sie den kulturalistischen, nationalistischen, religiösen und zivilisatorischen Diskurs aufgeben und stattdessen versuchen, einen politischen, ökonomischen und postzivilisatorischen Diskurs zu etablieren. Dementsprechend sollte sie sich nicht von der andauernden politischen Krise überwältigen lassen, die dem aktuellen sozialen und ökonomischen Wandel des Landes geschuldet ist; stattdessen sollte sie eine solche Krise als Gelegenheit betrachten, die verschiedene soziale Gruppen dazu zwingt, um der Lösung ihrer Probleme willen miteinander in Verbindung zu treten. Aus dem Englischen von Aike Jürgensmann
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Geografische Lage
3 % der Fläche in Europa 97 % in Kleinasien
Bevölkerung
70.586.256 Einwohner
Größte Städte
Durchschnittsalter
Istanbul: 12.573.836 Einwohner Ankara: 4.466.756 Einwohner Izmir: 3.739.353 Einwohner
28,3 Jahre
Anzahl der Geburten pro Frau im Jahr 2006
2,18
Lebenserwartung
Männer: 69,1 Jahre Frauen: 74 Jahre Religion
99,8 % Moslems (vor allem Sunniten) 0,2 % andere (vor allem Christen und Juden)
Ethnien
etwa 80 % Türken, 20 % Kurden
Alphabetisierungsrate
Sprachen
Männer: 96 % Frauen: 80,4 %
Türkisch (90 %) Kurdisch (15 %) Dimli (oder Zaza) Azeri Kabardisch
Anteil der kurdisch orientierten Demokratischen Gesellschaftspartei (DTP) im Parlament
3,6 %
Ausländeranteil in der Türkei
Frauenanteil im türkischen Parlament
0,14 %
9,1 %
Internetnutzer
Arbeitslosenquote
26,67 % der Bevölkerung
9,9 %
Erwerbsquote bei Frauen
24,9 %
Frauenanteil unter den Studierenden
41 %
Zahlen und Fakten
Quellen: Türkiye Istatistik Kurumu (Türkisches Statistikinstitut)////////Auswärtiges Amt//////// Europäische Kommission////////Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer////////www.lykien.com//////// Süddeutsche Zeitung////////CIA////////www.allaboutturkey.com
Politik
Gibt es in der Türkei Muslime? Teil des Westens oder Führer der islamischen Welt: wie unterschiedlich die arabischen Länder ihren türkischen Nachbarn sehen Von Yousef Alsharif Eines der wichtigsten Ergebnisse des Besuchs des tür-
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Der jordanische Journalist Yousef Alsharif wurde 1973 in der syrischen Hauptstadt Damaskus geboren. Er lebt seit über 15 Jahren in der Türkei. Alsharif arbeitet für das Türkei-Büro des Fernsehsenders Al-Dschasira in Ankara und schreibt für die in London erscheinende arabische Tageszeitung Al Hayat. Seine Spezialthemen sind die Türkei und ihr Verhältnis zu den nahöstlichen Nachbarstaaten.
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kischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Bagdad im Juli diesen Jahres war die Unterzeichnung eines Abkommens zur Gründung eines hohen Rates für strategische Zusammenarbeit. Erdoğans außenpolitischer Berater Ahmed Dawood Oğlu hob die besondere Bedeutung der Vereinbarung hervor und verglich sie mit dem Abkommen zur Gründung des gemeinsamen europäischen Marktes. Der Irak ist inzwischen der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei in der Region geworden, über ihn erhält sie auch Zugang zu den arabischen Golfländern. Der Wille zu einer Partnerschaft mit den Arabern, erklärte Oğlu, ließen die Türken von einer der EU ähnlichen Vereinigung der Länder im Nahen Osten träumen. Inwieweit aber decken sich die türkischen Visionen mit den Vorstellungen der Araber über die Türken? Antwort gibt vielleicht die Reaktion eines Taxifahrers in Jordanien. Als er erfuhr, dass ich in der Türkei lebe, fragte er: Gibt es in der Türkei Muslime? Und wie lange noch wollen sie sich mit Israel gegen die Araber verbünden? Der Fahrer staunte nicht schlecht, als ich ihm erklärte, 90 Prozent der Türken seien Muslime, die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel hätten sich grundlegend geändert und die Türkei sehe die Araber inzwischen als wichtigen Partner in der Region. Das Türkeibild, das sich vielen Arabern fest eingeprägt hat, besteht aus zwei Komponenten, dem westlichen Säkularismus und der Allianz mit Israel. Und viele Araber missverstehen die Bedeutung des Säkularismus, sie setzen ihn gleich mit Atheismus, mit der Verbannung der Religion und der Bekämpfung ihrer Symbole. Das streng laizistische System in der Türkei trägt zum Beispiel mit dem Kopftuchverbot an den Universitäten zur Festigung dieser falschen Vorstellungen bei. Für viele Araber gehört die Türkei deshalb zum Westen, einige ordnen sie zwischen Ost und West ein, keinesfalls wird sie aber als Teil der orientalisch-islamischen Welt gesehen. Die Tatsache, dass die Türkei als erstes islamisches Land den Staat Israel anerkannt hat, und das von Ankara und Tel Aviv 1996 unterzeichnete militärische Abkommen sind
dem arabischen Durchschnittsbürger immer noch präsent. Die Mehrheit der Araber sympathisiert deshalb mit den islamischen Parteien in der Türkei, die nostalgische Erinnerungen an eine gemeinsame kulturelle und religiöse Vergangenheit wecken. Es sind jene Türken, die sich zum Islam bekennen, die viele Araber an der Macht sehen wollen. Mit ihnen assoziieren sie ein Land, das den eigenen Wünschen entspricht: eine islamisch-orientalische Türkei, mit der man gemeinsame politische Ziele verfolgen kann, die auf der Seite der Araber steht und sich von Israel und den USA distanziert. Der Beschluss des türkischen Parlaments Anfang März 2003, mit dem die Unterstützung der US-amerikanischen Streitkräfte bei der Invasion im Irak abgelehnt wurde, stellte einen historischen Wendepunkt für das Türkeibild der Araber dar. Zum ersten Mal verließ das NATO-Mitglied Türkei den westatlantisch-amerikanischen Rahmen. Diese neue Haltung fand große Zustimmung bei den arabischen Massen, besonders, da man den Standpunkt der Türkei mit dem der eigenen Regierungen zum Irakkrieg verglich: Die meisten arabischen Machthaber arbeiteten stillschweigend mit den USA zusammen, indem sie Militärbasen zur Verfügung stellten und logistische Hilfe leisteten. Ich erinnere mich an die vielen Artikel in arabischen Zeitungen, die den türkischen Standpunkt lobten und forderten: „Lasst uns von der Türkei lernen, wie wir nein zu den USA sagen!“ Es erstaunt nicht, dass die Entscheidung eines Parlaments, in dem die AKP die Mehrheit besitzt, die Erwartung einer neuen Türkei geweckt hat, die den arabischen Interessen nahesteht. Diesen Wahrnehmungswandel verstärkte noch die scharfe Kritik des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan an den militärischen Operationen der USA im
Viele Araber missverstehen den Säkularismus – sie setzen ihn mit Atheismus gleich Irak und an der Ermordung Scheich Yassins, des Gründers der palästinensischen Hamas-Bewegung, durch Israel. Erdoğan bezeichnete das Attentat als „Staatsterrorismus“, wohingegen die arabischen Regierungen sich über den Anschlag auf den an den Rollstuhl gefesselten Mann ausschwiegen. Die Türkei bestand darauf, dass man der Hamas die Chance geben müsse, nach ihrem Wahlsieg die palästinensischen Gebiete zu regieren. Die türkische Regierung empfing den Chef des politischen Büros der Bewegung, Khalid Mash’al, in Ankara trotz des diploma-
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tischen Drucks von amerikanischer und israelischer Seite. Faktor für das Kräftegleichgewicht in der Region, brach All dies stärkte das Maß an Vertrauen, das viele Araber zusammen. Der iranische Einfluss auf den Irak und den während der vergangenen sechs Jahre in die türkische Po- gesamten Nahen Osten nahm zu. Das arabische Dreieck, litik gesetzt haben. Die Türkei bemüht sich inzwischen in bestehend aus Saudi-Arabien, Syrien und Ägypten, zerfiel. der Region in zahlreichen Konflikten als Vermittler. Als Syrien bewegte sich auf den Iran zu. So richteten sich die wichtigstes Beispiel hierfür sind die geheimen, indirekten Blicke der anderen arabischen Länder auf die Türkei als Verhandlungen zwischen Syrien und Israel zu nennen, die einen neuen Bündnispartner gegen den Iran. Besonders durch die diplomatischen Anstrengungen der Türkei zu- das saudische Königreich, das die Angelegenheit eher als stande gekommen sind. Kritisierte Syrien einst von allen konfessionelle denn als politische Auseinandersetzung Staaten in der Region am heftigsten die türkisch-israeli- zwischen dem schiitischen Iran und den sunnitischen araschen Beziehungen, so erntet Damaskus mittlerweile die bischen Staaten ansah, hielt die überwiegend islamischsunnitische Türkei mit ihrem starken Heer für fähig, die Früchte dieser Beziehungen. Rein politisch betrachtet haben sich die türkisch-syrischen Saudi-Arabien bot der Türkei die Führerschaft der Beziehungen verbessert, seitdem sunnitisch-islamischen Welt an Abdullah Öcalan auf massiven Druck der Türkei hin 1998 sein Versteck in Damaskus verlassen musste. Der Führer der Rolle zu spielen, die zuvor dem Irak bei der Zurückdränseparatistischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hatte gung des schiitisch-iranischen Einflusses in der Region zuvor von Syrien aus die Angriffe seiner Partei auf das zugekommen war. Die offizielle Annäherung der Araber Militär und die Sicherheitskräfte der Türkei geleitet. Infol- an die Türkei ging so weit, dass der saudische König Abge der Normalisierung des Verhältnisses zwischen beiden dullah ibn Abd al-Aziz innerhalb von 14 Monaten drei Ländern gewann die Türkei auch in der Arabischen Liga Mal in die Türkei reiste. Dabei hatten saudische Könige an Ansehen. Dort hatte Syrien zuvor gegen alle Projekte die Türkei zuvor kein einziges Mal besucht. Doch die Türkei lehnte das saudische Angebot der oder Vorschläge zur Stärkung der arabisch-türkischen Beziehungen ein Veto eingelegt, mit dem Hinweis auf einen Führerschaft der sunnitisch-islamischen Welt freundlich bestehenden Streit zwischen beiden Ländern über die Ver- ab. Man betonte, der türkische Staat basiere auf einem laizistischen System, man lehne die Polarisierung nach teilung des Wassers aus Tigris und Euphrat. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der Konfessionen ab und unterstütze den Dialog mit TeheBesetzung des Iraks kam es ausgerechnet durch die USA ran. Gleichzeitig aber machte sich die Türkei diese offizu einer Stärkung der arabisch-türkischen Beziehungen. zielle Annäherung zunutze für die Unterzeichnung einer Die Verbreitung des sogenannten islamischen Terroris- Vielzahl von Handels- und Wirtschaftsabkommen in der mus ließ Washington nach einer gemäßigt islamischen gesamten arabischen Welt. Die von der AKP verfolgte Organisation suchen, die den Muslimen als ideales Vorbild Strategie, eine neutrale Haltung einzunehmen, bescherte dienen und sie vom Terror abbringen sollte. Die AKP war dem Land eine Vermittlerrolle in den Konflikten in der genau das, wonach die US-Regierung suchte. Der Partei ist Region, angefangen beim arabisch-israelischen Konflikt, es gelungen, sich in einer Weise politisch zu äußern, die über die Ereignisse in der sudanischen Provinz Darfur, nicht direkt als islamistisch empfunden wurde. Sie präsen- das Geschehen im Libanon bis hin zum Atomstreit mit tiert sich als rechtskonservative Partei in der politischen dem Iran. Dies trägt entscheidend zur Änderung des steLandschaft der laizistischen Türkei. Von den Muslimen reotypen Türkeibildes in der arabischen Welt bei. Ein Großteil der Araber denkt allerdings noch immer, und Arabern wird sie jedoch immer noch als islamistische Partei wahrgenommen. Die AKP-Regierung erhielt Un- die Veränderungen auf türkischer Seite seien allein der terstützung im Rahmen des sogenannten „Wider Middle AKP zu verdanken. Überließe man das Feld den Militärs East“-Projekts, mit dem Washington seine Bündnispartner oder einer anderen Partei würde die Türkei nicht in der in den reichen Golfstaaten zu Investitionen im großen Stil eingeschlagenen Richtung weitermarschieren. So herranhielt. Die Golfstaaten unterstützten die türkische Wirt- schen also weiter darüber Zweifel, ob der neue Kurs der schaft, was wiederum die Annäherung dieser Staaten an türkischen Außenpolitik von Dauer sein wird. In den die Türkei förderte. Diese hatten das laizistische System arabischen Ländern weiß man, dass Erdoğan und seine vorher argwöhnisch beobachtet, was besonders für Saudi- Unterstützer in der Türkei viele mächtige Widersacher Arabien galt. Andererseits bewirkte die amerikanische Be- haben, die ihnen die Macht entreißen wollen. Im kulturellen Bereich trug die arabische Synchronisatzung des Iraks eine Umkehrung der militärischen und politischen Machtverhältnisse: Der Irak, zuvor wichtiger sation von türkischen Fernsehserien sehr erfolgreich zum
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Politik
Sicher ist jedenfalls, dass das stereotype Bild einer Abbau der Stereotype bei. Mit den beiden romantischen TV-Serien „Noor“ und „Die verlorenen Jahre“, die der sau- furchterweckenden türkischen Herrscherelite noch imdisch finanzierte Satellitensender MBC 2007 ausstrahlte, mer in den Winkeln des arabischen Denkens vorhanden erreichte die Türkei fast jedes arabische Heim. Die Araber ist. Es kam immer dann zum Vorschein, wenn das Mi„erlebten“ die türkischen Bräuche und Gewohnheiten. Das litär putschte oder eine islamistische Partei in der TürErfolgsgeheimnis der Serien in der arabischen Welt ist si- kei verboten wurde. Ganz allmählich aber wird dieses cherlich das Verlangen der Menschen nach mehr Freiheit. Bild schwächer und verliert seinen Schrecken. Auch die Den türkischen Muslimen garantiert der Laizismus diese Wirtschaftsentwicklung ruft die Bewunderung und AnerFreiheit, besonders auch in der Beziehung zwischen Män- kennung der arabischen Unternehmer hervor, die derzeit nern und Frauen. Kein Wunder, dass lediglich die islamis- vermehrt in der Türkei investieren. Das erstaunliche Ergebnis all dieser Aspekte, zusamtischen Extremisten gegen diese Serien protestierten. Nach ihrer Meinung wurde in den Serien allzu offen propagiert, men mit der weniger aktiven Rolle der Araber in der Redie Frau habe das gleiche Recht zu lieben und zu begehren gion, ist ein Eindruck, der sich unter den arabischen Maswie der Mann. Die arabischen Massen, so fürchten die Ex- sen mehr und mehr verbreitet: Die arabische Welt braucht tremisten, könnten durch solche Impulse außer Kontrolle erneut die Unterstützung der Türkei. Sie braucht den geraten und mehr Freiheit verlangen. Kein Wunder auch, Schulterschluss mit dem türkischen Volk zum Schutz der dass die Zahl der arabischen Touristen in der Türkei in eigenen Interessen. Die Erfahrung der Türkei mit der Eudiesem Sommer dreimal so hoch wie im vergangenen Jahr ropäischen Union hat aufseiten vieler Araber sarkastische war. Die Türkei avancierte gar zum Hollywood des Nahen Reaktionen hervorgerufen. Niemals werde die EU einem Ostens für die Video-Clips der arabischen Sänger: Wer Staat wie der Türkei die Mitgliedschaft ermöglichen, tadelsich von den Kollegen absetzen will, die in der arabischen te man die Türkei wegen ihrer Beitrittsbestrebungen. Aber Welt drehen, wählt die Türkei als Kulisse. Noch immer ist selbst an diesem Punkt hat sich die Haltung verändert, seit man in der arabischen Welt stolz auf die Anfänge der etwa sich die positiven Auswirkungen der politischen und wirtfünfhundert Jahre währenden Osmanischen Herrschaft. schaftlichen Reformen nach europäischem Muster gezeigt Gerne erinnert man sich an Sultan Mehmed Fatih, der haben, die die Türkei in den vergangenen zehn Jahren 1453 Konstantinopel, das spätere Istanbul, eroberte und durchgeführt hat. Viele Araber befürworten daher inzwidie Byzantiner vertrieb. Die letzten einhundert Jahre aber, schen eine Union oder Partnerschaft der arabischen und die in der Herrschaft der nationalistischen Bewegung der europäischen Anrainerstaaten des Mittelmeers – vielleicht „Jungtürken“ gipfelte, haben tiefe Narben in der Erinnerung der Das Erfolgsgeheimnis türkischer TV-Serien in der arabischen Völker hinterlassen. arabischen Welt ist das Verlangen der Menschen Von den Großeltern überlieferte, nach mehr Freiheit grausame Geschichten erinnern an die rassistische Politik der Jungtürken, die Gemetzel an nicht türkischen Bevölke- könnte man hiervon ähnlich wie die Türkei profitieren. rungsgruppen, die unzähligen Zwangsrekrutierungen Tatsächlich sind die arabischen Länder dankbar für die aller Männer während der als „Seferberlik“ bezeichneten türkischen Bemühungen um die Wiederentdeckung der Periode, als die Jungtürken versuchten, Russland zu beset- arabischen Welt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass man zen, und das Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg an der Idee einer türkisch-arabischen Wiedervereinigung hineinzogen, an dem der arabische Bevölkerungsteil nicht Anstoß nehmen würde. Vorbild ist die alte Verbindung im das geringste Interesse hatte. In dieser Zeit bildete sich Osmanischen Reich, allerdings unter der Bedingung, dass der türkische Nationalismus heraus. Die Jungtürken ver- die neuen Osmanen regieren, verkörpert durch die AKP, folgten die Ideologie des Turanismus, der Vorrangstellung und nicht die laizistischen Nachfahren der Jungtürken. der Türken und der mit ihnen verwandten Völker. Die Ziel dieser ideellen Einheit muss es sein, die arabische Trennung der Rassen war eine Folge, die dieses Überle- Welt aus ihrer politischen Rückständigkeit herauszuholen, die demokratischen Strömungen zu stärken und die genheitsgebaren mit sich brachte. Auch dieses dunkle Kapitel der Geschichte wurde in politischen Krisen zu überwinden, um einen stabileren der syrischen TV-Serie „Brüder des Staubs“ verarbeitet und moderneren Nahen Osten zu schaffen. und erregte bei ihrer Ausstrahlung in der arabischen Welt Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell 2001 heftigen Protest seitens der türkischen Regierung. Damals waren die syrisch-türkischen Beziehungen von der noch nicht überstandenen Öcalan-Krise belastet. Kulturaustausch 1v /08
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1. Alevitische Kurden, Varto, Juli 2002
2. Dagestaner (vom Volk der Darginer aus Dagestan, einer russischen Teilrepublik), Istanbul, Februar 2006
Geht das denn? Von Ioannis N. Grigoriadis Der Sommer 2008 war für die Türkei turbulent. Das Ver-
Dr. Ioannis N. Grigoriadis, geboren 1976 im nordgriechischen Serres, ist Dozent für Turkologie an der Universität von Athen und Research Fellow an der ELIAMEP (Hellenic Foundation for European and Foreign Policy). Er war unter anderem Research Associate an der Columbia University, New York, und an der University of Oxford, Dozent an der School of Oriental and African Studies an der Sabancı Universität in Istanbul und Assistant Professor an der Işık Universität in Istanbul. Seine Forschungsschwerpunkte sind Energiepolitik, Nationalismus und die Demokratisierung in Europa und im Nahen Osten.
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Verstärkt hat sich diese Auseinandersetzung nach dem 11. September 2001 und dem Einmarsch der Amerikaner im Irak 2003. Für einige liegt die Unmöglichkeit der Trennung von Religion und Staat im Islam begründet, welcher die Entstehung einer demokratischen Regierung in einem muslimischen Land unmöglich mache; im Fall der Türkei sei das jedoch wegen ihres radikalen Säkularisierungsprogramms anders. Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, startete seine radikalen Reformen mit dem Ziel, „die Türkei auf das Niveau der heutigen Zivilisation zu bringen“. Im Osmanischen Reich galt der Islam als einer der Hauptgründe für den Mangel an Entwicklung. Die Modernisierung sollte daher mit der Entstehung einer weltlichen, „religionsfreien“ Gesellschaft einhergehen. Der Islam wurde der direkten Aufsicht des Staates unterstellt, islamische Bruderschaften verboten. Der Laizismus (laiklik) entwickelte sich zu einem Grundprinzip der Türkei. Jenseits der säkular eingestellten Mittelklasse, welche die Reformen unterstützte, fanden diese jedoch wenig Anklang. Die Mehrheit der Bevölkerung wandte sich nicht vom Islam ab und blieb skeptisch gegenüber den radikalen Aspekten von Atatürks Modernisierungsanstrengungen. Offenkundig wurde dies bei der Einführung des Mehrparteiensystems 1946. Parteien, die von der kemalistisch-säkularen Orthodoxie abwichen, erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Die Gefahr einer Islamisierung wurde zu einem Hauptvorwand für Partei-Verbote und das Eingreifen des Militärs. Was die weltlich ausgerichteten Eliten übersahen, war, dass im Land parallel zum offiziellen noch ein anderer Modernisierungsprozess ablief. Eine neue urbane Elite wollte den Islam nicht loswerden, war kritisch gegenüber den kemalistischen Reformen und
botsverfahren gegen die AKP, die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, war an sich keine Neuigkeit. Seit der Gründung des türkischen Verfassungsgerichts 1962 wurden schon 24 politische Parteien verboten. Doch jetzt ging es erstmals um eine amtierende Regierungspartei. Als Hauptgrund für ein Verbot wurde die angebliche Wandlung der Partei zu einem „Sammelbecken für anti-säkulare Aktivitäten“ genannt. Am 30. Juli 2008 fiel das Urteil. Sechs von elf Richtern stimmten dem Verbotsantrag zu. Doch sie verfehlten die qualifizierende Mehrheit von sieben Stimmen, die für eine solche Entscheidung nötig ist. Die AKP kam mit einer Verwarnung und der Kürzung der staatlichen Unterstützung davon. Was schon als „Staatsstreich der türkischen Justiz“ die Runde gemacht hatte, war im letzten Moment verhindert worden. Das Land schlitterte an einer schweren Krise vorbei, an Neuwahlen und einer Eskalation des Konflikts zwischen den säkular eingestellten und den islamistischen Teilen der Gesellschaft. Auch am türkischen Finanzmarkt wurde die Entscheidung mit Erleichterung aufgenommen. Die internationale Staatengemeinschaft und die Befürworter des EU-Beitritts der Türkei begrüßten das Urteil. Warum so viel Aufhebens um das Schicksal dieser Partei? Wäre eine Partei, die bei den Parlamentswahlen 2007 fast 47 Prozent der Stimmen erhielt, ohne triftige Gründe verboten worden, hätte das die türkische Demokratie lächerlich Eine Partei mit islamistischen Wurzeln versucht, erscheinen lassen. Außerdem ist den europäischen Traum zu realisieren die AKP zur wichtigsten politischen Kraft im Demokratisierungsprozess der Türkei geworden. Sie hat eine klar pro- brachte eine alternative Version der türkischen Modernieuropäische Position bezogen, seit sie 2002 an die Macht sierung ins Spiel, die islamische und westliche Werte verkam. Sie setzte Reformprogramme um, die in der jüngeren band. Die Mitglieder des neuen muslimischen Bürgertums türkischen Geschichte einzigartig sind. Ihre Politik führte profitierten am meisten von der Öffnung der Türkei ge2004 zur Entscheidung des Europäischen Rats, die Bei- genüber der Weltwirtschaft in den 1980er-Jahren. Sie ertrittsverhandlungen aufzunehmen. Dass der europäische kannten die ökonomischen, politischen und sozialen VorTraum der Türkei seiner Realisierung näherkommt, ver- teile einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Zum politischen Vertreter dieser Tendenzen wurde die dankt sie also ausgerechnet einer Partei mit islamistischen Wurzeln. Seit Huntington die These vom „Kampf der Kul- AKP, die selbst ein Produkt der Wandlung des politisierturen“ einführte, wird debattiert, ob vor allem der Islam ten Islam ist. Nachdem man das Misstrauen gegenüber demokratische Regierungen im Nahen Osten verhindert. dem „christlichen Europa“ abgelegt hatte, war man für die Kulturaustausch 1v /08
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Wie die türkische Politik um die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ringt
Politik
Bewerbung für den EU-Beitritt. Denn eine Integration in beitrug. Seit 2004 hat der Reformeifer der Partei nachgeEuropa wäre die beste Voraussetzung für die wirtschaft- lassen. Immer wieder verfing sie sich in nationalistischer liche Entwicklung des Landes. Das Erfüllen der Kriterien Rhetorik, die sich zunehmend gegen die Europäische Unizur EU-Mitgliedschaft sollte die Demokratie festigen. on und die US-Außenpolitik wandte. Auch die mangelnden Endlich könnte der alte Wunsch der Türkei, Teil einer Fortschritte bei den Rechten für Aleviten und Nicht-Muslieuropäischen Gemeinschaft des Friedens, der Stabilität und der Es war ein schwerer taktischer Fehler, sich Zusammenarbeit zu sein, Wirknach den Wahlen 2007 auf die Diskussionen über lichkeit werden. Die Entwickdas Kopftuch zu konzentrieren lung einer liberalen Öffentlichkeit könnte die Grundlage dafür schaffen, dass die Menschenrechte vollständig respektiert me ließen am Einsatz für die Menschenrechte außerhalb würden. Ebenso könnte sie die Toleranz zwischen ver- sunnitischer Interessen zweifeln. Die AKP gab keine Sischiedenen Teilen der türkischen Gesellschaft fördern, gnale dafür, dass die Lockerung der Einschränkungen für etwa der säkular eingestellten Bevölkerung und den Is- Muslime nicht zu Beeinträchtigungen für die säkularen lamisten, den Türken und den Kurden, den Aleviten und Türken führen würde. Es war ein schwerer taktischer Fehden Nicht-Muslimen. ler, sich nach den Wahlen 2007 auf die Diskussionen über Der säkularen, traditionell prowestlichen Elite gelang das Kopftuch zu konzentrieren und sie nicht im größeren es nicht, auf die veränderte Politik der AKP zu reagieren Zusammenhang einer Verfassungsreform zur Stärkung und eine alternative Vision der europäischen Integration der Bürgerrechte aller Türken anzugehen. So schürte die zu bieten. Exemplarisch lässt sich dieses Versagen am Fall CHP Ängste vor versteckten islamistischen Plänen und der größten Oppositionspartei ablesen, der „Republika- verschaffte dem Oberstaatsanwalt einen Vorwand für das nischen Volkspartei“ (CHP). Anstatt sich an die Spitze Verbotsverfahren gegen die AKP. des türkisch-europäischen Integrationsprozesses zu stelDoch bei all ihren Mängeln bleibt die AKP – zumal len, nahm die CHP eine abwehrende Haltung gegenüber vor dem Hintergrund, dass eine weltlich ausgerichtete der Europäischen Union ein – was dazu führte, dass die pro-europäische Partei fehlt – der Hauptakteur in Sachen AKP eine Art Monopol bei der Befürwortung der EU-Mit- demokratischer Wandel. Mit ihrer soliden parlamentagliedschaft erlangte. Die CHP machte gemeinsame Sache rischen Mehrheit könnte sie demokratische Reformen mit den reaktionärsten Elementen der militärischen und vorantreiben, welche die Türkei einer EU-Mitgliedschaft zivilen Bürokratie. Diese erkannten, dass die Konsolidie- näherbringen und auch die Verdachtsmomente hinsichtrung der Demokratie zur Abschaffung ihrer Funktionen lich versteckter Absichten auf nationaler Ebene ausräuund Privilegien führen würde. Außerdem heizte die CHP men könnte. Dank ihrer Ursprünge als Partei des „kleinen die Ängste der weltlich eingestellten Mittelschicht an, die Mannes“ ist die AKP bestens dafür geeignet, die große zunehmend unruhig wurde in Anbetracht des Machtge- Masse der türkischen Bevölkerung zur Unterstützung winns der AKP. Die AKP wurde beschuldigt, hinter ihren des europäischen Projekts zu bewegen. Die Menschen zur Positionen zur Europäischen Union und zur Demokrati- Übernahme europäischer, liberal-demokratischer Werte sierung den wahren Plan einer Islamisierung der Türkei zu bringen, ist eine schwierige Aufgabe. Doch keine Partei zu verbergen. Die Kandidatur von Abdullah Gül bei den ist dafür besser geeignet als die AKP. Ihr Erfolg könnte Präsidentschaftswahlen im April 2007 wurde als Schritt auch eine positive Wirkung auf die Beziehungen zwischen in ebendiese Richtung interpretiert. Die konzertierte Re- Europa und der islamischen Welt haben. Und noch wichaktion der CHP und der Bürokratie führte zur Wahl im tiger: Der Erfolg der AKP ist ein wesentliches Beispiel für Juli 2007, die zum Triumph der AKP wurde. Doch die die Kompatibilität von Islam und Demokratie. Parteien mit CHP setzte ihre Angstkampagne fort und ignorierte da- islamistischen Wurzeln sind nicht automatisch Feinde der bei viel ernstere Gefahren für die türkische Demokratie, Demokratie. Sie können durchaus in ein demokratisches wie die Einmischung der Bürokratie in demokratische System gewählt werden – wenn sie dazu motiviert sind Prozesse und die Existenz nationalistischer, säkularer und politische Verfahrensweisen anwenden. Diese EinTerrorgruppen wie Ergenekon. Ergenekon etwa wollte sicht kann auch für globale Strategien hilfreich sein. Mit die Türkei durch eine Serie von Terroranschlägen desta- der Gerichtsentscheidung vom 30. Juli 2008 konnte ein bilisieren und einen Militärputsch provozieren, um die schwerer Rückschlag hinsichtlich der Anstrengungen, EU-Mitgliedschaftsbestrebungen zu beenden. den Islam mit der Demokratie zu versöhnen, verhindert Man sollte aber nicht vergessen, dass auch die AKP zu werden. einem von Verdächtigungen geprägten politischen Klima Aus dem Englischen von Loel Zwecker Kulturaustausch 1v /08
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Das Kopftuch der Männer Von Giuliana Sgrena
Giuliana Sgrena, geboren 1948 in Masera (Piemont), ist Sonderkorrespondentin der italienischen Tageszeitung „Il Manifesto“. In den vergangenen Jahren hat sie insbesondere im Irak, in Afghanistan, Somalia und Palästina die Entwicklung großer Konflikte verfolgt. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dem Islamismus und seinen Auswirkungen auf die Situation der Frauen. Im Frühjahr 2005 wurde Giuliana Sgrena im Irak entführt. Bei ihrer Befreiung kam ein italienischer Geheimdienstmitarbeiter ums Leben. Sgrenas aktuelles Buch heißt „Il prezzo del velo“ (Der Preis des Schleiers) und ist 2008 bei Feltrinelli erschienen. Giuliana Sgrena lebt in Rom.
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iranischen Tschador? Die Ideologie, die das Kopftuch repräsentiert, wird auch in der Tatsache deutlich, dass sogar das türkische Wahlgesetz geändert wurde, um die Abstimmung für einen Staatspräsidenten zu ermöglichen, dessen Frau stets mit dem umstrittenen Kleidungsstück auftritt. Dass es sich dabei weniger um eine Entscheidung aus Glaubensgründen als vielmehr um ein Symbol handelt, beweist schon der Umstand, dass die Kopftücher der First Lady von Atil Kutoğlu entworfen werden, einem bekannten türkischen Modeschöpfer, der auch für Berühmtheiten wie Naomi Campbell arbeitet. Eine solche Betonung der Ästhetik betrifft eine äußerliche, symbolische Demonstration, nicht aber die Innerlichkeit des Glaubens. Der Schleier ist heutzutage oft eher ein Mittel, um sich vor anderen darzustellen. Der Beweis der eigenen Gläubigkeit scheint nach außen getragen werden zu müssen – als ob die Stärke des Glaubens davon abhinge, wie man sich kleidet. Die regierenden Politiker, die das Tragen des Kopftuchs an den Universitäten liberalisieren wollten, reagierten mit diesem Vorstoß nicht auf eine Forderung der Frauen, sondern auf eine Forderung der Islamisten. Diese hätten damit ein Instrument besessen, um das Kopftuch an den Universitäten durchzusetzen. Dafür spricht jedenfalls ein weiterer Schritt, auch wenn in der Zwischenzeit das Verfassungsgericht das Gesetz zur Liberalisierung des Kopftuchs wieder aufgehoben hat: Anfang August 2008 wurden 21 neue islamistische Universitätsrektoren berufen – ein klarer Verstoß gegen das eigentlich vorgesehene Nominierungsverfahren. Im Normalfall werden die Rektoren aufgrund der Empfehlungen der Dozenten der jeweiligen Universität ausgewählt. Hinzu kam die Ernennung einer Vielzahl von islamistischen Richtern. Leider werden die Rechte der Frauen, die den Großteil der Weltbevölkerung stellen, nie als Maßstab für den Demokratisierungsgrad eines Staats herangezogen. Sonst würden die Einstufungen wahrscheinlich anders ausfallen. Europa betreibt hinsichtlich der Rechte muslimischer
Eine kurze Vorbemerkung: Der Begriff hijab (arabisch für „islamischer Schleier“) kommt im Koran nicht vor. Zum ersten Mal taucht er in den Schriften des muslimischen Rechtsgelehrten Ibn Taymiyya auf, der im 14. Jahrhundert als Erster theoretische Überlegungen zu einer Schleierpflicht für Frauen anstellte. Ibn Taymiyya dient den fundamentalistischen Muslimen bis heute als Bezugspunkt. Das Tragen des Schleiers beziehungsweise die Schleierpflicht sind im Islam also keineswegs religiöse Verpflichtungen. Stattdessen gehen sie auf eine 700 Jahre alte fundamentalistische Interpretation des Islam zurück. Diese Vorbemerkung ist unerlässlich, will man die symbolische Bedeutung des Schleiers in all ihren Formen erklären. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen dem türkischen türban und der von den Taliban vorgeschriebenen Burka. Aber ihnen liegt die gleiche religiöskonservative Auffassung zugrunde, deren Ziel es ist, die Frau zu dämonisieren – eine Versuchung, die nicht allein zum Islam gehört. Die weibliche Figur wird als „Verführerin“ (war eine solche nicht auch Eva gegenüber Adam?) und „Attentäterin“ gesehen, die eine Gefährdung für die Ehre des Mannes bedeutet. Der Schleier, der mit den Haaren einen der sinnlichsten Teile des weiblichen Körpers bedeckt, soll alle weiblichen Reize der Frau (ihre Haare, aber auch ihren Blick oder ihre Stimme) ausschalten, um so dem Mann die totale Kontrolle über ihre Sexualität zu ermöglichen. Der Schleierzwang entspricht damit eher einer patriarchalischen Weltsicht als einem religiösen Prinzip. Alle Islamisierungs- und Re-Islamisierungsprozesse laufen über die Einführung des Schleierzwangs ab. Dies muss nicht unbedingt mit Gewalt einhergehen. Überzeugungskraft Beim Kopftuch geht es nicht um ein religiöses und soziale Konditionierung können sich ähnlich stark auswirken. Phänomen, es geht um das Patriarchat Das ist allerdings nur der erste Schritt: Es ergibt sich zwangsläufig, dass der Schleier be- Migrantenfrauen eine sehr scheinheilige Politik: Im Nastimmte Aktivitäten behindert, etwa den Sportunterricht. men der Toleranz werden häufig inakzeptable Diskrimi Die Türkei macht dabei keine Ausnahme. Natürlich nierungen gerechtfertigt. Das Tragen des Schleiers für eiverhüllt die in einem säkularisierten Staat gängige Vari- ne freie Entscheidung zu halten, ist ebenfalls eine Heucheante des Schleiers vergleichsweise wenig. Aber was unter- lei: Die Frauen, die ihn tragen, verfügen keineswegs über scheidet im Endeffekt das Kopftuch von Hayrünnisa, der Entscheidungsfreiheit. Sie werden oft zu Zwangsheiraten Ehefrau des türkischen Staatspräsidenten Gül, von einem genötigt und wenn sie sich den Anweisungen der Familie Kulturaustausch 1v /08
Foto: Marco Cinque
Die Verschleierung von Frauen lässt sich weder mit Tradition noch mit Glauben rechtfertigen
Politik
widersetzen, riskieren sie, ein Ehrendelikt zu begehen. Das Paradoxon ist, dass die muslimischen Frauen in ihren Heimatländern dafür kämpfen, sich vom Schleier zu befreien, während sie ihn im Westen zurückfordern. Dabei handelt es sich mit Sicherheit nicht um eine Frage der „Identität“, denn andernfalls hätte sich diese Frage bereits bei ihrer Ankunft in Europa gestellt und nicht zeitgleich mit dem explosionsartigen Aufschwung der radikalen islamistischen Bewegungen. Im Westen angekommen, gelangen viele muslimische Frauen zu der Überzeugung, dass der Schleier ihnen einen Schutz gegen die Kommerzialisierung der Ware Frau bieten kann – ein Bild, das besonders durch das Fernsehen Verbreitung findet. Aber das ist nur eine Seite der Medaille: Die Frau kann unterworfen werden, indem man sie durch einen Schleier verhüllt, und genauso, indem man sie auszieht. Im Übrigen hat eine vor Kurzem in Ägypten durchgeführte Untersuchung gezeigt, dass ägyptische Frauen, die einen Schleier tragen, von sexueller Belästigung und Gewalt nicht verschont bleiben. Dies sind Zwänge, die sich weder durch die Religion noch durch die Tradition rechtfertigen lassen: Die Tradition überlebt sich, denn ansonsten würden auch wir noch den Schleier tragen. Vor allem in Süditalien, aber auch in meiner norditalienischen Heimat war es bis vor gar nicht
allzu langer Zeit üblich, dass die Frauen ein schwarzes Tuch um den Kopf trugen. Ich erinnere mich, dass meine Urgroßmutter es immer trug und meine Großmutter noch ab und an. Mit meiner Mutter endete diese Tradition. Dass es nicht um ein religiöses Phänomen geht, haben wir bereits erklärt. Es geht hier um ein Patriarchat, das sowohl im Osten als auch im Westen immer noch tief verwurzelt ist. Der Eintritt der Türkei in die Europäische Gemeinschaft sollte einerseits für die türkischen Demokraten, andererseits aber auch für die Frauen eine Chance sein, endlich frei über ihre Zukunft entscheiden zu können. Die Türkei ist ein säkularisiertes Land. Auch wenn der forcierte Aufbau eines laizistischen Staates durch Kemal Atatürk gewisse Verzerrungen mit sich gebracht hat, darf Europa die Re-Islamisierung jetzt nicht billigen. Das wäre ein Rückschritt – für alle. Und nicht nur das: Es wäre der Beginn einer Islamisierung Europas. Die Religionsfreiheit kann jedoch einzig und allein von einem wirklich laizistischen Staat garantiert werden.
KULTURAUSTAUSCH auf der Frankfurter Buchmesse Sie finden uns am Stand des Instituts für Auslandsbeziehungen in Halle 5, Stand D 901 Donnerstag, 16. Oktober 2008, 11 Uhr, Arte-Bühne, Westfoyer, Halle 3.1 Gemischte Gefühle – Ein Gespräch der Zeitschrift „Kulturaustausch“ mit der Autorin Oya Baydar über das türkische Gefühlsleben, den Vernunftbegriff des Westens und die Suche nach Verständigung. Moderation: Jenny Friedrich-Freksa, Chefredakteurin von „Kulturaustausch – Zeitschrift für internationale Perspektiven“
Aus dem Italienischen von Aike Jürgensmann
Weitere Veranstaltungen des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa): Freitag, 17. Oktober 2008, 11 Uhr, Arte-Bühne, Westfoyer, Halle 3.1 CrossCulture: Berlin, Kairo, und zurück: Einblicke in Berufspraktika zwischen Deutschland und der islamisch geprägten Welt. Podiumsdiskussion mit Manuela Höglmeier (ifa) und den CrossCulturePraktikanten Dina Hadahed aus Kairo und Sebastian Blottner aus Berlin. Moderation: Dr. Lore Kleinert, Radio Bremen Samstag, 18. Oktober, 10 Uhr, Internationales Zentrum, Halle 5.0 D 901 Europa in den Medien – Medien in Europa. Brauchen wir eine europäische Öffentlichkeit? Eine Diskussion mit Adam Krzemiński (Publizist, Warschau), Beata Ociepka (Professorin für Politikwissenschaft, Breslau/ Wrocław, Hamburg) und Alois Berger (Brüssel-Korrespondent) Moderation: Sebastian Körber, Leiter der Abteilung Medien, Institut für Auslandsbeziehungen
Die deutsch-türkischen Kulturbeziehungen seit 1990. Auswahlbibliografie. Mit einer Einführung von Klaus Kreiser.
Die kommentierte Literaturliste der ifa-Bibliothek bietet Informationen zu:
/ Konzepte, Maßnahmen und Träger der Auswärtigen Kulturpolitik / Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen / Deutsche Sprache und Germanistik in der Türkei / Türkeiforschung in Deutschland / Perzeption Deutschland – Türkei / Selbstverständnis der türkischen Außenkulturpolitik auf internationaler Ebene Stand: September 2008 http://cms.ifa.de/bibliografien/tuerkei Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar
Institut für Auslandsbeziehungen Bibliothek Postfach 10 24 63 D - 70020 Stuttgart
Tel: 0711/22 25 - 147 Fax: 0711/22 25-131 Email: bibliothek@ifa.de
„Abschied vom Scharia-Denken“
Ekin Deligöz wurde 1971 in Tokat, Türkei, geboren. 1979 kam sie mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland. In Konstanz und Wien studierte sie Verwaltungswissenschaften. 1989 trat sie den Grünen bei. Seit 1998 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie ist seit 2005 stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2007 erhielt sie den Deutsch-Türkischen Freundschaftspreis.
Frau Deligöz, wie viel Modernisierung trauen Sie der Türkei zu? Ich traue der Türkei eine Menge Modernisierung aus eigener Kraft zu, wenn sie es schafft, den Menschen Teilhabe an Bildung zu ermöglichen und die Armut zu bekämpfen. Dazu muss das Bildungssystem massiv ausgebaut werden. Und die Politiker sollten weniger ideologische Scheuklappen anlegen, sondern sich eher an pragmatischen Lösungen orientieren. Welche Rolle spielt die EU? In der Türkei gibt es viele Bedenken gegenüber der EU. Man befürchtet eine starke Einmischung in die Innenpolitik. Doch Politik und Zivilgesellschaft müssen sich damit auseinandersetzen, dass ein Vertrag mit anderen Staaten immer bedeutet, dass andere sich einmischen. Das ist noch nicht deutlich genug angekommen. Auch die Regulierungsbestrebungen und die Bürokratie fallen negativ auf. Vor allem kleine Unternehmen befürchten, dass sie damit verbundene Investitionen nicht leisten können. Doch gerade die Familienunternehmen, die Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen, sind die Basis einer prosperierenden Wirtschaft in der Türkei. Auch wenn man sehr lange auf Großprojekte gesetzt und Kleinunternehmer vernachlässigt hat. Was hat die EU Positives bewirkt? Der sanfte Druck der EU hat in der Türkei die Demokratisierung verstärkt: Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Menschenrechtslage hat sich verbessert, die Wirtschaft blüht und der technische Fortschritt geht voran. Die EU sollte aber nicht nur die Wirtschaft fördern, sondern auch die zivilgesellschaftliche Entwicklung, die Forschung und den kulturellen Austausch.
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Wo sehen Sie in der momentanen Entwicklung Defizite? Es fehlt noch immer der Mut, eine Vielfalt politischer Meinungen zuzulassen. Das passiert in der Wissenschaft, aber auch in der Kunst- und Kulturszene. Nehmen Sie die Debatte um die Armenier. Warum wird das so tabuisiert, warum kann man nicht offen damit umgehen? Zwischen Deutschland und Frankreich gab es mehr als 700 Jahre Krieg. Jetzt gibt es einen regen Austausch. Die Regierungspartei AKP kann man ja kritisieren – ich gehöre auch zu den Kritikern –, man muss aber auch den Mangel an Opposition feststellen. Die größte Schwäche des Landes ist nicht, dass überall AKP gewählt wird, sondern dass es keine Alternativen gibt. Oder dass die Alternativen sehr schnell durch die Justiz und die traditionelle politische Klasse unterbunden werden, während gleichzeitig der Mangel an Alternativen kritisiert wird. Das erzeugt natürlich ein Misstrauen der Bürger gegenübeer der politischen Klasse. Wer betreibt in der Türkei Modernisierung? Früher hatte man ein schönes Schwarz-Weiß-Schema: Modernisierung hieß lange politisch gewollte Modernisierung – eine kemalistische Modernisierungsideologie, die breite Gesellschaftsschichten nicht einbezog. Das gibt es heute nicht mehr. Menschen an Universitäten, aber auch in der Wirtschaft, haben großes Interesse an Modernisierung und gesellschaftlichem Weiterkommen. Und es gibt unzählige zivilgesellschaftliche Vereinigungen, Frauenrechtsvereine, Menschenrechtsvereine oder Institute. Nur bei den Parteien und den Gewerkschaften findet eine Entwicklung in dieser Form nicht statt. Ist die Türkei auf dem Weg zu einem modernen Islam? Die Türkei ist ein islamisches und gleichzeitig säkulares Land. Die Mittel- und Oberschicht hat eine sehr freie Auffassung von Religion. Doch es gibt auch Beispiele, wo Religion in Fundamentalismus umschlägt, wo traditionelle Strukturen, auch im Verhältnis der Geschlechter, zurückkehren. Das ist dort der Fall, wo Menschen nicht teilhaben oder wo Exklusion und Segregation gelebt werden: am Rande der Großstädte und auf dem Land. Wir sind in einer spannenden Phase: Wird es der Türkei gelingen, einen modernen Islam zu entwickeln und zu gestalten? Einen Islam, der Geschlechtergerechtigkeit zulässt, Frauenrechte verwirklicht und sich vom Scharia-Denken verabschiedet? Das einzige Land, dem so etwas gelingen kann, ist die Türkei. Deshalb müssen wir sie unterstützen – auch als Zeichen gegenüber anderen islamischen Staaten. Das Interview führte Timo Berger Kulturaustausch 1v /08
Foto: privat
Die Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz über die Entwicklung der Türkei, die Rolle der EU und den modernen Islam
Politik
Die stolzen Hüter der Republik Anders als in anderen Demokratien wird in der Türkei die Rolle des Militärs vom Großteil der Bevölkerung positiv gesehen Von Loay Mudhoon
Foto: Ikhlas Abbis
Loay Mudhoon wurde 1972 geboren. Der Politik- und Islamwissenschaftler ist Redakteur der Deutschen Welle und seit 2008 verantwortlich für das Internetportal Qantara.de. Zudem ist er Lehrbeauftragter am Institut für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln.
Kulturaustausch 1v /08
Das türkische Militär ist vom politischen Leben am Bosporus nicht wegzudenken. Die Streitkräfte spielten und spielen bis heute eine zentrale Rolle im politischen Entscheidungsfindungsprozess. Sie werden von anderen Gewalten nicht kontrolliert – und agieren deshalb innerhalb der staatlichen Sphäre weitgehend autonom. Dieser Sonderstatus wird alle zwei Jahre durch den turnusmäßigen Wechsel an der Spitze der türkischen Armee eindrucksvoll demonstriert: Bei der Ernennung des neuen Generalstabchefs haben weder der Ministerpräsident noch das Parlament Mitspracherecht. Und so musste Recep Tayyip Erdoğan die Ernennung des von der Armeeführung Anfang August vorgeschlagenen Generals İlker Başbuğ auch nur formal bestätigen. Einige Politikwissenschaftler sprechen angesichts der Machtfülle der Generäle zu Recht von einem „System der Behütung“ oder gar von einer „Militär-Demokratie“. Vor allem mittels des Nationalen Sicherheitsrats, der nach dem Putsch im Jahre 1960 gegründet wurde, übt die Armee großen Einfluss auf alle staatlichen Gewalten aus. Der Nationale Sicherheitsrat, welcher der Regierung verbindliche Vorgaben macht, erhielt 1980 – nach dem dritten Putsch – größere Kompetenzen, und sein Generalsekretariat wurde mit geheimen Erlassen zu einer faktischen Gegenregierung ausgebaut. Alle anderen Staatsgewalten sind einer Überwachung durch das Militär unterworfen. Überraschenderweise lässt sich diese wohl einzigartige Stellung eines Militärapparates in einer Demokratie damit aber nicht ausreichend erklären. Vielmehr beruht der Sonderstatus darauf, dass die Akzeptanz der türkischen Streitkräfte als integraler Bestandteil der politischen Kultur im öffentlichen Bewusstsein der Türkei historisch fest verankert ist. Anders als in anderen Demokratien wird die Rolle des Militärs in der Türkei weitgehend positiv gesehen, und die Militäreliten genießen in der Bevölkerung einen geradezu unantastbaren Ruf, aus dem sie ihre Legitimation als die eigentlichen Hüter der Republik nähren. Aktuelle Umfragewerte bestätigen das hohe Ansehen der Armee, die als die vertrauenswürdigste Institution des Landes gilt. Das hat sicherlich mit dem Gründungsmythos der Republik und mit der ruhmreichen Geschichte der tür-
kischen Streitkräfte zu tun: Vom legendären Befreiungskampf der Jahre 1919 bis 1922 und der Invasion auf Zypern 1974 bis zum andauernden Kampf gegen die kurdische Separatistenorganisation PKK avancierte das Militär zur einzigen Institution im Land, die maßgeblich zum Nationalstolz der Türken beigetragen hat. Auch der ehemalige General und Gründer der Repubik Mustafa Kemal wird von den meisten Türken verehrt, weil er dem Land den Absturz in ein koloniales Regime, wie es den arabischen Nachbarn durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges zuteil wurde, erspart hat. Hinzu kommt, dass das Militär durch seine besondere Rolle als Instrument der Durchsetzung der laizistischen Reformen und Modernisierungsschübe von oben, auf denen Atatürk seinen gesamten Staat auf baute, unbestreitbare Legitimation erhielt: Das türkische Militär war die einzige Kraft, die das fehlende Bürgertum in der türkischen Gesellschaft ersetzen konnte – und es bildete die Machtsäule, auf die sich die anderen Institutionen des kemalistischen Staatsapparates stützten. Dieses Selbstverständnis führt fast zwangsläufig dazu, dass die türkischen Streitkräfte sich berufen fühlen, in die Politik des Landes einzugreifen, wenn sie glauben, „ihr Staat“ sei bedroht. Dafür gibt es Beispiele zur Genüge: Neben den offenen Interventionen in den Jahren 1960, 1971, 1980 sowie dem „weichen Putsch“ 1997 versuchten die Generäle im wahrscheinlich ersten „Internetputsch“ der Geschichte am 27. April 2007 vergeblich, die Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten zu verhindern. Dennoch: Die Rolle der türkischen Streitkräfte unterscheidet sich grundlegend vom arabischen Militarismus. Ihre größte Besonderheit liegt darin, dass sie die Errichtung einer Militärdiktatur wie in den nahöstlichen Nachbarstaaten nie angestrebt haben. Arabische Armeen und das Militär der „göttlichen Republik“ Irans fungieren weitgehend als Garanten bestehender Diktaturen und Ins trumente ihrer repressiven Machtbewahrung. Da in der aus den 1980er-Jahren stammenden Verfassung der Konflikt um Kompetenzen und Macht zwischen türkischem Militär und Regierung bereits angelegt ist, müsste bald eine neue zivile Verfassung erarbeitet werden. Ohnehin wird die Armeeführung im Zuge der Angleichung an EU-Standards auf einen erheblichen Teil ihrer Macht verzichten müssen. Dies im Einvernehmen mit der Armeeführung zu bewerkstelligen, dürfte sich als eine große Herausforderung erweisen – nicht nur für die post-islamischen AKP-Aufsteiger, sondern auch für den neuen Generalstabschef Başbuğ.
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1. Kirgisen, Ulupamir, August 2002 2. Sunnitische T체rken, Universit채t Istanbul, Februar 2006
Leidenschaftlich Türke Von Oya Baydar
Oya Baydar wurde 1940 in Istanbul geboren. Als Gründungsmitglied der Türkischen Sozialistischen Arbeiterpartei geriet sie nach dem Putsch 1980 ins Visier der Militärregierung, wurde zunächst inhaftiert und musste dann das Land verlassen. Sie lebte viele Jahre in Deutschland, bevor sie aufgrund einer Amnestie 1992 in die Türkei zurückkehren konnte. 2001 gründete sie den Turkey Peace Attempt, dessen Sprecherin sie heute noch ist. Die studierte Soziologin arbeitet als Publizistin und Schriftstellerin. Im Herbst 2008 erscheint „Verlorene Worte“ (Claassen, Berlin). Baydar lebt in Istanbul.
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ne Lust, dieses Stück Erde zu bestellen, grüner und wertvoller zu machen. Wir beten die Symbole an und sterben für diese Symbole, aber die Wahrheiten, die Gedanken und Erfahrungen dahinter interessieren uns kaum. Vor allem setzen wir uns mit ihnen nicht auseinander und diskutieren sie nicht. Wir sind skeptisch und fürchten uns davor, betrogen zu werden, aber wir vermeiden zu fragen, warum. Wir ähneln nicht den Nahöstlern, Arabern, Nordafrikanern, und vor allem nicht den Fernöstlern. Wir fühlen uns den Spaniern, Griechen und Italienern näher. Deswegen ist es schwer, die Türkei mit orientalistischen Bewertungen und der Orientalismus-Kritik zu verstehen. Die Türkei ist weder Osten noch Westen; die Türkei ist sowohl Westen und Osten als auch Norden und Süden. Wer die Türkei als homogenes Land und die Bevölkerung als homogenes Volk betrachtet, irrt. Natürlich gibt es, wie in jedem Land, regionale Unterschiede, gesellschaftliche Gruppen, soziale Klassen und deren eigene Identitäten: Kurden, Türken, Lasen, Tscherkessen, Araber, Armenier, Griechen, die jüdische Minderheit; die sunnitischen Muslime, Aleviten, Assyrer, Nestorianer; republikanische Laizisten, traditionelle Religiöse, Anhänger des Westens und den Block des östlichen Islam nebeneinander; einerseits die moderne, sogar postmoderne Industriegesellschaft in den Metropolen, andererseits ländliche Stammesstrukturen. In der Türkei gibt es mehr als eine Türkei: Istanbul, Izmir, Ankara und die Küstenstädte an der Ägäis haben eine westlichere Kultur und Lebensart als viele andere europäische Städte am Mittelmeer. Demgegenüber sind die östlichen oder südöstlichen Städte wie Hakkâri, Mardin oder Bitlis so anders, dass der westliche Betrachter seinen Augen nicht trauen mag. Diese Unterschiede spiegeln sich auch in den Vorstellungen, der Lebensart, den
Mustafa Kemal Atatürk sagte einmal: „Wir ähneln nur uns selbst.” Seine Utopie war es, die verschiedenen Völker in eine entwickelte westliche Gesellschaft mit ebensolchen Menschen umzuwandeln. Er wollte aus den Trümmern des untergegangenen kosmopolitischen, multireligiösen, mehrsprachigen Imperiums, in dem unterschiedliche soziale, wirtschaftliche und ethnische Strukturen existierten, einen Nationalstaat bauen. Aber das westliche Nationalstaatsmodell in den Köpfen der kemalistischen Elite ließ sich trotz aller Bemühungen nicht umsetzen. Und so sagte Atatürk enttäuscht und traurig: „Wir ähneln nur uns selbst.” Inzwischen sind 85 Jahre vergangen, aber immer noch ähneln wir nur uns selbst. Ich frage mich oft, wie uns der Westen wohl sieht. Wir Menschen in der Türkei sagen zum Beispiel in kritischen Situationen: „Es kommt, wie es kommt”, und überlassen die Entscheidung Gott und dem Schicksal. Wir halten statt rationalem Verhalten emotionales Verhalten für weise. Wo man Kompromisse finden sollte, lassen wir es zum offenen Bruch kommen oder erschießen sogar unseren Gegner. Wenn man aber umgekehrt denkt: „Jetzt gibt es gleich Mord und Totschlag”, reicht oft ein warmes Wort oder eine schöne Geste und wir umarmen unsere Gegner herzlich. Wir werden schnell beeindruckt und beeinflusst. Wir sind sehr schlau, werden aber gleichzeitig schnell reingelegt. Wir wollen weder die Herde verlassen, noch mögen wir die, die dies tun. Wir sind begeistert von der Macht und den Unsere Emotionalität ist ein Panzer, der Mächtigen. Wir haben Angst vor unsere tiefen Ängste versteckt Fremden, deswegen ist „der Andere“ immer der Feind. Gegenüber dem Westen haben wir meist Minderwertigkeitskomplexe. kulturellen Gewohnheiten und den Gefühlen. Deswegen All das vertuschen wir mit überflüssigem Stolz oder über- frage ich mich immer, welche Türkei gemeint ist, wenn triebenen Reaktionen, manchmal mit zu viel Interesse und über die EU-Mitgliedschaft diskutiert wird. In der heutigen Welt, in der die Identitätspolitik VorGastfreundschaft. Wenn man uns oberlehrerhaft behandelt, ärgern wir uns, auch wenn die Ratschläge wertvoll rang hat, verwandelt sich die Pluralität in eine Kluft. sind. Aber wenn ein Fremder „einer von uns” wird, oder Wenn man sich über die historischen und gesellschaftwir das zumindest glauben, akzeptieren wir die schärfste lichen Gründe dieser Entwicklung keine Gedanken macht, begeht man den Fehler, von außen alles mit der EmotioKritik ganz brav. Wir lassen das Wesentliche, das Echte beiseite und nalität der Türken zu erklären. Tatsächlich ist die Emostreiten über Äußerlichkeiten. Wir töten und werden ge- tionalität eine Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen tötet für ein Stück Vaterlandserde, haben aber meist kei- Menschen und Lebensweisen, sie ist ein SchutzmechanisKulturaustausch 1v /08
Foto: Emre Akay
Warum uns emotionales Verhalten weise erscheint
Kultur
mus und eine Existenzform, die auf einer unentwickelten ligiösen, mehrsprachigen und kosmopolitischen Land eine Rationalität beruht. Unsere Emotionalität ist ein Panzer, von Türken beherrschte Nation zu schaffen. Wenn man der unsere tiefen Ängste versteckt. Im Gegensatz zu den die Republik als eine kulturelle Trennung vom OsmaMenschen in Fernost ist die Emotionalität der Menschen nischen Reich betrachtet, die nicht durch eine schrittweise in der Türkei nicht mit Mystik beladen. Sie zeigt sich in Evolution, sondern eine tiefgreifende Revolution geschah, Begeisterung und Wut oder in plötzlichem Sinneswandel. wird die Tragweite der heutigen Probleme deutlicher. Um in der Welt des 21. Jahrhunderts die Türkei, ihre Die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft der Türkei kann in Umfragen innerhalb weniger Monaten von 80 auf 30 Menschen und deren Identitätssuche sowie die Gründe Prozent fallen, weil die Europäer uns klar gemacht haben, dafür, warum diese Suche mit so großen Konflikten eindass sie uns nicht wollen. Genauso kann die Unterstützung hergeht, zu verstehen, muss man diesen historisch-gesellfür einen politischen Block innerhalb einiger Jahre von 50 schaftlichen Prozess begreifen. Der Konflikt zwischen auf 5 Prozent sinken. Bei uns töten die Menschen ihre ge- den Türken und Kurden, Aleviten und Sunniten, Laizisten liebten Menschen, weil sie sie so stark lieben. „Die verräterischen Wir töten die Menschen, die wir lieben Griechen“, von Regierungen und chauvinistischen Nationalisten zu Feinden erklärt, werden über Nacht „unsere Brüder und Religiösen und gleichzeitig die harte politische Abund unsere lieben Nachbarn“, da sie uns nach dem großen rechnung zwischen dem westlich orientierten Bürgertum Erdbeben geholfen haben. So wäre es sogar denkbar – das sowie den Eliten der Republik mit dem religiös-konserist natürlich nur ein Traum – dass Kurden auf einer De- vativen Kapital Anatoliens sind sowohl eine Folge dieser monstration die türkische Fahne trügen oder die Türken verspäteten Identitätssuche und Identitätskrisen als auch riefen: „Hoch leben die Kurden”. So könnte der seit Jahren ein Machtkrieg. Die aktuellen Ereignisse, etwa die Disim Südosten herrschende Krieg wenigstens in den Herzen kussion um das Kopftuch oder das Parteiverbotsverfahren der Türken und Kurden beendet werden. Die Menschen gegen die AKP, spiegeln die tiefen Konflikte zwischen den in der Türkei sind sehr emotional. Vielleicht ist es sogar verschiedenen Schichten wider. Das westliche Bild der irrationalen emotionalen Keigenau diese Emotionalität, die die verschiedenen miteinlerei ist eigentlich die Spiegelung des Kampfes der komander kämpfenden Identitäten zusammenhält. Das klassische Schema der westlichen Gesellschafts- plizierten Kräfte in der Gesellschaft und des rasenden entwicklung mit der Säkularisierung der Kultur, dem ent- gesellschaftlichen Veränderungsprozesses auf der Wasstehenden Individualismus und der Verwandlung von der seroberfläche. Zum Beispiel ist der Kopftuchstreit, wie Gemeinschaft zur Gesellschaft hat die Gefühls-, Gedan- ein befreundeter deutscher Journalist sagte, kein Gewitter ken- und Vorstellungswelt des Westens geprägt. Die Tür- „um ein Stück Stoff“, sondern eine Widerspiegelung der kei blieb lange Zeit von diesem Prozess ausgeschlossen. tiefen Kontroverse zwischen der traditionell-konservativen Außerdem war sie ein Teilstaat des Osmanischen Reiches. islamischen Lebensart und Kultur und der vom Westen Die Türken als herrschende und größte ethnische Volks- schwärmenden Lebensart. Darüber hinaus ist es ein gruppe des Imperiums haben ihre nationale Identität erst Machtkrieg zwischen den Eliten und dem Bürgertum der sehr spät entwickelt. Während in den ersten Jahrzehnten Republik sowie der militärischen Bürokratie, die seit über des 20. Jahrhunderts die Völker im westlichen, europä- 80 Jahren die Macht innehaben, und dem anatolischen ischen Teil des Imperiums, die Griechen und Bulgaren, Kapital, das in den letzten 30 Jahren ein stärkerer Bestandum ihre Unabhängigkeit kämpften und ihre eigenen Staa- teil der kapitalistischen Markt- und Weltwirtschaft geworten gründeten, begannen sich unter den militärischen und den ist. Manchmal denke ich, dass die magische Kraft, zivilen türkischen Intellektuellen die nationalen Gedan- die verhindert, dass diese gesellschaftlichen, kulturellen, ken erst zu entwickeln. Die Türkische Republik entstand ideologischen Widersprüche einen Bürgerkrieg verursanicht dadurch, dass ein Volk wegen seines nationalen chen, unsere Expressivität ist, die das westliche Auge als Bewusstseins oder des ökonomisch-gesellschaftlichen „Emotionalität“ betrachtet. Manchmal gehe ich sogar noch Niveaus einen eigenen Nationalstaat gründen wollte. Als weiter und setze für die Lösungen all dieser Probleme auf historischen Anachronismus und auf eine paradoxe Weise eben diese Emotionalität. hat man erst den Staat gegründet und dann versucht, aus Aus dem Türkischen von Jens Grimmelijkhuizen den Völkern, die in der heutigen Türkei leben, eine Nation zu schaffen, indem man die Macht und Souveränität den Türken gab. Es war offensichtlich, dass es ein sehr schmerzhafter Prozess werden würde, in einem multireKulturaustausch 1v /08
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Ankara für Anfänger... Jeder kennt Istanbul. Aber was ist eigentlich in Ankara los?
Ankara, sagen die Istanbuler, sei grau, langweilig und provinziell. Istanbul war nach der Eroberung durch die Osmanen 1453 jahrhundertelang die Hauptstadt des letzten türkischen Imperiums. Der Republikgründer Atatürk musste jedoch in den 1920er-Jahren nach Anatolien ausweichen, um von hier aus den Befreiungskrieg gegen die Besatzungsmächte zu organisieren. Engländer und Franzosen hatten sich in Istanbul breitgemacht, die westtürkische Küste wurde von der griechischen Armee besetzt. So wurde Ankara, bisher eine unbedeutende Kleinstadt in der Steppe, zum Zentrum der neuen Republik, die sich gerne als ein „Phönix aus der Asche” verstand. Mit Prachtboulevards, einer modernen Infrastruktur, schicken Botschaftsvillen, Beamten-
Clubs und nüchtern gestylten Ministerialgebäuden wurde Ankara in den 1940er- und 1950er-Jahren zur Vorzeigestadt des Landes herausgeputzt. Die staatlichen Gelder flossen großzügig und die „Verwestlichung” zeigte hier mit Opern, Theatern, Konzertsälen und „Republikbällen” ihr bestes Gesicht. Istanbul als „dekadante Femme fatale” wurde vom Staat stiefmütterlich behandelt. Dagegen schien Ankara wie „ein Mädchen aus gutem Hause”. Wer aus Ankara nach Istanbul zurückkehrte, erzählte von den eleganten Gattinnen der hohen Beamten, von den grünen Parkanlagen, den Verkehrsampeln und davon, dass alle Autofahrer sich wirklich an die Regeln hielten – Ankara war innerhalb von wenigen Jahrzehnten zur modernsten Stadt der Türkei avanciert.
Angora ist der alte Name Ankaras aus der Zeit der Seldschuken-Herrschaft im 11. und 12. Jahrhundert. Seit 1930 heißt die Stadt in der Zentraltürkei offiziell Ankara. Alles, was sich heute besonders weich und flauschig anfühlt und zugleich ungemein wärmt, trägt bis heute den Namen „Angora“. Die Angoraziege kam im 13. Jahrhundert vom Osten des Kaspischen Meeres durch türkische Händler nach Zentralanatolien. Die „Ankara-Ziege“ (Ankara keçisi) passte sich dem Steppenklima gut an und wurde zu einer Haupt-
einnahmequelle der Farmer. Heute gibt es in Ankara und um die Stadt herum spezielle Zuchtfarmen für das Tier, dessen Fell in der Textilindustrie als wertvoller Rohstoff benutzt wird. Auch die Angorakatze ist eine langhaarige Rasse. Sie soll im 17. Jahrhundert durch Seefahrer auch nach Europa gebracht worden sein. Obwohl die Perserkatze ihr seit Langem Konkurrenz macht, gehört sie zu den beliebtesten Haustieren der Welt. Vor allem die weißen Exemplare werden heute im Zoo von Ankara gezielt gezüchtet.
Atatürks Mausoleum Der Republikgründer und erste Staatspräsident der Türkei Kemal Mustafa Atatürk verstarb 1938 und wurde in dem Mausoleum „Anıtkabir“ auf dem Hügel Rasttepe (heute Anittepe) in Ankara beigesetzt. Der von den türkischen Architekten Emin Onat und Ahmet Orhan Arda entworfene Bau spiegelt den Geschmack der frühen 1940er-Jahre wider, obwohl das Mausoleum erst nach einer neunjährigen Bauzeit 1953 fertiggestellt wurde. Rundherum liegt ein großer „Friedenspark“, dessen fast 50.000 Bäume aus 24 Ländern der
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Welt im Geiste des Friedens zusammengetragen wurden. Nicht nur Ankaraner, sondern Türken aus dem ganzen Land pilgern heute vor allem an nationalen Feiertagen zum Mausoleum, um ihre säkulare Ausrichtung zu demonstrieren: Der Kulturkampf zwischen den Islamisten und den strengen Laizisten ließ „Anıtkabir“ zum Symbol des Widerstands gegen die „Islamisierung des Alltags“, vor allem die schleichende Durchsetzung des Kopftuches werden. 2007 besuchten rund 12,7 Millionen Menschen das Mausoleum. Kulturaustausch 1v /08
Fotos: ullstein bild - Granger Collection (1), Imagebroker.net (2), ecopix (3), www.babaangora.de (4), Aly Song / Reuters (5), Nelly Rau-Häring (6)
Angoraziege
Die Sonne der Hethiter Das Wappen Ankaras ist die „hethitische Sonne“. Das Sonnenemblem symbolisiert die Größe des ehemaligen hethitischen Reichs, das weite Teile der heutigen Türkei sowie den Norden des heutigen Syrien umfasste. Die Hethiter kamen schätzungsweise 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung nach Anatolien und sprachen eine indogermanische Sprache, weshalb sie unter anderem die Nationalsozialisten in den 1940er-Jahren als mögliche Ahnen im eurasischen Bereich interessierten. Viele Archäologen forschten be-
reits über das Volk mit der hohen Zivilisation, das sich durch Reliefs, Löwenfiguren und Keilschrifttafeln in der Gegend um Ankara herum verewigte. Die hethitische Hauptstadt Hattuscha liegt im Norden Ankaras und gehört zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Türkei. Den Islamisten ist die hethitische Sonne im Wappen Ankaras ein Dorn im Auge. Sie kämpfen seit den 1970er-Jahren vergeblich dafür, das vorislamische Symbol durch das Bild einer Moschee auszutauschen.
Ankara-Islam Herr Körner, was ist der „Ankara-Islam“? In der Türkei gibt es, anders als in vielen islamischen Ländern, muslimische Hochschultheologie auf hohem Niveau. 1948 wurde die erste Fakultät in Ankara gegründet. Hier arbeiten Wissenschaftler mit modernen Forschungsmethoden an den heiligen Texten und an der Frage, wie man den Glauben heute lebt. Die „Ankaraner Schule“ ist eine Strömung, die sich besonders wach mit westlicher Philosophie auseinandersetzt und den Islam neu denkt. Welche Ansichten aus dem Koran werden neu interpretiert? Können Sie ein Beispiel nennen? Hat die Zeugenaussage einer Frau weniger Gewicht als die eines Mannes? Ein ägyptischer Muslim erklärte einmal: Die Frau hat im Haus so viel zu tun, da kann sie sich doch nicht alles merken. In Anka-
ra sagt Ihnen jeder Theologe, dass so eine Ansicht zeitbedingt ist und dass Männer und Frauen heute gleichberechtigt sein müssen. An der Spitze der theologischen Fakultät in Ankara steht eine Frau. Das ist selbst an christlich-theologischen Fakultäten ungewöhnlich. Wie reagieren die Türken auf die Neuinterpretationen? Die Muslime suchen händeringend nach einer Antwort auf die Frage: Wie können wir ein modernes Land sein und zugleich treue Muslime? Da sind die Überlegungen der Ankaraner Theologen hilfreich, gerade wenn sie alte Selbstverständlichkeiten infrage stellen. Felix Körner ist Jesuit und Islamexperte. Das Gespräch führte Laura Geyer
Gelbe Brühe aus dem Wasserhahn Die Entwicklung von der Metropole zurück zu einer Provinzstadt begann in den 1970er-Jahren. Die große Landflucht aufgrund der Armut in den zentralen und östlichen Provinzen des Landes ließ Hunderttausende ihr Glück in Ankara versuchen. Die Tagelöhner und Arbeitsuchenden aus Anatolien siedelten sich in sogenannten „Gecekondu“-Gebieten an: schnell wachsenden Vierteln, die sich wie Gürtel um den alten Stadtkern herumlegten. Die Infrastruktur der Stadt brach darauf hin zusammen. Mit den Migranten kam eine neue konservativ-islamisch geprägte Kultur in die Hauptstadt. Opern, Bälle und Ballett erschienen auf einmal als zu künstlich und moralisch verwerflich, oder kurzum, als überflüssiger Luxus. Zwischen der bürgerfernen Bürokratie und den neuen konservativen
Schichten tat sich ein großer Graben auf. Der Niedergang Ankaras als moderne Hauptstadt begann mit dem durch die Stimmen der Einwanderer gewählten islamistischen Bürgermeisters Melih Gökçek. „Nackte Figuren“ wurden aus den Parks entfernt und die Stadt verwandelte sich in eine fortwährende Baustelle. Eine breite Schneise in Form einer Stadtautobahn mit Unterführungen und Fußgängerbrücken durchbohrt heute die Innenstadt. Zuletzt hatte Ankara unter schwerem Wassermangel zu leiden. Dass der Bürgermeister die Trinkwasserversorgung durch einen nahen, aber durch Industrieabfälle verschmutzten Fluss speiste, sorgte 2008 für einen Skandal. Seitdem fließt trübes Wasser aus dem Hahn und die Ankaraner sagen, sie liebten ihre Stadt nicht mehr. Dilek Zaptçıoğlu, 1960 in Istanbul geboren, studierte Geschichte und Politik in Istanbul und Göttingen. Heute arbeitet sie aus der Türkei für deutsche Medien, unter anderem für WDR, taz und Spiegel Online. Neben mehreren Sach- und Reisebüchern verfasste sie den Roman „Der Mond isst die Sterne auf” (Stuttgart, Thienemann, 1998).
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Bitte nicht stören Von Övül Durmuşoğlu
Övül Durmuşoğlu, geboren 1978 in Ankara, arbeitet als Kuratorin und Kunstkritikerin in Istanbul und Wien. Sie studierte Theorie der bildenden Künste und visuellen Kommunikation an der Sabancı Universität (Istanbul) sowie Critical Studies an der Malmö Art Academy. Für ihre Ausstellung „Data Recovery“ in Bergamo erhielt Durmuşoğlu 2008 den Lorenzo Bonaldi Preis für Nachwuchskuratoren.
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vielen verschiedenen Kunstinstitutionen im Ausland zusammenarbeitet, einigen privaten Museen, die in den letzten Jahren ihren Betrieb aufgenommen haben, wie Istanbul Modern, Santralİstanbul, Pera Museum und Sabancı Museum, einigen erfolgreichen Künstlerinitiativen wie Apartman, BAS, Masa, Hafriyat und PiST, die einen Gegenpol gegen die „private Sene“ bilden, und nicht zuletzt der Auszeichnung als Europäische Kulturhauptstadt 2010. Mit seiner einzigartigen städtischen Dynamik zieht Istanbul viele künstlerisch interessierte und aktive Menschen aus aller Welt an. Doch obwohl all dies stattfindet, bleiben Kunst und Kultur für die Regierung unsichtbar, und alles, was bisher realisiert wurde, ist mit privatem Geld entstanden – von Banken, wohlhabenden Familien, Unternehmen und ausländischen Kulturfonds. Es gibt keine staatlichen Mittel, um junge Künstler in ihrer Arbeit zu unterstützen. Deshalb ist es für junge Künstler sehr schwer, auf eigenen Füßen zu stehen. Es gibt nur sehr wenige private Sammlungen zeitgenössischer Kunst, und der Staat hat seine Sammlung schon vor drei Jahrzehnten aufgelöst. Mein Professor, Erdağ Aksel, der selbst ein bekannter Künstler ist, meint hierzu: „Das Problem Istanbuls ist nicht ein Mangel an Ausstellungsräumen, sondern ein Mangel an Herstellungsräumen.“ Hinzuzufügen bleibt, dass auch die neu gegründeten, privat finanzierten Kunsthäuser davon Abstand nehmen, mit jungen Professionellen – Künstlern, Autoren und Kuratoren – zusammenzuarbeiten. Heute diskutiert die Gegenwartskunst den bildungserzieherischen Status Quo von Kunst und will mit alternativen Ansätzen andersartige Potenziale entwickeln. Die etablierten Kunstschulen der Türkei dagegen sind sehr verschlossen gegenüber allem, was heute als zeitgenössische Kunst auftritt. Diese negative Haltung wurde während der
Neulich stolperte ich über eine Boulevardmeldung auf der Internetseite der türkischen Zeitung „Hürriyet“: Angekündigt wurde die feierliche Enthüllung eines 31 Meter hohen Soldatendenkmals auf den Hügeln von Polatlı, die sich entlang der Straße nach Ankara erheben. Der Koloss wurde von der Armee und einem privatwirtschaftlichen Konzern finanziert. Dass die Armee sich in die türkische Politik einmischt, ist wohlbekannt. Spätestens seit dem Militärputsch von 1980 spiegelt sich diese Einflussnahme auch im öffentlichen Raum und füllt ihn mit symbolisch aufgeladenen Denkmälern. Der 31 Meter hohe Soldat ist ein weiterer hilfloser Versuch, auf das sich wandelnde Kräfteverhältnis im Land zu reagieren. Überall dort, wo man sich öffentlich austauscht, beherrscht die starke Polarisierung zwischen kemalistisch-nationalistisch versus neoliberal-muslimisch die Auseinandersetzung. Daneben gibt es aber auch eine schweigende Mehrheit, die darauf wartet, dass die Wogen sich wieder glätten. In dieser Situation erwartet man von der Kulturszene, dass sie alternative Denkweisen jenseits der eingetretenen Pfade entwickelt. Gegenwärtig vollzieht sich ein Wandel im Verständnis des bildenden Künstlers hin zum Wissensproduzenten und Aktivator, der hier eine vitale Rolle spielen könnte, weil unmittelbare, auf den Punkt gebrachte Aktionen und eine frische, gegenläufige Ausdrucksweise gefragt sind. Doch solche Reaktionen kommen momentan eher aus der Tradition der Karikaturen und Comics – in Jede künstlerische Kritik an den Gründungsideen wöchentlichen Magazinen wie des Staats wird als Bedrohung wahrgenommen „Penguen“ und „Uykusuz“ – als aus der bildenden Kunst und der Kulturszene im Allgemeinen. Nur einige Blogs versuchen, letzten Istanbul Biennale sehr deutlich, als die Dekanin mit verschiedenen Diskussionen die lähmende Stimmung der Fakultät der Schönen Künste der Marmara Univeraufzubrechen. Warum ist die türkische bildende Kunst sität öffentlich das konzeptionelle Gerüst des Kurators Hou Hanru anprangerte. Hanru machte Modernisierung so träge? Eine Besonderheit der kulturellen Szene der Türkei ist und Moderne zu zentralen Begriffen. Er kennzeichnete ein Mangel an Kommunikation zwischen der Hauptstadt das kemalistische Projekt der Modernisierung als undeAnkara, die überhaupt keine Berührung mit zeitgenös- mokratisch und unmenschlich und sah demgegenüber sischer Kunst und den damit zusammenhängenden Dis- die Notwendigkeit von Modernisierungsbestrebungen kussionen hat, und der kulturellen Metropole Istanbul von unten, die auf humanistischen Werten basieren, indimit einer immer bekannter werdenden Biennale, einem viduelle Rechte respektieren und wahrhaft demokratisch internationalen Zentrum für Gegenwartskunst, das mit sind. Die Dekanin warf Hanru vor, gegenüber ethnischen Kulturaustausch 1v /08
Foto: privat
Wie die Kulturpolitik die bildende Kunst lähmt
Kultur
Konflikten in der Türkei nicht sensibel genug zu sein und gesehen wird, ein eher bürokratischer Schritt, der nicht in neue Konflikte heraufzubeschwören. Diese unglückliche Richtung einer reicheren kulturellen Szene geht. Zum ersBemerkung der Dekanin entfachte eine große öffentliche ten Mal gibt es öffentliche Mittel für Kunstprojekte, doch Diskussion, nicht über die Biennale selbst, sondern über die Förderungen sind bisher eher dem Kulturtourismus das, was Hanru geschrieben hatte. Tatsächlich waren sei- verschrieben. Die unabhängigen Künstler erhalten kaum ne Ideen inspiriert von den Theorien eines Soziologen, die Unterstützung, so viel kann man heute sehen. Inzwischen zwei Jahrzehnte zuvor niedergeschrieben und offensicht- werden Künstler, die sich für ihre Projekte um Gelder aus lich von der Dekanin nie gelesen worden waren. dem Fond bewerben, ermutigt, sich um private Gelder zu Staatlicher Dirigismus war schon immer vorherr- bemühen – mit dem 2010 Logo, das würde helfen – denn schend in der Türkei, und der geschilderte Zwischenfall die Gelder der EU reichten wahrscheinlich nicht, um die veranschaulicht, dass eine bedeutende Stätte der Kunst- Planung für 2010 umzusetzen. ausbildung ihre Eigenständigkeit nicht jenseits der von Problematisch ist auch, wie die Regierung sich auf das oben diktierten Grenzen festlegen kann. Hierin spiegelt Jahr als Kulturhauptstadt vorbereitet. Sulukule, das hissich auch die polarisierte Spannung zwischen den kema- torische Roma-Viertel der Altstadt wird abgerissen, seine listischen und nationalistischen Eliten einerseits und der neolibeIstanbul als europäische Kulturhauptstadt bedeutet ralen muslimischen Bourgeoisie nicht automatisch eine reichere kulturelle Szene andererseits wider. Jede Kritik an den Gründungsideen des Staates wird als Bedrohung wahrgenommen, die von der neuen Bewohner in entlegenere Bezirke umgesiedelt, um das Gemuslimischen Elite ausgeht und das Land spalten soll. biet für profitable Investitionen zu „säubern“. MinisterpräDarüber hinaus war für die Kemalisten der Vorfall wäh- sident Erdoğan betonte, dass die Säuberung der Stadt im rend der Istanbul Biennale ein eindeutiger Beleg für die Zusammenhang mit dem herannahenden Jahr als KulturBedrohung, die von der zeitgenössischen Kunst ausgeht, hauptstadt stehe, und zeigte keinerlei Verständnis für die deren Akteure versuchen, eine kritische politische Hal- Organisationen, die das Viertel zu retten versuchen. Wie tung aufzubauen. Jüngere internationalistische Tendenzen zu erwarten, wurde diese Äußerung von der Kulturszene innerhalb der Szene der zeitgenössischen Kunst haben scharf kritisiert. Das Kulturhauptstadt-Vorbereitungskoeine nationalistische Bewegung in der bildenden Kunst mitee reagierte nicht auf diese Kritik und nährte damit entstehen lassen, die der Globalisierung die Schuld an Vermutungen, das Komitee selbst sei gegen das Sulukuleder ganzen Situation gibt. Natürlich gibt es auch Anders- Projekt der Regierung. denkende, aber es ist in den etablierten Kunstakademien Nicht hü und nicht hott? So scheint es jedenfalls. Die noch immer sehr verbreitet, dass Studenten abgewiesen unabhängigen Stimmen aus der Szene der zeitgenössischen werden, die ihre Abschlussarbeit über Strömungen der Kunst sollten aktiver sein und nach Ausdrucksmöglichzeitgenössischen Kunst schreiben wollen. So hat nicht keiten suchen, die Bewegung in die traumatisierende nur die Herstellung von Kunst, sondern auch die Diskus- Kluft zwischen den gesellschaftlichen Fronten bringen. In sion und das Schreiben darüber keinen wirklichen Platz jüngster Zeit gab es Versuche, kollektiv gegen den populisan diesen Schulen. Gegenwärtig ist die Kunstausbildung tisch-nationalistischen Trend zu arbeiten. Doch die langeiner der problematischsten Kernpunkte im System Kunst. wierigen Auseinandersetzungen über die Frage, wie man Direkt involviert in die kulturelle Szene ist die Regie- eine substanzielle kritische Stimme schaffen könnte, erinrung im Fall der Auszeichnung Istanbuls als Europäische nerten stark an die Auseinandersetzungen zwischen den Kulturhauptstadt 2010. Das Kultusministerium zeigt sich verschiedenen linken politischen Strömungen in der Türan neuen Museumsgroßprojekten interessierter als an ei- kei. Man muss innerhalb dieser künstlerischen Bewegung ner Neuorientierung der vernachlässigten existierenden auch über neue Wege finanzieller Unterstützung nachdenMuseen. Bis heute fallen die Entscheidungen sehr büro- ken, um die Stellung, die man sich erarbeitet, auch halten kratisch hinter verschlossenen Türen. Die einzig sichtbare zu können. Wenn Wut und Hoffnung zusammenkomAktion des Vorbereitungskomitees in der Öffentlichkeit men, ist das immer ein probates Mittel für Veränderung. war ein Plakatwettbewerb, dessen Ergebnis mit dem SloAus dem Englischen von Karola Klatt gan „Istanbul, Stadt der vier Elemente“ nur die selbstverliebte Pose wiederholt, die auch der Werbung der letzten Istanbul Biennale anhaftete. Diese Form der bildhaften Glorifizierung zeigt, wie sehr die Auszeichnung „Europäische Kulturhauptstadt“ als Schritt in Richtung Europa Kulturaustausch 1v /08
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Lasen (südkaukasisches Volk), Ardeşen, August 2003
Kultur
Zuviel der Ehre Wie die türkische Sprache aus Frauen Jungfrauen macht Von Buket Uzuner
Foto: Muhsin Akgün
Buket Uzuner wurde 1955 in Ankara geboren. Sie studierte Biologie und Umwelttechnik und arbeitete an Universitäten in der Türkei, Norwegen, den USA und Finnland, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Sie ist Autorin zahlreicher Kurzgeschichten, Reisebücher und Romane. Buket Uzuner hat Nordafrika, Nordamerika und Europa bereist, in mehreren Ländern gelebt und wohnt heute in Istanbul.
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Auf den ersten Blick weist das Türkische tatsächlich einige strukturell weibliche Züge auf: So wird „Heimat“ als „Mutterland“ bezeichnet („anavatan“), und das Grundgesetz als „Muttergesetz“ („anayasa“). Außerdem gibt es weiblich geprägte Begriffe wie das „Hauptgericht“ („ana yemek“) und die „Hauptursache“ („ana sebep“), wobei „ana“ eben nicht nur „Mutter-“, sondern auch „Haupt-“ beziehungsweise „Grund-“ bedeuten kann. Doch die weiblichen Präfixe wie „ana“ dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses „Mutter-“ für etwas Geschlechtsloses steht – und natürlich für die „heilige Form“ des weiblichen Körpers. Die meisten türkischen Schimpfwörter haben mit den Genitalien der Mutter des Gegners zu tun oder mit dem Akt der Vergewaltigung seiner Mutter oder Großmutter. Beim Fluchen und in der Umgangssprache werden die Wörter „Mutter“ oder „Frau“ („kadın“) täglich millionenfach, quasi automatisch, in einer despektierlichen Art und Weise benutzt. Ich möchte die einzigartig absurde Lösung schildern, die gefunden wurde, um die „Ehre“ des Begriffs „Frau“ zu „retten“. Die neue unglaubliche, surreale türkische Konstruktion – die zum Sprachskandal des Jahrhunderts gekürt werden könnte – heißt „bayan“ und entspricht dem, was man im Englischen unter „Ms“ versteht, also einer Anrede für Frauen, die keinen Aufschluss über ihren Familienstand gibt. Das Deutsche liefert hier einen schlechten Vergleich, da der Begriff „Frau“ sowohl allgemeine Bezeichnung als auch Anrede für Personen des weiblichen Geschlechts ist. Die englische Unterscheidung des Begriffs „woman“ und des Titels „Ms“ eignet sich besser dazu, die türkische Differenz zwischen „kadın“ und „bayan“ zu verdeutlichen. Hinzuzufügen bleibt aber auch hier, dass „kadın“ nicht einfach „woman“ bedeutet, sondern sozusagen implizit auf eine nicht mehr jungfräuliche Frau verweist. Obwohl „bayan“ wie „Ms“ eigentlich eine Anrede ist, hat es gerade in den letzten zwei Jahrzehnten das Wort „kadın“ ersetzt. Die Menschen scheinen diesen absurden Sprachgebrauch deshalb akzeptiert zu haben, weil das Wort „kadın“ im Türkischen sozusagen besudelt worden ist. Gemäß dieses merkwürdigen Gebrauchs bin ich also keine „woman“ mehr, sondern eine „Ms“. Unsere Volleyball-Frauennationalmannschaft heißt jetzt nicht mehr „Women’s
Volleyball Team“, sondern „Ms Volleyball Team“ („bayan voleybol takımı“). Die Herrenmannschaft bleibt dagegen, was sie war. Und während Frauen in amtlichen Formularen als „Ms“ („bayan“) firmieren, werden Männer nicht etwa zu „Mr“ („bay“), der allgemeinen Anrede für Männer, sondern bleiben auch hier wie ehedem „men“ („erkek“). Die Dominanz der Männlichkeit beginnt bereits im Krankenhaus: Seit den 1980er-Jahren werden alle männlichen Babys in türkischen Krankenhäusern buchstäblich als erwachsene Männer geboren – im Register sind sie nicht mehr wie früher „Baby-Jungen“ („oğlan“), sondern „BabyMänner“ („erkek bebek“). Weibliche Neugeborene bleiben dagegen „Baby-Mädchen“ („kız bebek“). „Junge“ wird im Türkischen mit Homosexualität assoziiert, etwas, womit ein „echter Mann“ nichts zu tun hat. „Jungen“ verschwanden aus unserer Sprache, während die „Ms“ in sie eintrat. Als ich letztes Jahr den Moderator einer Sendung im Fernsehen darauf hinwies, dass ich lieber als die Frau bezeichnet werden wolle, die ich bin, entschuldigte er sich instinktiv – um mich gleich wieder als „bayan“ anzusprechen. Er wollte mich – traurigerweise – davor schützen, eine „kadın“ zu sein! Auf wunderbar bizarre Weise wird hier deutlich, wie sehr dem Begriff „Frau“ in den Ohren türkischer Männer etwas Schmutziges anhaftet, etwas Sündiges, Negatives und Verdorbenes. Demgegenüber suggeriert der Begriff „bayan“ eine Jungfräulichkeit in einer Kultur, in der die Jungfräulichkeit immer noch als der „Schatz“ und die Haupttugend der Frau gesehen wird. Wenn ich die Vorteile des Begriffs „bayan“ gegenüber jenen von „kadın“ abwäge, kommt mir als Vergleich das Kopftuch in den Sinn, das im Übrigen zur gleichen Zeit populär wurde wie der Gebrauch von „bayan“. Das Kopftuch und „bayan“ sollen die Frau vor männlichem Missbrauch schützen, für die Jungfräulichkeit der Frau stehen und ihr somit das Überleben sichern. Doch im Grunde dienen beide dazu, den Körper und das Denken der Frau zu regulieren und zu einer uniformen Sache zu machen. Letztlich ist die Umgangssprache einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des gesellschaftlichen Lebens und der Werte, die eine Kultur ausmachen. Aus dem Englischen von Loel Zwecker
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Was die Türken gerne ... ... sehen, hören und lesen
Türken lieben jede Art von Musik. Sie läuft ständig – auf der Straße, in Teestuben oder im Auto – und am besten laut. Jede Generation und jede soziale Schicht konsumiert ihre eigene Musikrichtung: Volksmusik, Arabesk, Popmusik, Jazz, Punkrock oder Weltmusik. Volksmusik ist nach wie vor sehr populär, da sie nicht nur von den Freuden und dem Leid des Volkes erzählt, sondern auch von ungerechten Machtverhältnissen. Diese Tradition reicht Jahrhunderte zurück, in denen sich Dichter wie Karacaoğlan, Dadaloğlu und Pir Sultan Abdal gegen die Unterdrückung durch die osmanischen Herrscher richteten. Trotzige Zeilen wie „Dem Sultan seine Erlasse, die Berge sind unser“ (Dadaloğlu) oder „Sollten die Richter und Mufti mich verurteilen / Sollten sie mich erhängen / Sollten sie mich köpfen / Ich werde von meinem Weg nicht kehren“ (Pir Sultan Abdal) werden immer wieder neu vertont. Zeki Müren kennt in der Türkei jeder, aber im Ausland niemand. Er gilt als der unerreichte König der türkischen Kunstmusik, der Musik für die anspruchsvolle Elite. Am ehesten ist die Musikart mit dem französischen Chanson zu vergleichen. Die exzentrische Bülent Ersoy (Foto) wurde dieses Jahr in Deutschland nicht als weitere wichtige Vertreterin dieser Musikrichtung bekannt, sondern mit dem Satz: „Für diesen Krieg der Anderen würde ich mein Kind nicht unter die Erde schicken.“ Sie hatte als Jurorin der Castingshow „Popstar alaturka“ den Einmarsch der türkischen Armee im Irak kritisiert. Die
beherzte Diva war früher ein Mann. Geblieben ist ihre tiefe Stimme. Und wenn sie auf der Bühne die Schlager „Weine nicht, meine Liebe“ oder „Die Trennung ist ein halber Tod“ zum Besten gibt, verzeihen die Türken ihr fast alles. Die Musik von Orhan Gencebay wird wegen ihrer persischarabischen Wurzeln Arabesk genannt. In den 1970er-Jahren entstanden, beschreibt sie die Irrungen und Wirrungen der städtischen Neubürger. Titel wie „Es gibt keinen Menschen ohne Fehler“ (Orhan Gencebay) oder „Lass uns in unser Dorf zurückgehen“ (Ferdi Tayfur) sind immer noch gern gehörte Hits. Ibrahim Tatlıses, dessen Künstlername „Tatlıses“ „süße Stimme“ bedeutet, Müslüm Gürses und Mahsun Kırmızıgül sind weitere berühmte Vertreter der Arabeskmusik. Weder die Geringschätzung durch Feingeister noch das jahrzehntelange Auftrittsverbot bis in die 1980er-Jahre im öffentlichen Fernsehen TRT haben den Durchmarsch der Arabeskmusik verhindern können. Die jungen Menschen lieben den Türkpop. Tarkan, Mustafa Sandal, Sertap Erener und Serdar Ortaç sind ihre Stars. Die unbestrittene Popikone ist jedoch Sezen Aksu. Auf ihrem Meisterwerk, dem Album „Ex oriente Lux“ (1995), präsentiert sie türkische Musik mit all ihren Facetten, von der Kunstmusik über das anatolische Klagelied bis zu islamischen Mystikern. Ihr aktuelles Album „Meeresstern“ hielt sich dieses Jahr wochenlang an der Spitze der türkischen Charts.
Istanbul Modern Die wichtigsten Impulse der Gegenwartskunst kommen aus den extremen Gegensätzen der türkischen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne. Zu den bedeutendsten Künstlern gehören die Malerin Ipek Duben, die Videokünstlerin Nil Yalter, die Künstlergruppe Hafriyat, die Installationskünstlerin Ayşe Erkmen und die Künstlerin Gülsün Karamustafa. In den vergangenen Jahren haben insbesondere private Unternehmen den Kunstmarkt in Bewegung gebracht. Sie haben in Istanbul zum Beispiel Museen wie das Pera Museum oder das Istanbul Modern (Foto) eröffnet. In diesen
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sind die Werke (Stillleben, Landschaftsmalerei, abstrakte Kunst) der bedeutendsten Künstler der türkischen Moderne zu sehen: Ibrahim Çallı, Avni Lifij, Nurullah Berk, Abidin Dino, Fikret Mualla, Komet, Avni Arbas, Bedri Rahmi Eyüboglu, Orhan Peker, Nuri Iyem, Ergin Inan. Besonders sehenswert sind die farbenprächtigen Bilder des Malers, Dichters und Lehrers Eyüboğlu (1913-1975). Inspirationsquelle für seine Arbeiten war die türkische Volkskunst: Kelims, kunstvolle Emaillearbeiten oder gestickte Decken. Er hat auch beeindruckende großflächige Wandbilder geschaffen. Kulturaustausch 1v /08
Foto: Stringer Turkey / Reuters (1), Istanbul Modern (2), Kinostar (3), Unionsverlag (4), privat (5)
„Die Trennung ist ein halber Tod“
„Recep Beeildich“ Die ersten Filme entstanden in der Türkei schon in den 1920er-Jahren. Der Theaterschauspieler und Regisseur Muhsin Ertugul, der durch den deutschen Film und den sowjetischen Revolutionsfilm beeinflusst wurde, inszenierte rund vierzig Filme. Die Literaturverfilmung „Das Flammenhemd“ der Schriftstellerin Halide Edip Adıvar aus dem Jahr 1923 über den nationalen Befreiungskrieg (1919-1922) ist eines seiner wichtigsten Werke. Dem folgten später der erste türkische Tonfilm (1929) und der erste Farbfilm (1953). Weitere hochkarätige Filme entstanden Ende der 1960er- Jahre. Einer der herausragendsten Regisseure dieser Zeit war der Filmemacher Metin Erksan, der sich in seinen Spielfilmen mit dem Landleben beschäftigte. „Sommer ohne Wasser“ war der erste türkische Film, der 1964 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Zwei Jahre zuvor war ein weiteres wichtiges Werk von ihm, „Die Rache der Schlangen“, in den Kinos gelaufen. Mit gesellschaftskritischen Arbeiten machte der Schauspieler, Drehbuchautor und Re-
gisseur Yılmaz Güney internatio-nal auf sich aufmerksam. Seine bekanntesten Werke sind „Der Weg“, für den er in Cannes die Goldene Palme (1982) erhielt, „Hoffnung“ (1970), „Der Freund“ (1974). In den vergangenen zehn Jahren ist es dem türkischen Kino gelungen, gerade im kommerziellen Bereich wieder auf sich aufmerksam zu machen. Früher strömten Familien oder Paare in die Lichtspielhäuser, heute sind die Kinogänger vor allem junge Leute. Dieses Jahr sahen innerhalb von nur wenigen Wochen über 4,2 Millionen Zuschauer die Komödie über die beliebte Kunstfigur „Recep Ivedik“ („Recep Beeildich“). Damit überholte der Streifen (Bild) den in Deutschland heftig kritisierten Actionfilm „Tal der Wölfe“. Knapp dahinter folgen die Science-Fiction-Komödie „G.O.R.A“ und das Melodram „Mein Vater und mein Sohn“. Die letztgenannte Produktion war ein Überraschungserfolg und löste in den Familien heftige Debatten über die Zeit nach dem Militärputsch von 1980 aus.
„Städte aus Frauen“ Eine überraschende Vielfalt an Themen und Genres zeichnet die türkische Literatur seit 30 Jahren aus: Es gibt triviale Unterhaltungsbelletristik, Krimis, Science-Fiction, nationale und religiöse Literatur, Thriller, erotische Literatur und Fantasy. Zwar werden die Klassiker wie das Epos „Menschenlandschaften aus meinem Land“ des Avantgardisten Nazım Hikmet(1902-1963), Gedichte von Orhan Velis (1914-1950), die Satiren von Aziz Nesin (19151990) oder die Meistererzählungen von Sait Faiks(19061954) noch immer gelesen, jedoch gibt es einen Trend hin zu historischen Büchern, die über die Blütezeit und den Untergang des Osmanischen Reiches, die Kriege und die politischen Tragödien berichten. Ilber Ortaylıs „Den Osmanen wiederentdecken“ (2006) und „Diese verrückten Türken“ (2005) von Turgut Özakman über den Befreiungskrieg nach dem Ersten Weltkrieg gehörte in den vergangenen Jahren zu den Bestsellern. Dieser Entwicklung haben sich auch gestandene Literaten angeschlossen. In „Der Eroberer“ (2003) beschreibt Nedim Gürsel die Einnahme
des damaligen Konstantinopel im Jahre 1453 aus der Sicht der Sieger und Besiegten. Ahmet Altans „Liebe in Zeiten der Rebellion“ (2001) erzählt von den letzten Tagen des Osmanischen Reiches. Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ist der bekannteste türkische Schriftsteller in Europa. Murathan Mungan (Bild), der „Poet von Mardin“, ist dagegen der Kultautor der Türkei. Sein aktuelles Werk „Städte aus Frauen“ (2008) ist seit Langem auf der türkischen Bestsellerliste. In diesem Buch erzählt er rührende Geschichten aus dem Leben anatolischer Frauen in den Metropolen. Der vielseitige Autor hat zahlreiche Gedichtbände, Romane, Erzählungen und Drehbücher veröffentlicht. Elif Şafak ist eine weitere Bestsellerautorin. Ihr viel diskutiertes Buch „Der Bastard von Istanbul“, das von der armenisch-türkischen Geschichte, von Vaterlosigkeit und Inzest handelt, hat sich 2006 in der Türkei über 85.000 Mal verkauft. Dies ist beachtlich für ein Land, in dem die Erstauflage vieler Bücher bei nur 2.000 Exemplaren liegt.
Kemal Çalık wurde 1967 in Esenköy (Kayseri) in der Türkei geboren. Er studierte an der TU Darmstadt Germanistik, Wirtschaftswissenschaften und Politik. Heute arbeitet er als Redakteur der Verlagsgruppe Deutscher Fachverlag in Frankfurt am Main. Çalık ist Generalsekretär des Bundes türkischer Journalisten in Europa (ATGB).
„Die Volksmusik ist mündlich überliefert“ Die Komponisten Mark Andre, B. Dilara Özdemir und Koray Sazli im Gespräch über türkische Musik gestern und heute
Mark Andre (1), geboren 1964, studierte am Conservatoire in Paris Komposition, Kontrapunkt, Harmonielehre, und musikalische Analyse. Seine Studien schloss er mit einer Doktorarbeit ab. Später studierte er an der Musikhochschule Stuttgart bei Helmut Lachenmann. Im Rahmen des Projekts „Into…“ von Siemens Arts Program, Ensemble Modern und Goethe Institut unternahm Mark Andre im Sommer 2008 einer Reise nach Istanbul, um dort für sein neues Werk „üg“ zu recherchieren.
Andre: Ist traditionelle türkische Musik Pflichtfach für Kompositionsstudenten? Özdemir: Auf dem Graduate Level ist sie am Konservatorium kein Muss, aber auf dem Undergraduate Level schon. Wir studieren westliche klassische Musik. Türkische Musik habe ich persönlich nie studiert. Ein Fehler.
Andre: Gibt es hier in der Hochschule Lehrer für diese Instrumente? Sazli: Nein. Dafür gibt es besondere Institute, etwa das Türkische Konservatorium, wo die Oud und die Saz, beides Lautenarten, gelehrt werden. KULTURAUSTAUSCH: Herr Sazli, befassen Sie sich mit türkischer Musik? Sazli: Ich mag den Ausdruck türkische Musik nicht. Wenn man von türkischer Musik spricht, dann reden die meisten von „Ottoman Empire Music“. Und Ottoman Empire Music, also die klassische türkische Musik, ist sehr anders als türkische Volksmusik, die ich als türkische Musik bezeichne. An der Istanbul Technichal University, wo das türkische Konservatorium beheimatet ist, gibt es Abteilungen für beides: die klassische türkische Musik und die Volksmusik. Nicht nur die Musik, auch die Instrumente sind sehr verschieden. „Ottoman Empire Music“ ist hauptsächlich vom Nahen und Mittleren Osten beeinflusst. Man spielt sie mit arabischen oder armenischen Instrumenten.
Andre: Sind Sie interessiert daran, für traditionelle Instrumente zu schreiben? Özdemir: Ja. Ich hatte einmal während eines Kompositionskurses die Möglichkeit, mit einem Nay-Spieler zu arbeiten. Das ist ein türkisches Instrument irgendwo zwischen Oboe und Flöte. Ich schrieb ein Stück für Sopran, Violine, Viola und Nay – eine hübsche Kombination. In einem anderen Stück, einem Orchesterstück, nahm ich ein weiteres türkisches Instrument hinzu, die Bendir, ein türkisches Percussion-Instrument. Es funktionierte sehr gut.
Andre: Gibt es Noten von der klassischen türkischen Musik? Sazli: Ja, in den Archiven von Hochschulen, aber auch in religiösen Instituten. Die Volksmusik ist jedoch nicht aufgeschrieben, sie ist mündlich überliefert.
Andre: Wird die traditionelle Musik notiert? Koray Sazli: Nein. Traditionelle Musik wird vom Meister auf den Schüler überliefert. Dazu verwendet man unter
KULTURAUSTAUSCH: Gab es keinen türkischen Komponisten, vergleichbar mit dem Ungarn Belá Bartók, der Volksmusik aufgenommen und gesammelt hat?
2/3 Fotos: Manu Theobald (1), Andreas Kolb (2)
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Mark Andre: Frau Özdemir, Herr Sazli, was lehren Sie hier am Konservatorium? Westliche Musik oder auch traditionelle Musik? Özdemir: Wir konzentrieren uns auf westliche Musik.
anderem eine Silbensprache, ganz ähnlich den RhythmusMantras indischer Tabla-Spieler wie „Ga Ma La“ oder „Ta Ke Ti Na“.
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Kulturaustausch 1v /08
Kultur
Sazli: Doch. Adnan Saygun ging zusammen mit Belá Bartók nach Anatolien und sie nahmen Musik auf. Adnan Saygun schrieb sie dann auch auf. Es gibt sogar eine CD mit ihren historischen Aufnahmen. Saygun ist sehr wichtig für uns. Es gibt von ihm eine Sammlung mit 150 Folk Songs – sehr authentisch notiert. Ich möchte aber noch ein paar Worte sagen zur Situation der zeitgenössischen Musik in der Türkei. Für unsere Kompositionen finden wir kaum Spieler, kaum Konzertsäle, kaum Budgets. Das sind unsere Herausforderungen. Das Publikum bevorzugt die Klassik bis Brahms, vielleicht einige frühe Stücke von Strawinsky oder Bartók, maximal noch Ligeti. Das ist sehr schwierig hier in der Türkei.
Sazli: Ich hatte auch internationale Studenten in Boston, hauptsächlich aus Asien und Mittelamerika. Meine Erfahrung ist, dass man sich mit der Person auseinandersetzen muss, nicht mit deren Nationalität. Dennoch haben Nationalitäten nicht nur bestimmte musikalische Konzepte, sondern auch zwischenmenschliche. Ich machte die Erfahrung, dass Koreaner viel schüchterner, viel zurückhaltender sind als etwa Chinesen. Ich war ja selbst international, deshalb achtete ich auf das Problem der Terminologie. Ich bot Sprechstunden nach den Klassen an. Andre: Ich denke an meine Studenten in Frankfurt. Nehmen wir
„Man muss die Sprache des Landes sprechen, um
Özdemir: Die Direktoren der die Mentalität der Menschen zu erfassen“ türkischen Konzerthäuser nehmen keine neue Musik in ihre Programme auf, weil es kein Publikum dafür gibt. Sie die Begriffe „Gestalt“ oder „musikalische Gestalt“. Wenn die Stuwollen keine Herausforderung, sie wollen nichts Neues. denten das Wörterbuch nehmen, um „Gestalt“ nachzuschlagen, dann wird das ein Problem. Wie kann man gemeinsam ein musiSie wollen alte schöne Melodien. kalisches Problem reflektieren ohne Terminologie? Vielleicht ist das eine Analogie zum fehlenden Austausch zwischen den Konzepten Andre: Vergibt der Rundfunk Kompositionsaufträge? Sazli: Ich weiß nichts von Aufträgen. Die Situation in von türkischer und westlicher Musik? Sazli: Aber gibt es diese Verständigungsprobleme nicht der Türkei erinnert mich stark an die in Boston wo ich studiert habe. Dort gab es das Boston Symphony Orches- schon zwischen französischen und deutschen Musikern? tra. Das lebte hauptsächlich von Sponsorengeldern. Diese Sponsoren forderten traditionelle, klassische Musik, sie Andre: Natürlich. Zum Beispiel wird in Frankreich der Musikgaben nichts für neue Musik. Wir hatten ein Kammeren- theoretiker Theodor W. Adorno nicht so stark wahrgenommen wie semble für neue Musik namens Alea III. Es gab kostenlose in Deutschland. Auch bei Pierre Boulez spielt Adornos Ästhetik Konzerte für 50 bis 60 Personen. Die Karten für das Bos- kaum eine Rolle. Özdemir: Dabei ist Boulez für mich ein deutscher ton Symphony Orchestra waren teuer, aber die Konzerte immer voll. Das sind also nicht nur türkische Probleme. Es Komponist. sind gemeinsame Probleme weltweit: Komponisten schreiAndre: Wirklich? ben Musik, die nachher von Komponisten gehört wird. Özdemir: Er spricht heute mehr Deutsch als Französisch. Andre: Ich habe zurzeit einen Lehrauftrag an der Musikhochschule in Frankfurt am Main. Dort habe ich auch mit Studenten zu tun, Andre: „Notation“, dieser Klassiker von Boulez, ist für Sie keine die aus dem Fernen Osten kommen und die sich in Deutschland französische Musik? Özdemir: Seine Musik ist noch französisch. Aber die zurechtfinden müssen. Wie erging es Ihnen in ähnlichen Lehrsituationen, wie machten sich kulturelle Unterschiede bemerkbar? Art, wie er handelt, wie er sich verhält, wie er dirigiert Özdemir: Man muss die Sprache des Landes sprechen, – für einen Franzosen ist er sehr deutsch. in dem man lebt, um die Mentalität der Menschen zu erfassen. Nur in ihrer Sprache lernst du ihre Kultur. Dann erst Andre: Das stimmt. Und er wirkt auf Franzosen auch sehr ist ein echter Dialog mit den Professoren und Studenten deutsch. Dennoch, für mich ist sein Umgang mit dem Material, möglich. Sonst fühlt man sich wie ein Außerirdischer. Nur mit der Struktur sehr französisch. Boulez führte am ehesten die Textur von Debussy fort. auf Englisch zu kommunizieren, das ist zu wenig. Sazli: Jemand, der dieses Phänomen, dieses Sich-BeAndre: Die Sprache ist eine Sache, die verschiedenen musika- wegen in fremden Kulturen auf die Spitze trieb, war Igor lischen Konzepte eine andere. Ich habe die Erfahrung gemacht, Strawinsky. Russisch in Russland, französisch in Frankdass Komponisten aus China oder dem Mittlerem Osten, auch reich und amerikanisch in den USA. wenn sie gut Deutsch sprechen, extrem andere Konzepte haben als Das Gespräch moderierte Andreas Kolb die europäischen. Die Verständigung ist ein „very big deal“. Kulturaustausch 1v /08
Koray Sazli (2), geboren 1973, erblindete im Alter von neun Jahren. Er studierte am Staatlichen Konservatorium der Mimar Sinan Universität für Schöne Künste in Istanbul und promovierte an der Boston University in Komposition. Er war Schüler von S. Headrick, M. Amlin und M. Merryman. Zurzeit ist Sazli Assistant Professor an der Yildiz Technical University und baut eine Musikbibliothek in der Braille-Blindenschrift auf B. Dilara Özdemir (3), geboren 1981, studierte Klavier am Staatlichen Konservatorium der Mimar Sinan Universität für Schöne Künste, Komposition und Klavier an der Franz Liszt Academy in Budapest, und in Stuttgart an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Sie studierte Komposition bei Jonathan Harvey, Brian Ferneyhough, Hanspeter Kyburz und Klavier bei Itamar Golan am Conservatoire national superieur de musique et de danse de Paris. Zurzeit unterrichtet sie am Konservatorium der Mimar Sinan Universität für Schöne Künste, Istanbul, wo sie auch promoviert.
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1. Sunnitische Araber, Mardin, Juli 2002 2. J端dinnen, Istanbul, Dezember 2001
Allein auf weiter Flur Von Zafer Şenocak
Zafer Şenocak wurde 1961 in Ankara geboren und wuchs in Istanbul und München auf. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, seine Bücher erscheinen in deutscher und türkischer Sprache. Zuletzt erschien von ihm „Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch“ (Babel-Verlag, München, 2006).
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Kräfte des Landes stehen einer inzwischen nicht mehr kleinen Minderheit von Kulturrevolutionären der dritten Generation gegenüber, welche die Türkei eindeutig und ausschließlich auf die europäische Zivilisation ausgerichtet sehen wollen. Diesen Wunsch drücken sie vor allem durch ihren Lebensstil aus, der sich kaum vom Lebensstil des europäischen Bürgertums unterscheidet. Die europäischen Türkei-Debatten sind noch weit davon entfernt, die Tiefenwirkung der türkischen Modernisierung zu begreifen. Vielmehr wird ein emotionalisierter Diskurs geführt, der die Türkei vorschnell als fremdartig stilisiert und einer „anderen“ Kultur zuordnet. So haben wir eine sehr ideenarme Diskussion, die wahrscheinlich jene derzeitige europäische Erschöpfung widerspiegelt, die weitaus mehr ist als nur eine Verfassungskrise. Dabei wäre es durchaus wichtig, die türkische Entwicklung genauer zu analysieren, um jene Chancen auszuloten, die zur Überwindung einer gefährlichen Polarisierung zwischen der islamischen Welt und dem Westen beitragen können. Diese Polarisierung wird mit dem Begriff „Zusammenprall der Kulturen“ beschrieben. Doch die Kulturen prallen in der Türkei nicht nur zusammen, sie bilden auch eine gemeinsame Grenze, die immer dann Neuland entstehen lässt, wenn sie durchlässig ist. Nur so lassen sich die Entwicklung und der Geisteswandel der türkischen Muslime erklären, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur kulturell, sondern auch politisch der europäischen Zivilisation geöffnet haben – anders als ihre Glaubensbrüder in den benachbarten arabischen Staaten. Auffallend ist der Abschied von einer antiwestlichen, apologetischen Polemik, die Hinwendung zu einer Sprache des Universalismus, die zivilisationsübergreifend formuliert und kommuniziert.
Die Männer um Staatsgründer Atatürk hatten Visionen: Als sie 1923 die Macht übernahmen, entschieden sie, dass der Folgestaat des Osmanischen Reiches eine Republik sein sollte, ein Nationalstaat, gegründet und aufgebaut nach dem Vorbild Frankreichs. Denker wie Descartes, Voltaire und Diderot waren geistige Geburtshelfer der modernen Türkei. Die Türkei wurde zum ersten muslimischen Land, in dem Staat und Religion getrennt wurden. Die Gesetze wurden nicht mehr aus dem Koran abgeleitet. Der Gesetzgeber orientierte sich an den Rechtstraditionen europäischer Länder. Bereits im 19. Jahrhundert begann sich das intellektuelle Leben an Europa zu orientieren. Erste Grundrechte wurden den Bürgern bereits 1839 zugestanden. Dabei machte die anfängliche kosmopolitische Ausrichtung der meisten Intellektuellen zunehmend einer nationalistischen Positionierung Platz. Der Nationalismus wurde aus dem Zeitgeist geboren, er war wie überall Teil der Modernisierung. Er führte aber auch in der Türkei beispielsweise zum Völkermord an den Armeniern und zu folgenschweren Vertreibungen. In der modernen Türkei wurde die religiöse Identität der nationalen untergeordnet. Erst diese Nationalisierung der Religion ermöglichte den Schritt zur Säkularisierung, zur Entfaltung eines türkischen Islams, der die Glaubensdinge in die Privatsphäre verlegt. Auf der anderen Seite legte dieser Die Europäer der Türkei haben in den letzten Jahren Schritt kurz nach der Republikmillionenfach gegen die Regierung protestiert gründung den Grundstein zur fortdauernden Diskriminierung nicht muslimischer Minderheiten. Gegenüber den mus- Diese rhetorische Öffnung muss sich freilich noch in der limischen Kurden verfolgte die junge Republik eine for- Praxis bewähren. Sicher, die säkulare Türkei reagiert manchmal pacierte Integrations- und Assimilationspolitik. Gegenüber christlichen Minderheiten verfolgte sie eine Politik der nikartig auf muslimische Eingriffe in die Gesellschaft. Abschottung, die jederzeit auch aggressive Züge anneh- Vor allem der Iran und die Radikalisierung in der arabischen Welt, aber auch in Ländern wie Malaysia und Inmen konnte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Von Anfang an fühlten sich weite Teile der Bevölke- donesien, haben die Gefahr einer Islamisierung moderner rung mit dem modernen türkischen Staatsapparat nicht Gesellschaften heraufbeschworen. In der Türkei schaut verbunden. Wer sich nicht fügte, wurde verfolgt, im güns- man in erster Linie auf diese Länder und nicht nach Eutigsten Fall ausgegrenzt. Diese autoritäre Modernisierung ropa, wenn es darum geht, das säkulare System gegen relihat der Türkei eine wohl einzigartige, janusköpfige Iden- giöse Indoktrination zu verteidigen. Die Türkei steht heute tität beschert. Die konservativen, muslimisch geprägten vor der spannenden Frage, ob die Demokratisierung der Kulturaustausch 1v /08
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Europa nimmt die Kräfte der Aufklärung in der Türkei nicht wahr
Gesellschaft
säkular orientierten Bevölkerung und die Reformierung Scheiterns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei des Staatsapparats einhergehen können mit einer Säku- nachzudenken. Die Europäer der Türkei fühlen sich von larisierung der Muslime. Nur so wäre die gegenwärtige Europa im Stich gelassen. Sie fühlen sich wie verstoßene Söhne und Töchter. Falls die französische Haltung zum Blockade zu überwinden. Jenseits der Beitrittsfrage zur EU taucht eine weitge- Vorbild für andere europäische Staaten wird, stünde noch hend verwaiste Reflexionsebene auf, in der es um grund- viel mehr auf dem Spiel als der Türkeibeitritt. Was zur sätzliche Fragen kulturellen Selbstverständnisses geht. Disposition steht, ist die Überzeugungskraft der AufkläWer verteidigt in der Türkei europäische Werte? Ohne rung über die Grenzen Europas hinaus. Wer die türkische Zweifel hat eine Garde junger muslimischer Politiker auf Aufklärung aus der europäischen Familie ausschließt, risdem Weg nach Europa mehr Wegstrecke zurücklegt als kiert das eigene Ideal von der Universalität der Demokratie viele eindeutig säkular orientierte Regierungen zuvor. und Menschenrechte. Doch hinter den Ideen stehen die Doch die Europäer der Türkei, vor allem diejenigen, die Erfahrungen, die über Jahrhunderte angesammelten feindeinen europäischen Lebensstil führen und für die strikte TrenSeit wann ist die Aufklärung mit ihrem nung von Staat und Religion einModernisierungsantrieb eine sanfte Angelegenheit? treten, sind im letzten Jahr in den Großstädten millionenfach auf die Straße gegangen, um gegen die Regierung zu protes- lichen Berührungen, Ängste und Vorurteile. tieren. Unter ihnen waren auffallend viele Frauen, die aus Die Türkei sorgt immer wieder für eine Bildstörung. verständlichen Gründen auf jede Art von muslimischer Fromme Muslime sind für den Europabeitritt und komGesellschaftspolitik empfindlich reagieren. Die Beibehal- men mit der Globalisierung klar, die Anhänger der Auftung der laizistischen Prinzipien bedeutet den Demons- klärung zeigen Zähne und geben sich wehrhaft. Das Bild tranten mehr als der Europakurs der Regierung. Sind die der Türken ist verwackelt, es taugt nicht einmal mehr zum modernen Türken, also die Europäer der Türkei, gegen Feindbild. Verstehen kann man die türkischen WiderEuropa? Erschöpft sich die moderne Türkei nur in einem sprüche in Europa aber nur durch eine Selbstbetrachtung. zeitfernen Nationalismus, einem martialischen Militärap- Seit wann ist die Aufklärung mit ihrem Modernisierungsparat, einer wuchernden Staatsbürokratie, die vor allem antrieb eine sanfte Angelegenheit? Die türkischen AbgrünVetternwirtschaft betreibt? Oder drückt sich in der Türkei de wie der Nationalismus und eine allzu naive Auffassung eine tiefe Verunsicherung aus, die ihre Wurzeln in Europa des Rationalismus als Grundbedingung des Fortschritts hat? Stellen nicht all diejenigen Stimmen in Europa, die sind nicht fern von den europäischen, vor allem sie sind von einer muslimischen Türkei sprechen, der säkularen wesensverwandt. Diese Hindernisse gilt es es auf dem Weg türkischen Republik und somit einem wichtigen Verbün- zur Modernisierung zu überwinden. deten den Totenschein aus? Die Einsamkeit der modernen Das türkisch-europäische Verhältnis fordert beide SeiTürkei und ihrer Befürworter, ihr Gefühl, vom Vorbild ten zu einem kritischen Umgang mit dem Bild des Anderen Europa fallen gelassen worden zu sein, ist inzwischen heraus. Die Festschreibung des Anderen auf „seine eigene“ auch die Brutstätte eines unreflektierten Nationalismus Kultur bleibt ein gewaltiges Kommunikationshindernis. mit zum Teil pathologischen Zügen. Zunehmend wird Gemeinsame Werte können nur in einer offenen Ausspradeutlich, dass die Kommunikation zwischen Europa und che geschaffen werden. An dieser Aussprache kann Euroder Türkei grundlegend gestört ist. pa aber nur dann teilhaben, wenn die verwandte Sprache Der Grund für diese Störung liegt nicht nur in der des Gesprächspartners nicht überhört wird. Die DemoTürkei. Die naive Verklärung Europas als Leuchtturm kratisierung der europäischen Nachbarregionen ist eine der Aufklärung passte ins Konzept der türkischen Mo- gewaltige Zukunftsaufgabe. Dabei könnte Europa als Werdernisierung. Es musste ein Gegenmodell zur orientalisch- tegemeinschaft eine enorme Integrationskraft entfalten. islamischen Welt geschaffen werden. In diesem Modell Eine durch die Kriterien der europäischen Aufklärung gab es keinen Platz für ein dialektisches Verständnis von und nicht durch Gewehrläufe abgesicherte ModernisieAufklärung. Viele Jahrzehnte lang erfüllte Europa eine rung wäre zumindest in der Türkei möglich und trüge Vorbildfunktion für die türkische Avantgarde. Dass es nachhaltig zur Entspannung bei. diese Rolle heute nicht mehr spielt, hat sich Europa mit seinem Zickzackkurs gegenüber der Türkei weitgehend selbst zuzuschreiben. Doch über die daraus resultierenden Folgen wird nicht einmal ansatzweise nachgedacht. Inzwischen scheint es geboten, über die Konsequenzen eines Kulturaustausch 1v /08
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Einer für alle, alle für einen Von Mazhar Bağlı Den Begriff „Ehre“ findet man in vielen Gesellschaften,
Mazhar Bağlı, geboren 1965 in Şanlıurfa im Südosten der Türkei, studierte Philosophie an der Selçuk Universität in Konya und promovierte an der Sakarya Universität in Adapazarı. Heute lehrt er an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dicle in Diyarbakır und leitet ein Forschungsprojekt über Ehrenmorde, das von TÜBITAK (Wissenschaftlicher und Technischer Forschungsrat der Türkei) unterstützt wird.
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blem nicht löst. Moral oder Ehre haben eine geistige und eine praktische Seite. Wenn beide gegenläufig sind, gibt es einen unlösbaren Konflikt. Die Beziehung zwischen Ethik und Praxis wird gegenwärtig in der Philosophie viel diskutiert. Das Ganze macht deutlich, dass sich der Begriff „Ehre“ nicht nur mit Tradition, Religion und Sitte erklären lässt. Seine Bedeutung erhält er auch durch historische und philosophische Interventionen. Die Regionen, in denen gemäß den Statistiken am häufigsten Ehrenmorde begangen werden, sind die Mittelmeerländer, muslimische Länder und die Türkei, insbesondere die Ost- und Südosttürkei. Die Oberste Polizeibehörde der Türkei hat in den vergangenen fünf Jahren 322 Ehrenmorde registriert. In diesen Gesellschaften herrschen relativ traditionelle und direkte Beziehungen vor. Während sich in modernen Gesellschaften ein Mensch seinen Status erarbeitet, wird er ihm in einer traditionellen Gesellschaft zugeschrieben. Erst durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder gesellschaftlichen Kategorie – Clan, Familie und soziale Klasse – entwickelt ein Individuum eine Identität. Deshalb ist die Ehre einer Person auch gleichzeitig die Ehre der Gruppe, genauso wie die Ehre der Gruppe die der Person ist. Leider ist die Zahl der wissenschaftlichen Studien zum Thema Ehrenmorde sehr begrenzt. Es ist offensichtlich, dass man sich diesem Gegenstand interdisziplinär nähern muss. Was die Gesellschaft und das Rechtssystem von Ehrenmorden hält, ist für eine Bekämpfung des Problems leider nicht entscheidend. Will man Ehrenmorde in Zukunft
doch welche Bedeutung, welchen Inhalt er hat, wird vollständig von der jeweiligen Kultur bestimmt. In den orientalischen Gesellschaften ist der Begriff „Ehre“ ein gesellschaftlicher Wert, verbunden mit einer metaphorischen Vorstellung über das Ansehen und den Status einer Person. Obwohl Ehre sowohl für Frauen als auch für Männer gilt, konkretisiert sie sich in der gesellschaftlichen Praxis unglücklicherweise eher in den Körpern und dem Verhalten der Frauen. Jedes sexuelle Verlangen und jede Beziehung einer Frau, die die Gesellschaft für nicht legitim hält, zählt als Ehrverletzung. Zugleich herrscht der Glaube vor, dass die Ehre, einmal befleckt, nur mit Blut gereinigt werden kann. Im Grunde genommen offenbart dieser Glaube eine moralische Schwäche: Denn die gesellschaftliche Funktion ethisch-moralischer Regeln ist doch eigentlich, neben der rechtlicher Normen, gewalttätige Gefühle unter Kontrolle zu halten. In den östlichen Gesellschaften wird Ehre als ein immens wichtiger gesellschaftlicher Wert wahrgenommen, egal ob man auf dem Land oder in der Stadt lebt und zu welcher Ethnie man gehört. Den entscheidenden Unterschied zwischen Orient und Okzident macht der Bereich aus, in Der Mordplan entwickelt sich meistens dem der Begriff „Ehre“ konkret sehr spontan wird. Westliche Gesellschaften betrachten Ehre als ein gedankliches Phänomen, östliche Gesellschaften hingegen sehen verhindern, muss man untersuchen, was die Täter fühlen darin eine körperliche Praxis. Aber auch das westliche und denken. Informationen über Menschen, die unmittelKonzept von „Ehre“ ist nicht völlig frei von physischen As- bar mit diesen Morden zu tun haben, können tragfähige pekten. Das beste Beispiel hierzu liefert der Film „Ein un- Resultate im Hinblick auf Lösungsansätze bieten. In der Türkei wird das Thema Ehrenmorde vor allem moralisches Angebot“ von Adrian Lyne , mit Demi Moore, Robert Redford und Woody Harrison in den Hauptrollen. mit Blick auf Tradition und Religion zu erklären versucht. Diana und David haben finanzielle Schwierigkeiten. Sie Ohne Zweifel haben beide Faktoren Auswirkungen auf fahren nach Las Vegas, um dort ihr Glück zu versuchen, Ehrenmorde, spielen sogar eine entscheidende Rolle. Aber und erhalten ein unmoralisches Angebot: Diana soll für diese Herangehensweise birgt die Gefahr, dass persönliche eine Million Dollar eine Nacht mit einem fremden Mann und soziologische Aspekte des Problems vernachlässigt verbringen. Nach dieser einen Nacht mit vollzogenem Akt werden. Ehrenmorde betreffen drei gesellschaftliche Besagt Diana einen sehr interessanten Satz: „Keine Sorge, reiche: die Gewalt gegen Frauen, das soziale Wertesystem Liebling. Mein Körper war mit ihm zusammen, aber mein und das Rechtssystem. Arbeiten, die sich mit EhrenmorHerz schlug stets für dich.“ Der Fortgang der Geschichte den befassen, sollten deshalb auch diese drei Aspekte bezeigt deutlich, dass diese Einstellung das moralische Pro- inhalten und diskutieren. Anderenfalls besteht die Gefahr, Kulturaustausch 1v /08
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Ehrenmorde gibt es dort, wo die persönliche Identität die der Gruppe ist
Gesellschaft
die Verantwortung für diese Morde einer abstrakten ge- als bisher angenommen. Deshalb müssen Lösungsansätze sellschaftlichen Struktur – der Religion oder der Tradition langfristig angelegt sein und Einseitigkeit vermeiden. Durch gesetzliche Regelungen und eine Verschärfung – statt dem Individuum selbst zuzuschieben. Derzeit unterstützt der Wissenschaftliche und Tech- von Strafen wird man Ehrenmorde auch in Zukunft kaum nische Forschungsrat der Türkei (TÜBITAK, Türkiye Bi- verhindern können. Im Rahmen des Projektes antworteten limsel Ve Teknolojik Araştırmalar Kurumu) ein Projekt, 86 Prozent der Interviewten auf die Frage, ob schwere das Gespräche mit inhaftierten Tätern zur Grundlage Strafen sie vom Mord abhalten könnten, dass diese überseiner Forschung macht. Ziel dieser Untersuchung ist es haupt keine Rolle spielen würden. Die Täter glauben daher zu erfassen, welche soziodemografischen Eigenschaften auch, dass höhere Strafen keinen Beitrag zur Verhindedie Ehrenmörder besitzen, welche gesellschaftliche Werte- rung von Ehrenmorden leisten könnten. Dieses Problem struktur und welche Familienbeziehungen sie haben und lässt sich sowohl in der Türkei als auch in den anderen was sie unter dem Begriff „Ehre“ verstehen. Dem Projekt- Mittelmeerländern nur durch eine Individualisierung und team gehören Soziologen, Sozialarbeiter, Anthropologen Liberalisierung des Rechts- und des gesellschaftlichen und Psychologen an. Die Teammitglieder können, mit Wertesystems lösen. Schnelle Veränderungen darf man der Erlaubnis des Justizministeriums, die Interviews mit hier nicht erhoffen. Initiativen, die auf lokaler Ebene beden Inhaftierten selbst führen. Sie arbeiten mit einem FrageboDas Präsidium für Religiöse Angelegenheiten gen mit 240 Fragen, die sie den versucht, in den Moscheen aufzuklären Inhaftierten stellen. Jedes Gespräch dauert anderthalb bis zwei Stunden. Bis heute wurden in 38 Anstalten Befragungen ginnen, Informationskampagnen in Schulen oder im Ferndurchgeführt, zum Ende der Untersuchung werden es 44 sehen erweisen sich oft als sehr wirksam. Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei versucht mit verschiedene Gefängnisse sein. Erste Auswertungen der bisher geführten Interviews Texten, die in allen Moscheen in den Freitagspredigten haben ergeben, dass viele Grundannahmen über die Eh- vermittelt werden, aufzuklären. Einige internationale Orrenmorde nicht der Wahrheit entsprechen. In der Türkei ganisationen unterstützen Projekte gegen Ehrenmorde, sind folgende Meinungen zu diesem Thema verbreitet: und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen Ehrenmorde würden bewusst von den Familienmitglie- sowie die Europäische Union finanzieren Forschung zur dern begangen, die nicht volljährig sind, um strafrechtlich Dynamik der Ehrenmorde. Nicht außer Acht lassen sollte nicht belangt werden zu können. Es gebe einen konkreten man die Bedeutung der Unterstützung durch die EuroFamilienrat, der diesen Mord beschließt. Religiöse, mit päische Union. Es ist äußerst wichtig, sich entschieden dem Islam verbundene Motive rechtfertigten die Ehren- darum zu bemühen, dass in der Türkei gesetzgeberische morde. Das Problem sei im Osten und Südosten der Türkei Standards der Europäischen Union erreicht werden, damit und vor allem unter den Kurden zu beobachten. Die Eh- auch finanzielle Hilfen möglich werden. Natürlich will heute niemand mehr eine Gesellschaftsrenmorde würden meistens von Personen begangen, die keine Bildung hätten. Die Täter verfügten über begrenzte struktur auf traditionellen Werten aufbauen. Andererseits finanzielle Möglichkeiten. Ehrenmorde würden meistens ist es falsch, Werte, die sich historisch entwickelt haben, in den Regionen begangen, in denen traditionelle Famili- als unveränderliche Werte anzusehen. Man sollte die kulturellen Werte einer Gesellschaft nicht durch den Verenbeziehungen vorherrschten. Diese Annahmen sind zum Teil oder vollständig gleich mit einer anderen Gesellschaft beurteilen. Dass die falsch. Bisher wurden 150 Personen interviewt, und von westlichen Gesellschaften mit der Beseitigung von Traditiihnen sind beispielsweise nur 9 Prozent unter 18 Jahren onen, die universellen rechtlichen Normen nicht entsprealt. Es besteht zwar eine Familienstruktur, die den Mord chen, erfolgreicher sind, steht außer Frage. Aber dieser befürwortet, er wird aber nicht durch eine gemeinsame Erfolg macht sie nicht überlegener und zivilisierter. Statt eine Gesellschaft oder einen Teil davon zu beEntscheidung beschlossen. Der Mordplan entwickelt sich meistens sehr spontan. 4,6 Prozent der Täter sind An- schuldigen oder nach einem Sündenbock zu suchen, wäre alphabeten, 34 Prozent können lesen und haben einen es sinnvoller, die einem Ehrenmord zugrunde liegenden Grundschulabschluss, 24 Prozent haben einen höheren Ursachen zu finden und an deren Bewältigung zu arbeiSchulabschluss, 3 Prozent einen Hochschulabschluss. 66 ten. Wir brauchen Hilfe und müssen unsere Erfahrungen Prozent der Täter geben an, dass ihr Tatmotiv nichts mit mit Kollegen auf der ganzen Welt teilen, um Ehrenmorde der Religion zu tun hat. 45 Prozent der Täter kommen ge- einzudämmen. Unser Haupziel muss die Individualisiebürtig aus der Ost- und Südosttürkei (den beiden Regionen rung der Menschen in der Gesellschaft sein. entstammen 12 bis 13 Prozent der Gesamtbevölkerung der Aus dem Türkischen von Jens Grimmelijkhuizen Türkei). Diese ersten gewonnenen Erkenntnisse zeigen, und Bülent Bilik dass das Problem der Ehrenmorde sehr viel komplexer ist Kulturaustausch 1v /08
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Muslimin, KaraÇam, September 2002
Gesellschaft
„Magie hilft zweifellos“ Wie man in der Türkei krank ist. Ein Gespräch mit dem Sexualmediziner und Frauenarzt Akif Poroy
Dr. Akif Poroy wurde 1946 geboren. Er arbeitet als Frauenarzt und Sexualmediziner in seiner Geburtsstadt Istanbul. Er ist außerdem Kunstmaler. 2005 erschien im Alfa Verlag Istanbul sein Buch „Türkiye’de Cinsellik“ (Sexualität in der Türkei), eine Studie über die Sexualität in der ottomanischen Zeit.
Herr Dr. Poroy, wie viel Vertrauen haben die Türken in ärztliche Behandlungsmethoden? Das ist sehr unterschiedlich: Auf dem Land nennt man einen gefährlichen Tumor oft einfach „Abszess“, drückt Tabak darauf, der angeblich die Wunden schneller heilen lässt, und damit hat es sich. Man verlässt sich auf das Schicksal. Dementsprechend gibt es in ländlichen Gebieten kaum medizinische Vorsorge, dazu fehlt die Mentalität. In den Städten ist der Umgang mit Krankheit stärker durch den Intellekt geprägt, man ist sensibler und ängstlicher. Neuerdings setzen sich die sogenannten „Rechte der Kranken“ immer mehr durch. Es gibt in den Krankenhäusern jetzt sogar eigene Büros dafür, die den Patienten neue juristische Möglichkeiten geben. Ein Beispiel: In einem Krankenhaus in Ankara sind vor ein paar Wochen Dutzende Babys gestorben. Der Grund war, dass das Krankenhaus zehnmal mehr problematische Geburten und Neugeborene aufgenommen hat, als seine Kapazitäten zulassen. Jetzt ziehen die Eltern vor Gericht. Allerdings fragt niemand, warum das Krankenhaus so viele Babys aufgenommen hat. Das Problem ist, dass es in der Türkei kein Überweisungssystem gibt. Hätten wir ein solches System, könnte etwa ein Kranker aus Südostanatolien zunächst einmal nach Mersin oder Erzurum geschickt werden. Stattdessen kommen die Patienten alle gleich in die Großstädte, weil sie wissen, dass die besten Ärzte in Istanbul, Ankara und Izmir tätig sind.
Foto: Aylin Dönmez
Welche Rolle spielt der Islam bei der ärztlichen Behandlung? Ich bin seit 30 Jahren Arzt. In den 1970er-Jahren habe ich keinen einzigen Fall erlebt, in dem eine Frau nur von einer Ärztin untersucht werden wollte oder ein Mann nur von einem Arzt. Die Medizin galt als geradezu erhabener Beruf. Kulturaustausch 1v /08
Ob ihn eine Frau oder ein Mann ausübte, spielte keine Rolle. Aber seit einigen Jahren versucht man, bei der Bevölkerung eine andere Einstellung zu propagieren. Krankenhäuser werben damit, dass Frauen nur von Ärztinnen behandelt werden. Diese Tendenzen sind nach der islamischen Revolution im Iran Ende der 1970er-Jahre entstanden. Davor war so etwas undenkbar. Vertrauen die Patienten in der Türkei neben der modernen Schulmedizin auch auf traditionelle, nicht westliche Behandlungsmethoden? In der Türkei gehen sogar Leute, die in den USA studiert und gelebt haben, zu traditionellen Magiern und Heilern. Das hat mit der schamanischen Tradition zu tun. Wie die Araber haben auch wir Türken vieles aus vorislamischen Zeiten übernommen. Man fürchtet sich zum Beispiel vor den „Albasti“, bösen Geistern, die Neugeborene und ihre Mütter bedrohen: Ein Neugeborenes lässt man nicht allein im Raum, damit die bösen Kräfte dem Baby nichts anhaben können. Es gibt auch sehr alte medizinische Bücher, die während der Türkenzüge im 11. Jahrhundert aus Zentralasien in die Türkei gelangten. In ländlichen Regionen finden sie noch Verwendung, etwa die Rezepturen des legendären Lokman Hekim, der eine Formel gegen die Sterblichkeit gefunden haben soll. Seine homöopathischen Medikamente kamen am ottomanischen Hof zum Einsatz und werden in Anatolien heute noch benutzt. Diese Dinge bestehen neben der modernen Medizin. Und die sogenannte Magie hilft ohne Zweifel: Wenn der Patient daran glaubt, kann sie sein Immunsystem und seine innere Dynamik stärken. Gibt es für den Besuch in Krankenhäusern feste Regeln oder dürfen die Angehörigen jederzeit zu den Patienten? Es gibt ein besonderes System der Krankenbetreuung: In den Krankenhäusern steht jedem Patienten neben seinem eigenen Bett noch ein weiteres zur Verfügung. Ein Freund oder Verwandter kann also über Nacht bei dem Patienten bleiben. Dieses System wurde aus der Not geboren. Früher gab es einfach nicht genügend Krankenschwestern. Aber im Endeffekt finde ich es psychologisch positiv. In ländlichen Gegenden bekommen Patienten häufig viel Besuch. Da sitzen manchmal 30 Leute um das Bett! In einem solchen Fall hängt man einfach das Schild „schwer krank“ an die Tür und lässt niemanden mehr rein. Generell gibt es in den staatlichen Krankenhäusern feste Besuchszeiten, in den privaten ist die Besuchszeit nicht beschränkt. Das Gespräch führte Selçuk Caydı
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Wie die Türkei ihre chronischen Wirtschaftsprobleme zu überwinden versucht Von Mehmet Rauf Ateş Die türkische Wirtschaft geriet Anfang des Jahrtausends
Mehmet Rauf Ateş, geboren 1964 in Ardahan in der Türkei, studierte Kommunikationswissenschaften an der Universität in Istanbul und besuchte die School of Journalism der London City University. Ateş arbeitet als leitender Redakteur von Capital, Ekonomist und PCNet in Istanbul. Er ist Autor mehrerer Bücher zu Wirtschaftsthemen, unter anderem „İnovasyon Hayat Kurtarır“ („Innovation rettet Leben“, Dogan Kitapçılık, Istanbul, 2005).
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in eine der schwersten Krisen der Geschichte des Landes. Um 2001 einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden, schloss die Türkei ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Unterstützungskredite über insgesamt 31 Milliarden US-Dollar gewährte die internationale Finanzorganisation, im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei zu einem rigiden Sparkurs. Auch das Bankensystem wurde neu geordnet und eine Aufsichtsbehörde eingerichtet. Die Zentralbank ist heute autonom. Zur zweiten treibenden Kraft für die Wirtschaftsentwicklung in der Türkei wurde die Aufnahme der Verhandlungen mit der Europäischen Union über eine Vollmitgliedschaft. Beide Faktoren sorgten dafür, dass die Wirtschaft bis 2007 wieder stark wuchs. Doch die weltweite Hypothekenkrise der vergangenen zwölf Monate trübte auch die Konjunktur in der Türkei. Um eine Rezession zu verhindern, hat die Regierung ein neues Programm aufgestellt. Darin wird ein durchschnittliches Wachstum von fünf bis sechs Prozent bis 2011 angestrebt. Das Programm setzt allerdings stark auf den Zufluss ausländischen Kapitals, das schon in den vergangenen Jahren das Wachstum befördert hat. Doch die weltweite Kapitalkrise führte auch in der Türkei zu einem Rückgang der ausländischen Investitionen. Zusätzlich beeinträchtigte die politische Instabilität in Zusammenhang mit dem Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP das Anlageklima. Um das Wachstum wieder zu beschleunigen, müssten in die Türkei nun jährlich über 20 Milliarden US-Dollar fließen. Ein weiteres großes Problem der türkischen Wirtschaft ist neben der Abhängigkeit von ausländischem Kapital die hohe Inflationsrate. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres erreichte die Teuerungsrate wieder zweistellige Werte. Ein zusätzliches Risiko entsteht durch das hohe Leistungsbilanzdefizit: Die Türkei führt seit Jahren mehr Waren und Güter ein, als sie selbst exportiert. Bis jetzt sah man darin – aufgrund des hohen unmittelbaren Kapitalzuflusses aus dem Ausland – allerdings keine Gefahr. Doch die weltweite Bankenkrise und der stark gestiegene Wechselkurs der türkischen Währung Lira wirken sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung aus. Es wird prognosti-
ziert, dass das Leistungsbilanzdefizit bis zum Jahresende auf etwa 50 Milliarden US-Dollar anwachsen wird. Auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich – trotz der beachtlichen Fortschritte in den vergangenen Jahren – kaum verbessert. Immer noch liegt die Arbeitslosigkeit bei mehr als 10 Prozent. Das ist hauptsächlich auf fehlende Neuinvestitionen zurückzuführen. Das ausländische Kapital hat es vorgezogen, vorhandene Betriebe zu kaufen. Nur wenige neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Zudem ist die Türkei ein Land mit einer sehr jungen, wachsenden Bevölkerung. Jährlich drängen deshalb eine halbe Million Arbeitskräfte neu auf den Markt. Der Erwerb vieler großer Unternehmen und Banken durch Ausländer birgt aber auch Chancen. Ausländische Unternehmer setzen auf die junge Bevölkerung, den wachsenden Markt, vielfältige Produkte und den Ausbau des Dienstleistungssektors. Infolge der Wirtschaftsentwicklung ist auch der Lebensstandard der Türken in den letzten 20 Jahren gestiegen. Während 1980 von 1.000 Personen nur 17 ein Auto besaßen, waren es Ende vergangenen Jahres 84 von 1.000. 1994 hatte noch niemand ein Mobiltelefon, inzwischen besitzen 700 von 1.000 Türken ein Handy. Und ein weiterer wichtiger Indikator: 1980 konnten nur 1,3 Millionen Personen eine Auslandsreise machen, 2007 fuhren 8,3 Millionen Personen ins Ausland. Banken, Versicherungen, Elektronik, Immobilien, Dienstleistungen und Technologie – in vielen Bereichen ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. Alle blicken zurzeit auf die qualifizierte Bevölkerung Indiens oder Chinas. Doch auch in der Türkei gibt es in diesem Bereich bedeutende Entwicklungen. Während 1980 erst 66 Prozent der über 15-Jährigen alphabetisiert waren, können heute 89 Prozent lesen und schreiben. 1980 brachten die Universitäten 625.000 Absolventen hervor, Ende vergangenen Jahres waren es bereits über vier Millionen Absolventen. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Türkei auch eine große, neue Unternehmerschicht herangewachsen ist. Die letzten Statistiken weisen 780.000 Unternehmer aus. Die allermeisten davon wurden in den vergangenen 25 Jahren gegründet. In den 1960er-Jahren gab es noch 100 bis 200 Unternehmensgründungen jährlich. Heute sind es über 50.000. In Zukunft kann man durchaus mit 70.000 bis 80.000 Unternehmensgründungen rechnen. Somit ist die Türkei auf dem guten Weg, eine neue Entwicklungsstufe zu erklimmen und zum Unternehmerland zu werden.
Kulturaustausch 1v /08
Foto: Gokhan Celebi
Land der Gründer
Gesellschaft
„Umarmen und Schulterklopfen“ Die Grundschullehrerin Özgür Şen über private und öffentliche Schulen, fordernde Eltern und die Schwierigkeit Englisch zu lernen
Özgür Şen, geboren 1976 in Tarsus, arbeitet als Lehrerin an einer Grundschule in Ankara. Die Privatschule wird von einem wissenschaftlichen Beratungsgremium unterstützt, das sich vor allem aus Mitgliedern der Pädagogischen Fakultät der Universität Ankara zusammensetzt. Von den rund 34.000 Grundschulen in der Türkei sind knapp 900 Privatschulen.
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern in türkischen Grundschulen beschreiben? In der Türkei unterrichten in den Grundschulen überwiegend Lehrerinnen. Ich selbst arbeite in einer privaten Grundschule. Dort ist die Atmosphäre fast immer sehr familiär und freundschaftlich. Im Rahmen eines EU-Projekts wurde die Schule, in der ich tätig bin, vor einiger Zeit von Lehrern und Lehrerinnen aus den EUMitgliedsstaaten besucht. Meine europäischen Kollegen waren sehr erstaunt darüber, wie viel körperliche Nähe zwischen Lehrern und Schülern bei uns ganz alltäglich ist. Wir umarmen unsere Schützlinge oft, streicheln ihre Haare oder klopfen ihnen auf die Schulter. Das europäische Fernsehteam, das die Begegnung dokumentiert hat, dachte sogar zunächst, diese Herzlichkeit sei gestellt. Was sind die Unterschiede zwischen den privaten und den staatlichen Schulen? In den staatlichen Bildungsanstalten ist das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern nicht immer besonders innig. Leider wird dort manchmal auch Gewalt als Erziehungsmittel eingesetzt. Die Privatschulen sind gegenüber den staatlichen Schulen privilegiert. Ich habe vor einigen Jahren in einer staatlichen Schule gearbeitet. Dort hatten wir in jeder Klasse 45 bis 50 Kinder. Außerdem gab es bei 1.000 Schülern nur einen einzigen Lehrer, der in der psychologischen Betreuung von Schülern ausgebildet war.
Foto: privat
Wie ist das an der Privatschule, für die Sie jetzt arbeiten? Wir haben bei 600 Schülern und Schülerinnen drei Fachkräfte, die psychologisch geschult sind, und werden außerdem von zwei Spezialisten der Universität unterstützt. Die Kinder werden bei uns Kulturaustausch 1v /08
sehr genau beobachtet und die Lehrer wissen gut über ihre besonderen Talente Bescheid. Sie tauschen sich gegenseitig über ihre Schützlinge aus und stehen in regem Kontakt mit den Eltern. Dieser Service hat allerdings seinen Preis: Die Eltern der Schüler bezahlen jährlich 11.000 türkische Lira an Gebühren. Das sind mehr als 6.000 Euro. Darin ist zwar das tägliche Essen enthalten, aber die Schuluniform und alle Bücher müssen gesondert angeschafft werden. Welche allgemeinen Entwicklungen in der Türkei nehmen Sie im Mikrokosmos Ihrer Schule besonders deutlich wahr? Im Augenblick gibt es in der Türkei sehr viel Arbeitslosigkeit. Selbst wenn die Schüler später auf die Universität gehen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie auch einen Arbeitsplatz bekommen werden. Dieser Umstand sorgt dafür, dass viele Eltern sich große Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen. Sie reagieren, indem sie mit Argusaugen den Ausbildungsweg ihrer Kinder verfolgen und sehr viel Wert auf gute Noten legen. Das spielt bereits in der Grundschule eine Rolle, weil unsere Schüler am Ende jedes Halbjahrs Prüfungen ablegen, deren Ergebnisse für ihre weitere Schulausbildung wichtig sind: Je besser die Noten, desto besser die weiterführende Schule, die sie besuchen können. Eine bessere weiterführende Schule bedeutet eine bessere Universität und damit einen besseren Job. Dieser Leistungsdruck wirkt sich bei vielen Kindern negativ auf die Motivation aus, und das stört häufig die gute Atmosphäre in der Klasse. Die Aufgabe von uns Lehrern in solchen Fällen ist es, die Kinder wieder aufzubauen und ihnen eine positive Sicht auf die eigene Zukunft zu vermitteln. Denn das beeinflusst sehr stark ihr Verhalten. Sie sind Englischlehrerin. Wie bewerten Sie das Fremdsprachenniveau der türkischen Schüler? Dass ihre Kinder sich Fremdsprachen aneignen, ist für die meisten Eltern hier sehr wichtig. In den staatlichen Grundschulen beginnt der Englischunterricht in der 4. oder 5. Klasse mit jeweils vier Stunden pro Woche. Bei uns sind es am Anfang zehn, später sogar zwölf Stunden. Man muss allerdings bedenken, dass sich das Türkische sehr stark von den zentraleuropäischen Sprachen unterscheidet und außerdem die gewöhnlichen Unterrichtsmethoden hierzulande nicht besonders effektiv sind. Vier bis fünf Stunden sind unter diesen Umständen einfach nicht genug, und dementsprechend ist das Englisch vieler Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der staatlichen Schulen immer noch mangelhaft. So war es zumindest bisher. Das Interview führte Selçuk Caydı
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Back to Bosporus Von Semiran Kaya
Semiran Kaya wurde 1966 in Mazgirt in der Türkei geboren. Sie studierte Politik und Islamwissenschaften in Bonn. Danach arbeitete sie als Journalistin in Köln. Seit 2007 lebt sie in Istanbul. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Türkei, Migration und Islam.
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Tradition und Moderne, Heiliges und Weltliches, Politisches und Individuelles: In der 15-Millionen-Metropole Istanbul ist alles eng miteinander verflochten. „Am Anfang habe ich schon schlucken müssen“, lacht Deniz Ova, als sie das Angebot bekam, in der Stadt zu arbeiten. Mit ihren rot gefärbten Haaren und der hellen Haut sieht sie nicht so aus, wie man sich eine typische Türkin vorstellt. Lediglich ihr Name verweist auf ihren familiären Hintergrund. Wie viele andere Deutsche türkischer oder kurdischer Abstammung, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, kannte auch Ova die Türkei nur aus dem Urlaub und wusste nicht, ob sie sich in der restriktiveren Gesellschaft zurechtfinden würde. In Deutschland fühlte sie sich zwar nicht missachtet, doch sie hatte auch keine Lust mehr auf die ewig gleiche Einstellung gegenüber Migranten. Selbst in der deutschen Kulturszene, in der sie tätig war, laufen die Diskussionen immer nach demselben Muster ab: „Wie kann man die Türken integrieren?“, wird gefragt und nicht wahrgenommen, dass manche überhaupt nicht mehr integriert werden müssen, manche es vielleicht auch nicht wollen, resigniert haben oder mit dem Zustand zufrieden sind. Den Migranten, beklagt Ova, spricht man jegliche Kompetenz ab, an Integrations- und Migrationsprojekten im Kulturbereich aktiv mitzuwirken. Ende 2007 wurde die 29-Jährige von der Istanbuler Kunst- und Kulturstiftung „ISKV“ von Stuttgart abgeworben. Die ISKV ist eine der drei Top-Adressen, wenn es um Kunst und Kultur in der Türkei geht. Die Internationalität, strahlt die heutige Kulturfestivalmanagerin, hat sie gereizt. „Ich hatte genug davon, in dem Land, wo ich geboren bin, ständig ein Ausländer zu sein“, erzählt der Außenhandelskaufmann Özel Aydin. Ein Grund, weshalb er vor drei Jahren Hamburg gegen Istanbul eintauschte. „Die Umstellung war schon schwierig, vor allem sprachlich“, räumt der heutige Sales-Manager einer Schweizer Backwarenfirma ein. „Hier falle ich nicht wegen meinen schwarzen Haaren oder der dunklen Haut auf. Hier gehe ich als Einheimischer durch und meinen Hamburger Akzent finden alle charmant“, grinst der 36-Jährige. Ova und Aydin sind Teil einer Bewegung, die türkisch- und kurdischstämmige
Akademiker in Deutschland erfasst hat: Sie verlassen Deutschland und wandern umgekehrt in das Land ihrer Eltern aus. Für viele aus der Elterngeneration eine völlig unverständliche Entwicklung. Ganz gleich, wo man in der Türkei oder in Istanbul ist: Deutschtürken trifft man mittlerweile in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen an. Von der Wirtschaft, Politik, Kunst und Kultur bis hin zum Fußball. Überall dort, wo die deutsche Sprache benutzt und auf Qualität gesetzt wird. Es sind Manager, Akademiker, Unternehmer, Selbstständige oder sonstige kluge Köpfe, die Deutschland zunehmend den Rücken kehren. Entweder, weil sie sich dort unerwünscht fühlen oder weil ihre Fähigkeiten woanders umworben werden. Denn in Deutschland werden sie nicht nur nach ihren persönlichen Leistungen beurteilt, sondern vor allem nach kulturellen und religiösen Zuschreibungen. Aus ihnen wird einfach eine homogene Gruppe gemacht. So wie es seit dem 11. September 2001 in Deutschland keine Migranten mehr gibt, weil sie ja jetzt alle Muslime sind. Wie viele der im Augenblick rund 2,7 Millionen Menschen in der türkischen oder kurdischen Community aus Deutschland mittlerweile in die Türkei emigriert sind, weiß niemand so genau. „Es gibt rund vier Millionen Menschen, die schon einmal in Deutschland gelebt haben“, zitiert die Deutsche Botschaft in Ankara die türkische Regierung. Der Migrationsforscher Ayhan Kaya von der Bilgi Universität in Istanbul schätzt die Zahl der Migranten auf 4.000 bis 5.000 jährlich. Andere Schätzungen liegen wesentlich höher. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, weil die letzte Erhebung in der Türkei aus dem Jahre 1975 stammt und niemand weiß, wie viele Doppelstaatler sich darunter befinden, eines ist sicher: Die Tendenz ist steigend. Studien wie die des Zentrums für Türkeistudien im
Wandert die „Intelligenzija“ der Deutschtürken in die Türkei aus? Jahr 2003 und die der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2004 belegen, dass schon damals über 28 Prozent der jüngeren Deutschtürken (unter 30 Jahren) in die Türkei gehen wollten. Als Gründe gaben sie an: um sich beruflich zu verbessern oder aber weil ihnen in Deutschland das „Heimatgefühl“ fehle. Andere, aktuellere Untersuchungen wie das Krefelder future.org kommen gar auf 38 Prozent auswanderungswillige Akademiker türkischer und kurdischer Herkunft. Dass immer mehr Türken oder Kurden in der Türkei aus Deutschland stammen, weiß auch der Migrationsforscher Kaya. Von tausend nach ihren „RückkehrerabKulturaustausch 1v /08
Foto: Yavuz Arslan/ das Fotoarchiv
Die Deutschtürken erobern Istanbul
Gesellschaft
sichten“ gefragten Deutschtürken würde jeder Dritte, hier so toll und menschlich. Von wegen, die Nachbarn wenn er könnte, in die Türkei gehen, lautet seine Bilanz. grüßen ja nicht mal im Hausflur. Aber der Verkehr hier Noch lässt sich darüber streiten, ob es sich um eine Art ist klasse: Ich kann fahren, wie ich will, zwischendurch „Abwanderung der Intelligenzija“ handelt. Aus den Frau- rasen und mitten auf der Spur anhalten und die hilflose en und Männern der zweiten Generation aber sogenannte Frau spielen.“ Die deutschtürkischen Transmigranten erfinden in der „Rückkehrer“ zu machen, ist nicht nur eine verwirrende, sondern auch fälschliche Bezeichnung. Denn ein Kind, Türkei das Rad nicht neu. Vielmehr bringen sie verschiedas nie in der Türkei gelebt hat, kehrt nicht zurück. Selbst dene Ideen mit und setzen diese meist in den türkischen wenn der gedankenlose und gar verantwortungslose Um- Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Ankara erfolgreich gang mit Migranten ein Merkmal der deutschen Politik um. Doch mit Deutschkenntnissen allein kommt man in ist, stellt sich die Frage, ob man sich im Zeitalter von In- der Türkei nicht weiter. Ohne Qualifizierung und gute ternet und Billigfliegern überhaupt für ein Heimatland Türkischkenntnisse hat man weder bei den rund 3.300 entscheiden muss. Diese Entwicklung wird in der deutschen und Nur Deutschland verpasst die Chance, türkischen Forschung noch kaum das geistige Potenzial der Einwanderer zu nutzen beachtet. Für Kaya steht fest, dass man bei dieser Bewegung nicht von Auswanderern sprechen könne. Für diese Menschen deutschen Firmen in der Türkei noch auf dem türkischen gibt es einen neuen Begriff: Transmigranten. Denn ein Markt eine Chance. Schließlich sind 60 Prozent der 70 Migrant, ein Ein- oder Auswanderer, so Kaya, verlässt ein Millionen Einwohner jünger als 30 Jahre. Selbst UnterLand und bricht seine Verbindungen dazu weitgehend ab, nehmen wie die Lufthansa, deren Personal im Kundenum in einem anderen Land heimisch zu werden. Diese dienstcenter in Istanbul zu 98 Prozent aus Deutschtürken Menschen aber sind anders: Sie behalten ihre Verbindung besteht, legen Wert auf die deutsche Arbeitsweise. „Was zu Deutschland und bauen sich ein weiteres Leben in der uns oder mich hier ausmacht“, so der Hamburger Jung Türkei auf. Özel Aydin, „ist der Auslandsaufenthalt in Deutschland Eine Verbindung zu Deutschland, die Deutsche tür- und die andere Art zu arbeiten: mehr Leistung zu erbrinkischer oder kurdischer Abstammung in Istanbul pflegen, gen, schneller, effektiver und verantwortungsvoller als ist ein regelmäßiges Treffen, das – obwohl es gar nicht so Einheimische die Sache anzugehen. Die deutsche Schule heißen dürfte – „Rückkehrer-Stammtisch“ genannt wird. und Genauigkeit halt.“ Doch auch der Praxisbezug der Einmal im Monat kommen hier alle zusammen, die ir- Ausbildung, welche die Deutschtürken und -kurden in gendeinen Bezug zu Deutschland haben, um sich auszu- ihrer ersten Heimat absolviert haben, stellt sich nun als tauschen oder einfach mal wieder unter Gleichgesinnten Vorteil heraus, denn die Türkei kennt kein duales Bilzu sein. Denn die Mentalitätsunterschiede sind nicht von dungssystem, und auch an den Universitäten kann es der Hand zu weisen. Cigdem Akkaya, die den Stammtisch vorkommen, dass ein Ingenieur die Maschinen, über die mit ihrer Geschäftspartnerin initiiert hat, weiß, wie wich- er eventuell sogar promoviert hat, noch nie gesehen oder tig solch eine Anlaufstelle ist. Sie selbst, die ehemalige angewendet hat. Was die Deutschtürken und -kurden aber Wissenschaftlerin, emigrierte vor mehr als sieben Jahren vor allem auszeichnet, ist die sogenannte Feedbackkultur, mit ihrer Familie nach Istanbul. Die Türkei sei ihre Hei- die sie mitbringen: Kritik annehmen und konstruktiv ummat, sagt sie. Und wie Akkaya finden manche Deutschtür- setzen. Eine Eigenschaft, die sie von lokalen Fachkräften ken hier ihren Seelenfrieden. Andere wiederum kämpfen positiv abhebt. mit den Mentalitätsunterschieden. Schließlich sind etliSo werden aus den einst belächelten „Almancis“, den che von ihnen in deutschen Dörfern groß geworden und „verdeutschten Türken“, wie sie in der Türkei genannt hatten nie oder nur selten Kontakt mit anderen Türken werden, Vermittler der deutschen Kultur. Und weil sie oder Kurden. Hier aber sind sie plötzlich umgeben von sich in beiden Kulturen auskennen und bewegen können, Türken und ihrer Kultur. Für Ayfer Tunc eine harte Er- hinterlassen sie im türkischen Alltagsleben überall ihre fahrung. Die blonde Marketingfachfrau aus Lübeck, die Spuren. Lediglich Deutschland, das meisterhaft ausbilkürzlich erst bei einem österreichischen Unternehmen den kann, verpasst wieder einmal die Chance, das geisangefangen hat und sich noch mitten im Kulturschock tige Potenzial seiner Neubürger zu nutzen, das es selbst befindet, erzählt mal lachend, mal wütend: „Ich kenne geschaffen hat. die deutsche Literatur, Kultur, Gott und die Welt. Aber hier bei den Türken bin ich entsetzt über den Egoismus und die harte Ellenbogengesellschaft. Ich dachte, die sind Kulturaustausch 1v /08
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1. Christliche Araber, Mardin, Juni 2002 2. Pomaken (Volk, das vor allem in Bulgarien, Serbien, Mazedonien und Griechenland lebt), Havsa, Oktober 2001
Magazin In Europa
Forum
Hochschule
Programme
Bücher
Da war doch was In Europa rückt die Kolonialgeschichte zunehmend ins Bewusstsein
Was Deutschland prägt Martin Kobler und KlausDieter Lehmann über kulturelles Selbstverständnis
Der starke Staat als Sieger Ein Gespräch mit der russischen Historikerin Irina Scherbakowa
Miss Daisy und ihr Chauffeur Ein Autohersteller fährt Senioren in die Oper
Vorherrschaft Asiens Kishore Mahbubani erklärt das Ende der westlichen Dominanz
Politik der Träume Über die Kulturagenda der Europäischen Union
Die Verantwortung, einzugreifen Gunter Pleuger plädiert für eine Reform der Vereinten Nationen
Lost in Germany Warum chinesische Studenten in Deutschland so oft schreitern
Kalkulierte Kunst Ein Gespräch über die Kulturförderung durch Unternehmen
Heimatdesign Weltweit tragen alle die gleiche Mode. Gleichzeitig wollen immer mehr Menschen mit ihrer Kleidung zeigen, woher sie kommen
Von Gudrun M. König Mode sei heute , sagt Ann-Sofie Johannsson, Chefdesignerin bei H & M, in einer deutschen Frauenzeitschrift im August 2008, nahezu globalisiert. Der schwedische Bekleidungsmulti selbst betreibt in 29 Ländern über 1.500 Geschäfte; Deutschland ist mit über 300 Läden der größte nationale Markt. Bis auf kleine Ausnahmen würden überall die gleichen Kleidungsstücke gekauft; nationale Unterschiede könnten, so Johannsson, kaum festgestellt werden. Aus der Perspektive der großen Unternehmen ist Mode nahezu entnationalisiert, Trend und Geschmack orientieren sich global. Es fällt also fast schwer, heute noch nationale Modedifferenzen auf dem globalisierten Massenmarkt festzustellen. Dennoch kennen Modezeitschriften wie die „Vogue“ länderspezifische Differenzen; die deutschen, italienischen und französischen Ausgaben sind inhaltlich nicht deckungsgleich. So gibt es seit den 1990er-Jahren die Tendenz, nationale Bezüge ironisch und spielerisch zu montieren und zu zitieren. Die neuen Nationalbezüge in der Modebranche verdanken sich einer Kollage der Looks, der Biografien und der Zufälle. So arbeitet etwa der britische Designer John Galliano für das französische Traditionshaus „Dior“, und das italienische Modelabel „Costume National“ trägt einen französischen Namen. Mit immer wieder aktualisierten Retro-, Szene- und Ethnozitaten wird stilistisch auf
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historische Phasen und exotische Regionen zugegriffen, deren ehemalige nationale Bezüge nun neu montiert und aktualisiert werden. In der Mode selbst findet sich ein internes Verweissystem, das das kulturelle Repertoire globaler Formen, Farben und Silhouetten mischt. Bedeutungen sind aber nicht allein an den Kleidungsstücken ablesbar, sondern sie finden sich auch im Kontext des Tragens und Verhaltens. Der Designer Galliano zum Beispiel gehört zu einer jungen Generation von Modemachern, die Bezüge zur Nationalgeschichte in ihre Kreationen aufnehmen und so überraschende, irritierende und provokante Kombinationen herstellen. Galliano nutzt in seinen Kollektionen stilistisch historische Vorbilder; außerdem bezieht er sich auch auf aktuelle Filmszenen, Gemälde der großen Meister, ethnische Folklore und die Punkmode von gestern. Und manchmal tut er dies alles gleichzeitig. In seiner aktuellen Herrenkollektion beispielsweise wandeln auf dem Laufsteg Krieger der Großstadt in japanischen Ninjamänteln und Samuraihelmen in der Zivilisationsödnis eines Mel-Gibson-Films. Den Glanz von Paris als Modehauptstadt hat Galliano in seiner Show 2005 neu inszeniert: Die Wiederentdeckung der hochgezogenen Taille und der transparenten Kleider beziehen sich auf die Empiremode um 1800. Mit seiner Auslegung feudaler Luxusroben, der nahtlos taillierten und glockigen Mäntel im Stil der
„Gewalt wird zur Routine“ Der israelische Autor Yiftach Ashkenazy im Gespräch
Redingotes und des revolutionären Dantonkragens, treffen höfische und revolutionäre Kleidungskultur aufeinander, sodass sein eigenes Defilee im Kostüm Napoleons einen Schlusspunkt unter den Aufruhr historischer Referenzen setzt. Seine opulenten Schauen, untermalt mit Musik, gelenkt durch Lichteffekte und strukturiert durch temporäre Architektur, verwandeln den Laufsteg mit größter Sorgfalt für Details in eine Zone erzählerischer Aufführungskunst, die spielerisch die Modeinszenierung selbst inszeniert. Gallianos Mode zeigt, wie durch Nationalzitate und historische Bezüge Neuschöpfungen entstehen können. In kritischer Perspektive ist ihr Kern die Entkoppelung von Nationalismen und Nation durch ironische Übersteigerungen, spielerische Überkreuzungen und exaltierte Überformungen. Die Kölner Modedesignerin Eva Gronbach verdankt ihre Inspiration textiler Nationalikonografie explizit dem britisch-französischen Vorbild Galliano. Ihre Kollektion „Meine neue deutsche Polizeiuniform“ (Herbst/ Winter 2004/05) griff die deutschen Nationalfarben und einen leicht variierten Bundesadler als Druckmotiv auf. Die modische Inszenierung ihres nationalen Bekenntnisses verzichtet bei aller positiven Identifikation nicht auf Zuspitzungen, Übertreibungen und Zweideutigkeiten. Das wird zum Beispiel erkennbar, wenn der Hund ein Halsband in Nationalfarben trägt. Die Umhängetasche mit dem Aufdruck „Willkommen in Deutschland“ wiederum bezieht sich auf die Diskussionen um Deutschland als Einwanderungsland. Gronbachs Präsentationen wirken weder naivaffirmativ, noch symbolisch entleert, sondern plädieren für eine positive, aber auch kritische Beziehung zur eigenen Nation. In ihren Kollektionen gerät der Einsatz von Nationalfarben und Emblemen zum Mar-
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Fotos (im Uhrzeigersinn): Philippe Wojazer / Reuters, Jacky Naegeler / Reuters, Boris Breuer (für Gronbach), www.hel-looks.com / Liisa Jokinen&Sampo Karjalainen.
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Napoleon-Mütze und Empiremode von Galliano (oben links), „Meine neue deutsche Polizeiuniform“ von Eva Gronbach (oben rechts) und die „Hel looks“ (untere Reihe) kenzeichen. Die Visualisierung des „Made in Germany“ reiht sich somit einerseits ein in die popkulturelle Aufbereitung des Nationalgefühls wie sie allenthalben in einem zusammenwachsenden Europa festzustellen ist und von Fernsehshows im Stile von „Unsere Besten“ seit mehreren Jahren europaweit untermalt wird. Andererseits wirken Gronbachs Modeinszenierungen durchaus provokant. Ihre Linie „German Jeans“ nimmt nicht einfach den „used look“ auf, sondern die Kombination von fleckig-verdreckter Kleidung mit dem nationalen Label ironisiert sowohl Stereotypen wie die „deutsche Sauberkeit“ als auch eine Modeindustrie, die jede Form der Antimode konfektioniert. Nationale Markierungen müssen also in ihrer Mehrdeutigkeit gelesen
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werden. Das gilt nicht nur aufgrund der prekären und spannungsreichen deutschen Nationalgeschichte. Bis heute wirken Vorstellungen vom eleganten Paris und vom coolen London nach, den beiden europäischen Hauptstädten der Mode und der Antimode, die seit den 1960erJahren mit Mailand als Modemekka konkurrieren, wo sich die wichtigsten Designer der „Haute Couture“ konzentrieren. In den letzten Jahren versuchte Berlin an seine Tradition als Konfektionsstadt anzuknüpfen und mit der „Fashion Week“ sein Image als kreative Modekapitale zu beleben. Geadelt wurde die letztjährige Berliner Modewoche durch die Vorführungen der britischen Modeschöpferin Vivienne Westwood. Ihre Hauptlinien re-
serviert sie zwar für Paris und Mailand, ihre Nebenlinie „Anglomania“ jedoch wurde auf der „Fashion Week“ in Berlin 2007 erstmals präsentiert. Die Internationalisierung einzelner Szenen und Subkulturen, inspiriert durch Musik, Film, Fernsehen und Internet, bringt Homogenisierungen hervor, ohne dabei Differenzen zu verhindern. Die Globalisierung auf der einen Seite wird von einer starken Lokalisierung der Straßenmode auf der anderen Seite begleitet. Die großstädtischen Streetstyle-Blogs sind nach Metropolen geordnet im Netz jederzeit und überall abrufbar. Als Einzelaufnahme können die Straßenstile kaum München, Helsinki oder London zugeordnet werden, doch als Tableau montiert, meint man
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eine lokale Spezifik zu erkennen. Die jeweilige fotografische Handschrift, die Auswahl der Laienmodels, spezifische Accessoires ortsansässiger Designer, Mischungen aus Secondhand, Selbstgemachtem und Seriellem formen den Gesamteindruck mit, sodass sich ein Look der Städte als eine visuelle Form der Typisierung abzusetzen scheint. „Hel looks“, eine Ausstellung des Berliner Finnland-Instituts im Mai 2008 mit Fotografien aus Helsinki, präsentierte den international bekannten Streetstyle-Blog, der die textilen Straßenstile der finnischen Hauptstadt dokumentiert. Der Zufall der Ortsanwesenheit und des Fotografiertwerdens sowie die neutralen Hinter-
und Effekt der Transformation von Bild und Abbild. Diese visualisierten gesellschaftskritischen Bekenntnisse, die Kennzeichen von Chalayans Konzeptmode sind, thematisieren das System staatlicher Bildüberwachung zwischen Sicherheitswahn und Überwachungsparanoia, oder eben die Modernisierung des türkischen Staates. Die Motivreihe, die Drucke aus vorangegangenen Kollektionen aufnimmt, ist daher ebenso national wie international kodiert und macht Avantgardemode marktfähig. Parallel zur globalen uniformen Durchschnittsware geht der Trend zu individuellen lokalen Kleinmarken und Kleinserien. Der britische TrendforDer globale Modemarkt kann auf die scher Charles Leadbeater, bekannt durch Orte der Mode nicht verzichten seine Thesen zur kregründe der Aufnahmen widersprechen jedoch ativen Gesellschaft, plädiert für Kreativität als einem ortstypischen Stil der Straßenmode. Korrektur des Marktversagens: Künftig gebe Unsortiert sind die Aufnahmen ortlos. Glo- es mehr Märkte für Produkte mit einer kleibal sind sie im Sinne transnationaler Alltags- nen, aber loyalen Kundschaft und nur noch mode und lokal in der Rezeption individuell einige wenige Produkte, die massenhaft Abgruppierter Kleidungsrepertoires. Mit der Lo- satz fänden. Im Spannungsfeld von Konsum, Kreativität kalisierung der Stile wird eine großstädtische Eigenart hergestellt, ohne dass lokale mit glo- und Konsumkritik findet sich das Phänomen balen Stilen verschmelzen. Die virtuelle welt- der „Mikromode“. Eine Abschlussarbeit der weite Zurschaustellung urbaner Straßenstile TU Dortmund geht diesem neuesten Phäsuggeriert vor allem eines: lokale Individua- nomen nach. Mikromode, so die Autorin Nadine Stiepermann, ist nicht-industrielle, lität in einer globalen Modewelt. Lokale Traditionen werden daher weniger handwerkliche Mode, die von den Akteuren aufgegriffen als überhaupt erst neu geschaffen. entworfen, hergestellt und auch verkauft wird. Ein Trendladen wie „Opening Ceremony“ in In Deutschland sind Berlin und das RuhrgeNew York verknüpft die ethnografische Be- biet als zwei großstädtische Regionen zu nenobachtung einer modischen Landesszene mit nen, in denen das Kreativmilieu als Produzent geschäftlichem Interesse: Nach wochenlangen und Konsument der Mikromode besonders Reisen durch jeweils ein Land werden die Kre- hervortritt. Mikromode bedient die Attitüde ationen der entdeckten lokalen Designer aus der Individualisierung ihrer Akteure, Produihrem Heimatland in die USA importiert und zenten und Konsumenten und erlaubt gleichzeitig eine gemeinschaftliche Orientierung dort ein Jahr lang zum Verkauf angeboten. Der in Großbritannien lebende zypriotische an übergreifenden sozialen Milieus. Nicht Künstler und Modemacher Hussein Chalayan zufällig trägt eine ihrer Handelsplattformen stellt vier Motive auf „e-T-Shirts“ vor, die ex- den Namen „Heimatdesign“. Mikromode umfasst unabhängige Modelaklusiv über das Internet vertrieben werden. Das Porträt des türkischen Staatsgründers bels und besitzt eine eigenständige Ästhetik, Atatürk steht in einer Reihe mit dem Ab- da sie zur Herstellung sichtbar die Methoden bild einer Fensterjalousie als Indiz für die der Handarbeit und Kleinserienfertigung permanente staatliche Überwachung oder nutzt. Durch den Gebrauch von Recyclingmaeinem schemenhaften Pferdekopf als Schat- terial rückt sie, im Gegensatz zur Massenprotenprodukt eines spielerischen Handzeichens duktion, mit ökologisch korrektem Material
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in die Nähe der „green fashion“. Mikromode bedient also einen Gegentrend: die erhöhte Wertschätzung der individualisierten Kleinserien und der Einzelstücke, die nun nicht mehr allein der „Haute Couture“ zuzurechnen sind, sondern dem Experimentierfeld der Alternativkultur. Zahlreiche Untersuchungen haben bestätigt, dass die globale Konsumkultur zwar international agiert, aber zugleich in lokale Kontexte eingebettet ist. Namen, Werbeannoncen und auch Moden werden lokal modifiziert. Konsumkultur verortet globale Waren in lokalen Konsumstrategien und hält lokale Formen global verfügbar. Ein globaler Modemarkt kann aber auf die Orte der Mode nicht verzichten. Nationale Effekte der Mode sind vielschichtig. So obsolet die Verbindung von globaler Mode und nationalen kulturellen Bezügen scheint, so viele Gegenbeispiele sind offensichtlich. Charakteristisch ist die aktuelle Gleichzeitigkeit von parallelen Stilen und wilden Mischungen von Stilzitaten, von großer und kleiner Mode, von Massengeschmack und Idealen der Individualisierung in der globalen Konsumkultur. Modeschöpfer wie Galliano perfektionieren diese Bezüge auf dem Laufsteg: Er macht Mode innerhalb ihres Referenzsystems zum sinnbetörenden, überbordenden Spektakel, das sich der Tradition bedient für die Trends von morgen. Gudrun M. König ist seit 2007 Professorin am Institut für Kunst und materielle Kultur an der Technischen Universität Dortmund.
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„Jede Generation hat ihre Toten“ 1968 protestierten auch in Mexiko die Studenten. Wie sich die Ereignisse auf die Gegenwart auswirken, erklärt die Soziologin Elisa Ramírez
Elisa Ramírez wurde 1947 in MexikoStadt geboren. 1968 studierte sie dort Soziologie und gehörte zum Comité de Lucha („Kampfkomitee“) ihrer Universität. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin in Mexiko-Stadt.
Foto: Anne Huffschmid
Frau Ramírez, was passierte 1968 in Mexiko-Stadt? An den Universitäten gab es viele Linke, die sich Gedanken über das Land machten und darüber, was anderswo in der Welt passierte. Das war die Grundlage unserer Bewegung. Wie jedes Jahr demonstrierten wir auch im Juli 1968 zum Jahrestag der kubanischen Revolution. Wir wurden von der Polizei zusammengeschlagen, viele von uns verhaftet. Die Stimmung brodelte, es gab Repressionen gegen die streikenden Studenten, als Reaktion darauf Proteste und daraufhin wieder Repressionen. Die Regierung hätte aber leicht auf unsere Forderungen reagieren können. Was haben Sie gefordert? Es ging uns nicht um eine Revolution. Wir hatten konkrete und legitime Forderungen: die Freilassung der politischen Häftlinge, und außerdem sollten uns die offiziellen Stellen nicht zu Kriminellen machen. Wir waren demonstrierende Studenten. Dem Staat ging es allerdings ums Prinzip. Es war unmöglich, dass der Präsident von linken Jugendlichen beschämt wurde. Außerdem bekam die Obrigkeit Angst, weil die Olympischen Spiele kurz bevorstanden. Man fürchtete, dass wir die Party zerstören würden.
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Wie kam es zur Eskalation? Über Wochen protestierten zehntausende Studenten friedlich. Am 2. Oktober 1968, zehn Tage vor der Olympiade, demonstrierten 6.000 Studenten auf dem Platz der drei Kulturen im Stadtteil Tlaltelolco. Über 10.000 Soldaten riegelten den Platz ab und schossen zwei Stunden lang in die Menge. Das war ein kriegerischer Akt gegen wehrlose Demonstranten. In der Nacht wurden alle umliegenden Häuser durchkämmt, auf der Suche nach den Studentenführern. 2.000 Studenten wurden verhaftet, viele kamen für Jahre ins Gefängnis. Wie viele Menschen starben, ist bis heute unklar. Unabhängige Historiker sprechen von 800 bis 1.000 Toten. Die meisten Opfer waren junge Leute. War „68“ in Mexiko eine gesamtgesellschaftliche Bewegung? Die treibende Kraft waren Studenten aus Mexiko-Stadt. Aber wir hatten auch die Unterstützung der einfachen Leute vom Lande. War die Bewegung international geprägt? Natürlich. Auch bei uns gab es die Kommunistische Partei. Wir lasen dieselben Sachen wie die Studenten im Westen und hörten die Beatles und Bob Dylan. Wir wurden von Lateinamerika beeinflusst, aber auch durch die USA. Die USA waren ziemlich hysterisch hinsichtlich des linken Lateinamerika; sie hatten Angst, den Kommunismus auf ihrem Kontinent zu haben. Wer waren Ihre Ikonen? Auch wir hatten Bilder von Che Guevara und Ho Chi Minh. Marcuse war uns ein Begriff, wir wussten von der europäischen Bewegung. Aber wir hatten auch unsere eigenen Vorbilder wie Emiliano Zapata, einer der Führer der mexikanischen Revolution. Aber die meisten Bilder, die wir bei Demonstrationen
zeigten, waren die der einfachen politischen Gefangenen. War 1968 das erste globale Jahr? Wir waren mit der Welt verbunden und sympathisierten mit den Europäern, somit war es global. Es gab globale Einflüsse wie die Musik. Aber wir hatten unsere eigenen Probleme, die zur Mobilisierung führten. Im Staat und in unseren Familien waren wir eingeengt, das war ein Grund für unsere Bewegung. War es ein globaler Zufall, dass das alles 1968 passiert ist? Auf keinen Fall. Wir wussten, was in der Welt passierte. Es gab eine gegenseitige Befruchtung. Allerdings ist es auch nicht so, dass wir den Franzosen oder Deutschen alles verdanken, wir haben selbst gekämpft. Welche Bedeutung hatten die Ereignisse für das Leben in Mexiko? Einerseits war es wie überall zunächst eine Auflehnung gegen die ältere Generation. Zum ersten Mal sagten junge Leute deutlich „Nein“. Wir wollten Beachtung im politischen Leben. Es war der erste wirklich politische Ansatz der jungen Generation. Die Bedeutung kam auch durch die große Zahl von Opfern, weshalb 1968 nicht vergessen werden darf. Wie hat „68“ das Leben verändert? Es wurde zum Erbe meiner Generation. Wir erkämpften das Recht, mit 18 Jahren zu wählen. Unser Protest gelangte so ins System; die Obrigkeit begann, mit uns zu verhandeln. Besonders groß waren die Auswirkungen für die Frauen, wir erfuhren mehr Gleichberechtigung. Insgesamt wurde der Umgang miteinander weniger autoritär, die alten Strukturen wurden ein wenig aufgeweicht. War es ein Anfangspunkt für Demokratisierung? Nur bis zu einem gewissen Grad. Die Aktivisten von damals haben die linken Parteien gegründet, sie engagieren sich heute in der Bewegung der indigenen Bevölkerung und kämpfen täglich für mehr Rechte. Das alles hat zu einem Funken Demokratie geführt, aber wir sind noch weit von wirklicher Demokratie entfernt.
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Welche Relevanz hat das Jahr heute noch? In Mexiko weiß jeder, was damals passiert ist und dass die Verantwortlichen bis heute nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Viele meinen, man sollte es dabei belassen. Aber viele denken auch: So lange es keine Gerechtigkeit gibt, kann sich das politische Leben in Mexiko nicht normalisieren. Wie präsent sind die Ereignisse bei der jüngeren Generation? Unsere Kinder kritisieren teilweise die starke Fixierung auf dieses Jahr. Die jungen Leute haben ihre eigenen Massaker. 1997 wurden zum Beispiel 45 Anhänger einer pazifistischen Gruppe von Paramilitärs beim Gebet in Acteal getötet. In Mexiko hat jede Generation ihre Toten.
In Deutschland sind die 68er in den Institutionen angekommen. Wie ist das in Mexiko? Viele Leute von damals sitzen heute im Senat und machen die Gesetze. Viele behaupten, dass sie mit uns sympathisierten, Teil der Bewegung oder gar Anführer der Bewegung waren. Im Moment ist es sehr schick, 68er zu sein. Deshalb haben wir, die direkt Beteiligten, die Nase voll von diesem politischen Profit der Erinnerung. Allerdings gibt es auch viele Leute, die ihr ganzes Leben ausschließlich auf die Aufarbeitung richten. Was halten Sie davon? Das ist schon verrückt. Das Leben ist weitergegangen und es geht weiter. Es ist richtig, dass die Leute auf die Erinnerung bestehen. Aber man sollte das nicht als einzigen Lebensinhalt betrachten. Ich bin nicht mehr so jung und mein Leben ist mehr als nur 1968.
Wie wird die Erinnerung wachgehalten? Seit 2007 gibt es das Museum „Memorial del 68“ in Mexiko-Stadt. Dort werden die Erinnerungen zusammengetragen, um die Wahrheit zu erzählen. Man kann Interviews mit ehemaligen Aktivisten nachlesen und sich 300 Stunden Filmmaterial anschauen. Das Museum ist ein Teil der Erinnerung. Aber es ist keine Pilgerstätte oder Ikone der 68er geworden. Es ist nur ein Museum. Welchen Einfluss hat die 68er-Generation heute? Ich hoffe, wir sind weniger autoritär und offener, auch den jungen Menschen gegenüber, was unsere Eltern nicht waren. Das Miteinander – das sollte eine Lehre für uns sein – darf nicht mehr autoritär sein. Das ist zwar ein täglicher Kompromiss, aber er lohnt sich. Das Interview führte Falk Hartig
LE MONDE DIPLOMATIQUE – LA VISION GLOBALE *
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In Europa
Da war doch was Die europäischen Staaten beginnen, sich ihrer kolonialen Vergangenheit zu stellen
Foto: Tom S. H. Lee
Von Susanne Grindel und Winfried Speitkamp überhaupt. Der Konflikt erschütterte das französische Selbstverständnis fundamental, zumal dabei Vergleiche zwischen Sklavenhandel und kolonialer Gewalt einerseits und dem Holocaust andererseits gezogen wurden. Das Gesetz wurde zwar revidiert, die Diskussion über die koloniale Vergangenheit hielt aber an. Die Gründung zweier Museen mit Übersee-Bezug 2006 und 2007 schuf keine Abhilfe. Ein zentrales Die koloniale Vergangenheit wirkt zurück: das Musée royal de Kolonialmuseum fehlt bis heute, und Frankreich ist von einer konl‘Afrique centrale in Tervuren, Belgien sensfähigen Deutung der Kolonialvergangenheit weiter entfernt denn je. Bis in die 1990er-Jahre hinein fand in Europa In Großbritannien wurde der Verlust des keine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte statt. Auch Empire erstaunlich gleichmütig hingenomwurden Forderungen nach Entschuldigung men; lange schien die Erinnerung an die und Entschädigung für koloniale Gewalt und Kolonialzeit marginalisiert. Eine AufarbeiSklavenhandel, wie sie ein von der „Organi- tung begann erst nach der Jahrtausendwensation für Afrikanische Einheit“ eingesetztes de. Einen provozierenden Beitrag leisteten Komitee vorbereitete, kaum ernsthaft erör- 2005 zwei Veröffentlichungen über das britert. Heute rückt zunehmend ins öffentliche tische Vorgehen gegen den Mau-Mau-AufBewusstsein, dass die koloniale Vergangenheit stand in Kenia. Caroline Elkins und David noch nicht vergangen ist, sondern weiterhin Anderson verglichen die britische Politik der 1950er-Jahre mit der Lagerpolitik Hitlers auf Europa zurückwirkt. In Frankreich blickte man bis zur Jahrtau- und Stalins; parallel dazu wurden in Kenia sendwende mit kaum gebrochenem Stolz auf Entschädigungsforderungen laut. Anlässlich die eigene koloniale Vergangenheit. Erst 1999 des 200. Jahrestages der Abschaffung des wurde per Gesetz der Algerienkrieg erstmals Sklavenhandels 2007 wurde die Geschichte offiziell als solcher bezeichnet, 2001 die Skla- erneut debattiert. Während die anglikanische verei nicht nur ausdrücklich als Verbrechen Kirche öffentlich Scham bekannte, wichen die gegen die Menschlichkeit eingestuft, sondern Vertreter des Staats einer klaren Stellungnahauch eine entsprechende Berücksichtigung me aus. Allerdings belegen zahlreiche Bücher im Schulunterricht oder durch einen Ge- und Ausstellungen das breite Interesse, und denktag (seit 2006: der 10. Mai) verlangt. in Liverpool öffnete das International SlaveAllerdings schrieb 2005 ein weiteres Gesetz ry Museum seine Pforten. Das Thema wird den Schulen die Würdigung der positiven weiter kontrovers diskutiert, dabei sticht die Rolle Frankreichs in Übersee vor. Das pro- Offenheit der Debatte ins Auge. In Belgien brachen in den letzten Jahren alte vozierte erbitterte Auseinandersetzungen um die Legitimität staatlicher Geschichtspolitik Wunden neu auf. Hier geht es um den Kongo. Kulturaustausch 1v /08
Bis in die jüngste Zeit wies Belgien jede Kritik strikt zurück und betonte die zivilisatorische Leistung im Kongo. Im 1910 eröffneten Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren wurde dieses Bild über ein knappes Jahrhundert hinweg fast unverändert vermittelt. 1998 stellte es der amerikanische Journalist Adam Hochschild öffentlichkeitswirksam infrage. Er attackierte das Vorgehen des belgischen Königs im Kongo als Völkermord und zog Vergleiche mit totalitärer Herrschaft und Massenmorden. In Belgien rief das wütenden Widerspruch hervor. Doch hinter die einmal ausgebrochene europäische Diskussion kann man auch in Belgien nicht zurück; jüngste Tagungsdebatten deuten an, dass ein langsamer Prozess des Umdenkens eingesetzt hat. In Deutschland löste der 100. Jahrestag der Aufstände in Südwest- und Ostafrika von 1904/05 im Wissenschaftsbereich eine größere Kontroverse aus. Im Hintergrund standen Entschädigungsforderungen der Herero in Namibia. Ein Großteil des Volkes war der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Deutschen zum Opfer gefallen. Nun ging es nicht nur um die Frage, ob man von einem Völkermord sprechen müsse, sondern auch, ob sich eine Kontinuität zwischen der deutschen Politik in Afrika und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa feststellen lasse. Beispielhaft erhellt dies die europäische Konstellation: Die verblassende Erinnerung, Generationswechsel, das wachsende Selbstbewusstsein der ehemaligen Kolonien und die Frage, ob Sklaverei und Kolonialzeit nicht einen ähnlichen Stellenwert im europäischen Gedächtnis beanspruchen müssten wie Weltkriege und Holocaust, fordern ein neues Nachdenken über belastete Geschichte. Obwohl die Debatten noch im Kontext nationaler Erinnerungskulturen geführt werden, zeichnet sich dahinter doch ab, dass der Kolonialismus zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses wird. Dieser Prozess wird jahrzehntelange Gewissheiten erschüttern und von schmerzhaften Einsichten und neuen Kontroversen begleitet sein. Dr. Susanne Grindel, geboren 1966, arbeitet am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Prof. Winfried Speitkamp, geboren 1958, lehrt am Historischen Institut der Universität Gießen.
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In Europa
Politik der Träume und Mühen Kultur ist die Essenz des europäischen Gesellschaftsmodells – über 60 Jahre Europäische Kulturpolitik
Fotos: © Pitopia/Zohrab Markarian (1), © Pitopia/Bernd Kröger (2), Barbara Straubach/artur/Bilderberg (3)
Von Olaf Schwencke Es ist ungewöhnlich, dass ein offizielles Dokument der EUKommission, die „Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung“ vom Mai 2007, mit folgendem Motto eingeleitet wird: „Kultur ist die Gesamtheit aller Träume und Mühen, die auf die volle Entfaltung des Menschen ausgerichtet sind.“ An diesem Zitat des Vordenkers einer europäischen Kulturpolitik, Denis de Rougemont (1906-1979), wird erkennbar, dass sich die EU-Kommission in der Kulturpolitik nicht allein durch Förderprogramme engagiert, sondern zunehmend daran interessiert ist, auch einen „Überbau“ zu entwickeln: Der Rückgriff auf Texte von de Rougemont belegt die Renaissance eines Europa der Kulturen aus der Zeit der der ersten Nachkriegsjahre, in die nun auch die Europäische Union einstimmt. Das geschieht mit einer beachtlichen „Kulturagenda“ im „Zeichen der Globalisierung“. Was will die Kulturagenda inner- wie außereuropäisch bewirken? Indem sie den kulturellen Reichtum und die kulturelle Vielfalt Europas zur Geltung bringt, unterstreicht sie, „dass die Kultur unverzichtbar ist“, wenn die EU ihre Ziele „Wohlstand, Solidarität und Sicherheit“ verwirklichen will. Die Ziele der Agenda sind auf drei Maßnahmen ausgerichtet: die Förderung der kulturellen Vielfalt und des interkulturellen Dialogs; die Förderung der Kultur als Katalysator für Kreativität und die Förderung der Kultur als eines wesentlichen Bestandteils der internationalen Beziehungen der Europäischen Union. Seit dem Jahr 2000 haben sich die EU-Förderprogramme zur Sicherung und Vertiefung von kultureller Vielfalt und interkulturellem Dialog bereits erfolgreich ausgewirkt. Auch im Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft kann die Kommission von großen Erfolgen Kulturaustausch 1v /08
berichten: Kein anderer Wirtschaftszweig hat sich in den letzten Jahren, auch durch Strukturmittel oder das Programm der Kulturhauptstadt, so erfolgreich entwickelt. Beachtlich ist der dritte Förderschwerpunkt. Erstmals wird systematisch aufgelistet, welche aussen kulturpolitischen Ziele die EU verfolgen will. Priorität misst sie der Verfolgung der Ziele der UNESCO-Konvention zum „Schutz und der Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ als „neuer Säule globalen Regierens und der nachhaltigen Entwicklung“ zu. Dass die EU-Kommission mit dieser Agenda Neuland betritt und sich damit auch gesellschaftspolitisch profiliert hat, wird in nahezu allen Stellungnahmen aus dem europäischen wie den nationalen Parlamenten und von Wissenschaftsseite übereinstimmend attestiert. Über ihre globale Bedeutung als Wirtschaftsmacht hinaus will die EU nun auch „als einmaliges und erfolgreiches soziales und kulturelles Projekt“ wahrgenommen werden, was sie künftig unter Beweis zu stellen hat. Die EU hat dafür bereits einen umfassenden Dialog mit Vertretern der nationalen Kulturpolitiken begonnen, der durch die offene Methode der Koordinierung weitergeführt wird. Der 50 Jahre lange Weg
von den „Römischen Verträgen“, die den Begriff „Kultur“ nicht kannten, bis zur Kulturagenda war ein äußerst steiniger, und dennoch ein kontinuierlicher. Das wird mit dem Verweis auf de Rougemont belegt. Der Schlussbericht der Enquete-Kommission für „Kultur in Deutschland“ (2007) datiert den Beginn europäischer Kulturpolitik auf die Gründung des Europarats 1949 und seine Kulturkonvention von 1954. Das Nachdenken, was europäische Kulturpolitik sein könnte – ein essenzieller Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft
und zu ihrer Modernisierung – begann weit eher. Auf dem ersten Europa-Kongress in Den Haag (1948) hatte der Kultur-Berichterstatter de Rougemont formuliert: „Wenn auch die direkten Gründe für die (angestrebte) Einheit wirtschaftlicher und politischer Natur sind, so ist doch gleichermaßen sicher, dass die Einheit Europas vor allem kultureller Natur ist, wenn man diesen Begriff in seiner umfassenden Bedeutung anwendet. Sie macht die Größe Europas aus.“ An diesem Kongress nahmen 800 prominente Delegierte aus fast allen europäischen Ländern teil. In der Schlusserklärung wird bereits auf den globalen Friedensaspekt verwiesen: „Die Schaffung eines vereinten Europas ist ein wesentlicher Beitrag zur Schaffung einer geeinten Welt.“ In seinem Weitblick unter-
streicht de Rougemont die Bedeutung der Kultur für den Einigungsprozess, indem er sich entschieden von dem seinerseits gängigen konservativen Kulturbegriff in Westeuropa abwendet: „Kultur gibt dem Leben, der Arbeit, der Freizeit und den Beziehungen zwischen den Menschen eine Bedeutung. Sie ist nicht nur Erbe, sondern eine gemeinsame Art zu leben und zu schöpfen in Übereinstimmung mit einer allgemeinen Auffassung des Menschen, seiner Würde und seiner Bestimmung.“ Der Europarat, dessen Bedeutung für eine europäische Kulturpolitik der Bericht der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland zu Recht hervorhebt, brauchte mehr als 20 Jahre, um mit dem Dokument „Zukunft und kulturelle Entwicklung“ von 1972 dort anzukommen; die EU noch viel länger. Ob die EU mit ihrer Kulturagenda wirklich in de Rougemonts Fußstapfen tritt, wird sich in der täglichen Arbeit zeigen. Die Absicht ist vorhanden und damit ein Erfolg, von dem in den vergangenen sechs Jahrzehnten manchmal kaum zu träumen war. Prof. Olaf Schwencke, geboren 1936, ist Präsident der Deutschen Vereinigung der Europäischen Kulturstiftung für kulturelle Zusammenarbeit in Europa. Er lebt in Berlin.
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Forum: kulturelles Selbstverständnis
„Kultur ist basisdemokratisch“ von Martin kobler Belange anderer interessieren. Kultur ist basisdemokommt. Wenn Menschen nicht miteinander reden, kratisch, man kann sie nicht verordnen. Für die kulsollten wir das nicht akzeptieren. Wir sollten dafür turellen Werte, die wir vermitteln, ist die Akzeptanz arbeiten, dass Toleranz und Austausch möglich sind. der Menschen entscheidend. Denn wir haben gerade in der Welt die gegenläufige Für 2009 planen wir beispielsweise den FreiwilliBewegung: Es gibt viele Abgrenzungen, man konzentgendienst im Kulturbereich, der auch als Zivildienst riert sich auf sich selbst. Unsere Grundphilosophie ist anerkannt wird. Junge Deutsche werden im kultues, Sprachlosigkeit zu überwinden. Wo das politisch rellen Bereich im Ausland eingesetzt und können dort nicht geht, muss die Kultur aktiv werden. ein Jahr lang arbeiten. Sie können auch reisen, das Wir wollen, dass wir die Freiheit des Geistes bei Martin Kobler wurde 1953 in jeweilige Land kennenlernen und sich mit fremden Stuttgart geboren. Seit Herbst jedem einzelnen Menschen fördern. Dabei sollten wir Kulturen auseinandersetzen. Und durch sie lernen die 2007 leitet er die Kultur- und niemanden indoktrinieren, aber doch dazu beitragen, Menschen dort dann auch ein Stück Deutschland kenKommunikationsabteilung dass er oder sie sich öffnet. Nehmen wir zum Beispiel nen. Auf dieses neue Projekt freue ich mich besonders. im Auswärtigen Amt. Zuvor das Projekt der Buddy-Bären in Pjöngjang. Nordkorea war er deutscher Botschafter in Überhaupt sollten wir verschiedene Dinge ausKairo und Bagdad. probieren. Manches werden wir sicher nicht fortsethat zugesagt, Mitte Oktober 2008 auf dem größten zen, aber Erfolg versprechende Ansätze werden wir Platz in Pjöngjang 14 der Bärenskulpturen auszustellen. Das verändert sicher nicht die Welt, aber es verändert die Welt weiterverfolgen, wie zum Beispiel die Themen Kultur und Entwickin Nordkorea sehr stark. Wie die Menschen diese Öffnung aufneh- lung oder Kultur und Klima. Wichtig dabei ist Nachhaltigkeit. Wie men und umsetzen, liegt bei ihnen selbst, aber wir sollten Impulse etwa bei den Projekten der Aga-Khan-Stiftung in den Slums von Kairo: Dort arbeitet eine Schreinerei, die nur Hochklassiges zur geben. Dabei geht es auch um Werte. Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Berechen- Ausstattung von Fünf-Sterne-Hotels in Kairo produziert. Die Möbel barkeit sind Werte, die wir in solchen Prozessen vermitteln möch- werden nicht aus dem Ausland eingeflogen, sondern vor Ort von ten. Außerdem sind uns die Werte der Aufklärung wichtig, auf die den Leuten hergestellt. Wir denken ja oft, Entwicklungspolitik hat wir zu Recht stolz sind. Das müssen wir unsere Gesprächspartner vor allem mit Brunnenbohren zu tun. Aber auch der Zugang zu wissen lassen. So sind wir berechenbar, auch dann, wenn unsere Kultur und Bildung sind Menschenrechte. Warum fördern wir beiPartner mit unserer politischen Meinung nicht einverstanden sind. spielsweise in den Favelas von Rio keine Kunstschule? Da sind der Ich habe weite Teile meines Berufslebens in der arabischen Welt Fantasie keine Grenzen gesetzt. Neben der Aufgabe, mit Menschen zugebracht und dort nie Probleme gehabt, unsere Position und un- in einen offenen Dialog zu treten, muss es uns auch um soziale Geser Verhältnis gegenüber Israel klarzumachen. Meiner Erfahrung rechtigkeit gehen. Jeder Mensch sollte in Würde leben und arbeiten nach ist das Allerwichtigste, aufrichtig zu sein, „mit einer Zunge“ und für sich und seine Familie sorgen können. Um das zu ermöglichen, muss bei wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten zu sprechen. Die Kulturarbeit Deutschlands im Ausland kann nur im Dialog angesetzt werden. Die Kultur begleitet diese Prozesse. Wir sollten eine erfolgreiche Kulturpolitik als notwendige geschehen. Das Goethe-Institut entwickelt etwa derzeit mit der Münchner Oper eine Amazonas-Oper, die 2010 zeitgleich in Bra- Bedingung funktionierender internationaler Beziehungen sehen. silien und Deutschland Premiere hat. Partner bei der Entwicklung Kultur kann als Fundament auch noch da wirken, wo politische der Oper sind indianische Völker aus dem Amazonasgebiet. Durch Verhandlungen ins Leere laufen. Es ist eine wichtige Funktion von solche Projekte entstehen Bindungen an Deutschland, die Menschen Kultur, da zu reden, wo die Politik schweigt, da eine Sprache zu finlernen uns kennen. Sie kommen mit unserer Sprache und unseren den, wo ringsherum Sprachlosigkeit herrscht. Kulturpolitik sollte Werten in Kontakt. Wir haben gemerkt, dass es unserer Position die anderen Politikbereiche tragen und ergänzen. wesentlich hilft, wenn wir zuhören, offen sind und gegebenenfalls auch die Perspektiven wechseln. Internationale Politik und gerade Protokolliert von Jenny Friedrich-Freksa auch die Kulturarbeit sind immer ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Es ist gut, wenn andere erkennen, warum es Sinn macht, uns zuzuhören. Und ein wichtiges Argument ist, dass wir uns für die
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Kulturaustausch 1v /08
Foto: Auswärtiges Amt
Kultur muss da ansetzen, wo Politik nicht weiter-
Forum: kulturelles Selbstverständnis
„Nicht als Missionare auftreten“
Foto: Goethe-Institut
von Klaus-Dieter Lehmann Auf meinen Reisen stelle ich immer wieder fest, wie tion. Sie ist nicht nur Werkzeug, sondern kulturelles groß das kulturelle Interesse an Deutschland ist und Medium. Das Goethe-Institut ist deshalb sowohl wie stark die Erwartung an eine partnerschaftliche im Inland als auch im Ausland mit einer SprachZusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Lassen offensive derzeit sehr aktiv. Für die Zuwanderer ist Sie mich einige Beispiele geben. 2009, zwanzig Jahdie deutsche Sprache auch eine Form der Emanzire nach dem Mauerfall, werden in 16 europäischen pation in Deutschland. Das bedeutet nicht, dass sie Ländern Theaterautoren den Mauerfall thematisieren, ihre kulturellen Wurzeln kappen müssen. Sie können nicht aus deutscher Sicht, sondern aus der Sicht des durchaus eine Bereicherung sein. jeweiligen Landes. Die Stücke werden in Theatern Wir sprechen immer von der Vielfalt der Kulturen. dieser Länder aufgeführt. Die besten kommen auch Klaus-Dieter Lehmann wurde Wenn das allerdings als Trennung verstanden wird, 1940 in Breslau geboren. Er ist nach Deutschland. Die Wiedervereinigung wird zum nützt diese Vielfalt der Kulturen nichts. Kultur hat in seit April 2008 Präsident des europäischen Thema. Es geht nicht um Selbstbespie- Goethe-Instituts. Zuvor war er ihrer Vielfalt nur dann einen Wert, wenn sie sich mitgelung, sondern um Öffnung. Oder ein Beispiel aus teilen kann, wenn ein Dialog ermöglicht wird. Mir ist Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Afrika: Wir werden diesen Kontinent nur erschließen bewusst, dass der Kulturdialog kein Allheilmittel zur können, wenn wir die Goethe-Stützpunkte vernetzen Lösung aller Probleme ist, dazu gehören geeignete und eine Plattform für die Kunst herstellen, indem politische Bedingungen. Aber ohne den kulturellen wir eine innerafrikanische Öffentlichkeit dafür schaffen. Dialog ist alles nichts. Unser Zusammenleben ist nun einmal in Die Mitarbeiter der Goethe-Institute kommen aus einem Land, erster Linie eine kulturelle Leistung. das viel über das eigene Selbstverständnis nachgedacht hat. Es galt, Kultur sollte aber nicht nur fähig zum Dialog mit der Kultur die Kontaminierung der Kulturrezeption durch die Nationalsozialis- sein, Kultur muss auch offen sein gegenüber anderen gesellschaftten zu reflektieren, und auch, die Wiedervereinigung Deutschlands lichen Segmenten, zum Beispiel der Wirtschaft. Die Wirtschaft als kulturelles Ereignis zu begreifen. Diese Prozesse haben dazu ist interessiert an interkultureller Kompetenz, sie selbst wiederbeigetragen, dass bei allem Selbstbewusstsein ein sensibler Umgang um kann helfen bei der Entwicklungsarbeit und Einrichtung von miteinander gegeben ist. Für die konkrete Arbeit bedeutet es, dass kultureller Infrastruktur. Das Deutschlandbild im Ausland sollte zivilgesellschaftliche Aspekte wie Kritikfähigkeit, Urteilsfähigkeit nicht in getrennte Einzelsichten zerfallen, sondern realistisch das und Eigenverantwortung immer eine Bedeutung haben werden. Zusammenwirken vermitteln. Berührungsängste sind abzubauen. Wir wollen nicht missionarisch arbeiten oder uns als Vorbild Unsere Aufgabe ist es, die Neubewertung von kultureller Bildung in darstellen, sondern durch gute Beispiele überzeugen und durch die Welt zu tragen. Kulturelle Bildung bedeutet auch, dass wir nicht die Bereitschaft, uns zu beteiligen. Ein weiterer Aspekt, der uns nur zeitgenössische Kunst vermitteln, sondern dass wir uns auch prägt, ist der Umstand, dass Deutschland ein Mittelland ist und unserer eigenen Geschichte und Tradition bewusst sind. Es gibt immer äußere Einflüsse aufgenommen und integriert hat. Unsere eine Erwartungshaltung, dass die großen Dichter und KomponisKultur hat deshalb eine ausgeprägte Dialogfähigkeit. Diese Stärke ten unseres Landes eine Rolle bei der Vermittlung spielen, dass die sollten wir nicht vergessen. Deshalb sind die Fragen der Migration großen Museumssammlungen mit ihrem umfassenden Potenzial und der Integration in Deutschland auch für das Goethe-Institut eingebunden werden. Deutschland besitzt sicher eines der dichSchlüsselthemen. Unsere Nationalkultur ist nicht statisch, sondern testen Netze von Kultureinrichtungen. Dies zu nutzen ist wichtig. sie wandelt sich, sie ist lebendig. Ich würde von einer diskursiven Wir sollten unser eigenes Profil zeigen, aber auch möglichst enNationalkultur sprechen. Es besteht für mich aber kein Zweifel, ge Kooperationen finden. Es genügt nicht, nur gastfreundlich zu dass die Nationalkultur ein wichtiges Element für die Identifikation sein, Partnerschaften sollten das Ziel sein. Unsere Unabhängigkeit ist, nicht im Sinne von Abgrenzung, sondern im Sinne von Erkenn- gibt uns dafür eine hohe Glaubwürdigkeit. Sie auch in schwierigen barkeit und Offenheit. Wir leben nicht in postnationalen Zeiten. Staaten zu erhalten, ist entscheidend. Wir sollten Freiräume und Nationalstaaten sind ein konstitutives Element der Europäisierung. Dialogräume schaffen, die freies Denken ermöglichen. Wir leben aber durchaus in transnationalen Zeiten. Das heißt, Mobilität, grenzüberschreitende Kooperation und Koproduktion sind Protokolliert von Falk Hartig typisch. Die Sprache ist für mich eine Voraussetzung für IntegraKulturaustausch 1v /08
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Forum
Die Verantwortung, einzugreifen Um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, müssen sich die Vereinten Nationen verändern von Gunter Pleuger abhängigkeit durch einen militärischen Befreiungsdamit vor allem ein Ziel: In Zukunft sollten Kriege kampf gegen ihre Kolonialherren gewonnen. Nun zwischen Staaten, insbesondere aber neue globale fürchteten sie – nicht ganz unberechtigt – dass ein Konflikte vom katastrophalen Ausmaß des Zweiten Völkerrechtsinstrument „humanitäre Intervention“ Weltkriegs verhindert werden. Zwar gab es auch wähals Vorwand des Stärkeren genutzt werden könnte, rend und nach dem Ost-West-Konflikt Kriege, der um beim Schwächeren einzumarschieren. Deshalb Schwerpunkt der UN-Aktivitäten liegt heute jedoch brauchte man im Rahmen der UN-Reformdebatte in anderen Bereichen. einen neuen Ansatz. Man fand ihn in der „ResponDie meisten Probleme, die derzeit die internatiosibility to Protect“. Dieses völkerrechtliche bezieDr. Gunter Pleuger, 1941 in nale Sicherheitspolitik beschäftigen, entstehen durch hungsweise juristische Konstrukt kommt der DritWismar geboren, war von „failing societies“ oder „failing states“. Diese Zusamten Welt dadurch entgegen, dass die Verantwortung 2002 bis 2006 ständiger menbrüche von Gesellschaften oder Staaten stellen Vertreter Deutschlands bei den für den Schutz der eigenen Bürger zunächst bei der eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit dar, da die Vereinten Nationen. Seit Okto- nationalen Regierung liegt. Falls die Regierung dieber 2008 ist er Präsident der jeweilige Bevölkerung, wenn sie nicht durch Hunger ser Verantwortung jedoch nicht gerecht wird, hat die Europa-Universität Viadrina oder Gewalt umkommt, jeglicher Zukunftsperspektiinternationale Staatengemeinschaft die Pflicht, etwas in Frankfurt/Oder. ve beraubt wird. Gleichzeitig sind „failing states“ eine gegen die Völkerrechtsverletzung zu unternehmen. Bedrohung für ihre Nachbarstaaten. Man denke nur an den Sudan Auch wenn die Konstruktion in der Gipfelkonferenz von 2005 einund die angrenzenden Länder, die plötzlich große Flüchtlingsströ- stimmig angenommen wurde: Das Problem löst sie nicht. Denn me aufnehmen müssen. Solche Situationen überfordern diese armen es bleibt die Frage, wer berechtigt ist, zu bestimmen, dass es sich Staaten und destabilisieren sie. Auf dem Höhepunkt des Kosovo- um eine Situation handelt, in der die „Responsibility to Protect“ Kriegs gab es in Deutschland etwa 750.000 Flüchtlinge aus dem greift. Hier kommt der Sicherheitsrat ins Spiel. Die jüngsten Beraehemaligen Jugoslawien. Um diese Menschen zu beherbergen, zu tungsergebnisse bezüglich Simbabwe zeigen überdeutlich, dass die ernähren und mit Kleidung auszustatten, musste der deutsche Staat „Responsibility to Protect“ theoretisch zwar sehr gut funktioniert, rund 10 Milliarden US-Dollar pro Jahr aufbringen. Für Deutsch- es in der Praxis aber dennoch einer multilateralen Institution wie land, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist das nicht viel. des Sicherheitsrates bedarf, um mit der notwendigen Legitimität Trotzdem stöhnte sowohl die Bevölkerung als auch die Regierung Entscheidungen zu treffen. unter dieser Belastung. Wie sieht es aber aus, wenn ein Staat von Eine zweite internationale Herausforderung stellt das „Peaceeiner solchen Situation betroffen ist, dessen Bevölkerung mehrheit- Building“ dar. Aus der Vergangenheit hat man gelernt, dass nach lich von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben muss? dem Ende eines militärischen Konflikts Wiederaufbauarbeit geleisDer sicherheitspolitisch brisanten Herausforderung der „failing tet werden muss. Erfahrungsgemäß kehrt ein Konflikt nach fünf bis states“ kann man durch „humanitäre Intervention“ begegnen. Dies zehn Jahren zurück, wenn nach Ende der militärischen Aktivitäten meint den meist gewaltsamen Eingriff in das Hoheitsgebiet eines nicht umfassende Maßnahmen für den Wiederaufbau der staatliStaates, um Menschen in einer humanitären Notlage zu schützen. chen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen eingeleitet Aber dieses effektive Instrument hatte zunächst weder eine völ- werden. Wie notwenig das ist, zeigt das Beispiel Haiti: 2005 brach kerrechtliche Grundlage noch die Chance, von der Mehrheit der dort nach zehn Jahren über Nacht der alte Konflikt wieder auf. Die Mitgliedsstaaten – insbesondere jenen aus der Dritten Welt – ge- UNO hatte damals die militärischen Auseinandersetzungen zwar billigt zu werden. Die meisten Entwicklungsländer haben ihre Un- gestoppt, sich anschließend aber zurückgezogen.
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Foto: picture-alliance/ZB
Als die UN-Charta 1945 verabschiedet wurde, hatte man
Forum
Zu den weiteren Herausforderungen der UNO zählen neue Bedro- alition der Willigen“ gelöst werden können. Der Irak ist dafür das hungen wie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und beste Beispiel. der Terrorismus. Beide stellen die UNO vor ein schwieriges völDrittens: Wir glauben nicht mehr daran, politische und ökokerrechtliches Problem. Denn es handelt sich hier nicht um einen logische Krisen allein mit militärischen Mitteln lösen zu können. Konflikt zwischen Staaten, sondern um Angriffe von nichtstaat- Manchmal sind militärische Mittel notwenig, um einen entsprelichen Organisationen oder Gruppen auf Staaten. Hier stellt sich chenden Sicherheitsrahmen zu schaffen, in dem wirtschaftlicher die Frage, ob auch in diesen Fällen das Selbstverteidigungsrecht und sozialer Wiederaufbau stattfinden kann. In diese Richtung nach Artikel 51 der UN-Charta greift. Als den USA klar wurde, weist das neue Instrument des „Peace-Building“, also der Friedensdass alles, was sie zur Rechtfertigung des Irak-Kriegs vorgetragen konsolidierung nach Ende der Kampfhandlungen, um den Rückfall hatten, unhaltbar war, dass es im Irak weder Massenvernichtungs- in die Gewalt zu verhindern. noch Atomwaffen gab, wich man in der Argumentation auf das Viertens: Die negativen Folgen der Globalisierung sind fast alle „präemptive“ Selbstverteidigungsrecht aus. Jeder, der die Charta grenzüberschreitende Probleme, zum Beispiel Fragen des Umweltstudiert hat, wird diese Begründung ablehnen. Zwar beginnt Arti- schutzes, der globalen Erwärmung und der internationalen Verkel 51 mit dem Satz: „Jeder Staat hat das Recht sich selbst auch mit breitung übertragbarer Krankheiten. Kein einzelner Staat kann militärischen Mitteln zu verteidigen.“ Im zweiten Absatz, den die mit diesen Problemen fertig werden, auch wenn er seine gesamten meisten nicht mehr lesen, folgt jedoch die Anweisung: „Wenn das Kräfte darauf konzentriert. Sie können nur durch internationale der Fall ist, ist der betreffende Staat verpflichtet, den Sicherheitsrat Zusammenarbeit gelöst werden. Aber die Entwicklungen der letzsofort zu unterrichten, damit dieser die notwendigen Maßnahmen ten Jahre haben gezeigt, dass auch die Vereinten Nationen, ihre zur Wiederherstellung von Stabilität und Frieden ergreifen kann.“ Organe und Mitgliedsstaaten in diesen Organen allein nicht mehr Dies führt natürlich das Instrument der präemptiven Selbstvertei- in der Lage sind, mit diesen neuen Herausforderungen fertig zu digung ad absurdum. Denn „präemptiv“ impliziert, dass man noch werden. Deswegen brauchen wir zur Lösung globaler Probleme nicht angegriffen wurde, sondern einen Angriff nur befürchtet. Was aber hindert einen Staat daran, sich Konflikte kehren nach fünf bis zehn Jahren an den Sicherheitsrat zu wenden, solange es sich um zurück, wenn nach einem Militäreinsatz keine eine reine Befürchtung handelt? Unter BerücksichtiAufbauhilfe geleistet wird gung dieser Probleme brauchen wir eine neue internationale Sicherheitsarchitektur. Ich würde von einer multidimensionalen Sicherheitsarchitektur sprechen, die alles – mi- zusätzliche Akteure wie das Nahost-Quartett oder die G8-Staaten. litärische Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung, Herrschaft des Die G8-Staaten engagieren sich derzeit sehr stark in Umweltfragen Rechts und die Beachtung der Menschenrechte – einschließt. Wie und haben im Kosovo-Krieg die Resolution ausgearbeitet, die vom kommen wir zu dieser neuen Sicherheitsarchitektur und was sind Sicherheitsrat akzeptiert wurde und den Krieg beendete. Vor allem die Parameter, innerhalb derer sie gestaltet werden muss? ist wichtig, dass die Regionalorganisationen sich stärker im „PeaceErstens: Wir müssen eine Architektur schaffen, die polyzent- Keeping“ engagieren. Die meisten Konflikte existieren in Afrika. risch ist, die also nicht von einem Mitgliedsstaat der Vereinten Na- Die Afrikanische Union ist durchaus willens, sich zu engagieren tionen allein bestimmt wird, wie es für kurze Zeit nach dem Ende – sie hat 6.000 Soldaten nach Darfur geschickt. Aber weder vom des Ost-West-Konflikts durch die Vereinigten Staaten geschehen ist. militärischen noch vom organisatorischen Potenzial her ist sie in Seit dem 11. September haben die USA militärisch, politisch und der Lage, sich entscheidend am „Peace-Keeping“ zu beteiligen. Das vor allem moralisch stark an Glaubwürdigkeit verloren. Deshalb ist können als Regionalorganisationen nur die Europäische Union und es wichtig, nicht darauf zu vertrauen, dass eine einzelne Macht die die NATO. Auf lange Sicht wird das jedoch nicht reichen. Deshalb Aufgaben lösen kann, die sich mit dieser neuen Sicherheitsarchitek- ist es notwendig, dass die UNO und die westlichen Staaten sich tur stellen. Die militärische und politische Schwächung der USA darauf konzentrieren, die Afrikaner so weit zu bringen, dass sie muss aufgefangen werden, indem andere Akteure sich stärker enga- größere Aufgaben im „Peace-Keeping“ übernehmen können. gieren, und dazu gehört in erster Linie die Europäische Union. Zwei wichtige strukturelle Aufgaben müssen gelöst werden, um Zweitens: Krisenbewältigung ist angesichts der neuen Heraus- die UNO beziehungsweise die internationale Staatengemeinschaft forderungen und Bedrohungen – in Afrika, im Nahen Osten, in für die neuen Herausforderungen fit zu machen: Zunächst müssen Afghanistan, Nordkorea, im Iran – nicht mehr durch unilaterale die Vereinten Nationen einen Weg aus ihrer Kapazitätskrise finAktionen einer einzelnen Macht möglich. Die letzten Jahre haben den. Der Generalsekretär hat weder Geld noch Soldaten. Momentan gezeigt, dass solche Konflikte durch die USA nicht einmal in Zu- sind 18 UN-Friedensmissionen auf vier Kontinenten zugange. Über sammenarbeit mit einer relativ kleinen, aber doch mächtigen „Ko- 100.000 Männer und Frauen sind dabei im Einsatz. Die Missionen Kulturaustausch 1v /08
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Forum
stellen die UNO nicht nur vor organisatorische Probleme – sie beschäftigt Mitarbeiter aus 192 Nationen mit unterschiedlichem kulturellen, administrativen, rechtlichen Hintergrund, sondern kosten inzwischen auch fünf bis sechs Milliarden Dollar pro Jahr. Wenn die Truppenaufstockung im Libanon und die Darfur-Operation durchgeführt werden, steigen die Kosten voraussichtlich sogar bis auf 10 Milliarden Dollar jährlich. In diesem Bereich stößt die UNO bei den Mitgliedsstaaten an gewisse Grenzen in der Bereitschaft, dies zu finanzieren. Deshalb braucht sie zusätzlich die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen. Ohne NGOs wären viele Operationen heutzutage gar nicht durchführbar. Darüber hinaus sind weitere Finanzmittel nötig. Hier kommen der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und internationale Konzerne ins Spiel. Wie man allerdings die Wirtschaft dazu bringt, in einer Krisenregion zu investieren, ist nach wie vor eine offene Frage. Zweitens muss die Reformkrise der Vereinten Nationen gelöst werden. Zuerst müsste dabei das Sekretariat neu strukturiert und eine Mandatsüberprüfung durchgeführt werden. Das hört sich sehr technisch an, ist aber von enormer operativer Bedeutung. Die Management-Reform betrifft in der Praxis besonders das MikroManagement des Haushaltsausschusses, wo über jede Fünf-Dol-
der Sicherheitsrat in den letzten Jahrzehnten zum zentralen Entscheidungsorgan entwickelt, er reflektiert jedoch noch immer die politische Realität von 1945. Es gibt dort fünf ständige Mitglieder – die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs – und zehn nicht-ständige Mitglieder, die alle zwei Jahre neu gewählt werden, und zwar aufgeteilt auf die fünf verschiedenen Regionalorganisationen der UNO, wie etwa die „Western European and Others Group“. Das hat zwei verheerende Folgen: Erstens sind die fünf ständigen Mitglieder (Permanent Members, P5) in ihrem Selbstverständnis immer noch Weltmächte, auch wenn das für England und Frankreich nicht mehr im gleichen Maße zutrifft wie 1945. Außerdem halten sie sich für die höchste Autorität im Sicherheitsrat, wenn nicht in den Vereinten Nationen überhaupt. Folglich laufen alle Entscheidungen zunächst einmal durch das Prüfungsraster der P5. Nur wenn diese im nationalen Interesse der P5 liegen, wird nach dem Interesse der internationalen Staatengemeinschaft gefragt. Das führt nicht immer zu sachgerechten Entscheidungen. Darfur ist dafür ein Paradebeispiel. Wer die P5 nicht auf seiner Seite hat oder sich wenigstens ihres Desinteresses sicher sein kann, hat nur sehr geringe Chancen, überhaupt eine Entscheidung herbeizuführen. Die nichtständigen Mitglieder werden von den P5 übrigens als „Touristen“ bezeichnet: Sie werden alle zwei Jahre Die nicht-ständigen Mitglieder werden von ausgewechselt und sollten sich ja nicht einbilden, die den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats Möbel im Sicherheitsrat verrücken zu können. Diese Konstellation bedeutet für die nichtständigen Mitals „Touristen“ bezeichnet glieder das Handicap, dass sie kein ununterbrochenes lar-Ausgabe des Sekretariats diskutiert und damit der gesamte institutionelles Gedächtnis haben. In der Regel muss immer wieder Entscheidungsfluss blockiert wird. Ein Versuch, an dieser Stelle eine Lücke von sechs bis sieben Jahren gefüllt werden. Genau desanzusetzen, indem man dem Generalsekretär mehr Befugnisse halb müssen große Ressourcengeber wie Deutschland und Japan erteilt, wurde von den Entwicklungsländern abgeschmettert. Ih- in den Sicherheitsrat aufgenommen werden. Nicht etwa, weil Geld re nachvollziehbare Begründung: Die Vollversammlung – durch oder Ressourcen so wichtig sind, sondern weil eine Regierung in die universale Mitgliedschaft das Organ mit der größten Legiti- der Lage sein muss, die Bereitschaft zu erhalten, diese Ressourmität – ist ohnehin schon bis an die Grenze der Überflüssigkeit cen der UNO zur Verfügung zu stellen. Der wichtigste Vorteil der geschwächt. Wenn man ihr auch noch die Budgetrechte entzieht, Mitgliedschaft im Sicherheitsrat liegt darin, dass man über die wird ihre Dysfunktionalität noch weiter verstärkt. Ressourcen, die man aufgrund der Größe des Landes ohnehin zur Allein der Vorschlag für jene Management-Reform war schon Verfügung stellen muss, mitentscheiden kann. Das ist absolut entein ungeheurer politischer Akt. Denn im Haushaltsausschuss wird scheidend, um die Bereitschaft der deutschen Öffentlichkeit und des seit 20 Jahren nur im Konsens abgestimmt – nicht, weil Konsens deutschen Parlaments aufrechtzuerhalten, dauerhaft die erwarteten etwas inhärent Gutes wäre, sondern weil er jedem ein Vetorecht Mittel von durchschnittlich rund 1 Milliarde Dollar im Jahr zur einräumt. Damit schützt man die großen Geldgeber, was auch im Verfügung zu stellen. So viel steht jedenfalls fest: Wollen wir uns Interesse Deutschlands liegt. Wird dieses Konsens-Prinzip, das nur den neuen Herausforderungen und Bedrohungen stellen, können auf einem Gentleman’s Agreement beruht, gekippt, könnte dies das wir auf die UNO und die angeschlossene Familie von Institutionen Ende der UNO bedeuten. Denn wenn der Haushaltsausschuss mit nicht verzichten. Deswegen ist es in unserem eigenen nationalen Mehrheiten beschließt, werden sich die großen Mitgliedsstaaten das Interesse, alles zu tun, um sie zu stärken und für die Aufgaben des nicht gefallen lassen und das System wird auseinanderbrechen. 21. Jahrhunderts bereit zu machen. Weiterhin bedarf es unbedingt einer Reform des UN-SicherDer Text basiert auf einem Vortrag, den Gunter Pleuger im Rahmen heitsrats. Gerade bei den „Peace-Building“-Operationen ist es, vor der Vortragsreihe „Crisis and Invervention or Crisis of Intervention?“ des allem im Fall militärischer Maßnahmen, wichtig, dass die EntExzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz hielt. scheidung legitim und die Umsetzung effektiv ist. Zwar hat sich
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Kulturaustausch 1v /08
pressespiegel
EU: nein danke
Mediterraner Club
Angst vor Aischa
Die Iren stimmen in einem Referendum gegen den Reformvertrag der Europäischen Union.
Die EU, die Mittelmeeranrainerstaaten, Jordanien und Mauretanien gründen eine neue Union.
Random House zieht einen angekündigten Roman über Mohammeds jüngste Frau Aischa zurück.
Heute wird vorgeschlagen, den Lissaboner Vertrag dadurch zu retten, dass man den Iren einen Teilausstieg aus der Europäischen Union anbietet. Das nimmt die Entscheidung der irischen Wähler wenigstens ernst, auch wenn diese sich wohl die Augen reiben, weil sie das so gar nicht gemeint haben. [...] Der Geleitzug, worin der Langsamste das Tempo bestimmt, hat Europa weit gebracht. Von nun an ist es die falsche Gangart.
Der Start der Mittelmeerunion in Paris an diesem Wochenende betont mit viel Pomp die Rückkehr Frankreichs in den Nahen Osten. Dass sich der Israeli Ehud Olmert, der Syrer Bachar el-Assad und der Libanese Michel Sleimane an denselben Tisch setzen, ist ein Etappensieg für ein Projekt, das vor seiner Entstehung mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert war.
Salman Rushdie hat seinen eigenen Verleger dafür kritisiert, einen kontroversen Roman über Prophet Mohammed und seine kindliche Braut aus Angst vor gewaltsamen muslimischen Reaktionen zurückzuziehen. [...] „The Jewel of Medina” ist eine Ich-Erzählung des Lebens von Aischa, die gemeinhin als Mohammeds Lieblingsfrau gesehen wird, von ihrer Verlobung mit dem Propheten im Alter von sechs Jahren bis zu seinem Tod, als sie 18 war.
Jürgen Habermas in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (München) vom 16.06.2008
Der Unterschied zur deutschen Reaktion auf das französische „Nein“ im Jahr 2005 ist auffallend. Wenn Frankreich nein sagt, hat Europa ein Problem. Wenn Irland nein sagt, hat Irland ein Problem. Große und kleine Staaten werden mit zweierlei Maß gemessen. Timothy Garton Ash in THE GUARDIAN (London) vom 19.06.2008
Solange wir Iren, Polen oder Deutsche bleiben und gleichzeitig Europäer sein wollen, so lange werden wir mit der Art von Problemen leben müssen, die das irische Nein aufgeworfen hat. Und deshalb können wir eine Lösung auch nur gemeinsam finden. [...] In Europa ist der Stein soeben wieder einmal heruntergerollt – rollen wir ihn zu siebenundzwanzigst also wieder hinauf. Günther Verheugen in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (München) vom 20.06.2008
Foto: Bilderbox
Es gibt im Grunde genommen zwei Wege, die uns offenstehen: Entweder finden wir einen Weg, um im Zentrum der EU zu bleiben, oder wir begeben uns auf die Straße der Isolation und Irrelevanz. [...] Der Versuch, in einem begrenzten Dialog mit der Außenwelt zu existieren, hat noch keinem Land geholfen und wird auch Irland nicht weiterbringen. Mar y Frances McKenna in THE IRISH TIMES (Dublin) vom 27.08.2008
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Pierre Rousselin in LE FIGARO (Paris) vom 12.07.2008
Der französische Präsident vertritt jetzt innerhalb seiner eigenen Institutionen und Projekte eine verwässerte Version seines ursprünglichen Entwurfs für eine Mediterrane Union. Noch ist nicht klar, ob diese zurechtgestutzte Fassung die Unterstützung der Länder der Region erlangen kann. [...] Es gab an diesem vergangenen Wochenende viel Gerede über mögliche Fortschritte auf der palästinensisch-israelischen Schiene wie auch auf der syrisch-israelischen. Die wahre Herausforderung wird aber sein, den Worten Taten folgen zu lassen. Anouar Boukhars in THE DAILY STAR (Beirut) vom 15.07.2008
J ame s B o ne in T H E T I M E S ( L ondon) vom 16.08.2007
Die Serie der Ereignisse, die dieses Buch torpedierten, öffnet die Sicht darauf, wie schnell Angst einen intelligenten Diskurs über die muslimische Welt zerstören kann. [...] Diese Geschichte erschüttert mich als Muslimin und als Schriftstellerin, die daran glaubt, dass islamische Geschichte durch Fiktion in einer einzigartig fesselnden und menschlichen Weise lebendig werden kann. Asra Q. Nomani in THE WALL STREET JOURNAL (New York) vom 06.08.2008
Nur mithilfe des Kulturdialogs kann ein fruchtbarer Dialog zwischen den Zivilgesellschaften auf beiden Seiten des Mittelmeers erfolgen. Letztendlich geht es meines Erachtens darum, die Menschen für diese Projekte zu gewinnen, um trag- und zukunftsfähige Kooperationsstrategien umsetzen zu können.
Ich hoffe nur, dass Leser [das Buch] als das nehmen, was es ist: der Versuch einer westlichen Schriftstellerin mit westlichen Werten, Idealen und Emotionen, im 21. Jahrhundert die wohlbekannte und gut dokumentierte Geschichte von Aischa in einer nicht wiederzuerkennenden Version zu schildern, mit wenig Wissen über die arabische Sprache, Arabien, den Islam und Muslime.
André Azoulay im Interview mit Moncef Slimi auf QUANTARA.DE (Bonn) vom 06.08.2008
Marwa Elnaggar auf ISLAMONLINE.NET (Doha) vom 18.08.2008
Mit ein wenig Glück werden die Mitglieder der neuen Union eines Tages vielleicht zurückblicken und feststellen, dass ihr Weg zu Frieden und Wohlstand damit begann, in gemeinsamer Anstrengung das Meer zu säubern, das sie alle teilen.
Die Freiheit des Worts wurde ersetzt durch die Macht geheimer Gutachten und anonymer Drohungen. Schlechter kann ein Verlag mit so einer Sache nicht umgehen. Man kann al-Qaida für genügend Dinge verurteilen, an diesem Flop sind sie ausnahmsweise nicht schuld.
THE BOSTON GLOBE vom 14.07.2008
Nils Minkmar in FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG vom 24.08.2008
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Hochschule
„Stalin wird positiv gesehen“
Dr. Irina Scherbakowa, geboren 1949 in Moskau, forscht zum stalinistischen Terror und dem kollektiven Gedächtnis Russlands. Derzeit ist sie Gastprofessorin an der Universität Jena.
suchungen, Verhaftung und den Lagern der neuen Zeit.
Sie sammeln seit 30 Jahren Berichte von Opfern politischer Repressionen. Wie kamen Sie dazu? Ich habe in den 1970er-Jahren Texte russischer Autoren über den Gulag gelesen, die als Untergrundliteratur kursierten, und wollte mehr über die tabuisierten Lager erfahren. So begann ich in meinem Bekanntenkreis Interviews mit Gulag-Überlebenden zu führen. Daraus sind Hunderte von Interviews mit Zeitzeugen geworden. Anfang der 1990er-Jahre konnte ich zusätzlich zur Oral History auch in Archiven über stalinistische Repressionen forschen.
Wie forschen Sie heute? Ich leite bei der Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und Soziale Fürsorge „Memorial“ in Moskau ein Oral History Zentrum. Wir sammeln noch immer Interviews mit Zeitzeugen. Das sind jetzt meistens die Kinder, die zweite Generation, die offiziell auch zu den Opfern der politischen Repressalien gehören, weil sie oft stärker traumatisiert sind als die Eltern. Sie haben ein völlig zerrissenes Bewusstsein, das geprägt ist durch die sowjetische Erziehung in den Heimen, in die sie gesteckt wurden, und die Gewissheit, dass mit ihren Eltern etwas ganz Schlimmes passiert ist. Darüber hinaus haben wir uns einer besonderen Gruppe genähert, denjenigen, die Opfer zweier Diktaturen geworden sind, weil sie früher bereits als sowjetische Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene in Deutschland waren. Ein Buch über die Geschichten sowjetischer Zwangsarbeiterinnen bereite ich gerade vor.
Was wurde aus den vielen Zeitzeugenberichten, die Sie gesammelt haben? Es war am Anfang kein wissenschaftliches Projekt, sondern mein persönliches Anliegen. Ich wollte die Zeit begreifen, in der so etwas möglich war. Vielen der Gulag-Überlebenden hatte ich versprochen, dass ich zumindest vorläufig nichts veröffentliche. Jedem Besuch habe ich so viel Zeit gewidmet, wie ich wollte. Nicht wie bei Spielbergs Shoa-Projekt: drei Stunden pro Interview. Ich habe die Interviews nicht mal transkribiert, weil Manuskripte sich viel schwerer verstecken ließen als die Kassetten, die ich als Musikkassetten beschriftete. Ich gehörte zum Sympathisantenkreis der Dissidenten und hatte Angst vor Hausdurch-
Sie interessieren sich aber auch für das Geschichtsbild der heutigen Jugend in Russland. Ja. Ich leite seit zehn Jahren einen Schülerwettbewerb zur Geschichte Russlands. Wir bekommen jährlich zwischen 2.000 und 3.000 Arbeiten, die uns einiges über das Geschichtsbewusstsein der Jugendlichen zeigen. Sie verfallen zunehmend einer neuen patriotischen Rhetorik. Jeder Aufsatz beginnt mit den Beschwörungsformeln des Vaterlandes und der Liebe zu Russland. Die herrschende Politik instrumentalisiert die Vergangenheit. Aus ihren Bausteinen wird bei uns derzeit ein Zukunftsmodell konstruiert, das alles andere als ein demokratisches ist. Es ist das Modell eines starken nationalen Großstaates, einer Groß-
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macht mit sehr begrenzten Freiheiten. Die Jugendlichen passen sich dieser Ideologie an. Welches Vergangenheitsbild bekommen Kinder in der Schule vermittelt? Ein Geschichtsbuch, das jetzt neu in die Schulen kommt, ist sehr von dieser patriotischen Rhetorik durchdrungen. Vergangenheitsbilder werden so konstruiert, dass der Eindruck entsteht, Russland wäre immer dann aus Krisen heraus oder zu Siegen gekommen, wenn es autoritär regiert wurde. In diesem Sinn wird die russische Geschichte dargestellt. Gibt es in Russland keine autonome Geschichtswissenschaft, die einen Gegenpol zur staatlichen Ideologie bildet? Doch. Heute gibt es gute Bücher von ernstzunehmenden Historikern, aber viel zu wenige. Die Arbeiten sind noch sehr stark empirisch. Es gibt keine Monografien oder Arbeiten, die Zugang zum allgemeinen Verständnis der Geschichte, zu den wirklich großen Problemen und entscheidenden Fragen, geben. Es fehlen uns die vielen Wissenschaftler, die an westliche Universitäten gegangen sind. Und es fehlt an staatlicher Unterstützung. Der Staat hat kein Interesse an einer Aufarbeitung der Vergangenheit. Welche Folgen hat es für die heutige Generation in Russland, dass die Vergangenheit nicht reflektiert wird? Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Stalins Bild entsteht als Bezugsfigur automatisch dort, wo man den starken Staat bejaht, wo der Mensch so wenig bedeutet und der Staat alles. Die Umfragen sind entsetzlich: Über 50 Prozent der Menschen – und das betrifft nicht nur die alten, sondern in zunehmendem Maße die jüngeren – meinen, dass Stalins Rolle in der russischen Geschichte positiv zu bewerten sei. Über 25 Prozent würden für ihn stimmen, wenn er heute kandidieren würde. Daran kann man als Historikerin eigentlich nur verzweifeln. Das Interview führte Karola Klatt
Kulturaustausch 1v /08
Foto: privat
In Russland fehlt die historische Aufarbeitung, meint Irina Scherbakowa, die über das kollektive Gedächtnis ihres Landes forscht
Hochschule
Lernen auf einem anderen Stern Viele chinesische Studenten scheitern am deutschen Universitätsbetrieb. Eine gezielte Vorbereitung soll jetzt Abhilfe schaffen
Foto: picture-alliance / ZB (1), privat (2)
Von Karola Klatt
den studienrelevante Redesituationen wie Präsentationen oder Seminardiskussionen und schriftliche Textsorten eingeübt sowie Hilfen für das studentische Alltagsleben und das Kontaktknüpfen in Deutschland gegeben. Durch deutsche Austauschstudenten werden die vielen praktischen Übungen und Rollenspiele authentisch, denn gerne spielen die mal den deutschen Professor, der abends um zehn einen Anruf von seinem chinesischen Studenten bekommt und ihn unwirsch auf seine Sprechstunde verweist. Erprobt werden Begrüßungsformeln, wen man siezt und wen man duzt oder welche soziale Distanz angemessen ist. Die meiste Zeit widmen die Trainer jedoch den studienbezogenen Inhalten: Wie erstelle ich meinen Studienplan anhand von Informationen aus dem Internet? Wie schreibe ich eine E-Mail an meinen Professor? Wie verfasse ich ein Motivationsschreiben oder halte ein Referat? Bis hin zu simulierten Vorstellungsgesprächen für ein Praktikum reicht die Vorbereitung. „Wir versuchen autonome Lerner auszubilden“, sagt Sabine Porsche, DAAD-Lektorin an der Tongji-Universität, und ergänzt: „Chinesische Studenten suchen sich selbstständig den besten Weg, um durch Europa zu reisen, warum sollten sie nicht auch in die Lage versetzt werden können, ihr Studium erfolgreich zu bewältigen?“
Problemen. Sie verfügen über gute fachliche Voraussetzungen, aber ihre Sprachkenntnisse sind trotz Zertifikaten ungenügend. Sie kennen nur Vorlesungen, wissen nicht, was ein Seminar ist, und sind mit der verlangten Selbstständigkeit meist völlig überfordert. Dass mehrere Auffassungen gleichberechtigt nebeneinander stehen können, ist ihnen fremd, und nicht selten verpassen sie Praktika oder Prüfungen, weil sie nicht wussten, dass man sich Chinesische Studenten üben, das deutsche „h“ auszusprechen. dafür anmelden muss. Einen neuen Weg der Studienvorbereitung An den Beginn seines Studiums in Deutschland denkt Gao Yan nicht gerne zurück. Nach einem geht das Deutschkolleg der Tongji Univerhalben Jahr Sprachvorbereitung in China sität in Schanghai seit einem Jahr. In interschreibt er sich, sechs Jahre ist es her, für kulturellen Seminaren werden chinesische Wirtschaftsingenieurwesen an der Universi- Studenten sehr umfangreich auf den deuttät Leipzig ein. Er versteht kaum, was gesagt schen Wissenschaftsbetrieb vorbereitet. Nach wird, das Studium ist schwer und Kontakt zu einer Sensibilisierung für interkulturelle deutschen Kommilitonen findet er nicht. Gao Unterschiede und Missverständnisse werYan kennt Landsleute, die nach fünf Jahren in Deutschland schlechter Deutsch sprechen Lernen von Professorin Kimmich als bei ihrer Ankunft. Den Fehler, Zuflucht bei anderen Chinesen zu suchen, begeht Gao Kultur ist das erfolgreichs- nicht von bestimmten Agenten wie Politikern Yan nicht. Er zieht zu einem Deutschen in eine te Schlagwort der letzten oder Despoten ausgeht, sondern medial, etwa WG, das hilft ihm entscheidend. Jahre – aber was ist ei- über einen bestimmten Sprachgebrauch oder „Ein Studienanfang muss so gestaltet sein, gentlich Kultur und warum protzige Autos ausgedrückt wird. Wie man Herrdass er erfolgreich begonnen werden kann“, beschäftigt sie uns heute schaftsverhältnisse ändern kann – in der Politik, fordert Dr. Ulrich Heublein von der privaten so sehr? Die Kulturtheore- zwischen den Geschlechtern, Kontinenten und Hochschul-Informations-System GmbH, einer tiker des 20. Jahrhunderts Kulturen –, beherrscht auch heute die Debatten. können darauf Antwor t Foucault lehrt uns, dass der Mensch nur eine Hochschulforschungseinrichtung. In einer geben. Dieses Semester historische Erfindung ist und verschwinden wird Untersuchung für den DAAD hat er kürzlich behandle ich mit meinen wie Spuren im Sand. Seine Theorien betreffen festgestellt, dass jeder zweite ausländische Studenten Foucault, einen einzigartigen Intellek- Kleingruppen ebenso wie globale Strukturen Student sein Studium in Deutschland abtuellen. Vieles, was uns geläufig ist, geht auf ihn und sind noch immer anwendbar. bricht. Eine katastrophale Bilanz für die nach zurück. Zum Beispiel der Ausdruck „wahnsinnig Internationalisierung strebenden deutschen gut“: Erst seit Foucault sehen wir in „Wahnsinn“ Dorothee Kimmich ist Professorin für Hochschulen. Unter den ausländischen Studie- nicht nur eine Krankheit, sondern auch krea- Neuere deutsche Literatur an der Universität renden stellen Chinesen mit über 25.000 die tives Potenzial. Er hat uns gezeigt, dass Macht Tübingen. größte Gruppe, aber auch die mit den größten Kulturaustausch 1v /08
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Kulturprogr amme
Ein Automobilunternehmen gibt seinen Mitarbeitern frei, damit sie alte Menschen ins Theater fahren
Von Christine Müller Elfriede Biesmann ist 82 Jahre alt. Bereits in
jungen Jahren erkrankte die gelernte Sekretärin an Rheuma und ging in den 1960erJahren in Rente. Als sie vor sieben Jahren die Treppen in ihrem Eigenheim nicht mehr bewältigen konnte, zog sie mit ihrem Mann in eine betreute Wohnanlage in Köln, die vom Malteser Hilfsdienst geleitet wird und in der auch junge Familien wohnen: „Wenn ich aus dem Küchenfenster schaue, sehe ich Leben – ich weiß schon, wer gegen neun Uhr mit Kind oder Hund durch den Park spaziert.“ Thomas Lieb ist gelernter Kaufmann. Der 46-Jährige arbeitet bei den Ford-Werken in der Materiallogistik. In ihrem Alltag würden sich Frau Biesmann und Herr Lieb wohl nicht begegnen – wäre da nicht der Kulturbegleitdienst, den die Malteser in Kooperation mit den Ford-Werken anbieten. Alle vier Wochen wird der Besuch einer kulturellen Veranstal-
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tung organisiert. Die Ford-Leitung stellt dafür Autos zur Verfügung und ihre Mitarbeiter für bis zu zwei Tage pro Jahr frei. Sie holen die Rentner mit Kleinbussen ab, bringen Rollstühle mit und begleiten sie bei Theaterbesuchen, Stadtführungen oder Zoobesuchen. Den Hintergrund des Engagements erklärt Lieb damit, dass „soziale Verantwortung die globale Zielsetzung“ des US-amerikanischen Unternehmens sei. Ein hoher Anspruch – zumal das Image von Automobilherstellern, seitdem Politik und Medien den Klimaschutz wieder entdeckten, ziemlich ramponiert ist. Aber nicht nur Global Player wie Ford – der Konzern ist in über 140 Ländern der Erde vertreten – auch deutsche Unternehmen proklamieren die „Corporate Social Responsibility“ zunehmend für sich. Nach Definition der Europäischen Kommission basiert diese auf der freiwilligen Basis der Unternehmen,
„soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit“ zu integrieren. Lieb findet es „persönlich sinnvoll, im Kulturbegleitdienst mitzuarbeiten“, da er zum einen den älteren Menschen Hilfestellungen geben kann, zum anderen die Perspektive der Begleiteten interessant finde. Auch die Sichtweise auf die eigene Umgebung ändert sich: „Man selbst sieht die Stadt plötzlich mit anderen Augen, da man ständig schauen muss, wo man mit dem Rollstuhl passieren kann oder nicht.“ Die 82-jährige Elfriede Biesmann kennt diese Perspektive sehr gut. Auch wenn sie durch die Unterstützung ihres Mannes noch relativ mobil ist, betont sie: „Die Ausflüge sind für viele der Bewohner ein Lichtblick. Sie sind zwar nicht von finanzieller, aber von sozialer Armut betroffen. Man unterhält sich aber eher über die Veranstaltung als über Privates.“ Dass die Betreuer oft wechseln, bedauert sie, da dies für beide Seiten teilweise schwierig sei. Trotzdem ist ihr Fazit positiv: „Die Ehrenamtlichen sind voll dabei. Denn alles, was sie freiwillig machen, machen sie aus Liebe.“ Christine Müller, geboren 1973, arbeitet als Print- und Radiojournalistin. Sie lebt in Berlin. Kulturaustausch 1v /08
Illustartion: Nils Fliegner
Miss Daisy und ihr Chauffeur
Kulturprogr amme
Kalkulierte Kunst Kulturförderung hat eine lange Tradition in Unternehmen. Mithilfe von „Corporate Social Responsibility“-Programmen wollen sie ihre gesellschaftliche Verantwortung zeigen. Ein Gespräch mit dem Unternehmensberater Claus Noppeney
Foto: Lucas Peters
Deutsche Unternehmen investieren dem Kulturkreis der deutschen Wirtschaft zufolge rund 400 Millionen Euro pro Jahr in Kunst und Kultur. Warum tun sie das? Die Motive unterscheiden sich ebenso wie die geförderten Programme. Das Motiv des alten Mäzens steht neben strategischen Überlegungen. In eigentümergeführten Firmen spielen die persönlichen Interessen des Eigners oft eine wichtige Rolle. Bei Kapitalgesellschaften gewinnen Fragen des Imagetransfers, der Pflege von Kundenbeziehungen und der Reputation an Bedeutung. Immer mehr Unternehmen sehen sich in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Und Kultur schafft Sichtbarkeit für Unternehmen. Engagement vor allem als unternehmerisches Kalkül – klingt das nicht zynisch? Die Anfänge der heutigen Corporate Social Responsibility, kurz: CSR, reichen bis in die frühen 1970er-Jahre zurück. Skandale erschütterten den Glauben an die Harmonie zwischen Gemeinwohl und Unternehmenserfolg. Die offensichtliche Allgegenwart „externer Effekte“ löste eine Legitimationskrise aus. Bereits auf dem Weltwirtschaftsforum 1973 in Davos bekannten sich die versammelten Spitzenmanager zur gesellschaftlichen Verantwortung und verabschiedeten einen Verhaltenskodex: „Das Management muss der Gemeinschaft dienen!“ Im deutschen Sprachraum wird seitdem intensiv über das Verhältnis von Ethik und Wirtschaft diskutiert. Vom angloamerikanischen Raum aus gab es eine unternehmensseitige Antwort auf diese Fragestellung, die später auch in Europa wichtiger wurde: die Selbstverpflichtung der Unternehmen, Verantwortung für ökologische, kulturelle und soziale Belange zu übernehmen. Manchmal ist unternehmerische Verantwortung in ein aufgeklärtes Verständnis von Markt und ÖkoKulturaustausch 1v /08
nomie eingebettet; manchmal ist sie einfach kommunikationsstrategisch motiviert. Haben die Unternehmen diese Selbstverpflichtung umgesetzt? Die vielen Aktivitäten auf kulturellem, sozialem und ökologischem Gebiet beeindrucken natürlich. Das konkrete Engagement vieler Unternehmen füllt jährlich einen dicken Bericht. Der aktuelle Korruptionsskandal etwa bei Siemens zeigt aber auch, dass eine lange Liste von CSR gleichzeitig mit organisierter Unverantwortlichkeit einhergehen kann. Es reicht nicht, dass sich Unternehmen mit kecken Projekten zu ihrer Verantwortung bekennen. Sie müssen den systematischen Vorrang der politischen Ordnung akzeptieren. Schauen wir zu Ford: Ein Unternehmen stellt Mitarbeiter bis zu zwei Tage pro Jahr frei, um sich sozial oder kulturell zu engagieren. Ist das eine typisch amerikanische Variante der CSR? Unter der Bezeichnung Corporate Volunteering kommen solche Programme aus Amerika. Dort zielen die Programme auf den persönlichen Einsatz im direkten Umfeld. Sie verbinden die amerikanische Tradition des Kommunitarismus mit dem Glauben an das Unternehmertum. Corporate Volunteering steht neben anderen CSRAktivitäten. Aber auch europäische Firmen haben schon immer Mitarbeiter für Gemeinwohl-orientiertes Engagement freigestellt. Im Vergleich zu anderen Corporate-VolunteeringProgrammen fällt das Projekt bei Ford auf, weil das Unternehmen gleichsam eine Rahmenvereinbarung mit einem sozialen Träger geschlossen hat. Ob jedoch ein Automobilunternehmen tatsächlich dafür verantwortlich ist, Mitarbeiter als Kulturbegleiter einzusetzen, kann man sicher diskutieren.
In den 1980er-Jahren war Sponsoring im Kulturbereich noch verpönt. Hat sich der Kulturbereich durch die Geldgeber aus der freien Wirtschaft verändert? Kulturprogramme werden zunehmend unter dem Gesichtspunkt ihres ökonomischen Nutzenpotenzials konzipiert. Konkret rücken Fragen nach dem kommunikativen Nutzen eines bestimmten Programms in den Vordergrund: Welche Zielgruppen spricht das Programm an? Ist es eine Nachricht wert? Das Zusammentreffen von Extremen dürfte auch eine Folge dieses Kalküls sein. Können Sie hierfür ein Beispiel nennen? Ich denke etwa an die Berliner Philharmoniker, die mit benachteiligten Jugendlichen aus Problemkiezen mit Unterstützung einer Finanzinstitution ein paar Stunden musizieren; das Ganze geistert dann als Film durch die Kinos, während gleichzeitig bodenständige Musikschulen finanziell austrocknen. Kommunikationskalküle zielen oft nicht auf Nachhaltigkeit. Allerdings leisten auch öffentliche Förderinstitutionen allzu oft ihren Beitrag zu einer Ökonomisierung des Kultursektors. Was unterscheidet eine öffentliche Ausstellungshalle vom Deutschen Guggenheim? Welchen Unterschied macht die öffentliche Förderung wirklich noch? Vielleicht ist es nur ein Gedankenspiel – aber was würde passieren, wenn die öffentliche Förderung sich auf Felder konzentriert, die überhaupt keine private Förderung finden kann? Das Interview führte Christine Müller
Dr. Claus Noppeney wurde 1968 in Essen geboren. Der Ökonom ist Partner der Forschungs- und Beratungsplattform CNC Berlin sowie Affiliate Professor an der Grenoble École de Management.
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Impressum
Termine
Impressum
Ausstellung Ikonen, Wandgemälde, Mosaike, Elfenbeinarbeiten – mit etwa 300 Objekten wird die Royal Academy of Ar ts in London künstlerische Arbeiten aus dem byzantinischen Reich präsentieren. Die Ausstellungsgegenstände stammen aus Europa, den USA, Russland, der Ukraine und Ägypten – Teile davon werden erstmals zu sehen sein. „Byzantium 330 – 1453“, 25. Oktober 2008 bis 22. März 2009. Weitere Informationen unter: www.royalacademy.org.uk
KULTURAUSTAUSCH – Zeitschrift für internationale Perspektiven erscheint vierteljährlich mit dem Ziel, aktuelle Themen der internationalen Kulturbeziehungen aus ungewohnten Blickwinkeln darzustellen. Autoren aus aller Welt tauschen sich über Wechselwirkungen zwischen Politik, Kultur und Gesellschaft aus. Die Zeitschrift erreicht Leser in 146 Ländern. Ein Schwerpunktthema in jeder Ausgabe fokussiert die wachsende Bedeutung kultureller Prozesse in der globalisierten Welt. KULTURAUSTAUSCH wird vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) und dem ConBrio Verlag in Public Private Partnership herausgegeben und durch das Auswärtige Amt finanziell unterstützt. Das Institut für Auslandsbeziehungen engagiert sich weltweit für Kulturaustausch, den Dialog der Zivilgesellschaften und die Vermittlung außenkulturpolitischer Informationen. Als führende deutsche Institution im internationalen Kunstaustausch konzipiert und organisiert das ifa weltweit Ausstellungen deutscher Kunst, fördert Ausstellungsprojekte und vergibt Stipendien. Das Institut für Auslandsbeziehungen bringt Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in internationalen Konferenzen und Austauschprogrammen zusammen und unterstützt die zivile Konfliktbearbeitung. Es engagiert sich in vielfältigen Projekten mit nationalen und internationalen Partnern wie Stiftungen und internationalen Organisationen. Die ifa-Fachbibliothek in Stuttgart, das Internetportal www.ifa.de und die Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH gehören zu den wichtigsten Informationsforen zur Außenkulturpolitik in Deutschland.
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Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen Generalsekretär Ronald Grätz Chefredakteurin: Jenny Friedrich-Freksa Redaktion: Falk Hartig, Karola Klatt Mitarbeit: Timo Berger, Kemal Çalık, Selçuk Caydı, Laura Geyer, Aike Jürgensmann Redaktionsassistenz: Birgit Hoherz Gestaltung: Heike Reinsch Schlussredaktion: Kathrin Kurz Redaktionsbeirat: Bernhard Abels Auswärtiges Amt, Berlin Theo Geißler, Verleger, Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates, Regensburg Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun Redaktionsleiter SWR International, Stuttgart Cord Meier-Klodt Auswärtiges Amt, Berlin Dr. Peter Münch Süddeutsche Zeitung, München Dr. Claudia Schmölders Kulturwissenschaftlerin Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Olaf Schwencke Präsident der Deutschen Vereinigung der Europäischen Kulturstiftung für kulturelle Zusammenarbeit in Europa, Berlin Ilija Trojanow Schriftsteller
Redaktionsadresse: Linienstr. 155 10115 Berlin Telefon: (030)284491-12 Fax: (030)284491-20 E-Mail: kulturaustausch@ifa.de www.ifa.de Leserbriefe: leserbrief@ifa.de Objektleitung: Sebastian Körber Institut für Auslandsbeziehungen Charlottenplatz 17 70173 Stuttgart Tel. (0711) 2225-0 Fax: (0711) 2264346 E-Mail: info@ifa.de Verlag: ConBrio Verlagsgesellschaft mbH Brunnstr. 23 93053 Regensburg Telefon: (0941) 945 93-0 Fax: (0941) 945 93-50 E-Mail: info@conbrio.de Lithografie: Kartenhaus Kollektiv Regensburg Druck: Aumüller Druck Regensburg Anzeigenakquise: Elke Allenstein Telefon: (0178) 8769869 E-Mail: allenstein@conbrio.de Abonnement und Vertrieb: PressUp GmbH Telefon: (040) 41448466 E-Mail: conbrio@pressup.de Postvertriebszeichen: E 7225 F ISSN 0044-2976 KULTURAUSTAUSCH erscheint vierteljährlich. Bezugspreis pro Jahr (4 Hefte): 20 Euro und Zustellgebühr. Preis Einzelheft: 6 Euro. Bestellungen über den Verlag oder den Buchhandel.
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Bild: Unknown artist, Enamel icon with Archangel Michael, Photo per gentile concessione delle Procuratoria di San Marco/Cameraphoto Arte, Venice
Filmfestival Wer es nicht auf die großen Festivals nach Cannes, Venedig oder Toronto geschafft hat, erhält nun bei „Around the world in 14 films“ die Möglichkeit, eine Auswahl herausragender Filme erstmals in Berlin zu sehen. Vom 28. November bis 6. Dezember 2008 werden unter der Schirmherrschaft des Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier deutsche Regisseure Filme vorstellen, die dem „internationalen Dialog“ dienen sollen. Weitere Informationen unter: www.berlinbabylon14.de
Leserbriefe / Kommentare
Kambodschas freie Presse 3/2008 – Wählen in: Kambodscha Der in Ihrem Magazin KULTURAUSTAUSCH III/2008 übersetzte Artikel „Wählen in: Kambodscha“ ist irreführend. Die Parlamentswahlen 1993, 1998 und 2003 wurden von unabhängigen ausländischen Beobachtern aus dem Westen, darunter der EU, beobachtet und als frei und glaubwürdig betrachtet. Sonst würden westliche Länder ihre Hilfe für Kambodscha schon längst aufhalten. Demokratie ist ein langer Prozess, der in Europa, den Vereinigten Staaten und sonst wo mehrere Jahrhunderte gebraucht hat, bis sie in der heutigen Form existierte. Besonders wichtig ist zu beachten, dass Demokratie kein vollkommener Prozess ist und kein Maß für alle, kein „one size fit for all“ sein kann und darf.
Nirgendwo in Südostasien ist die Presse so frei und vielfältig wie in Kambodscha. Nirgendwo in Asien existieren so viele Nichtregierungsorganisationen und zivile Gemeinschaften wie dort. Drei Wahlen haben die politische Stabilität und die nationale Einheit des Landes wesentlich gefestigt, was eine Hauptursache für die schnelle und dynamische Wirtschaftsentwicklung darstellt. Ohne diese kann auch keine Demokratie gedeihen. Widhya Chem, Botschafter des Königreichs Kambodscha, Berlin, in einem Brief vom 11. Juli 2008
Ich möchte die Redaktion für den sehr informativen Kambodscha-Wahlen-Beitrag loben. Leider dringt man mit dem bloßen Hinweis, Wahlen in Kambodscha seien alles andere als demokratisch, kaum durch die derzeitige Medienlandschaft durch. Insofern umso er-
freulicher, wenn Kulturaustausch darauf hinweist. Thomas Hummitzsch, Kambodscha-Gruppe, Amnesty International, Berlin
Khim Sambor, 47, Journalist der Zeitung „Moneaksekar Khmer“, die der Oppositionspartei Sam Rainsy nahesteht, wurde am Freitagabend zusammen mit seinem 21-jährigen Sohn erschossen. Die „Moneaksekar Khmer“ war in Auseinandersetzungen mit der Regierung verwickelt, die seit 30 Jahren von der Kambodschanischen Volkspartei geführt wird. Vor einem Monat wurde der Chefredakteur Dam Sith wegen Beleidigung und Falschinforamtion festgenommen. Meldung der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo vom 12. Juli 2008 Leserbriefe bitte an: leserbrief@ifa.de
Kulturaustausch Zuletzt erschienene Hefte: 3/2008 Wir haben die Wahl – Von neuen und alten Demokratien
2/2008 Heiße Zeiten – Wie uns das Klima verändert
1/2008 Ganz oben – Die nordischen Länder
4/2007 Frauen, wie geht’s ?
3/2007 Toleranz und ihre Grenzen
2/2007 unterwegs – Wie wir reisen
1/2007 Was vom Krieg übrig bleibt
4/2006 Made in India – Was wir von Indien lernen können
Zu bestellen bei conbrio@pressup.de Weitere Informationen unter www.ifa.de Kulturaustausch 1v /08
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Kulturorte
Francisco José Viegas über das Café Majestic in Porto Seit ich mich erinnern kann, hat es in der Welt Cafés gegeben: die meisten großzügig, geräumig oder sehr familiär, aber freigiebig. Sie empfingen einsame Spaziergänger – die einen Unterschlupf in Städten suchten, wo es regnete und der Winter angekommen war – oder geräuschvolle Gruppen von Tischgenossen, Paare, die sich versteckten oder Leser, die sich im Inneren ihrer Bücher verloren. Die Welt des Glanzes und der Finanzen zerstörte die Cafés – die den Alltag in Halte-Momente einteilten (der Kapitalismus versucht uns immer davon zu überzeugen, dass das Leben keinen Halt macht), das Rauchen wurde verboten und die Fast-Food-Ketten und Bankfilialen besetzten diese Orte, die vorher wenig lukrativen Tätigkeiten galten, wie der Konversation, der Literatur und der Sucht. Ich erinnere mich an die Cafés, in denen ich schrieb – mit der Hand, mit Füllfederhaltern, in Heften, die gealtert sind, wie das heutige Europa. Und an die Cafés, die ich zu lieben gelernt habe, wie die in Buenos Aires, Madrid, Paris, Amsterdam oder in Porto – wo sich das Café Majestic befindet. Ich selbst verlor mich in Büchern in solchen Cafés, wo ich lernte Konversation zu betreiben, zuzuhören, verführt zu werden, auf jemanden zu warten. Fernando Pessoa, der größte Einzelgänger der Welt, schmorte den größten Teil seiner Zeit in Cafés, rauchend und schreibend. Wenn ich heute in Lissabon Cafés besuche – einige von ihnen haben die urbane Katastrophe überlebt – höre ich ihre Stimme, fast verstummt, wie ein verlängerter und nostalgischer Vers. In diesem immer richtungsloser werdenden Europa sind die Cafés – dank der Konversationen und der möglichen Zusammentreffen – eine Art Labyrinth, ähnlich den großen Bibliotheken, wo man alle Stimmen hört. Sogar unsere eigene stille Stimme. Aus dem Portugiesischen von Birgit Hoherz
Foto: © mauritius images / SuperStock
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Franciso José Viegas wurde 1962 in der portugiesischen Region Alto Douro geboren. Er ist als Literaturkritiker und Journalist tätig und leitet zurzeit das Literaturmagazin „Ler“. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Reiseführer und Kriminalromane. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Schatten der Tiefe“ (Edition Lübbe, Bergisch Gladbach, 2005). Francisco José Viegas lebt in Lissabon.
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Köpfe
Die deutsche Band „Wir sind Helden“ singt jetzt Chinesisch
Judith Holofernes war zunächst geschockt. Die
Sängerin und ihre Band „Wir sind Helden“ sollten für die CD „Poptastic Conversation China“ eines ihrer Lieder auf Chinesisch einspielen – genauso wie „Die Ärzte“, „Die Sterne“ und weitere Bands aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Als ich den chinesischen Text mit der Umschrift das erste Mal gesehen habe, konnte ich damit gar nichts anfangen. Ich habe zwei Tage gebraucht, um aus der offiziellen Lautschrift meine persönliche Umschrift zu machen“, so Holofernes. Ähnliche Sprachprobleme hatten chinesische Bands wie „Joyside“ und „Shazi“ aus Peking, die sich an deutschen Texten versuchten. Neben den Liedern gibt es eine zweite CD mit einem Minisprachkurs Deutsch vom Goethe-Institut und einem Minisprachkurs Chinesisch vom Pons Verlag. Die Wahl, welches ihrer Lieder die Bands vertonten, trafen sie selbst. So besingt zum Beispiel die chinesische Punkband „Carsick Cars“ die beliebte chinesische Zigarrettenmarke „Zhongnanhai“ – die genauso heißt wie das für die Öffentlichkeit unzugängliche Regierungsviertel. „Wir sind Helden“ entschieden sich für ihr Lied „Kaputt“, trotz der Einwände der Übersetzer, in China könnte der Text vielleicht falsch verstanden werden,
Über Geschichte stolpern „Hier wohnte Ilse Rosenberg. Deportiert 1940. Ermordet 1942 in Auschwitz.“ 16.000 solcher Hinweise hat Gunter Demnig inzwischen in die Bürgersteige Europas eingelassen. Die Messingplatten sollen an die unzähligen im Nationalsozialismus spurlos verschwundenen Menschen erinnern. „Ich bringe die Namen zurück an ihre letzten Wohnorte“, sagt der Künstler. Die Aktion war von Anfang an als europaweites und alle Opfergruppen einschließendes Pro-
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Let me entertain you Tim ist sieben Jahre alt und will irgendwann eine Band gründen. Letztes Jahr bot die Stiftung „Jedem Kind ein Instrument“ dem Dortmunder Erstklässler Instrumente zum ausprobieren an: Geige, Klavier, sogar eine türkische Bağlama. Das einmal wöchentlich stattfindende Musikprogramm, das für Familien mit wenig Geld gebührenfrei ist, soll bis 2010 an sämtlichen Grundschulen des Ruhrgebiets zur Verfügung stehen. Finanziert wird es durch die Kulturstiftung des Bundes, das Land Nordrhein-Westfalen und die Zukunftsstiftung Bildung. Tim wählte für die nächsten drei Jahre Unterricht die Gitarre, „weil ich Musik machen will wie Robbie Williams“.
da er von Problemen mit den Eltern berichtet. Neben der Hilfe durch die Übersetzer hatte Holofernes eine persönliche Trainerin, die ihr bei der Aussprache half. „Ich hatte immer das Gefühl, als würde ich rückwärts singen. Vieles klingt für mich nach Martial-Arts-Filmen, es hört sich so an, als würde man jemanden verhauen.“ Ein interkulturelles Problem stellt die Sängerin auch fest: „Ich würde gern mal wissen, ob uns Chinesen wirklich verstehen. Ich traue meiner Trainerin nicht über den Weg, sie war immer so freundlich!“ Die CD gibt es im Plattenladen oder auf www.fly-fastconcepts.com.
Pionierin
jekt geplant. Mittlerweile liegen „Stolpersteine“ in 350 Kommunen in Deutschland, 12 in Österreich, 13 in Ungarn und einer in den Niederlanden. In deutschen und österreichischen Gemeinden ist die Genehmigung meist recht einfach, da es in beiden Ländern ein größeres Bedürfnis nach Aufarbeitung gibt. In Frankreich und Polen sei es schwieriger, sagt Demnig. Dennoch sind weitere Anfragen aus Paris, Rom und Oslo in Bearbeitung, und nach mehreren gescheiterten Versuchen werden im Oktober 2008 in Polen und Tschechien auch Steine verlegt. Die Ablehnung mancherorts erklärt Demning mit „verletzten Eitelkeiten – aber die berappeln sich auch noch“.
Newcomer
Seit Ende Juli 2008 sorgt die 43-jährige Hoda Nono aus dem Inselstaat Bahrain für eine Premiere in der Diplomatenwelt: Als erste Botschafterin jüdischen Glaubens vertritt sie einen arabischen Staat in Washington. Dabei will sich die zweifache Mutter und erfolgreiche Geschäftsfrau „zuallererst als Staatsbürgerin von Bahrain“ verstanden wissen. Die jüdische Gemeinde der 500.000-Einwohner-Nation zählt aktuell weniger als 50 Mitglieder.
In diesem Jahr wird der libanesische Verlag Dar Onboz zum ersten Mal auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast sein. Das Programm der 36-jährigen Verlagsgründerin Nadine Touma richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche. Ihre Bücher sind aufwendig illustriert und widmen sich spielerisch teils schwierigen Themen. So berichtet beispielsweise ein Comic-Tagebuch vom Alltag eines Mädchens während des Libanon-Kriegs 2006. Kulturaustausch 1v /08
Fotos: (im Uhrzeigersinn): Sven Sindt, privat, ASSOCIATED PRESS, Sivine Ariss, Uta Franke
Es klingt, als würde man jemanden verhauen
58. Jahrgang | 6 Euro
Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen
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überlege noch nie
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nein
bestimmt sehr gern
nicht mit mir
eventuell anders
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weiter so keiner
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WIR HABEN DIE WAHL Von neuen und alten Demokratien klar
nicht sicher
besser ja
alles
prinzipiell
sehr gerne auch bald
ok
immer
jetzt schlecht
bin dagegen gut
In dieser Ausgabe Gesine Schwan _c ?dj[hl_[m
vorhanden
Nadim Oda: :Wi iebb :[ceahWj_[ i[_d5 Colin Crouch: :[h Ceh][d ZWdWY^ Fritz Stern: P[hXh[Y^b_Y^[ <h[_^[_j Saskia Sassen: M[bjX h][h
gelegentlich
Radha Kumar: ;_d[ <ehc\hW][ Abbas Khider: :Wh X[h bWY^j Z[h ?hWa Shi Ming: 9^_dWi ,.¼[h ;hX[
bücHer
Das Ende westlicher Dominanz Der Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani aus Singapur prognostiziert eine neue Weltordnung Von erhard haUBold
Grafik: Die Illustation ist dem „Arzneibuch der Periode Shao-hsing vom Jahre 1159“ entnommen, Herausgegeben von Otto Karow. Bayer AG , Leverkusen, 1956.
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er im Westen kennt Kumari Mayawati, die Chefministerin des größten indischen Bundesstaats Uttar Pradesh mit 190 Millionen Einwohnern? In wenigen Jahren ist die 52-Jährige auffällig reich geworden und jetzt auf gutem Weg, nach den gesamt indischen Wahlen im nächsten Jahr die Premierministerin der größten Demokratie der Welt zu werden. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, man denke nur an Indira Gandhi, wäre Mayawati nicht eine Dalit, eine Unberührbare. Sie gehört zu den Kastenlosen, die Mahatma Gandhi einmal die „Kinder Gottes“ genannt hat – 150 Millionen Menschen und wahrscheinlich die größte benachteiligte Minderheit auf der Welt. Für sie gibt es nur die niedrigsten, schmutzigsten aller Tätigkeiten, sie wohnen am Rand der Dörfer, sie dürfen oft weder zum Dorfbrunnen noch in den örtlichen HinduTempel. Viele Kastenangehörige, vor allem Brahmanen, nehmen sofort ein „reinigendes“ Bad, wenn ein Dalit sie berührt hat, oder wenn nur sein Schatten auf sie gefallen ist. Der Aufstieg Mayawatis ist exemplarisch für die explosiven Veränderungen, die in den letzten Jahren in Asien stattgefunden haben und die Kishore Mahbubani in seinem neuen Buch beschreibt. Die soziale Revolution in Indien, unblutig dank funktionierender demokratischer Institutionen, ist ebenso bemerkenswert wie das wirtschaftliche Wachstum KulturaustauscH 1v /08
Professor an der National University of Singapore und Rektor der Lee Kuan Yew School of Public Policy. Zusammen mit Tommy Koh und Tony Siddiqi gehört er zu jenen Intellektuellen Singapurs, die das autoritäre System des Stadtstaats verteidigen: weil man westliche Demokratiemodelle nicht einfach übertragen könne, weil auch die Sicherheit von Nahrung, Wohnung und der Schutz vor Verbrechen zu den elementaren Menschenrechten gehörten. Anfang der 1990er-Jahre führte er jene an, die den unaufhaltsamen Aufstieg asiatischer, konfuzianischer Werte und das Ende der westlichen „Dominanz“ vorhersagten. Nach der großen Asienkrise 1997 wurde es still um Mahbubani, jetzt ist er wieder da – weniger überheblich, wenngleich in manchen seiner Aussagen viel zu optimistisch. So bleibt es das Geheimnis des amerikanischen Ökonomen Larry Summers, den er zustimmend zitiert, wie der Lebensstandard in Asien innerhalb einer Generation um das Hundertfache wachsen soll. Oder wie die
im einstigen Armenhaus der Welt, ganz zu schweigen von den immensen Devisenreserven, mit denen China die amerikanische Wirtschaft finanziert und den Exporterfolgen der vier Tigerstaaten Singapur, Südkorea, Taiwan und Hongkong. Mahbubani sieht Milliarden von Asiaten in die Modernität marschieren, er sieht Asien förmlich explodieren, „weil Völker, deren Geisteskräfte jahrhundertelang unterfordert waren, jetzt vor Kreativität bersten.“ In Asien verlassen Jahr für Jahr mehr Ingenieure die Hochschulen als in allen westlichen Ländern zusammen. Immer noch gehen fähige junge Leute nach A merika, aber Völker, deren Geisteskräfte immer mehr kommen hinterher, jahrhunderte lang unterfordert waren, reich an Erfahbersten jetzt vor Kreativität rungen, zurück in die Heimat, wo sie, wie in Indien, in die Informations- Armut auf der Welt bis 2015 um die Hälfte technologie einsteigen. Oder, wie in China, reduziert werden kann, wie die Vereinten Nanicht mehr nur kopieren, sondern für eigene tionen und Mahbubani glauben. Man müsste Innovationen sorgen. Überall in Asien trifft nur einmal durch die indischen Dörfer reisen, man heute auf Stolz und Selbstbewusstsein, um zu sehen, wie es um das SpannungsverOptimismus und Zukunftsgläubigkeit – kein hältnis zwischen Globalisierung und Armut Wunder bei wirtschaftlichen Wachstumsra- steht. An die 100.000 Bauern haben dort in ten von beinahe zehn Prozent in Indien und den letzten zehn Jahren Selbstmord verübt, China. Millionen von Menschen entkommen weil sie nicht mehr genug erwirtschaften, in jedem Jahr der Armutsfalle, lernen lesen weil hohe Preise für „ertragsintensive“ Dünund schreiben. Die Kindersterblichkeit sinkt, gemittel sie in die Arme von Kredithaien die Lebenserwartung steigt ebenso wie das getrieben haben. Viele haben den Eindruck, Bildungsniveau und das mobile Telefon ist der dass es ihnen heute schlechter geht als vor der Einführung der wirtschaftlichen Reformen große soziale Gleichmacher. Mahbubani selbst ist ein gutes Beispiel für 1991: weil der Staat immer mehr Sozialdienste diese Dynamik. Für ihn, aufgewachsen in privatisiert; weil Sonderwirtschaftszonen, die einer indischen Familie in bescheidenen Ver- private Investitionen anlocken sollen, immer hältnissen, gehörte das Wasserklosett zu den mehr Bauern von ihrem Land vertreiben und großen Ereignissen seiner Jugend. Nach einer arbeitslos machen; weil der rigorose Abbau herausragenden Karriere im diplomatischen wertvoller Ressourcen (Eisenerz, Bauxit) oft Dienst Singapurs, unter anderem als Botschaf- zu erzwungenen Umsiedlungsaktionen von ter bei den Vereinten Nationen, ist er heute Einheimischen, vor allem Ureinwohnern
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führt, die dabei noch miserabel entschädigt werden. Längst haben sich, in Indien wie in China, zwei Gesellschaften herausgebildet. Da ist der zunehmend wohlhabende Mittelstand, in Indien vielleicht 250 Millionen Menschen stark, der nach Amerika blickt, an den materiellen Segnungen des Westens teilnehmen und die armen Landsleute am liebsten vergessen möchte. Sie sind die anderen 750 Millionen, über die in den Medien immer weniger zu lesen ist, für deren Nöte die Gerichte immer weniger Verständnis zeigen, die mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen und dem „shining India“ der Oberschicht bei den letzten Wahlen 2004 eine vernichtende Quittung ausgestellt haben. Noch immer gilt das Weltbank-Prinzip des „trickle down“, wonach Wirtschaftswachstum und allgemeiner Wohlstand der Reichen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickere, obwohl jeder weiß, dass es nicht funktioniert. Schon der 1991 ermordete Rajiv Gandhi hat zugegeben, dass von der massiven Entwicklungshilfe, die Delhi auf die 600.000 Dörfer schickt, nicht einmal ein Viertel bei den wirklich Bedürftigen ankommt. Unter Fachleuten gilt die Faustregel, dass jedes Prozent wirtschaftlichen Wachstums eine Million Menschen über die Armutsgrenze befördert. Es wird also lange dauern, bis Indien in jenen Kreis der neuen „Großmächte“ aufrückt, zu denen Mahbubani auch China und Russland zählt. Und ganz sicher voreilig ist seine Behauptung, dass wirtschaftliches Wachstum zu mehr rechtlicher und sozialer Sicherheit, zu einem Nachlassen religiöser Konflikte führe. Das Massaker an den Muslimen von Gujarat 2002 mit mehr als 2.000 Toten gibt einen Vorgeschmack auf die Verteilungskämpfe der Zukunft. Über die Entwicklung Chinas kann man mangels Transparenz nur spekulieren. Mahbubani scheint der Meinung zu sein, dass es einem flexiblen Autoritarismus dort gelingen könnte, soziale Spannungen rechtzeitig aufzufangen und die Ein-Parteien-Herrschaft noch geraume Zeit fortzusetzen. Jedenfalls ist er voll des Lobs für Deng Xiaoping, der den „Fehler“ Gorbatschows nicht wiederholt und dem Westen „nicht auf den Leim“ gegangen sei, der nur die Marktwirtschaft eingeführt habe, den Protest der Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens aber habe nieder-
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schießen lassen. Wäre es anders gekommen, Soldaten auf die Korrespondentenbüros von „hätte eine Milliarde Chinesen eine ähnliche Al-Dschasira in Kabul und Bagdad schießen Verschlechterung ihrer Lebensumstände er- lässt? Nach Guantanamo und Abu Ghraib quitlebt wie das russische Volk.“ tieren asiatische Kanzleien jedwede westliche Das ganze Buch durchzieht die Forderung Vorhaltung in Sachen Menschenrechte mit nach einer neuen Weltordnung. Angesichts der einem Lächeln, und den jährlichen Bericht des Aufsteiger in Asien könnten Amerika und seine State Department zu diesem Thema legen sie westlichen Verbündeten nicht mehr allein den ungelesen zu den Akten. Gang der Geschäfte bestimmen, nicht mehr die In Zeitungsinterviews hat sich Mahbubani Spitzenplätze in Weltbank, Währungsfonds hoffnungsvoll zu einer Präsidentschaft Obaund anderen internationalen Organisationen mas geäußert. Er macht aufmerksam auf eine besetzen: 900 Millionen Menschen im Wes- oft unprofessionelle amerikanische Außenpoten gegen 5,6 Milliarden in der übrigen Welt. litik, ihr Ignorieren von Kultur und Geschichte Wie die neue Ordnung aussehen wird, verrät anderer Länder, auf die Versäumnisse in den uns Mahbubani vielleicht in seinem nächsten letzten Jahren und deren „elektrifizierende“ Werk. Der große Wert der vorliegenden Arbeit Wirkung auf 200 Millionen Araber und 1,2 liegt in der schonungslosen Analyse westlicher Milliarden Muslime in der Welt. Von der Außenpolitik mit den Augen eines Asiaten, Europäischen Union erhofft er sich wenig, die der Amerikanern und Europäern nach acht sei zu sehr mit sich selbst, mit ihrer ErweiteJahren unter Präsident George W. Bush und rung beschäftigt. Dagegen fasziniert ihn die den „neocons“ die Rechnung präsentiert; sie Außenpolitik Chinas, der es gelungen sei, ein lautet: massiver Ansehensverlust Amerikas, beträchtliches Maß an „soft power“ und ein „Ent-Westlichung“ Asiens, De-Legitimierung wirksames Gegengewicht zu Amerika aufzuvon Macht und Einfluss des Westens. Die bauen, ohne auch nur einen Nachbarn in Asien a mer i k a n i schbritische InvaDer große Wert des Buchs liegt in der sion im Irak beschonungslosen Analyse westlicher zeichnet MahbuAußenpolitik mit den Augen eines Asiaten bani als einen kolossalen „seismischen“ Fehler, einen illegalen Krieg und zu vergrätzen. Dem Schriftsteller V.S. Naipaul, einen weiteren Beweis dafür, dass die geis- der die westliche Zivilisation als die universale tigen Landkarten der führenden westlichen ausgemacht hat, widerspricht Mahbubani auf Köpfe veraltet sind. Solch harsche Kritik ist das Heftigste. Andererseits konstatiert er, dass umso bemerkenswerter, als sie aus einem die meisten Chinesen einen großen Traum hätLand (Singapur) kommt, das zu den treuesten ten: den amerikanischen. Das wäre denn die Verbündeten Amerikas zählt. Man spürt in große Hoffnung nach verlorenen Jahren und diesem Buch etwas von der Wut in der Dritten Illusionen. Freilich: In China studieren bereits Welt über die oft arrogante, heuchlerische doppelt so viele Indonesier wie in Amerika. Außenpolitik Washingtons, die Verbündete zu Dienstmägden degradiert und im UN- Erhard Haubold, geboren 1936, ist Publizist Sicherheitsrat beinahe immer ihre eigenen und ehemaliger Asien-Korrespondent der Wünsche durchboxt. Für Irak und Afgha- „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er lebt in nistan sagt Mahbubani westliches Scheitern Berlin und Mosman (Australien). voraus, er beklagt den Zusammenbruch eines The New Asian Hemisphere. The Irresistible über Jahrhunderte sorgfältig aufgebauten Shift of Global Power to the East. Von Kishore internationalen Rechtssystems und die Ver- Mahbubani. Public Affairs, New York, 2008. letzung der Genfer Konventionen, für die die Die deutsche Fassung erscheint unter dem Bush-Administration verantwortlich ist. In der Titel „Die Rückkehr Asiens. Das Ende der Tat, wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass westlichen Dominanz“ im November 2008 im Amerika Häftlinge in Ägypten und anderen Propyläen Verlag, Berlin. diktatorischen Ländern foltern, dass es seine Kulturaustausch 1v /08
Bücher
„Gewalt wird zur Routine“ Ein Interview mit dem jungen israelischen Autor Yiftach Ashkenazy über sein neues Buch „Mein erster Krieg“
Gewalt war und ist ein Teil meines Lebens, weil ich in einem sehr gewalttätigen Land lebe. Wenn man über Gewalt schreibt, wird das Geschriebene auch gewalttätig; das ist wie ein Vorzeichen. Ich versuche zu verstehen, was ich als junger Israeli über Gewalt denke, und dies von innen heraus zu dekonstruieren. Gewalt wird an jedem Checkpoint zur Routine: Man kann nicht mehr erklären, warum man sich und anderen das antut. Kann ein Bürger Ihres Landes der gewalttätigen Atmosphäre entkommen? Man kann dem Militärdienst entkommen, das tun viele.
Foto: OV-Z.A.P.
Yiftach Ashkenazy wurde 1980 in Karmiel, Israel, geboren. Er studiert Kulturwissenschaften in Jerusalem und arbeitet als Besucherführer in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
und „falsch“ sind nach dem Libanonkrieg viel schärfer gezogen worden. Vor 15 Jahren – zur Zeit des Osloer Friedensplans – glaubte man noch, Frieden sei möglich. Heute glaubt das niemand mehr, deshalb kann man das heute auch einfach nicht mehr sagen. Der hebräische Titel Ihres Bandes kann „Bett Nummer Sechs“ oder auch „Tod Nummer Sechs“ bedeuten. Alle Geschichten spielen in einer Notaufnahme. Ist das Ihre Metapher für die Zukunft Israels? Wenn ich die israelische Situation mit einem Krankenhaus erklären wollte, dann nur so, dass niemand krank im Bett liegt! Wie würden Sie die Zukunft fassen? Ich versuche, hoffnungsvoll zu bleiben. Aber die israelische Kultur zerstört in vielerlei Hinsicht die Gelegenheiten für eine Lösung der Probleme. Ich kann nichts zur arabischen Kultur sagen, da ich nicht zu den Palästinensern gehöre. Die Kulturschaffenden, sei es im Fernsehen oder in der Literaturszene, müssen das Leben anders zeigen, sich stärker der Zerstörung annehmen.
Herr Ashkenazy, Ihr neues Buch heißt „Mein erster Krieg“. Was war Ihr erster Krieg? Nachdem ich 2003 nach Jerusalem gezogen war, sah ich den Krieg, sobald ich auf die Straße ging: die vielen Anschläge. Aber ich spreche lieber von „Kriegserfahrung“: dass du jemanden töten kannst und dass dich jemand töten kann, ohne groß nachzudenken, aus dem Moment heraus. Diese Kriegserfahrung beherrscht das israelische Unterbewusstsein. Meine Eltern waren durch ihre Kriege posttraumatisiert, ich bin wahrscheinlich durch meine posttraumatisiert. Krieg bedeutet, gleichzeitig Opfer und Täter zu sein. Der Täter ist für mich die viel interessanter Figur, denn er kann seine Rolle verändern.
Welcher Zerstörung? Wie? Der Zerstörung durch Rassismus, FremdenMan sagt, man habe psychische Probleme oder sei nicht fit. In den Reserveeinheiten ist hass und durch das Denken „alle Juden sind“ das leichter. Aber Gewalt findet man nicht nur oder „alle Araber sind“. Literatur allein kann in der Armee. Autoren der älteren Generation aber nicht die Lösung bringen. Wenn man schauen vor allem auf die Erfahrungen, die schreibt, gibt es keine Lösung, höchstens ein man im Militär macht. Meine Generation paar gute Enden. glaubt aber, dass die israelische AtMan kann nicht mehr erklären, mosphäre nicht warum man sich und anderen das antut nu r du rc h d ie Armee bestimmt wird, sondern dass vieles, wozu wir erzogen Welche Rolle könnte Europa im Nahost-Friedenswurden, in der Armee in einem neuen Licht prozess spielen? Die heutigen deutsch-französischen Bezieerscheint. Zum Beispiel das ehrenamtliche Engagement: Es ist außerhalb der Armee etwas hungen sind beeindruckend. Vor 60 Jahren Gutes, zum Beispiel für die Kibbuz-Arbeit. In hassten die beiden Völker sich bereits seit 300 der Armee aber bedeutet Engagement, dass Jahren. Europa hat einen Code gefunden, wie sich Soldaten freiwillig für sehr gefährliche man Hass beenden kann. Wir Autoren können davon lernen. Jobs melden.
Ihr erstes Buch, der Roman „Die Geschichte vom Tod meiner Stadt“, zeigte gebrochene, müde Menschen in einem Land, das Leid und Schmerz in den Alltag integriert hat. Sie wählen die großen Themen – Tod und Gewalt. Warum?
Ist die israelische Gesellschaft gespalten? Ich weiß nicht, wie ich das höflich sagen soll. Man wird kaum eine Gemeinschaft finden, in der der allgemeine Konsens so allumfassend ist wie in Israel. Die Grenzen zwischen „richtig“
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Sie begleiten seit drei Jahren Besucher in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Was bedeutet Ihnen diese Arbeit? Für mich ist es wichtig, mehr über den Holocaust zu lernen und mein Wissen weiterzu-
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geben. Man lernt zu verstehen, wie bedeutsam Erinnerungen sind, und kann den Besuchern zeigen, dass der Weg, von einem normalen Bürger zum Mörder zu werden, sehr kurz ist. Das Grauen beginnt nicht mit der Ausrottung, es beginnt viel früher mit sich verändernden Beziehungen zwischen Menschen und mit Dämonisierung. Das Interview führte Nikola Richter Mein erster Krieg. Von Yiftach Ashkenazy. Sammlung Luchterhand, München, 2008. Die Geschichte vom Tod meiner Stadt. Von Yiftach Ashkenazy. Sammlung Luchterhand, München, 2005.
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Verschenkte Chance Die Universität Hildesheim hat einen Band mit Fallstudien zur Auswärtigen Kulturpolitik herausgegeben Von Barthold C. Witte
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rwartungsvoll nimmt man dieses Buch zur Hand: Sein Titel „Auswärtige Kulturpolitik“ und der Herausgeber, Professor Wolfgang Schneider, Universität Hildesheim, versprechen einen weiterführenden Beitrag zur Debatte um Ziele und Richtung der „dritten Säule der Außenpolitik“. Enttäuscht legt man es nach der Lektüre beiseite. Nicht deshalb, weil Professor Schneider mit diesem Band einer Reihe seiner Schüler und Schülerinnen die Möglichkeit zu einer ersten Publikation ihrer Fallstudien zur Auswärtigen Kulturpolitik verschafft hat – das ist legitim und sogar gut. Wohl aber, weil der im Titel erhobene Anspruch und seine Realisierung weit auseinanderklaffen. Dabei sind manche Fallstudien durchaus von Interesse, so einige der Arbeiten zum Thema „Europäische auswärtige Kulturpolitik“, besonders die kenntnisreiche Arbeit von Robert Peise, oder auch der Beitrag von Daniel Gad zum immer noch problematischen Verhältnis von Auswärtiger Kultur- und Entwicklungspolitik. Indessen krankt das von Wolfgang Schneider in seinem Vorwort erläuterte Grundkonzept der Publikation gleich mehrfach an sich selbst. Erstens ist sein Kulturbegriff allzu eng, nämlich begrenzt auf Kunst, Literatur, Musik, Film und Verwandtes, so wie er in der innerdeutschen Debatte leider noch vorherrscht. Weder das Auslandsschulwesen noch der Hochschulbereich und seine Mittler kommen als Themen vor, und die Medien allenfalls als Transporteure kultureller Botschaften. Mit Ausnahme der Städtepartnerschaften fehlt auch der weite Bereich des zwischengesellschaftlichen Dialogs, vom Sport bis zu den Kirchen. Kein Wunder, dass in den Literaturangaben wichtige Publikationen zur Auswärtigen Kulturpolitik gar nicht auftauchen. Daraus ergibt sich zweitens, dass die rich-
tige, obgleich nicht neue Erkenntnis, wie eng die jeweilige innere Szene und die Auswärtige Kulturpolitik miteinander verflochten sind, zu der falschen Forderung führt, beides gehöre innerhalb der Bundesregierung in eine Hand, nämlich in die des beim Bundeskanzleramt angesiedelten Staatsministers für Kultur. Ganz abgesehen davon, dass Kultur und Bildungswesen innerstaatlich ganz überwiegend Ländersache sind, wird damit negiert, wie unentbehrlich die „dritte Säule“ für jede Außenpolitik ist. Stattdessen zeichnen etliche Beiträge ein Zerrbild der Außenpolitik, die angeblich durch ihre Zielsetzungen die Freiheit der Kultur einschränke. Nun gibt es hier durchaus ein Spannungsverhältnis, doch lehrt hundertjährige Erfahrung in diesem Feld, dass und wie es lösbar ist. Das kommt eben davon, wenn man sich, wie die Einordnung des Buchs in eine Reihe „Texte zur Kulturpolitik“ ausweist, unter die Fittiche des Deutschen Kulturrats begibt, der aufgrund seines verengten Kulturbegriffs und seiner innerstaatlich beschränkten Perspektive gerne Neumann statt Steinmeier als obersten auswärtigen Kulturpolitiker sähe. Summa: Hier wurde eine schöne Chance leichtfertig verschenkt. Dr. Barthold C. Witte, ehemaliger Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, ist als kulturpolitischer Berater und Publizist tätig. Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip. Herausgegeben von Wolfgang Schneider. Klartext Verlag, Essen, 2008. Siehe auch Forum: „Kulturelles Selbstverständnis“, S. 74-75.
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Bücher
Lachen, um nicht zu weinen Der Debütroman „Der falsche Inder“ des irakischen Schriftstellers Abbas Khider erzählt von einer Flüchtlingsodyssee Von Piero Salabé
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wieder freigelassen.“ Ausführlich schildert er dagegen seine Leidenschaft für Frauen, denen er von Libyen bis Bayern „auffällig und gern auf der Straße hinterherschaut, hauptsächlich denen mit besonders prallen Hintern“. Ein zielloser Flüchtling, der zwischen Intellektualität und Lüsternheit schwankt, mal als Kellner, mal als Lehrer arbeitet, der sich schnell verliebt und ebenso schnell das Land seiner Geliebten verlässt, weil er „nirgends mehr bleiben wollte, wo in den Straßen die Bilder irgendwelcher Präsidenten herumhingen“. Als „falscher Inder“ bezeichnet er sich, da man ihn als Kind wegen seiner dunklen Hautfarbe für einen Inder hielt. Auch später während der Flucht glaubt man ihm seine irakische Nationalität nicht und vermutet einen TäuEr wollte nirgends bleiben, wo schungsversuch, um leichter Asyl zu erhalten. Der Präsidentenbilder hängen Erzähler kämpft sich durch, erlebt Schreckliches – insbeIrrnisse und Wirrnisse eines jungen ira- sondere an der griechisch-türkischen Grenze, kischen Flüchtlings, der sich in verschiedenen wo sich die skrupellosesten Schlepperbanden arabischen Ländern durchschlägt – in Jorda- konzentrieren und Eltern von ihren Kinder nien, Libyen und Tunesien –, bis er über die getrennt werden – und behält trotz alledem Türkei illegal nach Griechenland und von dort einen heiteren, schelmischen Ton. Woher aus schließlich nach Deutschland gelangt. Am rührt seine Unfähigkeit, Trauer auszudrüEnde seiner Odyssee hält er seine Erfahrungen cken? Lacht er etwa, um nicht zu weinen? Sollte in einem Manuskript fest, das von einem diese Vermutung stimmen: Im Roman wird Landsmann im ICE Berlin-München aufge- die Verdrängung nicht thematisiert, und auch funden wird. Dieser zweite Iraker steht für der berühmte Humor der Hoffnungslosen, das andere Ich des Erzählers, das sich endlich wie man ihn beispielsweise aus der jüdischen mit der eigenen verdrängten Vergangenheit Literatur kennt, kommt nicht zum Tragen. Durch die Unbekümmertheit des Erzähltons konfrontiert. Schlimm muss diese Zeit der Verfolgung und die oberf lächliche Beschreibung der gewesen sein, und man würde gerne mehr über Lebensgeschichten anderer Flüchtlinge wird das berüchtigte Regime Saddams wissen. Doch das Leid der Opfer für den Leser wenig nachder Erzähler resümiert seine Schrecken in nur vollziehbar. Denn die bloße Erwähnung, der drei Sätzen: „Die Diktatur wurde härter. Wi- krude, unverarbeitete Realismus, erzeugen derstand schien schier unmöglich. Ich wurde keine Einfühlung und wirken sich ähnlich aus politischen Gründen inhaftiert und später wie schnell vorübergehende Nachrichtenbilder eit dem Einmarsch der US-Amerikaner in den Irak und der Beseitigung Saddam Husseins steht das Zweistromland im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Nicht dass seine Einwohner vorher uninteressanter oder ihr Leid geringer gewesen wären – doch die Herzen der Bürger westlicher Demokratien erwärmen sich meist auf medialen Zuruf. Vom Land, das man so lange unbeschwert ignoriert hatte, möchte man auf einmal mehr erfahren. Und siehe da, es florieren Bücher zum Thema „Irak“ – nicht nur Sachbücher, sondern auch Romane. Ein solcher ist der Debütroman des 1996 aus dem Irak gef lohenen Lyrikers Abbas Khider („Der falsche Inder“). Er erzählt die
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aus. Man ist zwar informiert, hat aber zum Leid der Menschen wenig Bezug. Dagegen gibt der Erzähler gerne Klischees und Vorurteile kund, unter anderem über Schwule. So heißt es über den Taksim-Platz in Istanbul: „Niemals hätte ich dort des Nachts allein spazierengehen mögen, weil haufenweise Schwule, auf Kundschaft wartend, den Straßenrand säumten.“ Der ansonsten positiv konnotierte Ich-Erzähler irritiert den Leser mit solchen Aussagen. So viel Nachsicht für kulturelle Eigenheiten – etwa der verbreiteten Homophobie in der islamischen Gesellschaft – mag man nicht aufbringen. Sprachlich ist das Buch an einigen Stellen nicht gut lektoriert. Durch den Kopf des Erzählers wirbeln beispielsweise Fragen „wie Trommeln auf einem afrikanischen Fest“. Warum wurde dieser Roman publiziert? Weil ein aus dem Irak stammender Autor einen Erlebnisbericht über das Flüchtlingsdrama, das sich an Europas Grenzen abspielt, verfasst hat. Was diesem Bericht fehlt, ist ein Verarbeitungsprozess, eine tiefere Auseinandersetzung mit der Realität, an der ein Leser ohne diese Lebenserfahrung teilhaben kann. Dr. Piero Salabé, geboren 1970 in Rom, ist Rezensent und Lektor. Er lebt in München. Der falsche Inder. Von Abbas Khider. Edition Nautilus, Hamburg, 2008.
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Neuerscheinungen
Public Diplomacy
Europäische Kulturpolitik
Bilaterale Kulturbeziehungen
Euro-Islamischer Kulturdialog
Kultur ist die Tradition, die Gemeinschaften und ihre Werte definiert, aber auch ein Exportprodukt, mit dem Handel getrieben und gezielt Einfluss genommen werden kann. Letzterem widmet sich die Auswärtige Kulturpolitik unter dem längst international gewordenen Begriff der „Public Diplomacy“. Die Autoren der vorliegenden Publikation reflektieren die Ziele der „Public Diplomacy“ anhand von Fragen wie: Was sagt das Produkt über den jeweiligen Akteur aus? Welche der möglichen Strategien und Zugänge werden gewählt? An wen richtet sich das entsprechende Kulturprodukt? Die Publikation versteht sich als Leitfaden zum Überdenken der eigenen Rolle bei der Kontaktaufnahme, die passiv zuhörend oder aktiv informierend gestaltet werden kann, und zur Definition der jeweiligen Zielgruppe, die international oder aber regional klar begrenzt sein kann. Der Leitfaden richtet sich an Akteure der Auswärtigen Kulturpolitik wie an Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Er möchte dazu beitragen, grenzüberschreitende Kulturaktivitäten bewusster und effizienter zu gestalten. Im Internet ist der Text unter www. counterpoint-online.org/~ verfügbar. (Sch)
Die „Kulturhauptstadt Europas“ ist eine der publikumswirksamsten Initiativen europäischer Kulturpolitik. Von einem Sommerevent mit vergleichsweise bescheidenem Budget von 7,7 Millionen Euro (Athen 1985) hat es sich zu einem Ganzjahresereignis mit einem Etat von 85 Millionen Euro (Liverpool 2008) gemausert. Der vorliegende Band beschreibt die politische und programmatische Entwicklung der Kulturhauptstadt-Idee als Instrument europäischer Identitätsstiftung. In weiteren Beiträgen schildern die Autoren die unterschiedliche Umsetzung des Kulturstadtjahres und die Nachhaltigkeit der Veranstaltungen in Glasgow 1990, Luxemburg 1995 und Weimar 1999 sowie die unterschiedliche Herangehensweise an die Themen nationales Erbe und europäische Zukunft in Salamanca 2002 und Graz 2003. Bei der Wahl von Sibiu und Luxemburg 2007 wurde erstmals eine Region zur Kulturstadt Europas ernannt und gleichzeitig eine west- mit einer osteuropäischen Stadt kombiniert. Diese Kombination wird es weitere zehn Jahre lang geben, und auch die Stärkung der Regionen setzt sich mit der Ernennung des Ruhrgebiets zur Kulturhauptstadt Europas 2010 fort. (Cz)
Sind es vor allem die georgische Natur, seine Kultur, die archaische Sprache, die traditionellen Gesänge oder die Herzlichkeit der Menschen, die Georgien ausmachen? Interviews mit 16 Deutschen und 16 Georgiern geben Aufschluss. Sie berichten aber auch von der manchmal ernüchternden Praxis deutsch-georgischer Zusammenarbeit und versuchen, die kulturellen Unterschiede zwischen beiden Staaten sichtbar zu machen. Die Herausgeber haben Wert darauf gelegt, dass sich zwischen den einzelnen Interviews Bezüge ergeben. Das Buch richtet sich an Interessenten, die längere Zeit in Georgien verbringen möchten und sich intensiver mit dem Land beschäftigen wollen. Der zweite dokumentarische Teil verzeichnet daher staatliche Organisationen wie Auslandsvertretungen und Konsulate, entwicklungspolitische Einrichtungen, Institutionen aus Kultur und Bildung, politische und private Stiftungen, Initiativen und Projekte, Vereine, Kirchen, Medien und Fluggesellschaften. Neben einer Beschreibung ihrer Aufgaben im Rahmen des deutsch-georgischen Austauschs und der Zusammenarbeit werden auch Kontaktdaten und die Namen von Ansprechpartnern genannt. (Cz)
Der Arabist Muhsin al-Musawi geht in seiner neuesten Publikation der Frage nach, welche Rolle die Kultur für die Selbstwahrnehmung der irakischen Bevölkerung im Rahmen der politischen Unruhen der letzten Jahre spielt. Unter der Regierung Saddam Husseins, so seine Ausgangsthese, habe sich eine große Kluft zwischen den Zielen und Interessen der irakischen Führung und denjenigen des Volks aufgetan. Auf diese Differenz möchte er aufmerksam machen: Er spürt den verschiedenen Herkünften der irakischen Kultur in ihrer historischen Entwicklung nach und zeigt auf, welche Rolle der Rückbezug auf Epochen kultureller Blüte – etwa auf die Zeit des Babylon Nebukadnezars oder des Bagdad unter den Abbassiden – für die Identität des Irak spielt. Aus der Identifikation mit den einmaligen künstlerischen Hinterlassenschaften in den Bereichen Architektur und Literatur, so al-Musawi, ziehe das irakische Volk nicht nur Stolz und Selbstbewusstsein, sondern habe auch Strategien entwickelt, immer wieder Widerstand gegen Versuche der Unterdrückung und der Diktatur zu leisten, denen der Irak im Laufe der Jahrhunderte ausgesetzt war. (Sch)
Options for Influence. Global campaigns of persuasion in the new worlds of public diplomacy. Von Ali Fisher und Aurélie Bröckerhof f. London: British Council, 2008. 62 Seiten.
Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik. Herausgegeben von Jürgen Mittag. Essen: Klartext-Verlag, 2008. 240 Seiten.
Spiegelbilder. Er fahrungen der deutsch-georgischen Zusammenarbeit. Herausgegeben von Ludmilla Klotz, Götz-Martin Rosin. Berlin: 2007. 290 Seiten.
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Reading Iraq. Culture and Power in Conflict. Von Muhsin al-Musawi. London: Tauris, 2006. 198 Seiten.
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Neuerscheinungen
Krieg und Kultur
Frankreich und die USA
Public Diplomacy
Auswärtige Kulturpolitik
Können Kriegs- und Konf liktsituationen interkulturelle Beziehungen intensivieren? War dies zwischen Deutschland und Frankreich im letzten Jahrhundert der Fall? Diesen Fragen geht das vorliegende Jahrbuch des Frankreich-Zentrums an der Universität Saarbrücken nach. Anliegen der Autoren ist es, eine neue Perspektive auf die deutsch-französischen Beziehungen zu werfen und neue Forschungsfelder zu eröffnen. Die bislang getrennt untersuchten Zeiträume des Kriegs, der französischen Besatzung in Deutschland und der Nachkriegszeit werden gemeinsam unter dem Aspekt des Kulturtransfers und der interkulturellen Vermittlung betrachtet. Darüber hinaus beschäftigen sich die Beiträge mit der emotionalen Komponente von Kulturbeziehungen. Gerade die Entemotionalisierung gilt in manchen Fachkreisen als Ursache für das zurückgehende Interesse in Frankreich und Deutschland am Partnerland. Am Beispiel von Vermittlungsmedien wie Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunksendungen, Theaterstücken und Filmvorführungen sowie von intellektuellen Netzwerken wird das kulturelle Feld der deutschfranzösischen Beziehungen dargestellt. (Cz)
In den 1960er-Jahren ist die französische Kultur die dominierende ausländische Kultur in den Vereinigten Staaten gewesen. Wie Frankreich sich durch eine geschickte Auswärtige Kulturpolitik von einer besiegten Macht zu einem gleichberechtigten Partner und Alliierten entwickeln und „Vichy“ vergessen machen konnte, beschreibt die Autorin in ihrer Studie. Sie untersucht die Akteure, Ziele und Herausforderungen der französischen Außenkulturpolitik während des Kalten Krieges in den USA. Wichtigste Zielgruppe Frankreichs waren die jungen Akademiker. Große Bedeutung kamen daher den Austauschmaßnahmen zu. Daneben standen aber auch Sprachenpolitik, französische Kulturwochen und die Politik der Association Française d’Action Artistique im Fokus der französischen Kulturdiplomatie. Die Autorin weist nach, dass die Kulturbeziehungen zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten tiefer und sehr viel ausgewogener waren als bisher angenommen. Während der US-amerikanische Einfluss in Europa und Frankreich schon häufig untersucht wurde, liegt mit dieser Arbeit eine der selteneren Analysen der Wirkungsweise französischer Außenkulturpolitik in den USA vor. (Cz)
Die Beeinflussung ausländischer Öffentlichkeiten, um eigene Interessen bei einer anderen Regierung durchzusetzen, sehen die Herausgeber als Ziel von Public Diplomacy. Dem gegenüber steht die interne politische Kommunikation, die sich an die eigene Bevölkerung richtet. Das Wechselspiel zwischen beidem lässt sich am Beispiel des Irakkriegs verdeutlichen, ebenso wie die unterschiedlichen Strategien der amerikanischen und deutschen Public Diplomacy hierzu. Die Beiträge zeigen, dass die amerikanische Public Diplomacy deshalb erfolglos blieb, weil es ihr an Dialogbereitschaft, einer einheitlichen Botschaft und an Glaubwürdigkeit mangelte. Der deutschen Public Diplomacy gelang es ihrerseits nicht, ihre Argumente für die Ablehnung des Irakkriegs der amerikanischen Öffentlichkeit zu vermitteln, wenn auch die deutschen Botschaften in London und Washington die amerikanischen Medien und Multiplikatoren durchaus erreichen konnten. Wie die Imagearbeit des Auswärtigen Amts die Vermittlung eines moderneren und vielseitigeren Deutschlandbilds anstrebt, zeigt ein weiterer Beitrag des vorliegenden Bands. (Cz)
25.000 Filmvorführungen in über 80 Ländern veranstalten die Goethe-Institute jährlich. Damit ist der Film von allen Kultursparten das am häufigsten eingesetzte Medium. Neben der Präsentation von Filmen tritt das Institut auch als Mitinitiator und -organisator von Filmfestivals auf. Die Diplomarbeit von Tobias Mosig evaluiert erstmals die kulturelle Filmarbeit des Goethe-Instituts. Der Autor stellt die Akteure vor, beschreibt ihre Arbeitsweise und benennt die Konflikte, die aus der Zusammenarbeit zwischen kultureller und kommerzieller Filmarbeit erwachsen. Ein Exkurs stellt die Filmarbeit der Kulturinstitute Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens vor. Empfehlungen, wie die Auslandsrepräsentanz des deutschen Films optimiert werden könnte, runden die Untersuchung ab. (Cz)
Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945: zur Dynamik eines „transnationalen“ kulturellen Feldes. Herausgegeben von Patricia Oster und Hans-Jürgen Lüsebrink. Bielefeld: Transcript, 2008. 425 Seiten. Kulturaustausch 1v /08
La présence culturelle de la France aux Etats-Unis pendant la guerre froide: 1944-1963. Von Laurence Saint-Gilles. Paris: L‘Harmattan, 2007. 286 Seiten.
Die amerikanische Regierung gegen die Weltöffentlichkeit? Theoretische und empirische Analysen der Public Diplomacy zum Irakkrieg. Herausgegeben von Thomas Jäger und Henrike Viehrig. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 2008. 273 Seiten.
Goethe-Institut e.V.: Weltvertrieb für deutsche Filme? Von Tobias Mosig. Berlin: Vistas-Verlag, 2008. 236 Seiten.
Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar. www.ifa.de/b/index.htm Auswahl: Institut für Auslandsbeziehungen, Gudrun Czekalla, Christine Steeger-Strobel Annotationen: Gudrun Czekalla (Cz) Mirjam Schneider (Sch)
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Weltmarkt Produkte für Kosmopoliten
Diesmal: Das Minimotel
Bett im Gepäck Jetzt gibt es ein Zelt, mit dem man auf dem Flughafen übernachten kann
Stellen Sie sich vor, Sie haben mal wieder ewig in Schanghai oder New York am Verhandlungstisch gesessen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, aber trotzdem sind Sie geschafft. Die fremde Stadt, das Essen, die Anonymität des Hotelzimmers – Sie haben es satt. Jetzt aber geht es endlich nach Hause. Gerade betreten Sie voller Vorfreude die Abflughalle, doch dann ... blinkt Ihnen von der Anzeigetafel ein grausames „cancelled“ entgegen. Anlass genug, in einem Wutanfall gegen das Bodenpersonal handgreiflich zu werden? In Tränen auszubrechen? Den Kummer mit grotesk teuren Drinks in der Flughafenlobby zu ertränken? Keineswegs. Denn für genau diesen Fall gibt es das zusammengefaltet kaum taschenbuchgroße Minimotel. Der Zwitter zwischen Bett und Zelt bietet mit Luftmatratze, Kissen und Bettlaken ein kuscheliges Nachtlager, das den Schlafenden vor unbefugten Blicken schützt. Die beiliegende Augenklappe sowie Ohrstöpsel sorgen auch auf dem hektischsten Flughafenterminal für die notwendige Ruhe. Und selbst auf die Bettlektüre muss niemand verzichten, denn für eine Leselampe ist ebenfalls gesorgt. Jetzt noch schnell die Zähne geputzt und den Wecker gestellt – das Minimotel denkt wirklich an alles – und einer erholsamen Nacht steht nichts mehr im Wege. Und einmal zu Hause angekommen, lässt sich das Ein-MannZelt problemlos zu einer Höhle oder einer Kinderhüpfburg umfunktionieren. Aike Jürgensmann Das Minimotel kostet 49.95 Dollar und ist unter www.minimotel.net in rot oder blau erhältlich.
Thema
Magazin
In Europa
Magazin
17 Mauretanien oder Afghanistan gehören zu den „jüngsten“ Ländern der Erde. Ihre Bevölkerung ist durchschnittlich 17 Jahre alt. Wie leben junge Menschen weltweit? In dieser Ausgabe erzählen 17-jährige Mädchen und Jungen, was sie bewegt: von der Liebe und von Politik, vom Alltag als Jugendliche und von den Träumen für das Leben als Erwachsener.
Islam und Psychoanalyse Welchen Unterschied es macht, muslimische, christliche oder nicht-gläubige Klienten zu behandeln, erklärt der Psychoanalytiker Gehad Mazarweh.
Kultur digital Im November 2008 soll der Prototyp der Europäischen Digitalen Bibliothek vorgestellt werden. Claudia Schmölders blickt für uns hinter die Kulissen des Riesenprojekts und fragt nach dem Nutzen und den Folgen der Digitalisierung von Kulturgütern.
Ende des Opferdenkens Der Historiker Achille Mbembe über die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, die Folgen von Entwicklungshilfe und sein Konzept eines „Afropolitanismus“. Ein Interview
Ein Themenschwerpunkt über junge Menschen und was sie vorhaben
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Die Ausgabe 1/2009 erscheint am 15.Januar 2009
Foto: Jonathan Cohen
Demnächst
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