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2 Wissenschaftliche Objektivität und neoklassische Theorie
Die neoklassische Theorie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet. Bis heute gilt sie als den ökonomischen Mainstream prägende theoretische Strömung – auch und gerade unter Kritiker_innen, worauf ich einleitend bereits verwiesen habe. Im Verlaufe dieser Studie wird sich zeigen, dass dieser prägende Einfluss zumindest für die ökonomische Standardbildung nicht nachgewiesen werden kann, insofern man unter der Neoklassik eine theoretische Strömung versteht, die sich dezidiert an den mathematisch-mechanischen Wissenschaften und deren Anspruch an Objektivität orientiert. Richtig ist, so wird mein Argument lauten, dass die heutige ökonomische Standardlehre an die Objektivität der Neoklassik als ihre vermeintliche Autorität appelliert (ohne dabei zugleich die Neoklassik als solche explizit zu benennen), um gleichsam unter dem Deckmantel fortschrittlicher Wissenschaftlichkeit eine Beeinflussung der Meinungsbildung von Studierenden vorzunehmen. Doch haben die erkenntnistheoretischen Standards, die sie vermittelt, mit denen wissenschaftlicher Objektivität nichts oder doch kaum mehr etwas zu tun.
Um diese Thesen zu untermauern, werde ich in diesem Kapitel zunächst die Objektivität als Wissenschaftsideal der Neoklassik explizit offenlegen und sodann im folgenden Kapitel 3 diskutieren, welche Formen weitgehend unbewusster gedanklicher Deutungsrahmen diese Objektivität impliziert. Sodann werde ich in den nachfolgenden Kapiteln 4 und 5 die wesentlichen Unterschiede zur ökonomischen Standardbildung, wie sie in den einführenden Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre vermittelt wird, schrittweise sichtbar machen.
Wichtig scheint mir eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisideal der neoklassischen Theorie, da ein wirkliches Wissen um den eigentlichen Inhalt und Sinn sowie um Formen und Grenzen wissenschaftlicher Objektivität in der ökonomischen Standardbildung zumeist nicht mehr vermittelt wird. Auch scheint mir in der Forschung eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Objektivität als Ideal des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, wie sie sich in neueren wissenschaftshistorischen Studien (so etwa das Werk Objektivität von Daston und Galison aus dem Jahre 2007) für den Bereich der Naturwissenschaften findet, im Hinblick auf die Neoklassik nicht im ausreichenden Maße vorzuliegen (vgl. aber etwa Mirowski 1989). Die dadurch entstehende Lücke suche ich im Folgenden skizzenartig zu schließen. Dabei geht es mir insbesondere darum zu zeigen, wie Objektivität beansprucht, das Wie des Denkens (und nicht allein dessen Gegenstand) und, nochmals grundlegender, die gesamte Haltung der Wissenschaftler_innen im Sinne einer epistemischen Tugend (vgl. Daston/Galison 2007) umzuformen. Vor diesem Hintergrund wird sichtbar werden, dass eine starke Welt- und Wirklichkeitsferne dezidiert Bestandteil des Ideals wissenschaftlicher Objektivität ist. Dies trifft auf die reinen Naturwissenschaften und die reine Mathematik ebenso zu wie auf die Neoklassik, die sich explizit an ersteren orientiert. Dabei stellt diese Ferne allerdings eine bewusst gepflegte und gewollte Tugend dar, und diese Bewusstheit wiederum sollte jeglicher unkritischen, weil quasiautomatischen, unwillkürlichen Anwendung oder Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Realität Einhalt gebieten können. Deshalb lässt sich die Weltfremdheit, wie