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5 Manipulation in ökonomischen Standardlehrbüchern
Gerade schrieb ich, dass es dem geschulten Urteil möglich ist, das Resultat der Verknüpfung von bewusster und unbewusster Erkenntnisleistung auf Ebenen des Bewusstseins zu überprüfen. Genauer: Es stehen in diesem Urteil dem Einzelnen in seinem bewusst-reflektierten Verstand Möglichkeiten offen, die Fortschritte der Umbildung seiner unbewussten Denkleistungen zu kontrollieren. Dies gilt, auch wenn diese Form der Kontrolle im Rahmen der neoklassischen Theorie eben nur eine rein theoretische im Reich mathematischer Kriterien ist und deshalb eine Überprüfung an empirischen Kontexten kaum stattfinden kann. Im Falle der Beeinflussung durch die ökonomischen Lehrbücher droht sich eine andere, weit grundlegendere Umformung menschlicher Denk-und Wahrnehmungsformen zu vollziehen. Diese findet in jedem Einzelnen statt, zugleich aber scheint jeder ihr vollkommen passiv gegenüberzustehen. Gewissermaßen werden Menschen angeleitet, sich selbst umzubilden, aber wie sie dies tun sollen, darüber sollen sie keine bewusste Kontrolle ausüben können.
Erweist sich diese Beobachtung als richtig, so müssen folglich auch die Kriterien, warum und wozu diese Umbildung zu geschehen hat, außerhalb des Einzelnen liegen. Das geschulte Urteil ist ebenso wie die Objektivität eine epistemische Tugend, und diese ist von Wissenschaftler_innen ausdrücklich zu kultivieren: Man hat bewusst nach bestimmten Weltsichten ebenso wie Selbstbildern zu streben (vgl. erneut Daston/Galison 2007). Doch die Denkweise, welche Samuelson und Nordhaus sowie Mankiw zu vermitteln versuchen, verfügt kaum über eine solche Komponente des Bewusstseins. Wie bei jeder anderen Form der Beeinflussung gilt, dass sich hier die Subjektivität des Menschen umzubilden hat, doch ohne dass dieser selbst die dafür notwendigen Kriterien benennen könnte. Es sollen sich seine eigenen Wertmaßstäbe und sein Urteilskriterium grundlegend wandeln, doch warum dies so ist, soll seiner Reflexion entzogen bleiben. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Kriterien über Erfolg und Misserfolg einerseits und über Sinn und Zweck von Beeinflussungsprozessen in der ökonomischen Bildung andererseits von anderen gebildet werden müssen, die selbst nicht auf der Seite der Rezipient_innen, also der Studierenden, stehen.
Diese Beobachtung führt zu einer wichtigen Unterscheidung, die ich bislang übergangen habe: jener zwischen Beeinflussung im Allgemeinen und Manipulation im Speziellen. Da diese Begriffe in verschiedenen Kontexten unterschiedlich, ja oft widersprüchlich gebraucht werden, ist es notwendig, deren Bedeutungen, wie sie im Rahmen dieser Studie von Relevanz sein sollen, zunächst klar zu beschreiben: Mit Beeinflussung meine ich grundsätzlich eine Form zwischenmenschlicher Kommunikation, die auf die Veränderungen gedanklicher Deutungsrahmen, d. h. sowohl von surface frames als auch von deep seated frames, des Kommunikationspartners zielt. Demgegenüber weist die Manipulation zwei weitere Elemente auf, die sie gleichsam als Unterklasse der Beeinflussung ausweist:
Erstens lässt sich, ob Manipulation vorliegt oder nicht, am Grad der Transparenz der Beeinflussung entscheiden:
„Während Steuerung jene Beeinflussungsformen kennzeichnet, bei denen Tatbestand und Ziel der Beeinflussung den zu Beeinflussenden bewußt und bekannt ist, meint Manipulation jene Art von Fremdbestimmung, die Absicht und Ziel der Beeinflussung nicht erkennen läßt“ (Krüger 1977, S. 6).
Manipulation ist verdeckte Einflussnahme (vgl. Ahlfeld 2015, S. 8-9), die gezielt Schwächen der Rezipient_innen, insbesondere im Hinblick auf die Fähigkeit zur kritischen Reflexion, ausnutzt. Diese Schwächen können in einem Mangel an strategischem Denken ebenso begründet liegen wie in einer limitierten Aufmerksamkeit oder der Anfälligkeit für kognitive Voreingenommenheit (vgl. Franke/Rooij 2016, S. 255). Nach dem, was ich gerade ausgeführt habe, entspricht die Vorgehensweise der im vorherigen Kapitel diskutierten Standardlehrbücher klar diesem Kriterium der Manipulation, eben weil noch nicht einmal eine Aufklärung über den Tatbestand der Beeinflussung, wie ich sie im letzten Kapitel dargelegt habe, stattfindet. (Dies steht etwa im deutlichen Gegensatz zur Werbung, bei der die Rezipient_innen zumindest oftmals wissen, dass sie beeinflusst werden sollen, auch wenn sie keine genauere Kenntnis davon haben können, wie dies vonstattengeht.)
Zweitens, und dies ist der komplexere Aspekt, wird mit dem Begriff der Manipulation zudem häufig die klare Benennung einer Absicht verbunden. Manipulation ist zielgerichtete Einflussnahme (vgl. Ahlfeld 2015, S. 8-9). Oder noch genauer: „Manipulation ist grundsätzlich eigennützig, ausschließlich auf den eigenen Vorteil ausgerichtet, auch dann, wenn sich dieser zum Nachteil anderer auswirkt“ (Zinn 2013, S. 124). Sie rückt damit in den Bereich der Propaganda:
„Propaganda is the deliberate, systematic attempt to shape perceptions, manipulate cognitions, and direct behavior to achieve a response that furthers the desired intent of the propagandist“ (Jowett, O’Donell 2012, S. 7).
Lässt sich aber wirklich vermuten, dass die Produzenten der Lehrbücher ihrerseits bestimmte Ziele und Zwecke verfolgen? Bislang habe ich diese Frage bewusst nicht gestellt, sondern lediglich aufgezeigt, wie eine Beeinflussung unbewusster Denk- und Wahrnehmungsweisen im Rahmen der ökonomischen Standardlehre erfolgen kann. Der Grund, den ich im nachfolgenden letzten Kapitel nochmals aufgreifen werde, ist: Beeinflussungsformen funktionieren, unabhängig davon, ob sie von den Agent_innen (in unserem Falle den Produzenten der Lehrbücher) intendiert sind oder nicht. Eben weil sie sich auf unbewusster Ebene vollziehen, spielt die Frage der Intentionen für deren Wirksamkeit auf Seiten der ‚Ziele‘ (der Rezipient_innen, in unserem Falle der Studierenden) keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Für jede mögliche Form des Widerstands auf dieser Zielseite ist es folglich auch erst einmal nicht von entscheidender Bedeutung, sich genauestens über die Intentionen der Agentenseite zu informieren. Es kann stattdessen ausreichen, sich über die Funktionsweisen von Beeinflussungsformen aufzuklären, sich diesen zu entziehen und nach alternativen Formen alternativer ökonomischer Bildung Ausschau zu halten (bzw. diese zu entwickeln).
Gleichwohl erschiene es mir dennoch verantwortungslos, sich gänzlich aller Frage über die Agentenseite im Allgemeinen und deren Manipulationsabsichten im Speziellen zu entziehen.