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3.1 Geschultes Urteil in der Wissenschaft
Walras ist bewusst, dass sich die objektive Wirtschaftswissenschaft trotz aller Bemühungen um Objektivität dennoch auf alltägliche Begriffe beziehen muss. Wie aber stehen diese genau im Zusammenhang mit jenen der objektiven Wissenschaft? Hier wird ein erkenntnistheoretisches Problem deutlich, das aus meiner Sicht ins Bewusstsein zu heben ist, damit die Frage, wie eine dezidiert weltfremde Wissenschaft dennoch in unauflöslichem Zusammenhang mit menschlichen Erfahrungen steht und damit weltwirksam ist, geklärt werden kann. Diese Frage wiederum ist aufs Engste mit einer weiteren verknüpft: jener nach den wechselseitig prägenden Einflüssen von wissenschaftlichem und alltäglichem Denken. Im Folgenden werde ich mich mit diesen Fragen in einigem Detail auseinandersetzen. Dabei wird deutlich werden, dass die neoklassische Theorie trotz ihres Anspruchs auf Objektivität Bezüge zu wirtschaftlichen Erfahrungen voraussetzen muss. Diese Bezüge aber siedeln sich im Bereich des Unbewussten an: Objektives ökonomisches Denken bedarf, kognitionswissenschaftlich gewendet, gedanklicher Deutungsrahmen, Frames, die seiner bewussten Aktivität vorgelagert sind und sich gleichsam in mentalen Tiefen ansiedeln, die dem bewussten Verstand normalerweise nicht zugänglich sind. Erst ein Verständnis dieser Deutungsrahmen kann, so wird mein Argument lauten, ein Tor dahingehend aufstoßen, dass der eigentliche Ort, an dem die Beeinflussungspraktiken der heutigen ökonomischen Standardbildung ansetzen, sichtbar wird.
Wie Daston und Galison zeigen, setzt sich spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts in den objektiven Wissenschaften die Einsicht durch, dass der rein rationale Verstand durch unbewusste Wahrnehmungsformen zumindest zu ergänzen ist (vgl. Daston/Galison 2007, S. 385441). Wissenschaftler_innen setzen zunehmend nicht mehr (allein) auf den bewusst tätigen Verstand im Reich objektiver Strukturen, sondern auf eine Wahrnehmung, die im Wesentlichen vom Unbewussten geleistet wird. Man hält „das intuitive Begreifen in immer stärkerem Maß für ein entscheidendes Element der Wissenschaft“ (Daston/Galison 2007, S. 379) – und dieses Begreifen ist nicht einfach dem Zufall zu überlassen, sondern umfassend zu schulen. Daston und Galison sprechen deswegen auch vom geschulten Urteil, das die epistemische Tugend der Objektivität in den Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert zunehmend abzulösen beginnt (vgl. Daston/Galison 2007, S. 327-383).
Was genau bedeutet das geschulte Urteil? Die Erkenntnis soll hier im Wesentlichen aus fachkundigen, geschulten Intuitionen bestehen, denen Menschen auf merkwürdige Weise passiv gegenüberstehen (vgl. Daston/Galison 2007, S. 331): Sie sollen aus der Tiefe ihres Inneren aufsteigen, doch ohne dass sie darüber bewusste Kontrolle ausüben könnten. In dieser Tiefe gibt es, wie es Ludwig von Wieser, ein Begründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie, formuliert, keine verstandesmäßige Erkenntnis, sondern lediglich eine „vollkommene Vertrautheit mit dem gesamten Stoffe“ (von Wieser 1929, S. 4). Diese Vertrautheit wird als Bedingung aller Erkenntnis angesehen, ohne selbst je erkannt werden zu können. All unser Denken und Wissen, so könnte man sagen, soll uns zu nahe sein, als dass wir es vor uns hinstellen und verstandesgemäß begreifen könnten. „Wir wissen mehr, als wir ausdrücken kön-
nen“, schreibt Polanyi in seiner Studie The Tacit Dimension (Polanyi 1966, S. 4). Dieses Mehr besteht im Wesentlichen aus nicht weiter artikulierbaren Bestandteilen, die nicht nur körperlicher Natur sind, sondern auch als dem menschlichen Geist zugehörig betrachtet werden müssen, sich dabei aber gerade nicht dem bewusst arbeitenden, rationalen Verstand zuordnen lassen (vgl. Mirowski 1998, S. 35). Polanyi bezeichnet diese Bestandteile als implizites oder stillschweigendes Wissen (tacit knowledge) und postuliert zugleich, dass es grundlegend nicht nur für alle alltägliche, sondern gerade auch für alle wissenschaftliche Erkenntnis sei (vgl. Polanyi 1958, 1966).
Dieses stillschweigende Wissen ist dabei keineswegs bloß individueller, sondern stets auch sozialer Natur. In jedem individuellen Bewusstsein soll ein „Schatz an allgemeiner Erfahrung“ aufgesammelt sein,
„d. h. jener Erfahrung, die jeder Praktiker besitzt und die daher auch jeder Theoretiker in sich bereit findet, ohne daß er sie erst mit besonderen wissenschaftlichen Methoden zu sammeln brauchte“ (von Wieser 1929, S. 16).
Objektivität setzt auf universell gültige Verstandesformen, die gerade in Absehung aller individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrung entstehen sollen; das geschulte Urteil hingegen erkennt die Bedeutung von Erfahrung für die menschliche Wahrnehmung an, sucht sie dabei aber zugleich als etwas Kollektives festzuschreiben, das in den Tiefen jedes Einzelnen sedimentiert ist und dem sich jeder zugleich passiv gegenüber zu verhalten hat. Es geht um nichtselbst-bewusste und zugleich unbewusst holistische Erkenntnisakte (vgl. Daston/Galison 2007, S. 351).
Diese grundlegende Charakterisierung menschlicher Erkenntnis teilen viele Formen der Psychologie, der Neurowissenschaften und der Verhaltensökonomie. Der Psychologe Daniel Kahneman, Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften im Jahre 2002, etwa fokussiert seine Forschung „auf die Psychologie intuitiver Annahmen und Wahl (Beliefs and Choices)“ (Kahneman 2002, S. 449) sowie auf deren Bedeutung gerade auch für wissenschaftliches und wirtschaftliches Denken. Dabei spricht er von einem „intuitive mode in which judgements and decisions are made automatically and rapidly“ (Kahneman 2002, S. 449), dem er eine eigene Identität zuspricht, insofern er ihn als eigenes System („System 1“) bezeichnet:
„The operations of System 1 are fast, automatic, effortless, associative and difficult to control or modify. […] In the model that will be presented here, the perceptual system and the intuitive operations of System 1 generate impressions of the attributes and objects of perception and thought. These impressions are not voluntary and need not be verbally explicit“ (Kahneman 2002, S. 450-51).
Kahneman erkennt so an, dass sich ein Großteil menschlicher Wahrnehmung jenseits rein rationaler Überlegung vollzieht. Diesen Teil sollen Menschen stets nur als einen ihnen vorgegebenen nutzen können; weder ist er durch sie zu reflektieren noch gar schöpferisch zu verändern. Die Werkzeuge der Wahrnehmung sind hier gewiss andere und sogar umfangreichere, als es jene des rein rational arbeitenden Verstandes sind. Auch liegen sie nicht mehr jenseits aller menschlichen Erfahrungen, sondern gründen in einem gleichsam sedimentierten, also über
lange Zeiträume angereicherten und abgelagerten Schatz allgemeiner Erfahrung. Doch sollen Menschen ihnen auf merkwürdige Weise passiv gegenüber bleiben, eben weil sie als aller bewussten Reflexion und aktiven Gestaltung entzogen gelten. Kein Individuum soll sie in der Gegenwart tätig verändern können, sondern umgekehrt sollen alle Individuen ihre geistigen und körperlichen Tätigkeiten (einschließlich der wissenschaftlichen) auf ihnen unwillkürlich aufbauen. Sie ‚passieren‘ uns gewissermaßen, sie ‚fallen uns zu‘. Walter B. Cannons, der Neurologe und Physiologe an der Universität Harvard war, wählt hierfür im Jahre 1954 folgende Metapher:
„Die Arbeit in einer Fabrik unter der unmittelbaren Aufsicht des Direktors ist wie der zerebrale Prozess, auf den wir achten; aber unterdessen geht in anderen Teilen des Werks Arbeit vor sich, die der Direktor im Moment nicht sehen kann. Dasselbe geschieht mit außerbewussten Prozessen“ (zitiert in Daston/Galison 2007, S. 330).
Wahrnehmung und Begriff fallen hier zusammen, und dies auf eine sehr spezifische Weise: Die Bildung von und der Umgang mit Begriffen stellt keine bewusste Erkenntnisleistung dar; Begriffe üben vielmehr nur noch eine Art Signalfunktion aus, die Menschen veranlassen, automatisch Deutungsprozesse in Gang zu setzen. Begriffe werden also gleichsam wie Anreize aufgefasst, die unwillkürlich Reaktionen menschlicher Wahrnehmung auslösen sollen.
Besonders deutlich wird diese Vorstellung in den Kognitionswissenschaften. Diese sprechen von gedanklichen Deutungsrahmen, Frames, die im Unbewussten existieren und uns dazu bringen sollen, quasiautomatisch auf Begriffe und sprachliche Muster zu reagieren:
„Frames werden durch Sprache im Gehirn aktiviert. Sie sind es, die Fakten erst Bedeutung verleihen, und zwar, indem sie Informationen im Verhältnis zu unseren körperlichen Erfahrungen und unserem abgespeicherten Wissen über die Welt einordnen. Dabei sind Frames immer selektiv. Sie heben bestimmte Fakten und Realitäten hervor und lassen andere unter den Tisch fallen. Frames bewerten und interpretieren also. Und sind sie erst einmal über Sprache – etwa jener in öffentlichen Debatten – in unseren Köpfen aktiviert, so leiten sie unser Denken und Handeln an, und zwar ohne dass wir es merkten“ (Wehling 2016, S. 17-18).
Der Ursprungsort aller Frames liegt dabei in der Erfahrung, und dies gilt in einem umfassenden Sinne:
„Wenn es gilt, Worte oder Ideen zu begreifen, so aktiviert das Gehirn einen Deutungsrahmen, in der kognitiven Wissenschaft Frame genannt. Inhalt und Strukturen eines Frames, also die jeweilige Frame-Semantik, speisen sich aus unseren Erfahrungen mit der Welt. Dazu gehört körperliche Erfahrung – wie etwa mit Bewegungsabläufen, Raum, Zeit und Emotionen – ebenso wie etwa Erfahrungen mit Sprache und Kultur“ (Wehling 2016, S. 28).
Wichtig ist, dass dieser Erfahrungsbezug auch für jene Wahrnehmungen grundlegend sein soll, die durch den Gebrauch abstrakter Konzepte stimuliert werden:
„Abstrakte Konzepte des gesellschaftlichen und politischen Miteinanders werden über eine Anbindung an Konzepte des direkt Erfahrbaren geframet. Und zwar immer. […] Abstrakte Ideen werden von uns über Metaphern an körperliche Erfahrung angebunden und damit ‚denkbar‘ gemacht“ (Wehling 2016, S. 68).