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4.3.3 Appell an die Autorität der Wissenschaft
Wirtschaft zu verstehen bedeutet überwiegend, soziale Prozesse – Bedeutungs- ebenso wie Handlungsprozesse – zu verstehen, die sich wechselseitig durchdringen und aufeinander beziehen, ebenso wie jene Institutionen, die diese Prozesse formen, stabilisieren und lenken. Samuelson und Nordhaus nehmen auf ein solches Verständnis auch zunächst Bezug, indem sie Prozesse der Produktion, des Transports und des Konsums beispielhaft benennen (vgl. nochmals das vorherige Zitat aus ihrem Lehrbuch). Doch suchen sie sodann unmittelbar, diese Komplexität deutlich zu reduzieren. Lakoff macht darauf aufmerksam, dass wir es in unserer Sprache gewohnt sind, Dinge, die nicht klar begrenzt oder abgeschlossen sind, als Entitäten zu beschreiben. Wir tun dies normalerweise, um damit einen bestimmten Zweck zu erfüllen: Wir beschreiben eine städtische Situation etwa als eine bestimmte Straßenecke, damit wir uns an dieser Ecke mit anderen Menschen verabreden und treffen können. Entitätsmetaphern dienen als sprachliches Mittel, um durch Kommunikation Handlungen zu koordinieren (vgl. Lakoff 1980, S. 25).
Die Metapher ‚Der Markt ist ein System‘ taugt allerdings nicht, um metaphorisch auf einen Ort zu verweisen, an dem man sich physisch treffen könnte. Dennoch wird er durch die Systemmetapher in eine Entität mit klaren Umgrenzungen gewandelt. Ein Grund für diese sprachliche Vereinfachung wird dabei nicht angegeben, weder in handlungspraktischer noch in wissenschaftlicher Hinsicht. Der Zweck der Metaphernbildung bleibt vielmehr ebenso im Dunkeln, wie diese Bildung insgesamt so nebenbei und selbstverständlich geschieht, dass sie wohl eher unkritisch übernommen zu werden droht:
„Ontological metaphors [of which entity metaphors are a part, S.G.] are so natural and so pervasive in our thought that they are usually taken as self-evident, direct descriptions of mental phenomena. The fact that they are metaphorical never occurs to most of us“ (Lakoff 1980, S. 28-29).
4.3.3 Appell an die Autorität der Wissenschaft Am Beispiel von Samuelson und Nordhaus lässt sich studieren, wie ökonomische Standardlehrbücher der Vorstellung des Marktes als Entität weiterhin Überzeugungskraft verleihen, indem sie ebenso wie Read an Autoritäten appellieren. Read bemüht den Appell an die ‚Unsichtbare Hand‘, die er wiederum mit Gott assoziiert. Samuelson und Nordhaus sprechen ebenfalls von einer „Unsichtbaren Hand“, doch appellieren sie dabei nicht direkt an einen Gottesglauben, sondern bemühen als Autorität vielmehr die Tradition der Wirtschaftswissenschaften. Genauer gesagt verweisen sie auf Adam Smith. Dies geschieht dabei auf eine Weise, die kaum eine geistes- und ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Werk des berühmten schottischen Moralphilosophen erlaubt, sondern – durchaus in Ähnlichkeit zu Reads Gottesvorstellung – lediglich einen Autoritätsglauben auf der Ebene des Unbewussten zu vermitteln vermag:
„Adam Smith erkannte als Erster, wie der Markt die komplexen Kräfte von Angebot und Nachfrage organisiert. In einer der berühmtesten Textpassagen der gesamten Volkswirtschaftslehre, die zu Beginn dieses Kapitels aus seinem Werk Der Reichtum der Nationen zitiert ist, erkennt Smith die Harmonie zwischen privaten und öffentlichen Interessen: Blättern Sie zurück
und lesen Sie dieses Paradoxon noch einmal. Beachten Sie dabei besonders die scharfsinnige Aussage über die unsichtbare Hand – dass aus eigennützigen wirtschaftlichen Aktivitäten gesamtwirtschaftlicher Nutzen erwachsen kann, wenn diese in einen gut funktionierenden Marktmechanismus eingebettet sind. Smith schrieb diese Worte im Jahr 1776 – übrigens in dem Jahr, in dem die amerikanische Unabhängigkeitserklärung veröffentlicht wurde. Es ist wohl kein Zufall, dass diese beiden Ideen zur selben Zeit entstanden. Während die Amerikaner ihre Freiheit von der Tyrannei proklamierten, predigte Adam Smith eine revolutionäre Doktrin, die Handel und Industrie den Fängen einer feudalen Aristokratie entriss“ (Samuelson/Nordhaus 2010, S. 60-61; Hervorhebung im Original).49
Das Zitat von Smith ist hier aus seinem ursprünglichen Argumentationszusammenhang gerissen. So wird etwa nicht erwähnt, dass Smith die „unsichtbare Hand“ in seinem gesamten Grundlagenwerk nur einmal (eben an der zitierten Stelle) erwähnt, und hier eher metaphorisch denn als „scharfsinnige Aussage“. Auch findet keine Beachtung, dass Smith die „unsichtbare Hand“ gerade nicht mit der Idee eines „gut funktionierenden Marktmechanismus“ koppelt. Selbst als Textfragment wird es von den Lehrbuchautoren in seinen ursprünglichen Aussagen nicht diskutiert. Vielmehr sucht der gerade zitierte Textausschnitt von Samuelson und Nordhaus auf einer ganz anderen Ebene zu überzeugen: Er sucht die Vorstellung einer unsichtbaren (und damit nicht weiter hinterfragbaren) Koordination wirtschaftlicher Handlungen nicht durch bewusst nachvollziehbare, sachliche und ideengeschichtlich fundierte Argumente zu untermauern, sondern plausibel erscheinen zu lassen, indem er den Glauben an bzw. das Vertrauen in die vermeintliche Quelle dieser Vorstellung stärkt. Dies geschieht auf rein sprachlicher Ebene etwa durch die Verwendung von Begriffen wie „Erster“, „berühmteste“ und „scharfsinnig“. Die großen Denker der Ökonomie, so wird hier am Beispiel von Smith deutlich, werden so zu Autoritäten, an die man rhetorisch appelliert, um den eigenen Ansichten implizit Überzeugungskraft zu verleihen, ohne aber je in einen wirklichen Austausch mit ihrem Werk zu treten und eine tatsächliche geistes- und ideengeschichtliche Auseinandersetzung zu suchen.
Die Kunst der Überredung durch den Appell an (vermeintliche) Autoritäten findet zudem noch eine andere Form: Der Frame der „unsichtbare[n] Hand“ wird mit jenem der amerikanischen „Unabhängigkeit“ unmittelbar gekoppelt, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund angegeben würde (allenfalls eine zeitliche Koinzidenz).50 So vermag die „unsichtbare Hand“ ihre Autorität dadurch zu beziehen, dass sie mit „Freiheit“, „Unabhängigkeit“ und „revolutionäre[r] Doktrin“ positiv assoziiert wird51 und sich zudem von einem negativ konnotierten Bereich abgren-
49 Samuelson und Nordhaus zitieren Smith wie folgt: „Jeder Mensch ist bemüht, sein Kapital so einzusetzen, dass er daraus den größtmöglichen Wert bezieht. Er möchte damit im Allgemeinen nicht dem öffentlichen Interesse dienen und weiß auch nicht, wie sehr er diesem dient. Er hat ausschließlich seine eigene Sicherheit, seinen eigenen Nutzen im Sinn. Und er wird dabei von einer unsichtbaren Hand geleitet, letztlich doch ein Ziel zu verfolgen, das nicht in seiner Absicht lag. Indem der Mensch seinen eigenen Nutzen anstrebt, fördert er häufig den Nutzen der Gesellschaft wirksamer, als hätte er dies beabsichtigt.“ (Samuelson/Nordhaus 2010, S. 55) In dieser Übersetzung fehlen Passagen, ohne dass dies kenntlich gemacht würde. 50 Ein inhaltlicher Zusammenhang zur Unabhängigkeitserklärung lässt sich im Falle John Lockes nachweisen, dessen Ideen diese Erklärung nachweislich inspirierten, nicht aber für Adam Smith. Vgl. Becker 1922. 51 In der Beeinflussungsforschung spricht man in solchen Fällen von der Technik der Virtue Words (Wörtern also, die mit einem positiven Image verbunden sind). Vgl. etwa Hill 2015, S. 287.