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Station 4: Die Eroberung neuer Märkte
Station 4
Die Eroberung neuer Märkte
Die kapitalorientierte Marktwirtschaft wird seit dem 17. Jahrhundert von Europa in die weite Welt hinausgetragen. Als Beispiel dient uns die East India Company, die sich von einer Handelsgesellschaft zum mächtigsten Konzern der Welt entwickelte. An ihr sieht man, dass das neue Geld zwangsläufig zur Eroberung neuer Märkte führen muss; moralische Bedenken wurden durch Umdeutung der «unsichtbaren Hand» von Adam Smith und dem Neoliberalismus von Walter Lippmann beiseite geschoben.
East India Company Um 1600 wurde die East India Company gegründet. Und zwar nicht wie bisher als Limited Partnership wie damals üblich, son dern als eine Aktiengesellschaft. Mit dieser konnte man weit
mehr Kapital aufnehmen, weil der Kreis der Geldgeber unlimitiert ist. Anfänglich eine Handelsgesellschaft, allerdings mit dem Recht auf eine eigene Armee, entwickelte sich die Gesellschaft im 18. Jahrhundert zu einem schlagfähigem Unternehmen. Um 1800 verfügte die Gesellschaft über eine Armee von 260000 Sol daten in Indien, doppelt so viel wie die englische Armee. Als Gesellschaft war sie aber nur ihren Aktionären verantwortlich.
Im Volksmund spricht man davon, dass die Engländer Indien erobert hätten; aber es war die East India Company, welche mit ihrer privaten Armee Bengal eingenommen und dort für sich die Steuern eingetrieben hatte. Und ähnlich wie Stockalper vorher oder die grossen multinationalen Gesellschaften nachher war die enge Verbindung zwischen Unternehmen und Politik ent scheidend für den Erfolg; die East India Company unterhielt enge Verbindungen zum britischen Parlament, indem sie den Politikern Aktien der Gesellschaft übertrug. Ende des 18. Jahr hunderts war die Gesellschaft schliesslich «too big to fail» und musste von der englischen Regierung gerettet werden, da sie mit viel Leverage und wenig Eigenkapital arbeitete.
Was war neu an der East India Company? Erstens das Konzept der Aktiengesellschaft, um Kapital aufzu nehmen, im Gegensatz zu den damals üblichen Familiengesellschaften mit begrenztem Aktionariat. Zweitens das Ausmass der skruppellosen Profitmaximierung.
Was zeigt das Beispiel? Erstens zeigt das Beispiel, wie der Kapitalismus von Europa in die ganze Welt getragen wurde. Zweitens zeigt das Beispiel, wie Marktwirtschaft ohne staatliche Governance zu Extremsituatio -
Oben: The Anarchy: Th Relentless Rise of the East India Company, by historian William Dalrymple, 2019
Unten links: The Wealth of Nations, by Adam Smith Original Ausgabe 1776
Unten rechts: Walter Lippmann, The Good Society, Original Ausgabe 1937
nen führt. Und drittens zeigt dieses Beispiel die Auswirkung der fatalen Verbindung von Unternehmen und Politik, was zu Mo nopolstellungen führt.
Welche Eigenschaften von Geld sind hier ersichtlich? Erstens die Förderung der Konkurrenz durch das neue Geld, zweitens die Macht des Geldeigners über andere; und drittens, dass Geld keine Profitgrenze kennt, auch die Eroberung eines ganzen Kontinents scheint nicht genug zu sein.
Die «unsichtbare Hand» by Adam Smith Die Metapher der unsichtbaren Hand wurde 1776 von Adam Smith in seinem Werk «Der Wohlstand der Nationen» formuliert. Er umschreibt damit, dass sich das Allgemeinwohl automatisch einstellt, wenn sich die einzelnen Menschen «nur» um ihr eige nes Wohl kümmern. Man hat also das Gefühl, es gäbe eine unsichtbare Hand im Hintergrund.
Dieser Vergleich muss man in Bezug auf die damalige Welt in terpretieren: Adam Smith meinte damit, dass der König nicht dauernd manipulativ ins Marktgeschehen eingreifen sollte. Aber wie in späteren Fällen benützten Marktteilnehmer seine These als Argument, jeglicher staatlichen Kontrolle zu entsagen und alles privaten Händen zu übertragen.
Neoliberalismus Das Wort geht zurück zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Inspiriert duch das Buch «The Good Society» des einflussreichen US-Jour nalisten Walter Lippmann ging es um die Erneuerung des Liberalismus. Der Kern des neoliberalen Projektes bestand damals darin, den Staat wieder stärker in die Pflicht zu nehmen, als Hü -
ter einer liberalen Ordnung und als «Marktpolizei». In Deutschland entwickelte sich daraus der Ordoliberalismus. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts diente der Begriff dazu, um möglichst alle Gebiete zu privatisieren. Weshalb diese Wendung? Die kapitalorientierte Marktwirtschaft braucht die andauernde Expansion von Profitmöglichkeiten. Und diese sah man darin, möglichst alle Bereiche des Wirtschaftslebens dem Markt unter zuordnen, d. h. zu privatisieren. Das Resultat? Eine wirtschaftliche Blüte, die allerdings nur Wenigen zugute kam und die Spaltung in der Gesellschaft, die heute offensichtlich ist, herbeiführte. Für den Kapitalismus blieb das Dilemma bestehen: abnehmende Profitmöglichkeiten, über die heute die Anleger zu klagen wissen. Deshalb die Rufe, noch weiter zu privatisieren und Steuern zu senken.