Graubünden erlesen 2010

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Graub端nden erlesen 2010

11. Graub端nden Nachwuchspreis f端r Reisejournalisten


Impressum Herausgeber, Konzeption: Graubünden Ferien Grafik, Realisation: COSI TSCHOLL MARKETING, Casinoplatz 7, 7000 Chur Bildnachweis: Titelseite, S. 3 - 7, S. 72, COSI TSCHOLL MARKETING / S. 8 - 11, Evelyn Runge / S. 8 - 11, Kati Thielitz / S. 12 - 15, Verena Töpper / S. 16 - 19, Peter Linden / S. 22 - 25, Jenny Kim Geyer / S. 26 - 27, Inna Hartwich / S. 30 - 33, Anna Kistner / S. 32 - 35, Sonja Kuhl / S. 36 - 37, 39, 67, Graubünden Ferien / S. 38, Inga Kujas / S. 40 - 41, Natalie Lazar / S. 42 - 43, Jan Lindner / S. 44 - 47, Juliane Matthey / S. 48 - 49, Katrin Meistring / S. 50 - 53, Moritz Meyer / S. 54 - 55, Susanne Popp / S. 56 - 59, Martina Rippholz / S. 60 - 61, Simone Sälzer / S. 62 - 63, Jona van Laak / S. 64 - 65, Matthias Zimmermann


Inhaltsverzeichnis

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Editorial Laudatio

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1. Rang Die Schweiz am Boden Evelyn Runge 2. Rang Ihre Welt sind die Berge Kati Thielitz 3. Rang Das Heidi muss sein Verena Töpper

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Im Bild: Die Teilnehmer des 11. Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten

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Ein Sheriff im Dienste der Natur Jenny Kim Geyer Die Sprache des Herzens zieht sich hinter Berggipfel zurück Inna Hartwich Brauen für den Traum Anna Kistner Kuh Cora «mäht» den Golfplatz Sonja Kuhl Zwei Hexen im Bündner Haus Inga Kujas Windiges Oberengadin: Sporturlaub in den Alpen Natalie Lazar Cavajone: Das lange Warten auf die Touristen Jan Lindner Grüezi, ich heisse Senthil Juliane Matthey Vom Landschaftsgärtner zum Streckenbauer Katrin Meistring Gold, Golf und eine Vision: Die Sehnsucht nach der Rheinquelle Moritz Meyer Der Alp-Traumjob Susanne Popp Das Weltmonument, das sich vor der Welt versteckt Martina Rippholz Wenn Kühe zu Freunden werden Simone Sälzer Mit der Kettensäge zum modernen Zuhause Jona van Laak Wenn Männer nur noch Rot sehen Matthias Zimmermann

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Die Jury Grazia fitg – unsere Partner


Editorial

Um es gleich vorwegzunehmen: es sind erfreuliche Erkenntnisse, welche zum Abschluss des 11. Graubünden Nachwuchspreises für Reisejournalisten zurückbleiben. Keine Angst – dies wird keine Lobrede auf die Idee, welcher dieser Preis zu Grunde liegt. Klar freut und bestätigt uns, dass Graubündens Schatz an Themen und Geschichten offensichtlich noch lange nicht gehoben ist; und dass unter den 18 publizierten Reportagen mehr als nur eine Handvoll sehr guter bis überdurchschnittlicher Texte zu finden sind. Daran haben wir uns über die Jahre aber fast schon etwas gewöhnt.

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Nein, hier geht es vor allem um ein paar interessante Feststellungen am Rande unseres Preises. Rationalisierung, Digitalisierung und Medienkonsum 2.0 sind in den letzten gut 20 Jahren wie ein Orkan über die meisten Verlagshäuser gefegt und haben auch vor deren Redaktionsstuben nicht halt gemacht. Kollateral getroffen wurde von der Wucht dieses Sturms auch so manches Reiseressort. Wenn wir den Zustand des (deutschen) Reisejournalismus an der jüngsten Auflage unseres Nachwuchspreises messen, kann von einem Schwanengesang allerdings kei-


ne Rede sein – ganz im Gegenteil. Wir dürfen feststellen, dass erstens keinerlei Mangel an begabten Jungautoren

Online ist weiter auf dem Vormarsch und macht auch vor dem Nachwuchspreis – mit drei Publikationen im 11.

herrscht und diesen, zweitens, auch von Qualitätstiteln wie einer «Welt am Sonntag», einer «Süddeutschen» oder einer «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» Platz in AufmacherFormat eingeräumt wird. Drittens: die gute alte, seriös recherchierte, durchdacht konzipierte und nach allen Regeln der Kunst geschriebene Reisereportage behauptet sich stramm gegenüber Agentur-Einheitsbrei und billiger PR-Schreibe. Und schliesslich:

Jahrgang – nicht halt. Das Internet erweist sich dabei aber nicht primär als Konkurrent, sondern als zeitgemässe Ergänzung zum gedruckten Reisejournalismus. Wir dürfen also festhalten, dass es um den klassischen Reisejournalismus allen Unkenrufen zum Trotz nicht so schlecht bestellt ist, sondern dass sich – im Gegenteil – eine traditionsreiche journalistische Gattung erfolgreich

Kurzfutter-, Auslagerungs- und Vereinheitlichungstendenzen widersetzt. Und wir dürfen feststellen, dass gegen gut erzählte Geschichten kein Kraut gewachsen ist. Aber lesen Sie selbst…

Gieri Spescha Graubünden Ferien

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Laudatio

Liebe Preisträgerinnen, liebe Kollegen aus der Jury, sehr geehrte Damen und Herren Noch immer ist ja der Irrtum weit verbreitet, Reisejournalismus bestehe darin, wöchentlich neue Bonsai-Baedeckers zu verfassen mit allen Informationen, die eine Destination nur hergibt, zurecht gestutzt auf ein paar Tausend Anschläge. Der zweite Irrtum, den ich auch bei Fachseminaren immer wieder bestätigt finde, ist die Annahme, dass sich Reisejournalisten am besten nicht vorbereiten sollten auf ihre Arbeit, sondern lieber in irgendein Café setzen, um dort einfach aufzuschreiben, was ihnen so in den Sinn kommt. Ergebnis sind im ersten Fall langweilige Fakten-Litaneien, im zweiten Dokumente der Ahnungslosigkeit.

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Da ist umso erfrischender zu lesen, was der Graubünden Nachwuchspreis nun schon zum elften Mal hervorgebracht hat: Eine Sammlung von fast zwanzig ungewöhnlichen, rührenden, spannenden Geschichten, die allesamt mit dem Reisen in seiner schönsten Form zu tun haben: dem Entdecken. Oder wussten Sie vor diesem Wettbewerb, dass die Ameisen im Schweizer Nationalpark mehr Gewicht auf eine Waage brächten als die dort lebenden Hirsche? Wussten Sie, dass einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Schweiz im Gefängnis zur Poesie fand? Und dass ausgerechnet Heidis Heimatort Maienfeld seinen Tourismus-Verein abgeschafft hat? Die Arbeit an den drei Siegertexten begann, wie stets bei den zehn Auflagen unseres Preises zuvor, mit der Suche nach dem ungewöhnlichen Thema oder der ungewöhnlichen Perspektive. Sie bestand dann aus einer Mischung professioneller Neugierde und akribischer Recherche. Und sie endete mit dem Auffinden der besten erzählerischen Struktur und der geeigneten Sprache. Für den Leser ergibt das in der Regel Texte, die er gerne liest, die er durchliest, von denen er anderen erzählt.

Wie eben vom Gesamtgewicht der Ameisenschar im Schweizer Nationalpark. Es gehört schon einiges an Frechheit dazu, an einem Ort, an dem alle gebannt nach Geiern am Himmel und Bären an den Berghängen suchen, einfach nur auf den Boden zu sehen. Siegerin Evelyn Runge hat das in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» getan. Und mehr als das: sie hat sich dabei verführen lassen von einem Verführer, von einem Ameisenverrückten. Ist tief eingetaucht in das faszinierende Wissen von Insektenkundlern, und hat darüber so viel Menschliches im Verhalten dieser Tiere entdeckt, dass der Mensch nur noch staunen kann: Auch gegenüber Menschen verwandeln sich Ameisen in Sekundenbruchteilen vom fleissigen Arbeitstier zum aggressiven Angreifer. (...) Ein Fotoapparat, für eine Makroaufnahme dicht an das Nest gehalten, ist schneller mit Ameisen befallen, als man blinzeln kann, auf der Linse sitzen vier, an der Handschlaufe 32, auf dem Rückteil der Kamera zwei. Eine bespritzt das Display mit Säure, und man fragt sich, ob die Oberfläche nun zur bleibenden Erinnerung verätzt ist. «Schon Goethe war hier...» – kaum ein Satz, der Leser schneller in eine gewisse


Alarmbereitschaft zu versetzen vermag: Vorsicht – gleich wird es langweilig! Vorsicht – gleich wird der Autor seinen gesamten, schnell noch zusammen gegoogelten Zitatenschatz rezitieren! Umso mutiger, dass die Zweitplatzierte, Kati Thielitz, es in der «Welt am Sonntag» mit dem Thema Literatur aufnahm. Ihre originelle Idee: Sie verzichtet, nach kurzer Erwähnung im Teaser, auf Heidi, Thomas Mann und Friedrich Nietzsche. Stattdessen hält sie es mit Philipp Gurt, Marcella Maier und Patrick S. Nussbaumer. Diesen drei einheimischen Schriftstellern folgt sie an die Schauplätze ihrer Krimis und Familiensagas und entdeckt dabei einen Kanton Graubünden, der weit mehr zu bieten hat als den Charme von Postkarten in Textform. So folgt sie zum Beispiel dem ehemaligen Gefängnisinsassen und Schriftsteller Philipp Gurt auf der Suche nach Einfällen für einen Roman in dessen rotem Subaru bis in sein Heimatdorf: An Weilern mit Schindeldächern vorbei, entlang buckliger Wiesen mit graubraunen Kühen, in schlanken Kurven bis auf den San-Bernardino-Pass, der das deutschsprachige Hinterrheintal mit dem italienischsprachigen Misox verbindet. Dort oben leuchtet auf 2065

Metern der Lago Moesola, eingelassen in ein grünes Hügelbett mit ein paar rostigen Tupfern, die Gipfel ringsum reissen die Luft auf zum Firmament. In dieser Urwelt sieht Gurt wieder klar. «Wenn ich hier bin, tropfen die Worte aus mir heraus», sagt er. Nicht minder mutig war Verena Töpper, die es für das «Hamburger Abendblatt» noch einmal mit dem ewigen «Heidi» aufnahm. Heidi, ausgerechnet, werden wohl auch einige unserer Jury-Mitglieder gedacht haben, um am Ende einzugestehen: Dieser Text hat einen Preis verdient. Das Rezept lautete auch hier: anders hinsehen, näher hinsehen, genauer beobachten. So gelingt es der Autorin sogar, zwei reisejournalistische Todsünden, das Klischee «Heidi» und jenes der japanischen Reisegruppe zu kreuzen, ohne den Leser je zu langweilen. Ihre Hauptfiguren Yutaka und Tomoko Suzuki sind nämlich keineswegs skurriler dargestellt, als die griesgrämigen Einheimischen in ihrem Schwanken zwischen Geschäftemacherei und Touristenfeindlichkeit. Und so ist eben auch der Leser hin- und her gerissen zwischen dem Bestaunen von 23 Japanern, die voller Verzückung einen Haufen Pferdeäpfel betrachten, und einer Souvenirverkäuferin, die genervt

ihre jodelnden Murmeltiere versteckt, weil eben diese Japaner in ihrem Laden alles ausprobieren. Die Maienfelder reden nicht gern über die Geschäftsleute, die die alten Mieter auf die Strasse setzen. Sie reden auch nicht gern über das Heidi. Lieber reden sie über die Japaner. «Die kaufen alles, was wir nicht kaufen würden», sagt die Verkäuferin. «Die sind immer freundlich, aber geben kein Trinkgeld», sagt der Kellner. «Die schleppen sogar ihre Koffer den Berg zum Heidihaus rauf», sagt der Taxifahrer. Er verschweigt, dass den wenigen Individualreisenden gar nichts anderes übrig bleibt, denn am Bahnhof von Maienfeld gibt es keine Gepäckaufbewahrung. Nationalpark, Dichter, Heidi. Es ist nicht nötig, dass Reisejournalisten die Welt jedes Mal neu erfinden oder in den allerletzten Winkel des Amazonasbeckens vorstossen. Es genügt schon, wenn sie ihre Arbeit als Journalisten ernst nehmen und damit den Leser. In diesem Sinne freue ich mich auf den 12. Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten.

Peter Linden

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«Die Schweiz, am Boden»

1. Rang Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten 2010

Ameisen sind die unterschätzten Stars der Schweizer Nationalparks in Graubünden. So faszinierend Adler, Gemsen und Hirsche auch sind - nur vor der Dramatik eines Insektenlebens geht man in die Knie. Das Bergplateau ist ein Servierteller, Gemsen und Kitze liegen auf dem Gras wie Filets auf Salat. Der Adler sondiert, er sinkt herab, steigt mit der Thermik wieder nach oben. Nach einer Runde um den Gipfel visiert er seine Mahlzeit abermals an, die Gemsen scheuchen ihre Kitze auf; sie verharren und blicken dem Angreifer nach. Für Szenen wie diese kommen Touristen in den Schweizerischen Nationalpark, Adler wollen sie sehen, Bartgeier, Hirsche, Gemsen und Steinböcke, den Kampf um Nahrung und um Weibchen in der Brunftzeit. Der Blick durch das Teleskop rückt Dramen hoch oben so nah, dass die Welt neben den eigenen Füssen kaum wahrgenommen wird. Dabei sind hier am Boden die heimlichen Stars des Nationalparks – die Ameisen. Als der Adler abdreht und sich im Blau des Himmels verliert, lenkt Exkursionsleiter Martin Schmutz – gross, drahtig, mit scharfem Auge – den Blick nach unten. Direkt vor den Füssen der Wanderer, am Grat zum Abhang, thront ein Ameisennest, kaum kniehoch, hellbraun und an diesem späten Vormittag direkt von der Sonne beschienen. Die Wärme lockt die Ameisen nach draussen, auf das Nest, auf ihre Strasse am Rand des Wanderwegs. Das Fernglas, eben noch Sichtverstärker für die Gipfel des Val Trupchun, dreht Martin Schmutz 8

um – es wird zur Lupe. Eine Ameise, behutsam an einem Bein festgehalten zwischen Daumen und Zeigefinger, erscheint so gross, dass selbst der Laie erkennt, dass es eine Kerb- und keine Waldameise ist. Ihr Kopf ist geformt wie ein Herz, die Kerbe hat dem Tier seinen Namen gegeben. Sie ist kleiner als eine Waldameise, das Hinterteil dünner. Insgesamt gibt es in der Schweiz mehr als 140 Ameisenarten, 36 davon leben im Nationalpark, auch vier der sieben Waldameisen-Arten. Der Nationalpark – der einzige der Schweiz – liegt im Kanton Graubünden an der Grenze zu Italien. Es gelten drei Regeln: Die Natur bleibt sich selbst überlassen. Der Park wird wissenschaftlich erforscht und dokumentiert. Und die Besucher werden informiert – im Nationalparkzentrum in Zernez mit neuester Museumspädagogik, und natürlich direkt im Feld. 150 000 Besucher kommen in der Saison, die wenigsten davon sind Tagestouristen. Die geführten Touren beginnen Mitte Juni, und selbst dann liegen noch Lawinenreste gross wie Stadthäuser in den Tälern. Ameisen-Tourismus im Nationalpark, das erscheint vielen Wanderern skurril – und fasziniert sie zugleich. Die Ameisennester sind ebenso zahlreich wie einfach zu übersehen. «Dabei wiegen die Ameisen im Nationalpark insgesamt mehr als die Hirsche»,


Von Evelyn Runge, 31 Erschienen in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», 26. September 2010

sagt Daniel Cherix, Professor für Insektenkunde an der Universität Lausanne mit den Spezialgebieten Ameisen und Schmetterlinge. Seit seiner Dissertation erforscht er Ameisen im Nationalpark, und wer etwas über diese Tiere wissen will, kommt an ihm nicht vorbei. Cherix überschlägt: In einem Waldameisennest leben etwa zwei Millionen Arbeiterinnen von je zehn Milligramm – ein Nest wiegt also etwa zwanzig Kilo. Die Nester aller Ameisenarten im Nationalpark bringen geschätzte 350 000 Kilo auf die Waage – wesentlich mehr als die insgesamt 240 000 Kilo der 2 000 Hirsche. Vorbildlich organisiert und friedliebend seien Ameisen, meinten Philosophen: Aristoteles und Thomas Hobbes zählten die Ameisen zu den politischen Lebewesen, und obwohl sie keine Sprache hätten, gäbe es zwischen ihnen keinen «Neid und Hass und letztlich Krieg», so Hobbes im «Leviathan»: Privates Wohl und das Gemeinwohl unterschieden sich nicht bei Ameisen, sodass es auch keine Auseinandersetzungen wie bei den Menschen gäbe. Daniel Cherix widerspricht: Arbeiterinnen und Königinnen streiten sehr wohl, zum Beispiel über die Verteilung der Geschlechter in einem Nest. «Die Königin will die gleiche Menge an Männchen und Arbeiterinnen haben», sagt Cherix, «die Arbeiterinnen aber wollen mehr Schwestern haben.»

Und Ameisen unterschiedlicher Art oder aus unterschiedlichen Kolonien verstehen einander überhaupt nicht. Martin Schmutz packt eine Waldameise, die alleine den Wanderpfad quert. Er wirft sie auf das Nest der Kerbameisen; sofort greifen mehrere Wächter sie an. Sie zerren an ihr, rangeln, halten sie fest; mehr sieht man mit blossem Auge nicht, denn sie verschwinden zwischen den anderen Ameisen. «Der fremden Ameise wird Säure injiziert, die Wächter schneiden ihr Fühler und Beine ab», sagt Martin Schmutz, «es ist Mord und Totschlag.» Auch gegenüber Menschen verwandeln sich Ameisen in Sekundenbruchteilen vom fleissigen Arbeitstier zum agressiven Angreifer. So etwa am Wanderpfad in der Nähe von Il Fourn am Parkplatz P5. Hier liegen einige grosse Nester von Waldameisen. Eines ist gut einen Meter hoch, erbaut am Fusse eines Baumes. Ein Fotoapparat, für eine Makroaufnahme dicht an das Nest gehalten, ist schneller mit Ameisen befallen, als man blinzeln kann, auf der Linse sitzen vier, an der Handschlaufe 32, auf dem Rückteil der Kamera zwei. Eine bespritzt das Display mit Säure und man fragt sich, ob die Oberfläche nun zur bleibenden Erinnerung verätzt ist. Schmutz sagt, Ameisensäure im Auge brenne brutal, und wer die Ameisen mit einer blauen Blume ärgere, werde hinterher helle Punkte im Blau erkennen,

hereingefleckt durch die Säure. Auch den Rüssel, den die Waldameise in den Finger bohrt, spürt man genau. Man hört die Ameisen sogar, stetiges Sirren umgibt das Nest. Ihre Haufen bauen sie in geometrischer Schönheit. Der unterirdische Teil ist in etwa so gross wie der oberirdische, sichtbare. Das Hauptbaumaterial sind trockene Fichtennadeln, Schicht um Schicht aufeinandergestapelt, zu gleichmässigen Rauten. Ein Lärchenast mit Zapfen, halb verdeckt von Nadeln, ist wie ein Zierelement in die Oberfläche integriert. Etwas schimmert golden: Eine Ameise schleppt einen Klumpen Harz, das Gewicht drückt das Tier in die Nadeln. Harz nutzen die Ameisen als Klebstoff. In den ersten warmen Tagen des Juni stolzieren Waldameisen mit Flügeln über das Nest, glitzernd im Schein der Sonne; es ist ihr Hochzeitskleid. Die Königin und die Männchen machen sich auf zum Hochzeitsflug. Im Matriarchat haben die Männchen nichts zu sagen, auch nicht bei der Fortpflanzung: Der erste Sex bleibt der letzte. Nach ihrem One-Night-Stand sterben die Männchen. Die Königinnen aber können nun 20 Jahre lang Eier legen, Hilfsameisen pflegen den Nachwuchs. Stirbt die Königin, stirbt auch das Volk.

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Von Evelyn Runge

Je schattiger der Ort, desto grösser die Nester. Die Strasse der Ameisen führt über einen liegenden Baum. In seiner Wurzel zerrt eine Ameise an einem schwarzen Käfer, grösser als sie selbst und starr; doch plötzlich bewegt er sich und flieht, er stürzt die Wurzel herab, aus seinen Proportionen gesehen ist es ein Abgrund. Am Boden greift sofort eine andere Ameise an; er stellt sich wieder tot. Die anderen Arbeiterinnen interessiert der Nahkampf nicht – sie wollen Brot, keine Spiele. Die Ameisenstrasse führt auf eine Lärche. Auf den frischen Trieben sitzen Blattläuse, bereit, von den Ameisen gemolken zu werden. Die Symbiose läuft über Tauschhandel: Die Ameisen schützen die Läuse vor Marienkäfern und anderen Angreifern. Die Milch der Läuse fangen die Ameisen in ihrem Sozialmagen auf: In diesem transportieren sie die Milch zum Nest und füttern den Nachwuchs und die Schwestern, die im Dunkeln den Innendienst ableisten. Am Fusse des Margunet kniet Martin Schütz im Gras. Er trägt eine graue Hose, ein graues Shirt, eine Weste, seine Haare sind rotblond und kurz. Schütz erforscht den Zusammenhang zwischen Vegetation und Hirschen auf der Alp da Stabelchod. Auf elf Hektar zählte er 1200 Nester der Kerbameise, vor zehn Jahren waren es nur 10

750. Diese Nester sind viel kleiner als die der Waldameisen, knapp kniehoch und im Radius etwa so gross wie ein DIN-A4-Blatt. «Alle diese Haufen sind miteinander verwandt, jeder hat mehrere Königinnen», sagt Martin Schütz. Doch die Nester sind ungleich verteilt: Auf der Westseite der Alp hat Schütz viele Ameisenhaufen gezählt, auf der Ostseite keine. Jede Nacht äsen Hirsche auf der Ostseite; Föhren wachsen hier kaum, wohl aber auf der Seite mit den Ameisennestern. «Zertrampeln die Hirsche die Nester – oder äsen sie dort nicht, wo die aggressiven Kerbameisen sind? Beeinflussen Ameisen die Struktur der Vegetation so, wie Hirsche es tun?» fragt sich Schütz. Der Spezialist für Vegetationsökologie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft verbringt zwei Monate im Sommer im Nationalpark, leitet Magistranden und Doktoranden an in der Untersuchung der Vegetation. Zur Ameisenforschung kam er zufällig: Ein amerikanischer Kollege fragte, ob Ameisenhaufen Kohlenstoff speichern. Schütz hält seine Hand über ein Nest, das unbewohnt erscheint. Sekunden später krabbeln Ameisen aus dem Haufen, angelockt durch die Wärme der Hand. Um den Haufen bilden Gräser und Seggen einen Ring, «es scheint hier mehr Nährstoffe im Boden zu geben,

und für die Ameisen bieten die Pflanzen Schutz», meint Schütz. Die Samen der Gräser sind meist länglich, schmal und haben eine gute Transportgrösse für Ameisen. Obwohl Ameisen nicht das Hauptforschungsgebiet von Schütz sind, hat er «endlose Fragen»: Wie hängen Ameisen und das Ökosystem zusammen? Dass Ameisen ein guter Indikator für intakte Natur sind, ist bekannt. Aber wie stark profitieren Bäume von der Symbiose der Ameise und der Blattläuse? Warum laufen Ameisen an 20 Bäumen vorbei und wählen den 21. als Futterbaum? Tatsächlich überraschen die kleinen Tiere die Wissenschaftler immer wieder und sorgen für Sensationen. 2008 entdeckten Daniel Cherix und seine Mitarbeiter eine neue WaldameisenArt; eine, die anders als andere Arten auch die Puppen fremder Ameisenarten akzeptiert – und sie zu Sklaven macht. Noch hat die neue Art keinen Namen, dieser soll 2014 zum 100jährigen Jubiläum des Nationalparks festgelegt werden. Eine «Formica Cherixa» solle es nicht werden, sagt Daniel Cherix; er träumt von einem Namen, der den Zusatz helvetica enthält: Denn diese Ameisenart ist bisher nur im Schweizerischen Nationalpark bekannt.


«Die Schweiz, am Boden»

«Dabei wiegen die Ameisen im Nationalpark mehr als die Hirsche.» 11


«Ihre Welt sind die Berge»

2. Rang Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten 2010

Der Schweizer Kanton Graubünden hat bedeutende Literatur hervorgebracht. Das Land von «Heidi», «Zauberberg» und «Zarathustra» birgt bis heute für Autoren jedes Alters Inspiration. Sie finden sie in der Natur, in mittelalterlichen Gassen und manchmal sogar im Gefängnis. Kapitel 1: Daan In einer Nacht im Spätsommer 1983, als er in einem Turm hinter Panzerglas hockte, rettete sich Philipp Gurt zum ersten Mal in Poesie. Aus Zelle Nummer 15, steril, eng, flohen seine Gedanken über die weissen Birken hinweg, hoch ins Blau. Gurt lernte die Zeilen auswendig. Stift und Papier gaben die Wärter dem Jungen nicht, der aus dem Churer Kinderheim weggelaufen war, um seinen Vater zu finden. Er hatte in Maisfeldern und Treppenhäusern geschlafen, bis die Kantonspolizei kam. Isolationshaft, Gefängnis. Gurt war 15. Mittlerweile ist Philipp Gurt 42, trägt sein braunes Haar kurz und Sneakers an den Füssen. Mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn wohnt er in einem Holzhaus in Haldenstein am Rhein, Kanton Graubünden, drei Kilometer bis Chur. Daan ist nur eine Skizze im Kopf, als Gurt im November 2009 Szenen seines neuen Romans notiert; den ersten hat er mit 20 geschrieben. Wäre sein eigenes Leben bis dahin ein Buch, wie ein Thriller läse es sich. Als siebtes von acht Kindern wurde er in eine Bauernfamilie hineingeboren; zwei Jahre verbrachte er auf dem Hof in Maladers bei Chur. Der Vater trank zu viel Calanda-Bräu, der Mutter ging es psychisch schlecht; so kam Gurt nach Haldenstein. Die 12

Pflegeeltern schlugen den Jungen und verwehrten ihm Wasser; bald landete er im nahen Kinderheim. Als er vier Jahre alt war, wurde er von einer Erzieherin missbraucht; andere prügelten ihn, bis er blutete. Mit 14 dachte Philipp Gurt: Abhauen. …noch unsicher auf den Beinen, zog Daan in den nächsten Stunden hinunter nach Silvaplana, vorbei am gleichnamigen See, weiter dem breiten Tal folgend bis an die Ufer des St. Moritzer Sees. Kapitel 2: Das Seidentuch Graubünden, das bergige Land im Südosten der Schweiz zwischen Liechtenstein, Österreich und Italien, ist ein Nährboden für Geschichten. Johanna Spyri kam die Idee zu «Heidi» dort, Friedrich Nietzsche vollendete den «Zarathustra», Thomas Mann ersann den «Zauberberg». Text scheint in dieser Gegend gleich einer Almblume zu gedeihen, als sei das Bündner Klima den Gedanken zuträglich, sodass sie sich zu Romanen verzweigen. Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Max Frisch, Bertolt Brecht, Hermann Hesse – sie alle schrieben in Graubünden, und noch immer ist es Autoren über die Lebensalter hinweg Inspiration.


Von Kati Thielitz, 28 Erschienen in der «Welt am Sonntag», 26. September 2010

Eine, die sich schon als Kind in Sprache verliebte, ist Marcella Maier. Am Rande von St. Moritz, 90 Kilometer von Haldenstein entfernt, wohnt die drahtige, kleine Dame in einer Gründerzeitvilla, bergwärts der Corviglia, talwärts der See, ein Stück westlich das Haus, in dem sie 1920 geboren wurde. Herangewachsen an einem Fleck, wo die Leute Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch reden, las sie als Mädchen Dante, Goethe und Wilde im Original. Die Eltern waren arm, aber an Literatur wurde nie gespart. «Durst, Susi?» Maier wuchtet eine Flasche empor und schüttet daraus St. Moritzer Heilwasser in Gläser; so gesund, dass es den Ort berühmt gemacht hat, so bitter, dass sie es Sauerwasser nennen. Sie und Susi Wiprächtiger sind gut bekannt, die 54-Jährige mit dem blonden Pagenschnitt schaut oft in der Villa vorbei. Auf der Terrasse, zwischen Enzian und Margeriten, erzählt sie, was sie gerade im Gemeinderat verhandeln, in dem Jahre vor ihr als erste Frau Marcella Maier sass. Manchmal, sagt Maier, vermisse sie die Debatten, damals während der Siebziger, als sie noch Alice Schwarzers Zeitschrift «Emma» las. Heute liest ihr Enkel Vito aus Zeitungen vor; morgens hört Marcella Maier Radio. Ihr weisser Zopf flattert im Wind; sie lächelt, als sie erzählt, wie

froh sie sei, längst die Geschichte ihrer Vorfahrinnen aufgeschrieben zu haben, ihre Vergangenheit. Mit glühenden Wangen las sie, wann immer sie sich ein wenig freie Zeit nehmen konnte, von fernen Ländern und fremden Menschen, solchen, wie sie auch in Sils anzutreffen waren, wie der finster blickende Mann mit dem schwarzen Umhang, dem mächtigen Schnauzbart und den buschigen Augenbrauen, unter denen die Blicke durchdringend auf die Menschen gerichtet waren, ohne jedoch einen davon wirklich zu sehen – so jedenfalls kam es den Dorfkindern vor. «Das ist ein Dichter und Philosoph», sagte der Lehrer und ermahnte die Schüler, sich nicht über diesen Herrn Nietzsche lustig zu machen. Oft haben sie beisammen gesessen, Grossmutter Maria, die wie sonst niemand erzählen konnte, und Marcella, die immer noch mehr wissen wollte. Über Alma, ihre Ururgrossmutter, die sich vor 200 Jahren als Witwe im Bergell durchschlagen musste. Über deren Tochter Lisabetta, die ins nahe Engadin nach Sils-Maria zog, zehn Kilometer von hier entfernt. Über Friedrich Nietzsche, den die kleine Maria durch Sils wandeln sah, als der den Sommer über dort weilte. Über das grüne Seiden-

tuch, das Alma einst von einem Priester bekommen hatte und das seither von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Maiers erfolgreichstem Buch gab es den Namen; nun liegt es in ihrem Schrank. Kapitel 3: Zauberwelt Das Feuer breitete sich natürlich rasant in der ganzen Bibliothek aus. Seine Freunde, die auch am Lernen gewesen waren, rannten hinaus, und ein paar wollten auch ihn aus der Bibliothek zerren, doch... in all den Jahren der Einsamkeit hatte er immer Zuflucht in den Büchern gesucht und gefunden, er hatte sich quasi in die Bücher verliebt. Ein paar Hundert Meter oberhalb von Marcella Maiers Villa rumpelt der Bus der Linie 5 über die Via Maistra, Patrick Nussbaumer sortiert in seiner Tasche die Hefte. Der 18-Jährige kommt gerade aus der Schule im Nachbarort Samedan, erschöpft ist er, heute war Sporttag. Draussen wackeln das «Kulm Hotel» und der Buchladen vorbei, in dem es seit ein paar Monaten seinen zweiten Krimi zu kaufen gibt, die Geschichte um einen Mann, dessen Gesicht bei einem Bibliotheksbrand entstellt wurde. Nächster Halt St. Moritz-Bad, hier steigt Nussbaumer aus. Er läuft die letzten Meter zur Via Chavallera, wo er und seine Eltern zu Hause sind. 13


Von Kati Thielitz

Die Wände in seinem Zimmer sind mit Harry-Potter-Postern tapeziert, die Ablagefächer im Regal beschriftet mit «Allerlei», «Blätter» und «Krimi von mir». Dort landen Ideen für neue Geschichten, durcheinander wie die braunen Locken auf seinem Kopf. «Ich bin mit Harry Potter aufgewachsen», sagt er, «das prägt.» Als Zehnjähriger, als sie ihn in der Schule «Nüssli» nannten, habe er sich fortgeträumt in die Welt des Zauberlehrlings; Freunde hatte er kaum. Mit 13 schuf er sich seine eigene Welt, eingebettet in Chur. Auf Mittelaltermärkten und in Gassen der Kantonshauptstadt tragen sich seine Geschichten zu, die er schreibend mit den Jugendlichen Simon, Oliver und Sabrina durchlebt. Die drei seien wie imaginäre Freunde, sagt er. Kapitel 4: Calandaland An einem Hang über Chur klebt das Kinderheim vanilleeisgelb, in dem Philipp Gurt früher wohnte. Manchmal fragt er sich: Bin ich verrückt, weil ich noch immer in direkter Nähe zu alldem hier lebe? Dann lässt er sich auf der Bank nahe dem Heim am Waldrand nieder, von der aus sich der Blick über das Churer Becken ins Bündner Oberland und auf den Calanda öffnet, einen Berg so mächtig, dass manch Einheimischer Graubünden Calandaland nennt. Dieser felsenfest daliegende Koloss gab Gurt Halt, als es die Eltern nicht konnten. «Von meinem Heimzimmer aus sah ich ihn. Heute habe ich ihn vor Augen, wenn ich auf meiner Terrasse in Haldenstein stehe oder aus dem Büro in Valens schaue.» Im Bergdorf Valens, auf der anderen Seite des Calandas, arbeitet Gurt als technischer Leiter einer Klinik, zum Schreiben kommt er an den Wochenenden. Zeitdruck hat er nicht, wenn er sich in Daans Geschichte versenkt, schliesslich muss die seine 14

Familie nicht ernähren. «Ich schreibe, wenn ich es von innen her muss.» Kapitel 5: Chastè Unten auf der staubigen Strasse sah sie Marcella stehen, die die Hand wie zu einem Abschiedsgruss hob... Ihre Kinderzeit war vorbei. Nie mehr würde sie am Bach kleine Teiche aufstauen, um darin ihre Puppenwäsche zu waschen, nie mehr im Wäldchen drüben Erdbeeren suchen, Vögel und Eichhörnchen beobachten. Marcella Maier kennt jeden Winkel des Oberengadins, jenes Hochtals kurz vor der italienischen Grenze, das Thomas Mann zum «schönsten Aufenthalt der Welt» geriet. Nach der Schule erwarb sie in St. Moritz ein Handelsdiplom, nach dem Krieg arbeitete sie im Kurverein; gern kam damals Hermann Hesse auf einen Plausch vorbei. Sie schrieb für die «Bündner Zeitung» und die «Engadiner Post»; sie veröffentlichte Bücher über ihr Heimattal. «Dieses Jahr konnte ich nicht am Silsersee spazieren gehen», sagt sie im Wohnzimmer, «ich falle zu oft hin.» Als ihr Mann noch lebte, dessen Foto gerahmt im Regal hinter ihr steht, hätten sie stets im Herbst die Halbinsel Chastè umrundet, wenn die Lärchenwälder in Orange- und Rottönen entflammen und sich die Berge in blaue Schleier hüllen. Nichts habe sie mehr berührt als Chastè, die wie ein gestrandeter Wal in die glatte Wasserscheibe vor Sils hineinragt. Vor ihr flanierte dort Grossmutter Maria, auch Nietzsche, der Philosoph. Susi Wiprächtiger nippt an ihrem Sauerwasser; sie hört gern zu, wenn Maier erzählt. Vor dem Fenster reckt sich die Berninagruppe zum Himmel, davor liegt der See, davor der Bahnhof,

über den der Glacier-Express und der Bernina-Express tagaus, tagein Touristen in den Ort spülen. Kapitel 6: Inspiration Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und verliess St. Moritz. Daan lehnte sich zurück und schaute in den milden, sonnigen Apriltag hinaus. Nur ein paar Schleierwolken zogen durch das feine Blau des Himmels. Philipp Gurt blickt von seinem Laptop hoch. Er steht auf und schlappt in die Küche, wo er für einige Sekunden ganz mit dem Salsiz auf seinem Gaumen beschäftigt ist. Für die Bündner Trockenwurstspezialität schiebt er die Bilder in seinem Kopf beiseite. Dann bricht er wieder auf in Daans Welt. Gerade hat Daan seine Eltern in ihrem Grandhotel in St. Moritz besucht, jetzt fährt er zurück nach Chur. Dort wird er ein leeres Haus vorfinden, seine Frau und seine Tochter sind verschollen, wie auch Millionen andere Menschen. Für Daan beginnt jetzt eine jahrelange Odyssee, für Gurt eine Zeit, in der er sich Satz für Satz nach vorn tastet, bis sich alles zu einem Ganzen fügt. Gurt kommt voran, Daan hat auf der Suche nach seiner Familie schon einige Seiten zurückgelegt. Einmal, als Gurt nicht weiss, wie Daans Geschichte weitergehen soll, steigt er in seinen roten Subaru und fährt los. An Weilern mit Schindeldächern vorbei, entlang buckliger Wiesen mit graubraunen Kühen, in schlanken Kurven bis auf den San-Bernardino-Pass, der das deutschsprachige Hinterrheintal mit dem italienischsprachigen Misox verbindet. Dort oben leuchtet auf 2065 Metern der Lago Moesola, eingelassen in ein grünes Hügelbett mit ein paar rostigen Tupfern, die Gipfel ringsum


«Ihre Welt sind die Berge»

reissen die Luft auf zum Firmament: In dieser Urwelt sieht Gurt wieder klar. «Wenn ich hier war, tropfen die Worte aus mir heraus», sagt er. Eines regennassen Morgens drückt Gurt auf die Return-Taste seines Laptops und schickt das Manuskript an den Literaturwerkstatt-Verlag. Mehrere Male kontrolliert er, ob er die E-Mail versendet hat; dann läuft er durchs Haus wie ein aufgeregter Schuljunge vor der Zeugnisvergabe. Es dauert keine Woche, bis er vom Verlag hört: Sie wollen es haben. Kapitel 7: Feuer Simon rannte durch das brennende Museum fünf Gestalten, die Sabrina mitzerrten, hinterher... Einer der Männer drehte sich um, sein Gesicht war mit Brandnarben übersät. Patrick Nussbaumer klappt das Buch zu und quetscht es ins Regal zwischen einen Agatha-Christie-Krimi und den ersten Harry Potter. Was für Philipp Gurt der San-Bernardino-Pass, ist für den 18-Jährigen sein Zimmer. An keinem Ort Graubündens ist er lieber; in der Schule inspiriert ihn die Philosophie. Als Schwerpunktfach hat er «Wirtschaft und Recht» belegt, das brauche er für die Selbstvermarktung, sagt er. Eigene Autogrammkarten hat er bereits, seit ihn ein Sammler um seine Unterschrift bat. Den Brief hat er in einem Ordner verwahrt, zusammen mit den Zeitungsartikeln. Vor einem Jahr schaffte er es auf die Titelseite der Regionalpresse, weil er als Interviewgast in der TV-Sendung «Aeschbacher» auftrat, eine Art «Beckmann» der Schweiz. Nussbaumer hatte sich telefonisch beworben. «Ich habe die Redaktion gefragt, ob ich interes-

sant für sie wäre», sagt er und lässt sich auf den Stuhl vor seinem Computer fallen. In letzter Zeit muss er sich auf die Schule konzentrieren, ein Jahr noch, dann ist er fertig. Auf dem Schreibtisch liegt die unvollendete Maturaarbeit; wenn sie geschrieben ist, hat Nussbaumer Zeit für einen neuen Roman. Besser werden, seinen eigenen Stil entwickeln. Tippen, bis Buchstaben in einem Kosmos aufgehen. Aus Marcella Maiers Welt sind die Buchstaben vor einem dreiviertel Jahr verschwunden. In ihrem holzvertäfelten Arbeitszimmer lässt sie die Hand über den durchsichtigen, blau-weissen Computer mit dem Apfelsymbol gleiten, der zwischen Papierstapeln und Wörterbüchern wie ein eben erst gelandetes Ufo aussieht. Die vielen feinen Falten in ihrem bergsonnengetönten Gesicht lassen erahnen, wie intensiv sie in 89 Jahren gelacht, gelebt, auch gesucht haben muss, gerungen um Begriffe, in die sie Gedanken hineingiessen konnte. Sie ist eine Sprach-Spaziergängerin. Buchstaben sind für sie, was einem Musiker Töne sind, Worte ihre Akkorde, Sätze Harmonien. Doch mit den zahllosen Stunden, die sie Geschichten und Berichte in den Computer gab, sind ihre Augen schwach geworden. Nun kann Marcella Maier nicht mehr schreiben.

An einem Mittag im Spätsommer 2010 fährt Philipp Gurt nach Chur; er ist mit seiner Verlegerin auf der Terrasse des Hotels «Marsoel» über der Altstadt verabredet. Die Sonne blinzelt, in den Baumkronen raschelt der Wind, als er Daans Geschichte als Buch in die Hände nimmt. 446 Seiten ist es dick, Gurt fährt mit den Fingern über den Umschlag, liest seinen Namen, darunter den Titel «Menschendämmerung». Gurt blättert etwas, guckt sich um; er sieht die Bündner Berge, als die Verlegerin sagt: «Es wird ein Bestseller.»

Kapitel 8: Bestseller Die Churer Rheintaler sahen zu, wie sich ihre Sonne im südwestlichen Oberland glutrot, im vorher nie dagewesen Farbenspektakel verabschiedete... Häuser, Strassen, Wälder, Täler, Berge – die ganze Landschaft tauchte ins unwirkliche, letzte Abendlicht, bevor nur noch die höchsten Gipfel golden aufflammten, um von der anbrechenden Dämmerung langsam eingehüllt zu werden. 15


«Das Heidi muss sein»

3. Rang Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten 2010

Für Japaner auf Europareise ist ein Stopp im schweizerischen Maienfeld genauso wichtig wie der Besuch von Paris oder St. Moritz. Der kleine Ort in Graubünden gilt als die Heimat von Heidi, die in Fernost als Zeichentrickfigur berühmt wurde. Yutaka Suzuki freut sich über die Pferdeäpfel. Als er sie vor sich auf dem Weg in der Sonne glänzen sieht, weiss er, dass sich die 9600 Kilometer weite Reise gelohnt hat. Seine Frau Tomoko steht vor dem Mist und lacht.

Maienfeld, 2500 Einwohner, Kanton Graubünden, im Rheintal, 100 Kilometer von Zürich entfernt. Der Kellner des

Alle lachen. Die Reiseführerin mit dem

Zum «Heidihof» gehört der Parkplatz, auf dem die Reisebusse halten. Ein Wegweiser, der in Richtung Pferdeäpfel zeigt, verspricht, es seien nur sieben Minuten bis zum «Heidihouse, the original». Der Zusatz ist wichtig, denn es gibt in der Schweiz viele Heidihäuser. St. Moritz hat eines, auch Bad Ragaz, Bergün, Grevasalvas.

ausgefahrenen Teleskop-Stöckchen, die alte Dame, die sich unter ihrem Regenschirm vor der Sonne versteckt, das junge Pärchen mit der Videokamera. Erst vor vier Stunden sind sie in Zürich aus dem Flieger gestiegen, und jetzt das. Pferdeäpfel, fallen gelassen, mitten auf dem Weg, einfach so. Das muss Heidis Heimat sein. Tomoko hat alle Folgen der Trickfilmserie zusammen mit ihrer Tochter im japanischen Fernsehen gesehen, auch die ersten, die noch nicht am späten Sonnabend liefen. Ihr Mann Yutaka ist erst Fan geworden, als die Sendung mit einer Einschaltquote von 48 Prozent schon alle Rekorde gebrochen hatte. Heidi. Unschuldig, natürlich, wild. Alpen, Ziegen, Pferdemist. Das Gegenteil von Tokio. Jetzt sind sie da, zusammen mit 21 Landsleuten. Die ersten von knapp 400 Japanern, die an diesem Tag über die Pferdeäpfel steigen werden.

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Hotels «Heidihof» hat die deutschen Gäste schon gewarnt: «Jetzt ist gerade Japaner-Saison.»

Gewohnt hat «das Heidi» aber in Maienfeld. So steht es in «Heidis Lehr- und Wanderjahre» von Johanna Spyri. Sie hat den Roman 1880 geschrieben, seitdem wurde er in fast 50 Sprachen übersetzt. Tomoko und Yutaka haben die japanische Fassung nicht gelesen. Als sie ins Reisebüro gingen und ihre Europareise planten, standen Paris und St. Moritz auf ihrer Wunschliste. Und das Heidiland. Die Frau im Reisebüro zeigte ihnen ein Foto von Maienfeld. Sie verschwieg, dass Maienfeld gar nicht im Heidiland liegt. Die Rechte an dem Namen hat sich der Kurdirektor von St. Moritz gesichert, schon vor 31 Jahren. Doch das Heidi


Von Verena Töpper, 27 Erschienen im «Hamburger Abendblatt», 11. September 2010

mit seiner Vorliebe für Ziegen und zerrissene Kleidchen wollte nicht so recht passen zu den Reichen und Schönen

Drei von fünf Japanern kennen die Geschichte von Heidi. Wie viele Japaner mit Pferdeäpfeln und Elektrozäunen

des Nobel-Skiortes. «Top of the World» erschien passender. Ein Abnehmer für das Heidiland war aber schnell gefunden. Für eine jährliche Lizenzgebühr von 10 000 Franken (7600 Euro) sicherte sich 1997 der Tourismusdirektor von Bad Ragaz die Marke. Die Ferienregion Heidiland liegt seitdem westlich des Rheins, im Kanton St. Gallen. Im Tal gegenüber von Maienfeld, obwohl hier der Heidi-Roman spielt. Doch den meisten Maienfeldern war das ganz recht. Nur weg mit dem Heidi.

vertraut sind, verrät keine Statistik. «Die Leute in Japan haben kein wirklich seelisches Verhältnis zur Natur», sagt der Schweizer Schriftsteller David Zoppetti, der seit mehr als 20 Jahren in Japan lebt.

10.03 Uhr. Die Reiseleiterin schaut auf die Uhr. Ihre Truppe liegt gut in der Zeit. Noch vier Minuten bis zum Heidihaus, vielleicht fünf mit Fotostopp. Ein leises Bimmeln kündigt ihn schon an. Kühe! «Like in the Animé», wie im Trickfilm, sagt Tomoko und lächelt in die Spiegelreflexkamera. Doch das Foto ist noch nicht perfekt. Zwei Schritte zurück, so ist es gut. Mit Schwung legt die 56-Jährige beide Hände auf den Elektrozaun, ihr Mann drückt auf den Auslöser. Ein schönes Foto. «Glück gehabt», murmelt ein Wanderer, der gerade die Gruppe überholt.

Deshalb seien die Japaner auch so grosse Heidi-Fans. Sie assoziierten mit Heidi die Schönheit der Schweizer Landschaft, aber auch Sicherheit und Freundschaft. Das Buch von Johanna Spyri würden nur die wenigsten kennen, sagt Zoppetti. «Für die meisten ist Heidi eine japanische Zeichentrickserie, die auf einer Menge Recherche über die Schweiz basiert.»

Auch die Bewohner des Heidihauses wollten nicht weg aus Rofels, dem Maienfelder Ortsteil, der jetzt als Heididorf vermarktet wird. Ihr Haus hatte keinen Strom, kein fliessendes Wasser, keine Isolierung, es war kaum mehr wert als der Boden, auf dem es stand. Wahrscheinlich wurde es gerade deshalb auserkoren zum «Heidihouse, the original». Die Maienfelder reden nicht gern über die Geschäftsleute, die die alten Mieter auf die Strasse setzten. Sie reden auch nicht gern über das Heidi. Lieber reden sie über die Japaner. «Die kaufen alles, was wir nicht kaufen würden», sagt die Verkäuferin. «Die sind immer freundlich, aber geben kein Trinkgeld», sagt der Kellner. «Die schleppen sogar ihre Koffer den Berg zum Heidihaus rauf», sagt der Taxifahrer.

10.08 Uhr. Yutaka steht vor dem Drehkreuz eines Skiliftes. Es versperrt die Tür eines unverputzten, grauen Häuschens. «Heidihouse, the original» steht auf dem Holzschild. Die Reiseleiterin sagt etwas auf Japanisch, anscheinend muss sie die Eintrittskarten holen, sieben Franken pro Person (fünf Euro). Tomoko fotografiert die ältere Dame mit dem Regenschirm vor einer lebensgrossen Kuh aus Plastik. Sie ist grau und steht neben einem Wegweiser. Frankfurt, 368 Kilometer, steht darauf. Die Stadt, in der Heidi krank vor Heimweh wurde.

Er verschweigt, dass den wenigen Individualreisenden gar nichts anderes übrig bleibt, denn am Bahnhof von Maienfeld gibt es keine Gepäckaufbewahrung. Es gibt auch keine TouristenInformation. Die Maienfelder haben vor fünf Jahren ihren Tourismusverein aufgelöst. Per Volksabstimmung. Nur weg mit dem Heidi. Im Gänsemarsch schieben sich Tomoko und die anderen durch das SkiliftDrehkreuz. Fliessendes Wasser gibt es 17


Von Verena Töpper

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im Haus immer noch nicht, aber Strom. Die schmale Holztreppe in den ersten Stock ist beleuchtet, eine Tonband-

gemeinde, direkter Nachfahren dieser fleissigen Maienfelder, gehört.

stimme heisst die Besucher herzlich willkommen, auf Deutsch und Englisch. Auf den Täfelchen an den Wänden stehen die Texte auch auf Japanisch. Es sind Erklärungen zu den Schüsseln, Bechern, Krügen, Sensen und Äxten, die den Anschein erwecken sollen, die Bewohner aus dem 19. Jahrhundert könnten jeden Moment zur Tür hereinkommen. Die Japaner beachten sie nicht. Sie rennen von Zimmer zu Zimmer, einer stolpert fast über den klapprigen Rollstuhl in der Ecke. Dann stehen sie wieder draussen. «Very nice», sehr schön, sagt Tomoko. Es bleiben noch acht Minuten für den Souvenirshop.

Sie haben ihre Vorfahren, ihre Weinstöcke, ihre Kühe und eine Arbeitslo-

Im Ortskern von Maienfeld, eine halbe Stunde Fussweg vom Heididorf entfernt, sitzt Max Leuener hinter der bunt bemalten Rathausfassade in seinem holzgetäfelten Büro, das früher einmal sein Klassenraum war. Leuener ist der Bürgermeister von Maienfeld, hier heisst das Stadtpräsident. Hochdeutsch bezeichnet er als Fremdsprache. Seine Vorfahren haben Ende des 19. Jahrhunderts den Rhein reguliert, das gewonnene Land ist heute verpachtet. Jedes Jahr bekommt Leuener 150 Franken (114 Euro) Pachtgeld, so wie jeder, der zu dem erhabenen Kreis der Bürger-

dihouse, the original» erklären. «Die Marke Heidi wurde uns geschenkt, aber wir pflegen sie gar nicht», sagt Leuener. «Wir haben ja noch nicht einmal einheitliche Wegweiser.» Doch das soll sich bald ändern.

senquote von 1,4 Prozent. Die Japaner brauchen sie hier nicht. Nur weg mit dem Heidi. «Viele sagen, die Maienfelder seien stur, aber so einfach ist das nicht», sagt Leuener. Immer seien sie angegriffen worden, von den Römern, den Walsern, den Österreichern. So etwas schlage sich in dem kollektiven Gemütszustand eines Völkchens nieder. Deshalb seien viele so ablehnend den Touristen gegenüber - und so wütend auf die wenigen Geschäftstüchtigen, die einfach ein Häuschen zum «Hei-

Max Leuener hat grosse Pläne. Er will sie einen, die Kritiker und die Geschäftsleute, er will wieder einen Tourismusverein gründen, er redet von Parkplätzen und Erlebnisstationen, von Pauschalreisen und Besucherlenkung. Max Leuener will, dass Maienfeld der Ferienregion Heidiland beitritt. Ob die

Maienfelder das auch wollen, wird sich bald zeigen. Am 28. November gibt es eine Volksabstimmung. Judith Stump, die Verkäuferin, hat die jodelnden Murmeltiere versteckt. «Ich drehe sonst noch durch», sagt sie. Die Japaner seien wie Kinder, sie müssten alles ausprobieren. Yutaka will für die längst erwachsene Tochter ein Windspiel mit schwarz-weissen Kuhflecken kaufen. Der kleine Aufkleber «Made in Taiwan» hält ihn dann doch davon ab. Tomoko entscheidet sich für einen kleinen Magneten in Form einer Kuckucksuhr. Es ist 10.25 Uhr. Der Bus wartet schon.


«Das Heidi muss sein»

«Like in the Animé», wie im Trickfilm, sagt Tomoko.

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Im Bild: Die Teilnehmer des 11. Graub端nden Nachwuchspreis f端r Reisejournalisten

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«Ein Sheriff im Dienste der Natur»

Seit zehn Jahren arbeitet Andri Cuonz als Nationalparkwächter in der Schweiz – Sein Alltag hat nur wenig mit den romantischen Vorstellungen naturferner Städter zu tun. Regungslos steht die Hirschkuh an der steinigen Böschung. Ein dunkel gekleideter Mann beobachtet die Szene von der anderen Seite. Versteckt zwischen Bergföhren und Arven wartet er auf den richtigen Augenblick. Dann legt er das Gewehr an, sein Zeigefinger krümmt sich am Abzug. Der Schuss übertönt kurz das Rauschen des Baches, die Kuh bricht zusammen. Der Mann überquert den Bach. Mit geübten Griffen untersucht er den leblosen Körper. Er zückt sein Jagdmesser und schneidet dem Tier den Kopf ab. Den Rumpf zieht er ins Unterholz. Gerade will er den Kopf einpacken und sich auf den Rückweg machen, als eine Familie mit zwei kleinen Kindern vorbeikommt. Vor einigen Minuten haben die vier die Hirschkuh noch lebend gesehen. Als das Mädchen den Mann mit dem Tierkopf in der Hand sieht, fängt sie an zu weinen. Traumjob Wildhüter? Wer glaubt, ein Ranger im Schweizerischen Nationalpark, Kanton Graubünden, streift tagelang durch die Wälder der Südostschweiz, und krault ab und zu ein Rehkitz hinterm Ohr, der irrt. Der vermeintliche Jäger ist Andri Cuonz. Im zehnten Sommer arbeitet der 34 Jahre alte Schweizer im Park. Seine Dienstkleidung sind Wanderschuhe, Funktionshose und Fleecepullover.

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Ein Ranger in der Schweiz spricht fünf Sprachen Fernglas und Notizbuch ersetzen den Computer, sein Büro ist unter freiem Himmel. Hirsche schiesst Cuonz nur in Notfällen, vielleicht einmal in zehn Jahren, schätzt er. Meist beobachtet, zählt und markiert Cuonz die Tiere, kontrolliert die Bestände, richtet mit seinen Kollegen Brücken und Wege nach dem Winter. Gewissenhaft erinnert er Besucher an die Regeln: die Wege nicht verlassen, keine Hunde mitbringen, die Tiere nicht stören – wenn es sein muss in fünf Sprachen. Mit wilden Tieren in der freien Natur zu arbeiten, das war schon immer sein Traum. Im Hotel «Il Fuorn» (rätoromanisch für Ofen) an der Ofenpassstrasse, die den Park durchschneidet, trinkt er nach getaner Arbeit stets einen doppelten Espresso. In der rustikalen Stube – draussen sind zuviele Menschen, ausserdem blendet die Sonne. Hier nennen sie ihn «Sheriff». Der Waldboden dämpft Cuonz‘ Schritte. Mag Route Nummer 17, die Runde um den Margunet, für Besucher eine Herausforderung bedeuten, für Cuonz ist sie ein gemütlicher Spaziergang – der Aufstieg über 450 Höhenmeter alltäglich. Das bringt ihn nicht mehr aus der Puste. Viele Besucher, die Andri Cuonz


Von Jenny Kim Geyer, 29 Erschienen im «Darmstädter Echo», 17. Juli 2010

täglich auf seinen Streifzügen durch den Nationalpark trifft, erwarten, die Tiere im Park aus nächster Nähe zu sehen. Sie verwechseln den Park mit einem Zoo. Doch in der Wildnis leben keine Kuscheltiere. Im Gegensatz zu den quirligen Murmeltieren meiden Gämsen, Rotwild, Steinböcke und Bartgeier die Menschen. Wer sie trotzdem sehen will, muss früh aufstehen, sich mit einem Fernglas bewaffnen, wissen, wo er suchen muss und mit dem Ranger-Blick genau hinschauen. Auf halbem Weg am Rastplatz Val da Stabelchod hebt der Parkwächter das Fernglas und sucht den wolkenlosen Frühsommer-Himmel nach Bartgeiern ab. Er erinnert sich, wie sie in seinem sechsten Sommer im Park einen Geier ausgewildert haben. Als künstlichen Horst hatten die Ranger eine schwer zugängliche Höhle an einem Steilhang gewählt. Bartgeier sind bis zum 120. Lebenstag flugunfähig, die Männer mussten das Tier rund um die Uhr überwachen. «Nachts mussten wir von unserer Hütte rüber zum Nest und den Geier füttern.» Auf den Futtertieren wimmelten die Maden. Den Vogel hat das nicht gestört, gierig schlang er das Fleisch hinunter. «Auf einmal hat er ewig gewürgt an so einem Knochen», Andri zeigt auf seinen Arm, um die Länge des Knochens zu demonstrieren.

«Ich dachte, jetzt ist es aus, der erstickt mir.» Doch der Jungvogel schluckte noch zwei, drei Mal, dann schüttelte er den Kopf. Der Knochen war unten – und Andri froh, nicht nochmals bei

– rund 18.750 Euro. Hätte sich Cuonz‘ Küken wirklich verschluckt, hätte der Mann schnell sein müssen, um die Geldanlage zu retten.

Nacht den Schuttkegel zwischen Hütte und Nest überqueren zu müssen.

Die Ranger benutzen GPS zur Ortung der Tiere Über Cuonz‘ Rastplatz kreisen an diesem Tag keine Geier, dafür drei Alpendohlen. Auf dem gegenüberliegenden Bergrücken des Piz Nair beobachtet der Ranger vier Gämsgeissen und ihre Kitze durchs Fernglas. Manche Tiere sind mit Ohrmarken, einige mit Sendern markiert. Mittlerweile benutzen die Parkwächter zur Ortung GPS. Vor einigen Jahren mussten sie noch mit Telemetrie arbeiten. Da stand Cuonz einmal bei minus 32 Grad sechs Stunden in einer Winternacht im Wald, um eine markierte Gämse anzupeilen.

Bartgeier sind Knochenspezialisten, sie können Knochen bis zur Grösse eines Rinderwirbels mühelos verschlingen. Den Rest erledigt ihre scharfe Magensäure. Was zu gross ist, lassen die erwachsenen Tiere im Flug aus 50 bis 80 Meter Höhe auf einen Felsen fallen – mundgerechte Brocken sind das Ergebnis. Als Fritz und Paul Sarasin den Park 1914 im Unterengadin gründeten, war der Bartgeier ebenso ausgerottet wie Bär und Luchs. Seit 1991 wurden Geier im Park wiederangesiedelt. Mittlerweile leben sechs Paare in der Umgebung. Die Elterntiere brüten zwei Eier aus, ziehen aber nur ein Junges gross. Die Küken schlüpfen im Abstand von einer Woche. Wenn Nummer zwei seinen Kopf aus der Schale steckt, versucht der ältere Vogel sofort, sein Geschwisterchen aus dem Nest zu schubsen. Wissenschaftler nennen das Kainismus. In der Zucht wird das zweite Ei mühsam künstlich ausgebrütet. Deshalb ist ein Bartgeierjunges 25.000 Franken wert

An diesem Morgen hat es 18 Grad, die Sonne steigt langsam höher, nur auf den Matten und den Gipfeln liegt noch Schnee. Cuonz setzt seine Runde fort, geht mit sicheren Schritten über den Margunet und weiter in die Val da Botsch-Schlucht. Trittsicher heisst hier berggängig und ist eine Voraussetzung für den Job. Aber einem, dessen Sternzeichen und Lieblingstier der Steinbock ist, liegt das im Blut. In der Schlucht trifft er ein älteres Paar, das befürchtet, einem Braunbären zu begegnen. 23


Von Jenny Kim Geyer

Seit einigen Jahren ziehen wieder junge Bärenmännchen aus dem benachbarten Adamello-Brento-Naturpark im

Parc Naziunal Svizzer, wo Tiere und Pflanzen den höchsten Schutzstatus im einzigen Nationalpark der Eidgenos-

er auch Teil des Rangerberufs. Für die Hirschkuh bedeutete Cuonz‘ Schuss eine Erlösung, weil das alte Tier eine

Tessin und dem Stilfser-Nationalpark in Italien durch den Schweizerischen Nationalpark. 2005 sichteten Wildhüter den ersten, 2007 und 2010 folgen weitere. Hartnäckig hält sich die Mär vom aggressiven Bären, der grundlos Menschen angreift. Cuonz verneint das: «Bären sind extrem scheu. Ich beobachtete einmal einen, der plötzlich die Nase in die Luft streckte und schleunigst in den Wald trabte. Ich blieb auf meinem Posten. Eine halbe Stunde später erschienen zwei Touristen auf der Bildfläche. Der Bär hatte sie gewittert.»

senschaft geniessen, bleibt die Natur sich selbst überlassen. Zum Aufräumen wollten – laut Cuonz – schon ganze Schulklassen kommen, für ihn ist der Anblick natürlich.

Lungenentzündung hatte. Erst nach langer Beobachtung entschied sich der Ranger für den Schuss – als letztes Mittel. Als er das der Familie erklärt, versiegen die Tränen.

Vor 150 Jahren wehte im Park noch ein anderer Wind: Cuonz Urgrossvater hat einen schweren Stand als Wildhüter. Entlang der Ofenpassstrasse rauchen die Steinöfen, Kalk wird für den Hausbau gebrannt, denn Zement gibt es ebenso wenig wie die Idee, Natur für spätere Generationen zu bewahren. Axtschläge hallen durch das Tal, die Hänge sind kahl. Tiere sind Konkurrenten, werden gejagt, nicht geschützt. Natur ist nicht zum Erholen, sondern zum Ausbeuten. Deshalb sind die Föhren, Arven und Lärchen, die heute im Park stehen, fast alle gleich alt. Manche sind umgefallen. Doch im 24

Er verlässt den Wanderweg, springt von Stein zu Stein über den BotschBach und kontrolliert auf dem Weg zu seinem Jeep einen Niederschlagsmesser. Die umstehenden Föhren sind blau nummeriert. Metallplaketten weisen tote Bäume aus. Alles für die Forschung: Wissenschaftler untersuchen, wie sich der Bestand entwickelt. Im trockenen Kontinentalklima vergehen Jahre, bis ein Baum verwittert ist. Der Tod gehört zur Natur im Nationalpark An diesem Tag muss Cuonz keinen Hirsch aus tierschützerischen Gründen schiessen, wie es formal heisst. Aber in seinem Stall in Lavin warten noch zwei Tierschädel im Laugebad, die er für Forschungszwecke präpariert. Auch der Kopf der Hirschkuh liegt bereit. Die Schädel werden bei der Parkverwaltung in Zernez gesammelt. Auf den Menschen mag das grausam wirken. Doch so wie der Tod zum natürlichen Leben im Park gehört, so ist


«Ein Sheriff im Dienste der Natur»

«Hier nennen sie ihn Sheriff.» 25


«Die Sprache des Herzens zieht sich hinter Berggipfel zurück»

Europa feiert an diesem Sonntag seine Sprachen. Einige davon sind vom Aussterben bedroht - wie Rätoromanisch im Schweizer Kanton Graubünden. Gut, guter, am gutesten. Leah ist irritiert. Hat sie das gerade gesagt? Die Neunjährige spitzt die Lippen. Bun, pü bun, il pü bun... Die richtigen Worte aber, sie wollen nicht raus. Die kurzen Silben, sie finden nicht den Weg in das Klassenzimmer der «terza primara B», dieser dritten Klasse an der Grundschule in Samedan. Hier oben auf über 1700 Metern sprechen die Menschen Deutsch – zu Hause, bei der Arbeit, auf der Strasse. Eigentlich. Sie sprechen auch Rätoromanisch – mit Nachbarn, Freunden, Kollegen. Eigentlich. Wenn sie wollen. Können. Müssen. Denn Rätoromanisch, Romanisch, wie sie sagen, oder auch Rumantsch und Rumauntsch und Romontsch ist die offizielle Sprache Graubündens, des grössten Kantons der Schweiz. Eine Sprache, die seit Jahrhunderten hier heimisch ist – und eine, die sich seit Jahrhunderten zurückzieht, Platz macht für Deutsch und Italienisch. 60 000 Sprecher gibt es heute. So steht es in einer Statistik. Eine andere verzeichnet um die 35 000. Und eine weitere erklärt Zürich zur Stadt mit den meisten Romanisch-Sprechern, nicht die kleinen Örtchen in Graubünden, umgeben von hohen Bergen und weiten Wiesen, von Skigebieten im Winter und Wanderwegen im Sommer.

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In Samedan wohnen 3000 Menschen. Hier hören die Kinder Romanisch, im Kindergarten und in der Schule. Haben Mathematik, Turnen, Zeichnen, Musik in dieser Sprache. Und Erwachsene hören es, in der Gemeindeversammlung. Sie lesen es auch auf den Schildern im Ort. 25 000 Franken (rund 19 000 Euro) lässt sich das Dorf die Zweisprachigkeit jährlich kosten, 400 000 Franken (302 000 Euro) der ganze Kanton. «Die Bevölkerung braucht eine Identität, da gehört die Sprache dazu», sagt Thomas Nievergelt, der Gemeindepräsident. Er sitzt im Bürgerratszimmer, dem cussagl vschinel, vor ihm der schwere Holztisch, drum herum stoffüberzogene Stühle. Er spielt mit seinem goldenen Ring. «Die Romanen müssen bereit sein, Romanisch wenigstens passiv zu verstehen.» Er erwartet es. Auch von Leah und den anderen etwa 300 Kindern an der zweisprachigen Schule seiner Gemeinde. Leah aber weiss nichts von Geldern oder Gesetzestexten. Sie weiss nur, sie muss ihr gelbes Arbeitsheft öffnen, das quadern da lavur trais, muss sich die Bildung der Komparative anschauen, die Endungen der Vergleiche. Dalöntsch, pü dalöntsch, dalöntschischem. Weit, weiter, am weitesten.


Von Inna Hartwich, 30 Erschienen im «Mannheimer Morgen», 24. September 2010

500 Jahre Sprache in Schachteln Diese wenigen Silben, auf die auch Carli Tomaschett setzt. Seit 25 Jahren schon. Er sammelt Wörter und Bilder, sortiert sie in Holzkästchen, holt sie wieder heraus, schichtet sie um, unterstreicht, räumt ein, stapelt sie. Jeden Tag aufs Neue, hier in seinem Büro im Industriezentrum von Chur, etwa 70 Kilometer nordwestlich vom kleinen Samedan entfernt, oft auch im Zug, wenn er zu Vorträgen fährt, manchmal am Küchentisch daheim, beim Radiohören. Carli Tomaschett liebt diese Wörter, jeden Buchstaben, jede Lautverschiebung. Der 52-Jährige mit dem schütteren Haar ist Chefredakteur des Nationalen Wörterbuchs des Romanischen, jedes Dialekts der Bündner Gemeinden. Das Institut des Dicziunari Rumantsch Grischun (DRG) ist Herausgeber des Werks. Hier vertieft sich Carli Tomaschett in seine Notizen. Unten rauschen die Autos über die Kreuzung, oben unterm Dach raschelt der Chefredaktur mit Karteikarten. Unter 16 Holzklötzchen hat er sie verteilt, etwa 30 Varianten eines Wortes: meil, mel, mèl... Honig. Bereits 1900 gab es erste Bestrebungen, das Romanische aufzunehmen. 1939 erschien der erste Band. «Jedes Wort ist ein Individuum, wir müssen Zeit nehmen, die es braucht», sagt er. Manchmal bis zu einem Jahr für eine Bezeichnung. In 1000 Schachteln

sind fast 500 Jahre Sprache versteckt, in grauen die Begriffe aus dem Oberland, in weissen aus dem Engadin. Eine Arbeit für die nächsten Jahrzehnte. Sammeln, schichten, stapeln. Einen solchen Aufwand betreibt Guido Jörg nicht. Als Leiter von «anr», der romanischen Nachrichtenagentur in Chur, schaut er sich das Hier und Jetzt an. Seine 15 Reporter berichten in ihrem Dialekt. Guido Jörg, der Lebensfrohe, verkauft die Texte an «La Quotidiana», die romanischsprachige Zeitung, manchmal auch an das Radio e Televisiun Rumantsch, nur zwei Stockwerke unter ihm. Hier spricht Olivia Hitz gerade die Mittagsnachrichten, in Rumantsch Grischun, dem Esperanto des Romanischen, wie viele hier sagen, die gegen diese Kunstsprache sind. Durch die Scheibe des Studios starrt ein Spaziergänger hinein. Olivia Hitz rückt ihre Brille zurecht, nimmt einen Schluck Tee. Die nächste Moderation. Kinderzirkus in Scuol. Auf Vallader, einer der fünf RätoromanischVarianten.

in Ardez, Bücher verfassen wie der Lyriker Alfons Clalüna in Samedan. Eine Sprache, in der sie denken, aus der sie ihr Selbstbewusstsein schöpfen, ihre Einzigartigkeit. Sie machen das auch für Touristen. Damit sie das alles atmen. Diese Worte, so lieblich und schön, sagen sie – Allegra, buatscha, muntogna. Hallo, Kuhfladen, Berg. Vieles klingt ein wenig Italienisch. Doch dann: -ziun, -eaun. Fremd, neu. Manchmal mischt sich auch das zischende dsch hinein, bringt etwas Slawisches zwischen die Berggipfel, hinter die sich die Sprache ihres Herzens zurückzieht. Und manchmal ganz angestrengt aus einem Kindermund nach aussen dringt: Bun, megleder, il meglederra, bunischem. Leah weiss es jetzt. Gut, besser, am besten.

Ein Mikrokosmos ist diese Sprache, ein Chaos geradezu, das sie hier lieben, beweinen, vergessen. In der sie ganze Opern schreiben wie für das Festival «Origen» in Savognin, Rocklieder komponieren wie Bianca Mayer 27


«Brauen für den Traum»

Vor zehn Jahren gründeten vier Freunde in einem Schweizer Bergdorf eine Aktiengesellschaft, die als Dividende Freibier ausschüttet. Jetzt ist in Europas höchstgelegener Brauerei eine neue Generation am Werk. Hans ist gut drauf. Wie aus «Träumen Schäume werden» will er der Besuchergruppe in den nächsten zwei Stunden zeigen. Zehn Senioren in kurzärmligen Karohemden und noch mal so viele Seniorinnen in beigen Westchen haben sich vor der «BierVision» genannten Brauerei im Schweizer Bergdorf Monstein eingefunden. Hans ist ebenfalls Rentner. Ehrenamtlich arbeitet der 70-Jährige als Tourguide in der Brauerei seines Heimatdörfchens. Wenn er ein paar Minuten später die Geschichte der Brauereigründung erzählen wird, sagt er «Bieridee» statt «Schnapsidee». Die Rentner werden lachen. Ihr zehnjähriges Jubiläum feiert die BierVision Monstein diesen Oktober. Auf einem Dorffest nahm die Geschichte damals ihren Lauf. Vier Freunde hatten eine Züricher Brauerei damit zu beauftragen, aus gutem Monsteiner Bergquellwasser ein Festbier zu brauen. Das Bier schmeckte dann überraschend gut. Viel besser als das Bier, das es im Monsteiner Dorfladen zu kaufen gab. Monsteiner Bergquellwasser ist weich und - das war die überraschende Erkenntnis - sehr gut geeignet fürs Bierbrauen. Am nächsten Tag war der Rausch verflogen. Zurück blieb eine Art Biervision. Die Idee von der eigenen Brauerei in der seit Jahren leerstehenden Dorfsennerei. «Ünsches 28

Wasser, ünsches Bier.» So sollte der Slogan lauten. Grosse Träume sind ein gutes Kapital für Erfolgsgeschichten. Wahr werden grosse Träume aber meist mit Geld. Dem damaligen Hotelier und heutigem Brauereichef Andreas Aegerter, dem Architekt Hans-Peter Hoffmann, dem Jurist Urs Meisser und dem Werbegrafiker Beat Rüttimann fehlten genau 1,5 Millionen Franken, um eine eigene Brauerei in Monstein zu eröffnen. Vermutlich muss man tatsächlich in einem Schweizer Bergdorf wohnen, um auf die Idee mit der Naturalien-Dividende zu kommen. Kaum hatten sie im Internet bekannt gegeben, dass irgendwo ganz hinten in der Landschaft Davos eine Brauerei entstehen sollte, die als jährliche Dividende zwei Liter Freibier ausschüttet, meldeten sich 700 Interessenten aus der ganzen Welt, von China bis Amerika, von Schweden bis Afrika. Sie alle wollten Miteigentümer der kleinen Brauerei hoch oben in den Graubündner Alpen werden. Im Oktober vor zehn Jahren wurde die internationale Aktiengesellschaft «BierVision Monstein» gegründet. Europas höchstgelegene Brauerei auf 1620 Metern über dem Meeresspiegel. Wenn aus Geschichten wie dieser Floskeln werden, mit denen rüstige


Von Anna Kistner, 28 Erschienen auf «jetzt.de», 29. September 2010

Rentner zum Lachen gebracht werden, dann könnte das ein schlechtes Zeichen sein. Tatsächlich beweist es vor

Einwanderer aus dem Wallis hatten sich im 13. Jahrhundert in Monstein niedergelassen und aus dicken Baum-

«Wie haben sich denn die Monsteiner die Braukunst angeeignet?», will eine Dame aus dem Seniorenkollektiv am

allem eines: den Erfolg des Monsteiner Geschäftsmodells. Knapp ein Viertel ihres Umsatzes macht die Brauerei, indem sie ihr naturtrübes Zwickl-Bier als Erlebnis verkauft. Über Brauseminare, Bierproben und Führungen, die in der aktuellen Hochsaison zwei bis vier Mal am Tag die Räume der BierVision durchkreuzen. Hans, dem die Brauerei mittlerweile eine Art zweites Zuhause geworden ist, führt die Besuchergruppen dann hinab in den Keller der Brauerei. Zur Einstimmung gibt es vor jeder Führung ein frisch gezapftes «Monsteiner Husbier.» Freibier spielt in der Monsteiner Brauerei nach wie vor eine wichtige Rolle. Nach zehn

stämmen eine winzige Siedlung gebaut. Äusserlich hat sich Monstein seitdem kaum verändert. Von dem kleinen Bergdorf im Schweizer Kanton Graubünden lässt es sich tief hinab ins Albulatal blicken. Oder weit nach oben auf Gipshorn, Breithorn und Ducan-Gipfel, deren Spitzen das ganze Jahr über schneebedeckt in den Himmel ragen. In Monstein wohnen zweihundert Menschen hinter dunklen Rundholzbalken, grünen Fensterläden und violetten Geranienbüscheln. In der örtlichen Schule teilen sich drei Klassen ein Zimmer und zwei Familiennamen reichen, um die Grabsteine auf dem Dorffriedhof zu beschriften. Trotzdem:

Ende von Hans Vortrag wissen und spricht damit den wunden Punkt in der Geschichte vom Bierwunder in den Bündner Alpen an. «Nun ja,» sagt Hans dann zögerlich: «Unsere Brauer sind Deutsche.» Die Kunst der Bierherstellung ist ein Handwerk, in dem es die Deutschen zur Weltmeisterschaft gebracht haben. Das wissen sie auch in der Schweiz. Dort hat die letzte Berufsschule für Brauer im Jahre 2001 ihre Türen geschlossen. Nur zehn Prozent der Bewerbungen um eine freie Stelle als Brauer in der «BierVision» kommen überhaupt aus der Schweiz. Der 21-jährige Thomas aus Teublitz in der Oberpfalz ist der aktuelle Brauer,

Jahren «Monsteiner BierVision» ist es nicht mehr so sehr die Geschichte, die Touristen hoch auf den Berg lockt. Sie kommen tatsächlich wegen dem guten Bier: Die fidelen Frauenturngruppen, die lauten Kegelvereine, die durstigen Berufsschulklassen, die lustigen Kroaten, die schweigsamen Chinesen und, nicht zu vergessen, die heimlich angereisten Kur-Urlauber aus der Davoser Gebirgsklinik. Von Davos aus erreicht man Monstein in zwanzig Minuten. Man muss dafür allerdings eine recht waghalsige Serpentinenfahrt in Kauf nehmen.

Grosse Ideen hatten die Monsteiner Bürger schon immer. Vor rund hundert Jahren zum Beispiel wollten sie die mickrig vor sich hin bimmelnde Kirchenglocke durch eine neue ersetzen. Die dann prompt so gross und schwer war, dass sie der Kirchturm nicht tragen konnte. Die Monsteiner bauten daraufhin eine zweite Kirche. Die alte, mit unscheinbar grauen Lerchenschindeln verzierte Dorfkirche, steht ein Jahrhundert später direkt neben der Brauerei. Davor parkt ein weisser Transporter mit der Firmenaufschrift «Last beerstop before heaven».

der 28-jährige Hannes aus Köln der Braumeister in Monstein. Je weiter eine Arbeit vom eigentlichen Vorgang des Bierbrauens entfernt ist, desto weniger gern wird sie von den beiden erledigt. Den ganzen Tag schon füllen sie per Hand Bier in Flaschen ab. Das ist im Prozess der Bierherstellung ziemlich weit am Ende. Der automatische Flaschenfüller macht schon seit Wochen Probleme. Wenn er nicht bald wieder funktioniert, wird die BierVision dieses Geschäftsjahr das erste Mal in ihrer Geschichte rote Zahlen schreiben 29


Von Anna Kistner

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müssen. Da hilft es auch nichts, dass Thomas und Hannes konzentriert bei der Sache sind. Einspannen, Ausspülen, Knöpfchen drücken, Warten, Bügel schliessen, fertig. Der Job ist monoton genug, dass man sich dabei langweilt. und anspruchsvoll genug, so dass man sich auf nichts anderes konzentrieren kann. Nicht einmal das Radio auf dem Fenstersims haben sie angeschaltet. Was auch daran liegen könnte, dass Brauerohren ständig aufmerksam sein müssen. Störungen kündigen sich in einer Brauerei akustisch an. Ein Klackern der Pumpen, das plötzliche Rasseln

aus Monsteiner Wasser, Luzerner Hefe und Bamberger Malz werfen, den Satz mit dem Reim auf «Gott erhalts» sprechen und das Bier auf den Namen eines glücklichen Rentners taufen. Der Mann mit dem Strohhut wird fragen, wie das mit dem siedenden Wasser in solcher Höhe ist und Hannes wird sein Kölsches «Ich sach mal so» sagen und erklären, dass es hier oben schon bei 96 Grad kocht und man das physikalisch mit Druckausgleich regeln muss.

der Ventile oder ein schweres Seufzen aus dem Sudkessel sind schlechte Zeichen. Heute ist es die Stimme des Brauereichefs Andreas Aegerter, die den Puls seiner zwei Brauer in die Höhe schiessen lässt: «Die Senioren kommen.» Andreas Aegerter ist einer der vier Brauereigründer. Während die anderen drei ihren alten Berufen treu geblieben sind, hat der damalige Hotelier «Aegi», wie sie ihn hier oben nennen, die Brauerei zu seinem räumlichen Lebensmittelpunkt gemacht. Er ist nicht nur Gründungsvater, sondern manchmal auch eine Art Familienoberhaupt. Wer es nicht besser weiss, könnte meinen, die zwei Brauer seien seine Söhne.

Rezepte werden von Brauer-Generation zur nächsten weitergegeben. Doch wenn die beiden könnten, würden sie jeden Tag eine andere Biersorte brauen. Natürlich funktioniert das in einer Brauerei, die wie die BierVision vom Flaschengeschäft lebt nicht. Beim «Munggenbier», das in etwa dem deutschen Kölsch entspricht, hat Hannes ein paar Kleinigkeiten geändert. Thomas ist als Bayer verantwortlich für das Monsteiner Weizenbier. Am liebsten würden sie eigene Biersorten kreieren. Da die Schweiz aber ein konservativer Biermarkt ist, kann das Ziel von Hannes und Thomas nur lauten, möglichst gute Qualität

von 30 Kilometern wird mit Monsteiner Bier beliefert. Heute hat auch Heineken gelernt, wie man in der Schweiz Bier verkauft. Am besten als regionales Produkt. Calanda wirbt aktuell mit Slogans wie diesem: «Ein Bier braucht Heimat.»

Wegen der steilen Treppenstufen trottet nur noch die Hälfte der Senioren-

aus dem Bestehenden zu liefern. Zu Ausgefallenes kommt beim Kunden nicht an. Gehopftes Bier, wie Pils oder Kölsch, mögen die Schweizer nicht so.

gruppe überhaupt aus dem Keller, hoch in Richtung Sudkessel. Im Erdgeschoss, dort wo Maisch- und Würzpfanne schon seit um sechs Uhr morgens das zukünftige «Monsteiner Husbier» köcheln lassen, ist es wohlriechend warm. Braumeister Hannes kämpft sich zwischen den angeheiterten Funktionshosenträgern hindurch. «Jetzt koche ich hier gleich,» ruft er. Gleich wird er den Schweizer Hopfen in die Mischung

Der Biermarkt in der Schweiz wird beherrscht von zwei internationalen Braukonzernen, die sich mit massig Kapital in die Alpenrepublik eingekauft haben. Der dänische Carlsberg-Konzern besitzt die Schweizer Marke Feldschlösschen, Heinken aus Holland hat die Graubündner Grossbrauerei Calanda schon 1993 übernommen. Streng genommen war die Übernahme ein Segen für Mon-

nen Abschluss als Diplom-Braumeister an der TU Berlin gemacht. Da es so ein Diplom weltweit nur dort und an der TU München-Weihenstephan gibt, ist er mit seinem Bierwissen ein international begehrter Brauer. Er ging nach Monstein, weil er keine Lust auf Knöpfchendrücken hatte wie es beim Brauen in industrieller Umgebung üblich ist.

Fünf verschiedene Biersorten brauen Hannes und Thomas in Monstein. Die

stein. Heineken versuchte anfangs, das eigene Bier in den Schweizer Markt zu drücken. Grüne Sonnenschirme und grüne Kneipenschilder überall. Auch in Monstein. Das kam nicht gut an bei den durchaus als nationalbewusst zu bezeichnenden Schweizern. So wurde für eine kleine Brauerei wie die in Monstein - eine Brauerei, die im Jahr so viel Bier produziert wie Calanda an einem Tag - eine echte Marktlücke frei. Monsteiner «Steinbock», «Hus» oder «Wätterguoga» Bier gibt es seit einigen Jahren sogar in Schweizer CoopSupermärkten. Jede Kneipe im Umkreis

Thomas wollte nach seiner Ausbildung als Brauer und Mälzer im bayerischen Schwandorf raus aus Deutschland. Dort verlief das Brauen jeden Tag nach dem selben Muster: «Ich geh hin, ich geh Heim.» Der Beruf des Brauers ist für Thomas aber kein Job. Er ist eine Lebenseinstellung. Ihm war es zu wenig, ein kleines Rädchen im grossen Braugeschäft zu sein. Hannes hat sei-

Hannes und Thomas wollen dort arbeiten, wo es sich das Produkt ihrer Arbeit als «unser Bier» bezeichnen lässt. Auch wenn die Monsteiner natürlich von «ihrem Bier» sprechen. Es macht


«Brauen für den Traum»

in dem Bergdorf vieles möglich. Das Hotel Ducan gegenüber der Brauerei wurde mit 2 Millionen Franken restauriert, der Postbus macht mehr Umsatz, Besitzer von Ferienwohnungen freuen sich über steigende Nachfrage. Manchmal träumen Hannes und Thomas von einer eigenen, kleinen Brauerei. In Monstein proben sie in gewisser Weise für ihren Traum. Später steht Hannes wieder am manuellen Flaschenfüller. Ein paar Nachzügler aus dem Freibierkeller haben sich zu ihm an die Maschine verirrt. Mit offenen Mündern schauen ihm die zwei Schnauzbartträger über die Schulter. Das ist der Moment, in dem Hannes auf Zirkusnummer-Modus schaltet, einen kleinen Regler verschiebt und damit die Abfüllanlage unbemerkt so einstellt, dass der Bierschaum beim nächsten Füllvorgang in hoher Fontäne aus der Flasche spritzen wird. Wenn sie ihre Brillengläser wieder trocken gewischt haben, werden die Rentner zurück in den Bierkeller gehen und vergnügt ins Gästebuch schreiben: «Wir Schweizer können zwar kein Bier brauen. Aber trinken können wir wie die Deutschen.» Hannes und Thomas bringen den Schweizern also durchaus etwas bei.

Sudkessel gekratzt werden muss und in einer blauen Tonne verschwindet, lässt sich zum Beispiel der Bergkäse des benachbarten Senners prima einreiben. Später kann er ihn als Brauer-Chäs verkaufen. Der Metzger produziert in Treber mariniertes Bündner Fleisch, den «Monsteiner Brauermocken». Eine Bäuerin aus dem Dorf macht aus Bierbrand Eierlikör. In Monstein funktioniert die kleine Brauerei als Ideenpool für die ganze Region. Die Senioren haben unten im Bierkeller die Auswahl zwischen Bierbrot, Bierschinken, Bierwurst, Bierpralienen und Bierbonbons. Andreas Aegerter und den Machern der Monsteiner Biervision gehen die Einfälle so schnell nicht aus. Ihr neuestes Projekt sind die zwölf Whiskyfässer im Keller, an die sich ein paar der weisshaarigen Männer erschöpft angelehnt haben. In ein paar Jahren wird der Inhalt ausgereift sein. Kunden können jetzt schon den ersten Single Malt der «Monsteiner WhiskyVision» vorbestellen. Über eine Bierpipeline ins Hotel Ducan haben sie in Monstein auch schon nachgedacht. Lange grübelten sie an der technischen Umsetzung. Bis irgendwann klar war: Es ist eine Schnapsidee.

Für Hans wird es jetzt Zeit, die Bedeutung der dutzend Auszeichnungen und Gütesigel zu erklären, die im Bierkeller gold gerahmt an der Wand hängen. Der Moment ist deshalb passend, weil die Senioren als Reaktion auf ihren offensichtlichen Almrausch mittlerweile durchaus Hunger entwickelt haben dürften. Da trifft es sich gut, dass die Brauerei in Monstein längst nicht mehr nur Bier herstellt. Mit Abfallprodukten wie dem Biertreber, der während des Brauprozesses irgendwann aus dem 31


«Kuh Cora ‹mäht› den Golfplatz»

Auf dem 18-Loch-Platz in Arosa ist alles anders. Dort arbeiten Greenkeeper Hand in Klaue. Sumpfgras frisst Kuh Cora besonders gerne. Gleich neben der Spielfläche von Bahn 18 hat sie sich ein saftiges Büschel ausgesucht. Genüsslich rupft sie daran herum. Der Golfer in weisser Hose und grünem Polohemd beeindruckt Cora nicht. Ein Stück weiter den Hügel hinauf setzt er zum Schlag Richtung Grün an, während sich die Kuh mitten auf die Spielbahn legt.

seit 26 Jahren Head-Greenkeeper in Arosa. Er verteilt die Aufgaben. Silvan Büchel, Steppi Tarnutzer und Caspar Giesler wissen, was ihnen nach einer Kuh-Nacht bevorsteht: «Pizzas» aufsammeln. Kuhfladen «putzen» – so nennen sie es.

Head-Greenkeeper Aldo Rubitschon weiss, was ihm blüht, wenn er am Morgen nach dem Besuch von Cora und ihren 59 Artgenossinnen seinen Golfplatz in Arosa im Schweizer Kanton Graubünden betritt. Schnell weichen die Lachfalten in seinem von der Sonne gegerbten Gesicht einer tiefen Zornesfalte. Zentimetertief haben sich

Greenkeeper suchen das 19. Loch Mit Schaufel und Schubkarre ausgerüstet, machen sich die jungen Männer auf die Suche, die Kappen zum Schutz vor der Sonne tief ins Gesicht gerückt. Meter für Meter laufen sie über den Platz und halten Ausschau nach tierischen Hinterlassenschaften – und nach so manchem 19. oder 20. Loch,

die Klauen der 700-Kilo-Tiere in die Erde gedrückt.

das die Kuhklauen im Boden hinterlassen haben.

Die Fläche zwischen Abschlag und Loch gleicht einem Kartoffelacker. Grosse Kuhfladen hat die Herde zudem hinterlassen. In wenigen Stunden kommen die Golfer. Für sie müssen Aldo und sein Team den Platz in Ordnung bringen.

Mit einem Schraubendreher stechen die Greenkeeper neben den Tritten in die Erde und drücken sie hoch – so weit es eben geht. Den Rest füllen sie mit Sand auf. Golfspieler verlangen einen ebenen Platz. 25 bis 27 Kubikmeter Kuhfladen kommen pro Sommer zusammen. Das sind sieben bis acht volle Schubkarren je Sammelmorgen. «Scheisskacke», brummelt Aldo Rubitschon. Aber keine Kühe, kein Golfplatz. So ist das in Arosa.

Kuhfladen von der Spielbahn «putzen» Um Sieben, gerade wenn die Sonne hinter den Bergen aufgeht, treffen sich 32

die vier «Greenys» zum Dienstbeginn. Aldo Rubitschon, 63 Jahre alt, aber «nur auf dem Papier», wie er sagt, ist


Von Sonja Kuhl, 26 Erschienen in der «Westdeutschen Zeitung», 7. August 2010

Seit jeher war das Gebiet des 18-LochPlatzes etwas oberhalb der Stadt Abend- und Nachtweide für die Herde

Grün ab, die kurzgemähte Fläche rund ums Loch und das Fähnchen. Dann trocknet sie schneller, und die Golfer

chen, Düngen, und neue Samen auf die abgestorbenen Stellen streuen – auf allen Abschlägen, Spielbahnen

der angrenzenden Alp Maran. Um den Tieren ihr Futter nicht wegzunehmen, sollte das auch nach dem Bau der Anlage so bleiben. Per Vertrag gilt das bis heute: Das hohe Gras zwischen den Bahnen gehört den Kühen. Dort dürfen die Greenkeeper nicht mähen – dafür aber Kuhfladen aufsammeln.

können eher spielen. Für den stahlblauen Himmel über den Bergen hat Aldo morgens keinen Blick. Der Platz muss fertig werden.

und an den Löchern. Steppi und Silvan wissen: Mit dieser Arbeit verbringen sie auch die nächsten Tage. Danach müssen sie mähen. Die Kühe können nicht alles fressen.

Der ganze Mist hat jedoch etwas Gutes: «Öko-Head-Greenkeeper» nennt sich Aldo Rubitschon. Darauf ist der Mann mit dem faltigen Lausbuben-Grinsen stolz. Bis zum Ende der Saison lagern die Fladen in Mischdeponien. Damit düngt der 63-Jährige im Herbst den Platz.

Ein Greenkeeper zu sein auf 1850 Metern über dem Meeresspiegel ist eine Herausforderung. Aldo arbeitet nach dem Rhythmus der Natur. «Arbeit nach Plan geht nicht», sagt er. Frost im Sommer ist nicht ungewöhnlich in dieser Höhe. Fünf bis 25 Zentimeter Schnee im Juli auch nicht. Das Wetter in den Bergen bringt eine Menge Extraarbeit mit sich. Lange und schwer lasten Schneemassen im Winter auf dem Gras. Die Folgen müssen die

Im Winter üben Langläufer auf Bahn Acht

«Greenys» beseitigen.

Während seine «Greenys» putzen, hat Aldo andere Aufgaben. Über Nacht hat es gefroren. Bei jedem Schritt knirscht das Gras unter Aldos Schuhsohlen. Mit dem Golfcart fährt er über schmale Wege hinauf zum höchsten Punkt des Platzes, umgeben von schneebedeckten Dreitausendern. Mit einer langen Rute wischt er über das Gras fast wie mit einem Besen.

Die Rechen von Steppi Tarnutzer und Silvan Büchel kratzen über das Gras auf Bahn Acht. Fast mitleidig betrachten sie die Halme. Ganz braun sind sie dort. An vielen Stellen kommt die Erde durch. Etwa so, als hätte ein Anfänger den Abschlag geübt und dabei Löcher in den Boden gehauen. Weit gefehlt. Und diesmal sind auch die Kühe nicht Schuld.

Kleine Wassertröpfchen zerstäuben glitzernd in der Sonne. So taut er das

Genau über Bahn Acht führt im Winter die Übungsstrecke für Langläufer. Jetzt ist Handarbeit gefragt. Ausre-

Eine Stunde später ist Aldo am letzten Grün angekommen. Loch Nummer 12 ist sein Loch: «s’Rubliloch». Er selbst hat es entworfen und angelegt, als der Platz zum 18-Loch-Platz ausgebaut wurde. Hier verweilt der 63-Jährige. Durch eine Lücke in den Tannen blickt er auf die umliegenden Berge. Manchmal denkt er an den Winter. Dann arbeitet er dort oben als Skilehrer. Aldo atmet die kühle Luft ein, die nach feuchter Erde riecht. Hinter ihm liegen 77 Hektar Golfplatz. Mit dem Platz ist er verheiratet. Das sagt er selbst. Aroser Golfer erkennt man am Mist an den Schuhen Während der Chef sein letztes Green abtaut, kommen die ersten Golfer auf den Platz. Sie sind froh, dass die Kühe endlich «gemäht» haben. Jetzt müssen sie ihre Bälle im hohen Gras nicht mehr so lange suchen. Lästig finden sie die Kühe dennoch. Wo die Herde weidet, dürfen die Golfer nicht spielen. 33


Von Sonja Kuhl

Und dann sind da noch die Kuhfladen. Längst nicht jeden finden die «Greenys». Und klinisch rein geputzt bekommen sie die Wiese auch nicht. Nicht umsonst heisst es, dass man einen Aroser Golfer am Mist an seinen Golfschuhen erkennt. So erfordert ein spezieller Golfplatz besondere Regeln. «Landet der Ball im Mist oder stört Dich der Mist beim Spiel, kannst Du den Ball straffrei anders hinlegen.» So heisst es im Regelwerk. «Ich spiele ihn, so wie er liegt», soll einst ein Gast gesagt haben und schlug ab – mitten aus einem frischen Kuhfladen heraus. Seine Kleider landeten sofort in der Wäsche. Aber nur tagsüber gehört der Platz den Spielern. Am Abend kommen die Kühe wieder. Noch ist genug Gras da, das sie fressen können. Sobald alles «abgemäht» ist, weiden sie nachts auf anderen Flächen. Vier Wochen nach einem Kuhbesuch ist das Gras nachgewachsen. Dann kommt die Herde wieder. Weide einzäunen, heisst das für die Greenkeeper – damit dem empfindlichen Grün am Loch nichts passiert. Wenn ein Zaun offen ist, sind die Greenkeeper schuld. Wenn eine Kuh ausbüxt und Schaden anrichtet auch. Beides kommt vor. 34

Eines Nachts im vergangenen Sommer brannte Kuh Cora mit dem Bullen durch. Unter den Bäumen im eingezäunten Bereich hatten sich die Ausreisser versteckt. Erst ihre Glocken verrieten sie, bevor die ersten Spieler vor verschreckten Kühen standen – oder die Ausreisser vor verschreckten Golfern.


«Kuh Cora ‹mäht› den Golfplatz»

«Kuhfladen ‹putzen› – so nennen sie es.» 35


«Zwei Hexen im Bündner Haus»

Wo Frauen früher wegen Kräutersammlungen für Medizin oder zur Kräuterweihe ihren Tod auf dem Scheiterhaufen fanden, pflegen heute noch zwei Frauen genau diese Bräuche. Wenn auch auf ungewöhnliche Art und Weise. Gisula Tscharner hat Glück. Früher hätte man sie dafür wahrscheinlich verbrannt. Auf dem Scheiterhaufen.

Grün bleibt stehen. Schnipp, Schnapp. Kurz und schmerzlos, sagt sie. Schrecklich, sagen die Nachbarn, die die weisse

Aber das interessiert sie, die Bündner Kräuterhexe, nicht mehr. Für sie ist es normal. Sie sammelt das, was sie braucht.

Pracht schwinden sehen. Eigentlich ist das Pflücken der seltenen Blüte verboten. Das weiss sie und das wissen die Nachbarn. Doch das kümmert sie nicht. Sie weiss, dass sie nichts zu befürchten hat. Nicht, weil alle anderen seit Jahren schweigen, sondern weil sie auf ihrer Edelweissplantage ihr eigener Chef ist. Und jetzt, im August, ist es nun mal so weit, sagt sie. Auch, wenn ihr dann der Anblick der blühenden Plantage fehlt. Schnipp, Schnapp. Kistenweise werden die weissen zackigen Blüten jetzt ins Tal gebracht. Und dann kommen sie, ihre Kunden. Denn die spezielle Salbe, die Schönheit und Heilung verspricht, bekommt man in Savognin nur bei ihr, der zweiten Bündner Kräuterhexe.

Und gerade jetzt, im August, lässt sie sich von der Natur aus ihrem Hause treiben. Sie sagt, dass die richtige Zeit sei, um die Lärchentriebe zu sammeln, die sich den neuen Weg ins Leben gesucht haben und nun gross und sichtbar geworden sind. Dafür kehrt sie immer wieder zurück an ihren Lieblingsplatz, einen Felsvorsprung, der in etwa 1500 Metern Höhe über ihrem Heimatdorf Feldis im Schweizer Kanton Graubünden wacht. An diesem Ort bestimmt der Nordwind die Temperatur. Nur dort greift sie beherzt zu. Denn allein auf diesem Hügel steckt die Energie des Windes in den Zweigen, die sie später für ihr spezielles Gebräu benötigt. Und weil dort die Äste teils sehr kräftig sind, reicht ihr Daumenfingernagel meist nicht aus, um die Triebe abzuknicken. Dann braucht sie ihre «Infrastruktur» – eine Schere. Ein paar Kilometer weiter südlich von Feldis hockt Astrid Thurner auf dem Boden. Schnipp, Schnapp. Knapp unter der Edelweissblüte sitzt der Schnitt. Das 36

«Wildlüstern» nennt sich Gisula Tscharner. Sie geht raus, um die Wildkraft zu spüren. Sie sammelt, um die Energie der Natur in sich aufzunehmen. Sie braut, um den Zauber der Pflanzen sichtbar zu machen. Das macht sie aber vor allem für den Eigenbedarf. Im Körbchen landen Löwenzahn, Tymian und andere Kräuter, damit die 63-Jährige später ihren Wiesenschmaus auf dem Teller hat oder ihren Freunden zum Beispiel am Tag der Kräuterweihe einen leckeren Aperitif aus der wilden Wei-


Von Inga Kujas, 21 Erschienen in der «Allgemeinen Zeitung», 30. September 2010

berküche anbieten kann. So wie ihren berühmten «Sturm und Drang» – ihren Lärchenschnaps. Während die eine für den Eigenbedarf sammelt, pflückt die andere ihre Blüten für die eigene Produktion. Denn wenn die Edelweissblüten frisch von der Alp d‘Err oberhalb von Savognin kommen, beginnt für Astrid Thurner die Arbeit. Sind die Blüten nach ein paar Wochen trocken, stellt die 56-Jährige mit Hilfe eines Extraktes dieser Ernte Gesichtspflege, Hautlotion und Körpercreme her - alles für den Verkauf in der kleinen «Surses Drogeria» an der Hauptstrasse in Savognin. Dort ist die Drogistin vor allem als Kräuterhexe bekannt. «Vermutlich bin ich das ja auch», antwortet sie allen Fragenden. Hinter einer grossen Tür mit einem seltsam auffallenden Schlüsselanhänger aus Holz stehen in einer Stube überall kleine Fläschchen und Gläschen herum. Eine hier, eine dort. Hauptsache sichtbar. «Sie kennen das von mir», sagt Gisula Tscharner immer dann, wenn sie jemand nach ihrer Familie oder Freunden fragt. Beim Brauen sei das eben so. «Die Pflanzen durchgehen einen schweren Prozess, bei dem ich sie begleite.» Und wenn es soweit ist, dann schüttelt sie das Zucker-Lärchen-Zweig-Gemisch einmal durch und

stellt es zurück an den selbigen Platz notfalls auf die Ofenbank in der Mitte der Küche. Wenn die Zeit gekommen

Zwei Frauen, die heute flapsig vor allem von anderen als Hexe bezeichnet werden, hätten damals als angesehene

ist, schickt sie ihren Trank mit einer Ladung 40-prozentigen Alkohols auf «eine gute alchemistische Reise». Das wünscht sie jedem ihrer Gläschen.

Bürger des Dorfes wohl keine Chance gehabt. Noch im Jahr 1779 hatte man Maria Ursula Padrutt als letzte Bündnerin der Hexerei angeklagt - als eine der insgesamt 10 000 in der heutigen Schweiz und eine der mindestens 1000 in Graubünden. Denn sie soll nach der Hinrichtung von der Cousine ihrer Mutter, Barbara Cuth, geküsst worden und damit ebenfalls den teuflischen Experimenten des Hexenwesens verfallen sein. Weil ihr das immer mehr Nachbarn nachsagten, wurde sie qualvoll prozessiert. Bis zu ihrem Tode wurde sie der Hexerei bezichtigt und starb nach einer Freisprechung durch das Gericht am 15. Februar 1785 eines natürlichen

Piep. Die Anzeige der Waage in der Surses Drogeria springt auf Null. Erst als der süsslich hölzerne Duft aufsteigt, entsteht das, was Schönheit und Heilung verspricht. Es ist das klare Rosenöl, das die Feuchtigkeitscreme aus Edelweissextrakt und einer geruchlosen Grundcreme verfeinert. In einem kleinen Chemielabor hinter einer Glasscheibe können Kunden das beobachten, was sonst in einer Fabrik passiert. «47, 48, 50 und stopp», murmelt Astrid Thurner, als sie den letzten Tropfen Rosenöl mit einer Pipette in das kleine weisse Töpfchen purzeln lässt. Später erhält es sein Gewand aus einem gelben Ordner, der hinter ihr auf einem hölzernen Regal liegt. Vorsichtig trennt sie einen Aufkleber mit einer Beschriftung und einer Edelweissblüte von der Folie. Gesichtscreme oder «Crema per la fatscha» steht dort in grün schimmernder Schrift. «Bald muss ich wieder Aufkleber nachbestellen», sagt sie. Noch vor gut 230 Jahren hätte man sich so etwas nicht vorstellen können.

Todes. Wo all das keine Rolle spielt und sich Jungadler den Auftrieb des Windes zu Nutze machen, fühlt sich Astrid Thurner zuhause. Umringt von ganzen Hängen voll rot und orange leuchtender Feuerlilien nutzt sie die Gunst der Stunde, um gedanklich in die Ferne zu schweifen. Der Platz an dem auch das Edelweiss zu finden ist, zieht die gelernte Homöopathin magisch an. Wie viele andere vor ihr. Denn die seit etwa 130 Jahren geschützte Blüte, die «Steil‘ alva», weisser Stern, wie die Romanen sie nennen, bringt viele Mythen mit sich. Unzählige Menschen, 37


Von Inga Kujas

so erzählen die Geschichten, seien von der Suche nach der Pflanze hoch oben in den Bergen nie mehr wieder ge-

Denn sie ist der Grund, weshalb viele von ihnen den Weg über die Hochseilbahn nach Feldis suchen. Sie sind

kommen.

gekommen, um die eine der 140 Seelen des Dorfes kennenzulernen - für sie ist Gisula Tscharner die eine echte, von lauter zauberhaften Geschichten umgebene Hexe von Graubünden.

Geschichten, die Astrid Thurner fasziniert haben und sie immer wieder zu den Hängen im Val d‘Err zurückkehren lassen. Hänge, auf denen Astrid Thurner ihre Inspiration gefunden hat - ihre Idee zur Edelweissverarbeitung. Romantisch nennt sie ihren Geheimtipp, den sie auch Touristen nicht vorenthalten möchte. Oft interessieren die sich für Botanik oder für die Dorfgeschichten rund um die heimische Kräuterhexe. Bei Gisula Tscharner folgt das Dessert ihres Wiesenschmauses zum Schluss. Der Geschmack ist bäumig, die Zutat spirituell. Der Ort - ihr Lieblingsplatz, von dem der Blick durch die vor dem starken Nordwind schützenden Lärchenzweige direkt auf das Dorf Feldis fällt. Spirituelle Stärke wohnt diesem einsamen Platz inne, sagt Gisula Tscharner. Eine Stärke, die alle Touristen nach einem Mahl von Brennnessel-Taschen und Salatschiffchen mit wilder Füllung empfangen sollen. Und die Touristen lieben die Wanderung mit ihrer Bündner Kräuterhexe.

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Vielen der Touristen, die mit der Seelsorgerin auf der Suche nach Kräuterwissen und einem Hexenschmaus sind, mag das gar nicht bewusst sein. Doch auch heute gibt es noch Menschen, die an die Existenz des Bösen glauben. Der Grund für Gisula Tscharner, sich nicht mehr als Hexe zu bezeichnen. So hat ein Pfarrer einem jungen Paar von einem Treffen mit der mittlerweile freien Theologin abgeraten. Sein Argument: «Sie ist eine Hexe.»


«Zwei Hexen im Bündner Haus»

«Wildlüstern» nennt sich Gisula Tscharner

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«Windiges Oberengadin: Sporturlaub in den Alpen»

Passionierte Wind- und Kitesurfer versammeln sich jedes Jahr im August zum Surf Marathon am Silvaplaner See im Oberengadin. Wichtigster Protagonist ist dabei der Malojawind, den auch die Gleitschirmflieger zu schätzen wissen. Stefan Conrad rennt hangabwärts und diktiert sich die Schritte: «Lauf, lauf, lauf!» Hinter ihm rutscht Fallschirmseide über den Schnee. Wie ein schwerer Vogel brauchen Gleitschirm und Pilot Anlauf, bis sie schweben. Mit einer Linkskurve windet sich das Fluggefährt dann aus dem Schatten des 3451 hohen Piz Corvatsch und ist mittendrin: im Tal des Oberengadin und im Malojawind. Wie hineingegossen nimmt der Silvaplaner See fast die gesamte Breite des Hochtals ein, gute anderthalb Kilometer. Die Wasseroberfläche changiert zwischen türkis und schlumpfblau, weiss garniert mit kleinen Schaumkronen. Die Schnüre des Gleitschirms pfeifen leise und vibrieren, als wollte sich der Wind an ihnen hörbar machen. Conrad, 28-jähriger Präsident des Gleitschirmclubs Malojawind, zwirbelt sich geschickt mit Thermik und Aufwind ein paar Meter in die Höhe. Wie eine Marionette hängt er jetzt gute 200 Meter über der Engadiner Seenplatte. Fichtenund Lärchenwald bilden ein dunkelgrünes Band an den Ufern von Silser, Silverplaner und Champfèrer See, umrahmt von Berggipfeln, die wie gemalte Requisiten Richtung Horizont stehen. «Gegen zwei Uhr nachmittags erreicht der Malojawind seinen Höhepunkt mit bis zu 60 Stundenkilometern», erläutert Conrad den Tagesablauf des Winds. 40

«Das ist für uns Gleitschirmflieger zu schnell, wir starten also möglichst früh, gegen elf, wenn der Wind antanzt.» Wie die meisten thermischen Winde ist auch der Malojawind ziemlich pünktlich, vorausgesetzt die Sonne scheint. Und weil dieser Wind vom Oberengadin aus gesehen vom Dorf Maloja her kommt, ist er nach ihm benannt. Eigentlich entsteht er jedoch im steilwandigen Nachbartal, dem Bergell. Dort erwärmen sich die Luftschichten in Bodennähe besonders schnell, ab etwa zehn Uhr steigen sie auf, ziehen Luft nach und sorgen so für einen Wind, der hangaufwärts weht. Gegen 17 Uhr reicht die Sonneneinstrahlung nicht mehr aus, der Wind schläft ein. Windspiele machen süchtig So ein thermischer Wind bläst auch den Malojapass hinauf. Am Hang nimmt der Wind Fahrt auf. Er schubst pralle Radler-Hinterteile in glänzenden Lycras auf den 13 Haarnadelkurven der Passstrasse an. Er überfliegt röhrende Postbusse. Er rauscht durch den Fichtenwald, vorbei an Farnen und Sumpfdotterblumen. Dann fällt er im Dorf Maloja ein. Zwischen den Gipfeln Piz de la Margna mit 3159 Metern und Piz Lunghin mit 2780 Metern leben hier etwa 300 Einwohner am Talbeginn des Oberengadin.


Von Natalie Lazar, 29 Erschienen auf «geo.de», 17. August 2010

Oberhalb von Maloja entspringt der Inn, auf rätoromanisch «En» genannt, und gibt dem Oberengadin seinen

«Die Engadiner Seen werden höchstens 17 Grad warm», bemerkt Stefan Popprath, «Das ist besser so, sonst wären es

Namen. Er wird vom Malojawind begleitet, das ist für einen Bergwind ein erstaunlicher Weg. Denn normalerweise müsste dem Wind, in Maloja angelangt, von der anderen Seite herauf ein anderer Talwind entgegenkommen und ihn bremsen. Aber, Pustekuchen! Der Malojapass ist kein normaler, sondern ein «einseitiger» Pass, und der gleichnamige Wind ist – für einen thermischen Wind – eben auch nicht normal und weht von Juli bis September talabwärts.

Badeseen und Wassersport wäre bestimmt verboten.» Der gelernte Koch und Gründer der Kite-Sailing-SchoolSilvaplana überlässt mittlerweile den 13 Angestellten das Unterrichten und den Materialverleih. Er hatte in den 90ern seine Leidenschaft zu Drachen entdeckt und die erste Schweizer Kiteschule gegründet. Auch heute liebt er den Wind noch, kommt aber leider nur noch selten selbst aufs Wasser. «So ist das, wenn man sein Hobby zum Beruf macht.»

Über den Silser See und das Dörfchen Sils pustet er hinweg und tollt am Silvaplaner See mit Seglern, Wind- und vor allem Kitesurfern um die Wette.

Über dem See hängt der Gleitschirm, wie in Zeitlupe dreht und wendet er sich im Wind, er ist auf 50 Meter über die Wasseroberfläche herabgeflogen. Er landet zwischen Glocken- und Butterblumen direkt am Ufer des Silvaplaner Sees. Die Fallschirmseide rauscht noch einmal, bevor sie schlaff in sich

Wie rote und neongrüne Halbmonde schweben die Drachen am Sportzentrum Mulets vor der Bergkulisse des Piz Corvatsch auf und ab, die davon gezogenen Bretter schlitzen Fahrspuren in den Silvaplaner See. Man könnte sich fast an der Südsee wähnen, das sonnige Blau erinnert an Ferne. Bloss müsste man die eindeutig bekreuzte Flagge, die neben der Windhose flattert, und die dicken Neoprenanzüge der Sportler übersehen.

zusammen fällt. «Schlimm ist bloss, dass Windspiele süchtig machen», lacht Conrad und rollt eilig den Schirm zu einem kleinen Paket, immerhin 25 Kilo wiegt es. Dann wird er noch einmal auf den Gipfel fahren und vor Fluglust jauchzen, für einen Flug reicht es noch bis zum Höhepunkt des Malojawinds.

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«Cavajone: Das lange Warten auf die Touristen»

Cavajone stiess 1863 als letztes Dorf zur Schweiz. 100 Jahre ging alles gut. Dann stellte eine neu gebaute Strasse das Leben der Cavajonesi auf den Kopf. Heute leben nur noch fünf Menschen dort oben unterm Gipfel des Giumelin. Einige Jahrhunderte lang war es nur ein Waldpfad, ein Meter breit, mit viel gutem Willen manchmal auch zwei,

Trips keine Qual oder Höllenritte, sie sind, was sie sind: Botengänge. Der Pfad, der mehr Steinspitzenwüste denn

unverschämt steinig und steil, der die Cavajonesi daran erinnert, dass sie doch noch irgendwie zu dieser Welt gehören. Von Campascio aus am unteren Ende des Puschlav-Tals im Schweizer Kanton Graubünden führt der Pfad hoch nach Cavajone. 600 Höhenmeter müssten es sein bis zum ersten Haus dieser Enklave, 800 zur obersten Maiensäss nach der letzten Serpentine auf 1500 Metern.

Waldboden ist, macht ihm nichts aus. Dass er mit jedem Schritt einen halben Höhenmeter zurücklegt? Die Kilos auf dem Rücken? Der Regen? Der Schnee?

Das ist aber auch alles nicht so wichtig, denn Pino Plozza muss erst hinunter nach Campascio, das unweit der italienischen Grenze liegt, und dann wieder hinauf nach Cavajone. Dreimal die Woche, mit 15 Kilogramm Post und Paketen auf dem Rücken, manchmal hilft ihm ein Esel. Pino Plozza ist der Postbote der 90 Cavajonesi, seine Mutter unterhält ein kleines Postamt. Er versorgt die Abgeschiedenen mit Gewürzen, Polenta, Spaghetti, Obst und mit Briefen von den lieben Verwandten unten aus dem Puschlav, die sich dieses harte Leben da oben unter dem Gipfel des Giumelin nicht antun wollen. Die Furcht der Schmuggler Für Pino Plozza sind diese einstündigen 42

Pino Plozza ist 19 Jahre alt, hat einen Körper, den das raue Leben nach dem Zweiten Weltkrieg in den Schweizer Bergen geformt hat. Er ist ausserdem ganz andere Touren gewöhnt: als Schmuggler von Kaffee, Salz und Zigaretten mit locker der doppelten Last auf dem Rücken, Strecken, hoch auf 2400 Meter zur Alpe Pescia, viermal so lang, durch die Nacht, immer mit der Angst vor italienischen Grenzwächtern – und ihren Gewehren. Angst davor, dass ihre selbst gefertigten Schuhe, die Pedui, die Geräusche doch nicht so dämpfen wie sie sollen. Ein halber Monatslohn pro Fuhre ist alle Angst wert. Das Zimmer ist in sterilem Weiss gehalten, so wie es eben in Krankenhäusern üblich ist, an der Wand ein Bett, in dem Pino Plozza liegt. Seit gut zwei Monaten ist der 77-Jährige, dort, ist kaum ansprechbar, redet nicht. Er hat einen leichten Hirnschlag erlitten und kriegt kaum mit, wie dieser schöne Sommer im Puschlav sein Ende findet. «Es wird etwas besser. Aber die Ärzte


Von Jan Lindner, 27 Erschienen in der «Rhein-Zeitung», 21. September 2010

sagen, es wird nicht mehr wie vorher», sagt sein Bruder Claudio (69). Wie Pino ist Claudio Plozza einer der fünf Menschen, die noch das ganze Jahr über in Cavajone leben. Im 13. Jahrhundert waren die ersten hinaufgekommen nach Cavajone, Bauern aus Tirano, die das Land kultivieren wollten. Erst lebten sie nur im Sommer auf ihren Maiensässen, dann blieben sie den Winter über. Etwa zwölf Stunden täglich scheint die Sonne auf den steilen Hang des Giumelin, das entschädigte ein wenig für die brutale Plackerei. Lange Zeit wussten die Cavajonesi nicht, ob sie Italiener oder Schweizer waren, wegen der Grenzstreitigkeiten – manchmal waren sie staatenlos. Sei‘s drum, die Einwohner blieben vom lästigen Militärdienst verschont, zahlten keine Steuern. 1863 aber war damit Schluss: Cavajone, dieses Adlernest dort oben am Giumelin, stiess als letztes Dorf zur Schweiz, damals wurden 103 Cavajonesi Neu-Schweizer. 1964 dann erreichte Cavajone der Fortschritt: Die Verwaltung unten in Brusio hatte es gut mit den 80 Cavajonesi gemeint und den Trampelpfad durch eine befahrbare Strasse für umgerechnet 2,3 Millionen Euro ersetzt. Doch es kamen nicht die Leute den Berg hinauf, sondern die Cavajonesi

gingen hinunter. «Die Landwirtschaft rentierte sich nicht mehr, es gab den ökonomischen Boom. Viele Junge sind damals weg», sagt Claudio Plozza. Als die Schule in den 70er-Jahren schloss, gingen alle Familien mit Kindern fort. Dann machte auch Plozzas Post dicht, schlossen die beiden Läden. Claudio Plozza sitzt am schmucken Holztisch in seinem Elternhaus, rührt mit seinen Fingern, bei deren Anblick man das Bergleben erahnen kann, in seinem Espresso. Das Haus hat er renoviert, die moderne Küche, das stilvolle Wohnzimmer bezeugen das. Überhaupt sind die gut 20 Häuser des Dorfes – die meisten sind Sommerresidenzen – in einem guten Zustand. Claudio Plozza könnte so etwas wie der Pressesprecher von Cavajone sein, wenn es einen gäbe, aber er wäre ein unglücklicher dazu. Das jüngste Dorf der Schweiz, das es vielleicht irgendwann einmal nicht mehr gibt – das zieht. Einen Schweizer Fernsehsender hat er informiert, diverse Zeitungen, darunter die renommierte «Neue Zürcher Zeitung». Die weihte Cavajone dem Tod. «Meist waren die Berichte über Cavajone negativ, pessimistisch, immer etwas übertrieben», sagt Claudio Plozza. Aber er sagt auch: «Vielleicht war auch etwas Wahres dran.»

Die Berner gingen im Streit Da ist die Sache mit der Besiedlung, die nicht funktioniert. Es gab eine Stiftung, die die Zuwanderung fördern wollte. 1998 kam ein junges Ehepaar aus Bern, es verstand sich gut mit den Cavajonesi, man schätzte die gegenseitige Hilfsbereitschaft, doch sechs Jahre später war das Paar wieder weg. «Es passte von beiden Seiten nicht. Es war eine kurze Geschichte», sagt Claudio Plozza nur noch. Und so sind es die jüngeren Cavajonesi, die im Sommer hochkommen. Leute, wie Andi Plozza, Claudios Sohn, der drei Sommer eine Alpe bewirtschaftete, der vielleicht irgendwann einmal ganz zurückkehrt – wie Pino und Claudio. «Ich muss immer wieder zurück, ich kann nicht loslassen», sagt Andi Plozza. Derzeit lässt der Kanton die Strasse rauf nach Cavajone neu teeren, für 1,5 Millionen Euro. «Es weiss keiner, was diese Geschichte soll», sagt Claudio Plozza. Und er hofft dennoch, dass sie irgendwann einmal kommen, die Leute, auf dieser Strasse, dass sein Cavajone nicht ausstirbt.

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«Grüezi, ich heisse Senthil»

Alpine Gastlichkeit, made in Sri Lanka: Im Hotel Schweizerhof in Graubünden kümmern sich Einwanderer um das Wohl der Gäste – ein Hausbesuch. Schweinefilet gibt es heute Mittag im Hotel Schweizerhof, mit Kartoffelgratin und Sommergemüse, zum Dessert frische Früchte. Mira Filipovic bekommt das Menü umsonst. Flink füllt sie in der edelstahlglänzenden Hotelküche zwei Teller, schneidet sich eine Scheibe frisches Landbrot ab und stösst mit dem Körper die Tür zum Speisesaal im Untergeschoss auf. Die meisten Angestellten essen schweigend, geniessen die 30 Minuten Ruhe, bevor sie wieder putzen, waschen, räumen, servieren, reparieren, organisieren müssen. Mira, die Wäscherin aus Serbien, sitzt zusammen mit Kati und Senthil an einem Kantinentisch und betrachtet die Wetterkarte im Bündner Tagblatt. «In Kroatien scheint jetzt die Sonne», sagt Kati. Draussen weht der Wind dunkle Wolken über das Hochtal hinweg. Mira, Kati, Senthil und rund 70 weitere Kollegen kommen jeden Mittag zum Essen hierher. Manche von ihnen sind erst vor Monaten nach Graubünden gezogen, andere haben ihr halbes Leben hier verbracht. Sechs von zehn Mitarbeitern des Hotels Schweizerhof in Lenzerheide sind keine gebürtigen Schweizer. Damit liegt das Haus im Durchschnitt der Hotellerie des Landes und ist auch beispielhaft für Grau44

bünden. Hier, in der meistbesuchten Urlaubsregion der Schweiz, haben 30 000 der 186 000 Einwohner einen Migrationshintergrund; Saisonarbeiter, Tagespendler, Asylbewerber und Eingebürgerte nicht mitgerechnet. In der Belegschaft des 106 Jahre alten Schweizerhofs kommen rund ein Dutzend Nationalitäten zusammen. Gemeinsam sollen sie trotzdem jene authentische Schweizer Gastlichkeit verkaufen, die aus mehr besteht als dem gemütlichen Nachtessen im Zirbenholzstübli und dem «Nachtmümpfeli» aus Alpenmilchschokolade. Die Wäscherin: Serbien Den Morgen vor dem Mittagessen verbringt Mira Filipovic in der Wäscherei, wo sie seit 16 Jahren wäscht, mangelt, bügelt. Heute sind die schwarzen Hemden des Küchenpersonals dran. Mira streift sie über einen Puppentorso, der auf Knopfdruck laut zu rattern beginnt und eine immense Dampfwolke ausstösst. Wie die meisten ausländischen Mitarbeiter des Schweizerhofs kommt Mira aus dem ehemaligen Jugoslawien. Es heisse, die Jugoslawen arbeiten gut, hat Karin Zuber, die Teamchefin der Hauswirtschaft, vorhin nach der Tagesplanbesprechung gesagt. Sie ist die einzige Schweizerin in der Abteilung.


Von Juliane Matthey, 27 Erschienen in der «Süddeutschen Zeitung», 23. September 2010

«Auch hier muss man arbeiten», sagt Zuber, «die Schweiz ist kein Schlaraffenland.» Dieser Satz könnte auch von Mira stammen. Während sie emsig zwischen Dämpfpuppe und Wäschestapeln hinund herläuft, erzählt sie, wie sie vor 33 Jahren nach Lenzerheide kam, weil es in ihrer Heimat keine Arbeit gab, wie sie in verschiedenen Hotels als Zimmermädchen, Bedienung und Wäscherin gearbeitet hat und wie erst die Kinder, dann die Enkelkinder hier aufwuchsen. Nicht einen Tag sei sie stempeln gegangen, betont sie. Die Endfünfzigerin trägt zu Kurzhaarschnitt und Goldkreolen die Uniform der Schweizerhof-Belegschaft: schwarze Hose und ein braunes T-Shirt mit dem Logo des Hotels, über dem ein sepiafarbener Wasserspringer schwebt. So passt Mira perfekt zu den im ganzen Hotel verteilten nostalgischen Accessoires vom Holzski bis zum FünfzigerJahre-Foto, auch wenn sie während der Arbeitszeit die Wäscherei nie verlässt. Obwohl sie es bislang nicht geschafft hat, einen Schweizer Pass zu bekommen, ist das Land für sie zur Heimat geworden: Die Familie lebt hier; in Serbien hat sie ausser der alten Mutter niemanden mehr. «Nach Hause gehen ist ein bitzeli

fremd», sagt sie. «Der Schweizerhof ist hundert Prozent wie mein Haus. Ich bleibe hier bis zur Pension.» In Graubünden sind 117 Nationen vertreten. Besonders hoch, teilweise über einem Drittel, liege der Ausländeranteil in den Urlaubsorten, sagt Patricia Ganter Sonderegger, die Integrationsdelegierte von Graubünden. Portugiesen bilden nach den Deutschen die zweitgrösste Gruppe; bald werden sie die grösste sein. Genau darin liege das Problem, so Ganter Sonderegger: Aufgrund ihrer Anzahl sehen die Portugiesen keinen Grund, sich zu integrieren. «Sie finden es nicht notwendig, Deutsch zu lernen. Manche Zimmermädchen müssten eher Portugiesisch lernen, um sich mit ihren Kolleginnen verständigen zu können.» Das Zimmermädchen: Portugal Marisa Leite reinigt an diesem Morgen ein «Alpenchic»-Zimmer, eines der neuesten Zimmer im rustikal-modernen Stil vieler Alpenhotels. Marisa putzt die Dusche mit dem Regentropfen-Brausekopf, entstaubt die Naturholzoberflächen, arrangiert die weisse Wäsche und die braune Filzüberdecke auf den Betten. Als Marisa vor fünf Jahren in die Schweiz kam, frisch von der Schule,

versprach sie sich ein gutes Leben. Ihre Mutter hatte schon einen Job in Graubünden, sie kam hinterher. So läuft es in vielen portugiesischen Familien. «Die rekrutieren sich gegenseitig», sagt Andreas Züllig, der Direktor des Schweizerhofs. Annoncen bräuchte er kaum zu schalten. Seit drei Jahren ist Marisa Mutter von Zwillingen. Die beiden sprächen schon etwas Deutsch, wegen der Babysitterin, sagt Marisa, und auch ihr Mann könne gut Deutsch. Sie selbst tut sich noch sehr schwer und ist froh, wenn sie unter portugiesischen Kollegen ist. Im vergangenen Winter veranstaltete der Schweizerhof einen Deutschkurs, den die Teilnehmer selbst bezahlen mussten. Wer das Diplom schaffte, bekam einen Teil des Geldes zurück. Trotzdem hielten nicht alle bis zum Schluss durch, doch insgesamt sei die Beteiligung so gut gewesen, dass man in Zukunft auch für Mitarbeiter anderer Häuser Kurse anbieten wolle, sagt Andreas Züllig. Auch Marisa hat an dem Kurs teilgenommen. Dazugelernt habe sie vor allem im Schriftlichen, zum Verständnis des Schweizerdeutschs ihrer Gäste half er ihr wenig. «Aber ich spreche sowieso nur mit Gästen, wenn sie was brauchen», sagt Marisa. Ausserdem möchte 45


Von Juliane Matthey

sie nicht dauerhaft bleiben. Zwei Jahre noch, dann soll es zurückgehen. Die Kinder sollen in Portugal zur Schule gehen; so handhaben es viele ihrer

Senthil ist seit 25 Jahren Portier im Schweizerhof und hat schon drei Direktionen kommen und gehen sehen. 1984 flüchtete er vor dem Bürgerkrieg

Landsleute.

in Sri Lanka nach Graubünden und lebte zunächst im Asylbewerberheim in Chur. Er jobbte einige Monate, bis ihm die Portiersstelle im Schweizerhof vermittelt wurde.

Der Schweizerhof lebt zu einem grossen Teil von Saisonarbeitern. Graubünden ist eine klassische Wintersportdestination; im Winter macht das Haus zwei Drittel seines Umsatzes. Deshalb erhöht sich die Zahl der Mitarbeiter dann fast auf das Doppelte, wie Züllig sagt. Seit 1994 führt er gemeinsam mit seiner Frau Claudia den Schweizerhof als fürsorglicher, aber fordernder klassischer Familienunternehmer. Im Winter erlauben sie den Mitarbeitern trotz Verletzungsgefahr das Skifahren, was nicht in allen Häusern der Fall ist. Die Mitarbeiter danken es mit Fleiss und Loyalität. Der Portier: Sri Lanka In der Wäscherei blickt Senthil Nathil Ratnasingam auf seinen Tagesplan: In Zimmer 912 zieht eine junge Familie ein, ein Kinderbett wird gebraucht. Also sucht Senthil aus den Wäschestapeln einen Satz Babybettwäsche heraus und macht sich mit seinem Gepäckwagen auf den Weg zum Kindersachenlager.

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Senthil ist hier Mädchen für alles: Morgens ist er zunächst zum Putzen eingeteilt, dann kommt Frau Zubers Tagesplan, später hilft er Gästen mit ihrem Gepäck oder übernimmt den Zimmerservice. «Sieben Stunden am Tag laufe ich herum. Viele Kilometer», sagt er. Wenn Senthil redet, benutzt er die Hände, um zu verdeutlichen, was er meint, und wer seinen starken Akzent nicht gewöhnt ist, kann diese Hilfe gut gebrauchen. Längst besitzt Senthil einen Schweizer Pass, ebenso wie seine Frau, die er im Schweizerhof kennengelernt hat, und die drei gemeinsamen Kinder. Eine Rückkehr nach Sri Lanka könnte er sich durchaus vorstellen – wenn alle Kinder mit der Schule fertig sind und die politischen Verhältnisse sich stabilisiert haben. Er lebe schon gerne hier, sagt er, «aber mein Kopf ist immer noch in unserem Land.»

Senthils Job hat sich in all den Jahren nicht verändert, ebenso wenig wie die Jobs der anderen Etagenmitarbeiter, die schon viele Jahre dabei sind. «Die wollen keinen Job mit Verantwortung», meint Andreas Züllig, «und sind zufrieden mit ihrem Leben.» Das hat nichts mit mangelnder Motivation zu tun: «Wenn man wertgeschätzt wird, einen sicheren Job und ein gutes Arbeitsumfeld hat, bleibt man dabei», meint Patricia Ganter Sonderegger. Zumal, wenn Kinder da sind und es in Heimatländern wie Sri Lanka oder dem Kosovo keine beruflichen Perspektiven gibt. Die Einheimischen, so Ganter Sonderegger, sind in der Regel nicht bereit, diese Jobs zu übernehmen: «Schweizer wollen geregelte Arbeitszeiten, mehr verdienen.» Züllig meint, dies habe «natürlich mit der Qualifikation zu tun»: «Die meisten haben keine Berufsausbildung und oft nur die Grundschule besucht.» Das Zimmermädchen: Bosnien Kati Stjepandic ist da eine Ausnahme. Sie hat einmal als Chemielaborantin gearbeitet, in Bosnien, wo sie ein Haus hatte, in dem sie mit ihren beiden kleinen Kindern wohnte. Ihr Mann arbeitete damals schon in der Schweiz, vorübergehend, so dachten sie. Doch dann kam 1992 der Krieg, und Kati floh mit


«Grüezi, ich heisse Senthil»

dem letzten Zug. Ausser ihren Kindern und zwei Taschen voller Habseligkeiten musste sie alles zurücklassen. Nachdem sie eine Aufenthaltsbewilligung bekommen hatte, fing sie fünf Jahre später als Zimmermädchen im Schweizerhof an, und noch heute, mit 43, zieht sie jeden Tag mit dem Putzwagen von Zimmer zu Zimmer. «Wir sind glücklich geworden hier», sagt sie, während sie in einem der praktisch eingerichteten Ferienappartements das Geschirr abwäscht. Im Zwielicht des trüben Tages wirken ihre müden Augen noch ein bisschen dunkler. Glücklich ist sie vor allem darüber, dass es ihren Kindern gutgeht, dass die beiden schon mit Anfang 20 erfolgreich Studium und Ausbildung abgeschlossen haben. Ihr Deutsch hat sie noch auf der Schule gelernt, doch besser geworden ist es in der Schweiz nicht. Das wurmt sie schon «ein bitzeli». «Mein Traum ist, ganz, ganz gut deutsch zu reden. Ich habe nie Kurse gemacht, weil die Kinder wichtiger waren, auch wenn ich nicht das ganze Leben Zimmermädchen sein wollte.» Als Schweizerin fühlt Kati sich nicht, auch wenn sie das auf dem Papier längst ist und ihre einstige Heimat, wie sie sie verlassen hat, nicht mehr existiert. Ihre Brüder leben inzwischen

in Kroatien. «Ich danke vielmals für den Schweizer Pass, aber ich bin Ausländer. Ich weiss, wo mein Platz ist.» Wenn vom Nachmittag an die neuen

aus Mels im Kanton Sankt Gallen. Sie sitzt an einem der Flachbildschirme, an dem sie eben noch Buchungsanfragen bearbeitet hat. Sandra Bislin hat wie ihre Chefs den klassischen Hotellerie-

Gäste einchecken, sind die Zimmermädchen längst verschwunden. Die Gäste sehen nur das Resultat ihrer Arbeit. Und wer tagsüber an ihnen vorbei auf sein Zimmer geht, nimmt in der Regel bloss ein braunes T-Shirt hinter einem Wäsche- oder Putzwagen wahr. Im Service, also in dem Teil der Belegschaft, der engen Kontakt zu den Gästen hat, ist das Verhältnis umgekehrt: Die Kellner, Rezeptionistinnen, Nachtportiers kommen vor allem aus der Schweiz, aus Deutschland oder Österreich. «Wenn es geht, stellen wir Schweizer ein», sagt An-

Karriereweg eingeschlagen: Gastgewerbefachschule in Chur, Praktika im Engadin und in Zürich. Im Ausland hat sie nie gearbeitet, spricht aber Englisch, Französisch und Italienisch. Demnächst wird die 24-Jährige zur «Teamleiterin Empfang» befördert.

dreas Züllig. «Der Gast erwartet das auch.» Schliesslich komme das Gros der Gäste aus dem eigenen Land, vor allem aus der Region Zürich, und wolle in einem Schweizerhof auch auf Schweizerdeutsch angesprochen werden.

chancen. Während sie einem Gast die Schlüsselkarten für sein Zimmer heraussucht, tritt Senthil aus dem Aufzug gegenüber. Er zieht einen Staubsauger hinter sich her. Einige Stammgäste kommen vorbei. «Grüezi Senthil!», rufen sie. «Grüezi!», grüsst der Portier zurück und strahlt.

Die Rezeptionistin: Schweiz Zum Beispiel von Sandra Bislin. Sie und ihre Kolleginnen hinter der raumgreifenden Rezeptionstheke sind die Ersten, die nachmittags die neu ankommenden Gäste begrüssen. «Frau Züllig legt schon Wert darauf, dass die Gäste ein Grüezi hören», sagt die junge Frau

Obwohl sie mit den Zimmermädchen, Wäscherinnen und Portiers unter einem Dach arbeitet, mittags im selben Speisesaal isst, sind ihre Arbeitswelten kaum vergleichbar – sie hat intensiven Kontakt zu den Gästen, sie trägt Verantwortung und hat gute Aufstiegs-

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«Vom Landschaftsgärtner zum Streckenbauer»

Der Mountainbiker Jan Sponseil ist in die Schweiz ausgewandert, um sein Hobby zum Beruf zu machen. Jan Sponseil steht mitten im Weltnaturerbe. Über ihm erheben sich die rauen Zacken der Tschingelhörner. Wegen der breiten, gelblichen Kerbe, die sich von weitem sichtbar durch die Felswände zieht, kann sich die Region um Flims im schweizerischen Kanton Graubünden seit zwei Jahren mit dem Titel schmücken. 250 bis 300 Millionen Jahre alte Gesteinsschichten haben sich über viel jüngere, 35 bis 50 Millionen Jahre alte Gesteine geschoben. Deshalb hat die Unesco die Glarner Hauptüberschiebung als Weltnaturerbe anerkannt. Nur drei Kilometer weiter, hinter dem Flimser Wald versteckt, erstreckt sich die Rheinschlucht, die Ruinaulta, die ebenfalls zur 33000 Hektar grossen Tektonikarena Sardona gehört. Doch Jan Sponseil, den alle nur Sponi nennen, hat im Moment keine Augen für die Naturschönheiten um ihn herum. «Und auf», ruft er seinem Kollegen Lars zu. Mit aller Kraft stemmen sie einen Baumstamm hoch und schleppen ihn zum nächsten Ziehweg. Die 30 Jahre alte und 80 Kilo schwere Kiefer ist bei einem Frühjahrssturm umgeknickt. Doch der Baum endet nicht als Hackschnitzel oder Brennholz, sondern als Holzsteg, über den schon bald Mountainbiker donnern werden. 48

Sponi baut zusammen mit einem fünfköpfigen Team Bikestrecken rund um die Dörfer Flims und Laax. Vor allem für die Sorte Mountainbiker, die am liebsten den Lift bergauf nehmen und auf steilen, hindernisreichen Strecken wieder bergab fahren. Wie alle aus den USA oder Kanada importierten Trendsportarten, ist auch diese mit Anglizismen gespickt. Deswegen ist Sponis Berufsbezeichnung «Trailbauer». Für den 30-jährigen Nürnberger ist es der Traumjob. Denn seit 15 Jahren dreht sich sein Leben nur ums Mountainbiken. Und seit einigen Jahren auch um die Schweiz, sein erklärtes Lieblingsland. Sponi hat sein Hobby zum Beruf gemacht und sich mit seiner Freundin Leni Pöschnik einen Lebenstraum erfüllt: Leben und Arbeiten in der Schweiz. Auch im Nürnberger Umland gibt es seit fast zwei Jahren einen Bikepark wie den im schweizerischen Flims. Allerdings sind die Strecken in Osternohe wesentlich kürzer und nicht ein ViererSessellift bringt die Biker nach oben, sondern ein Schlepplift. Die Arbeit, die in dem fränkischen Bikepark steckt, steht der in der Schweiz in nichts nach. Allerdings haben die Macher den Bikepark in Osternohe in ihrer Freizeit erbaut – getrieben vom Enthusiasmus,


Von Katrin Meistring, 29 Erschienen in der «Nürnberger Zeitung», 7. September 2010

bald einen eigenen Park vor der Tür zu haben. Auch Sponseil hat an der Entstehung des Parks vor den Türen Nürnbergs beigetragen. Vor allem mit Ideen, aber auch mit Muskelkraft. Viele Wochenenden hat vor allem Tino Beutel aus Höchstadt in den Wäldern neben dem Osternoher Skihang verbracht: «Monatelang haben wir in jeder freien Minute am Bikepark gebastelt», sagt der 37-Jährige, der eigentlich in Vollzeit bei der N-Ergie arbeitet. Von der Idee bis zur Eröffnung hat es eineinhalb Jahre gedauert. Die Bauern davon zu überzeugen, dass bald Biker durch ihren Wald rasen würden, brauchte eine Weile. Auch die Behördengänge nahmen Zeit in Anspruch. Für den Geschäftsführer Werner Raum waren Sponseil und Beutel hilfreiche Ratgeber. Strecken hat Sponi in Deutschland schon lange neben seinem eigentlichen Beruf als Landschaftsgärtner gebaut. Vor allem rund um Nürnberg. Dann flog er für vier Monate nach Kanada, dem Ursprungsland der Freeride-Bewegung. Da hatte ihn das TrailbauFieber endgültig gepackt. Das konnte er bei seinem nächsten Arbeitgeber im nordrhein-westfälischen Bikepark Winterberg gleich ausleben. Dort lernte er auch seine Freundin Leni kennen, die

bereits viele Winter als Bedienung in St. Moritz verbracht hatte. Ihre Begeisterung für das Land steckte Sponi an.

Doch Marc Woodtli, Tourismus-Manager von der Flims Laax Falera Tourismus AG ist selbst passionierter Biker

Seit knapp einem Jahr lebt er nun dort. «Ich habe es noch nicht eine Sekunde bereut», sagt er in einer Mischung aus Schweizerdeutsch und Deutsch mit fränkischem Einschlag. Ein Sprung zwischen rheinländischem Platt und Fränkisch ist für ihn kein Problem. Sein Schweizerdeutsch macht Fortschritte. «Manchmal schwätzt er einen komischen Dialekt», sagt sein Kollege Lars mit einem Augenzwinkern.

und will dem Biketourismus weiter auf die Sprünge helfen. Die erste Strecke wurde 1997 gebaut, mittlerweile können sich Moutainbiker auf einem 330 Kilometer langen Routennetz austoben.

Die entasteten Bäume haben Sponi und Lars mittlerweile mit dem Quad einen Kilometer weiter bergauf gezogen. Oberhalb der Strasse soll ein Holztrail gebaut werden. Eine Umlei-

In den kommenden fünf Jahren will Woodtli drei weitere Strecken bauen lassen. Doch bis die Baugenehmigung durch ist, vergeht auch in der Schweiz mindestens ein Jahr. Jan Sponseil profitiert von der Bikeparkerweiterung. Denn solange es Arbeit für ihn gibt, wird er in der Schweiz bleiben – und kann den Blick aufs Weltnaturerbe direkt vor seiner Haustür geniessen.

tung sozusagen, denn bisher führte der 7,4 Kilometer lange Runcatrail von Naraus 740 Höhenmeter hinab nach Flims ein Stück an der Strasse entlang. Schon bald rollen hier täglich Lkw auf und ab und transportieren hunderte Kilometer Wasser- und Stromleitungen den Berg hinauf. Flims will den Skifahrern in den immer wärmer werdenden Wintern eine Schneegarantie geben können. Denn der Wintertourismus ist bisher noch die grössere Einnahmequelle. Er macht etwa 70 Prozent der Einnahmen aus.

Sein Zuhause liegt am Ortsrand von Sagogn, nur einige Kilometer von Flims entfernt, direkt oberhalb der Rheinschlucht. Wenn er Zeit hat, unternimmt er eine ausgedehnte Freeride-Tour entlang der Tschingelhörner bis hinunter zum Rhein, der sich von hier aus auf seine 1200 Kilometer lange Reise Richtung Nordsee aufmacht. Dann testet er seine neu gebauten Holzsprünge, -kurven und -wege. Für Sponi ist es Ehrensache, alles auszuprobieren, was er zusammen mit seinen Kollegen gebaut hat.

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«Gold, Golf und eine Vision: Die Sehnsucht nach der Rheinquelle» Die Länge des Rheins ist seit Jahren falsch angegeben worden. Wenn man so will, handelt es sich bei dem mutmasslichen Zahlendreher um einen Geburtsfehler. Wer sich ins Gebiet der Rheinquelle aufmacht, stösst bereits dort auf falsche Zahlen – und weitere Ungereimtheiten zu Europas wichtigsem Fluss. Eine Spurensuche. Es geht ja gar nicht darum, ob es wirklich stimmt, was auf den beiden Messingtafeln steht, die da am Ufer des Tomasees in den Berg gehauen wurden. Genau genommen, stimmt ohnehin nichts von dem, was auf diesen Tafeln steht. Jeden Tag zwischen Juni und Oktober, wenn der Schnee sich auf die Berggipfel zurückgezogen hat, kommen die Wanderer zu diesem See im Gotthardmassiv im westlichsten Zipfel des Schweizer Kantons Graubünden. Mit etwas Glück sehen sie am Seeufer Murmeltiere spielen, und mit noch mehr Glück erblicken sie zwischen den blauen Enzianen sogar mal einen weiss blühenden. Doch es sind diese Messingtafeln, die den See zu einem einzigartigem Ort machen: «Rheinquelle – Von hier bis zur Mündung 1320 Kilometer» ist auf ihnen zu lesen. Um dieses Gefühl geht es: Am vermeintlichen Ursprung des bedeutendsten Stroms Europas zu stehen. Da spielt es keine Rolle, dass die wissenschaftlichen Tatsachen andere sind. In allen Zeitungen konnte man davon lesen: «Rhein kürzer als gedacht», lauteten die Schlagzeilen, die Bruno P. Kremer auslöste. Kein Fluss in Europa ist häufiger in Büchern beschrieben, in mehr Liedern besungen und von mehr Gedichten überhöht worden als der Rhein. Und doch gelang es dem 50

Biologieprofessor der Uni Köln, der Geschichte des Rheins ein neues Kapitel hinzuzufügen. Bei den Recherchen zu seinem Buch «Der Rhein: Von den Alpen bis zur Nordsee» fand er heraus, dass die Längenangaben zum Rhein seit Jahrzehnten falsch waren. Statt 1324 Kilometer ist der Rhein 1233 Kilometer lang. Allein damit wäre die Hälfte der Informationen auf den Messingschildern falsch. Doch auch die Quelle des Rheins versetzte Kremer an einen neuen Ort. Wissenschaftlich gesehen, ist die Quelle der Ursprung des Zuflusses, der am weitesten von der Mündung weg ist. Der Abfluss des Tomasees ist 13 Kilometer lang. Zu wenig. Einen «guten Gag der Tourismusbranche» nennt Kremer die Messingtafeln am Seeufer. Auch Ulrich und Heidi Stümpfig haben sich einen guten Gag mit dem Rhein ausgedacht. Der Vorderrhein, der sich bei Ilanz mit dem Hinterrhein zum Alpenrhein vereinigt, ist wenige Kilometer alt, wenn er den Golfklub Sedrun passiert. Die Stümpfigs bewirten das Klubheim des Vereins. «Wer bei uns spielt, hört immer das Rauschen vom Rhein», sagt Ulrich Stümpfig stolz. Der Rhein macht ihren Klub besonders, nicht nur, weil er der erste Golfklub überhaupt am Rhein ist.


Von Moritz Meyer, 29 Erschienen in der «Rhein-Zeitung», 11. September 2010

Es geht ums neunte Loch, an dem gerade Klubmitglied Annemaria Schnotz zum Schlag ausholt. Es gibt das typische

Strom geschlagen haben. Stoffe, aus denen Urlaubsanekdoten sind.

das bis nach Basel fährt, dort zerlegt und dann mit Lkw auf den Pass gebracht wird. In einem See auf der Pass-

Zischgeräusch, als sie ihren Driver in Richtung Ball drischt, dann macht es «Plock!», und ein kleines, weisses Geschoss jagt durch die Luft. Zwei Sekunden später landet der Ball wieder auf dem kurz geschorenen Golfplatzgrün. Gut 150 Meter hat er überflogen. Drei davon gehören dem Fluss, der durch sechs Staaten fliesst, bei Schaffhausen kolossal den zweitgrössten Wasserfall Europas hinunterstürzt, sich durch das Weltkulturerbe Mittelrheintal hindurch und am Weltkulturerbe Kölner Dom vorbeiwindet und schliesslich in die Nordsee abfliesst.

Doch nur mit der Aussicht auf Anekdoten lockt man keine Touristenmassen. Hohe Berge, rauschende Bäche und glitzernde Seen gibt es überall in der Schweiz. Die Quelle des Rheins ist einzigartig. Sie hat das Zeug dazu, Sehnsüchte zu wecken, glaubt Roger Fischer, Tourismuschef von Disentis und Sedrun, den beiden ersten grösseren Orten im Vorderrheintal. «50 Millionen Menschen leben entlang des Rheins. Sie alle sollen das Bedürfnis spüren, die Quelle ihres Flusses zu entdecken», sagt Fischer. Ein kleiner See mit zwei Messingtafeln weckt keine Sehnsüchte, ein Neun-Loch-Golfplatz, an dem man sich eine Urkunde abholen kann, auch

höhe soll der Frachter wieder zusammengebaut werden und Bestandteil des «Infocenters Rheinquelle» werden, das dort errichtet wird.

Jedem, der das erste Mal den Rhein überschlägt, verleihen die Stümpfigs eine Urkunde. «Für den ersten persönlichen Golfabschlag direkt über den Rhein» steht darauf. Es ist ein guter Gag, weil er wie die Messingtafeln ein Gefühl von Besonderheit vermittelt. Der Rhein ist an seiner breitesten Stelle bei Bingen 800 Meter breit. Unvorstellbar, dass dort jemand einen Golfball auf die andere Seite schlagen könnte. Bei den Stümpfigs wird das Unvorstellbare möglich. Einmal an der Rheinquelle gewesen sein. Einmal einen Golfball über den

nicht. 60 Prozent der Übernachtungen in Sedrun und Disentis werden für den Winter gebucht, Roger Fischer hätte es lieber umgekehrt. Die Rheinquelle spielt eine Schlüsselrolle. «Es ist eine absurde Vision», sagt er vorsichtshalber schon, bevor er seine Idee schildert, die sich tatsächlich verrückt anhört. Der Tourismusmanager möchte ein Schiff von der Mündung des Rheins bei Hoek van Holland die ganzen 1230 Kilometer flussauf bis zum Oberalppass auf 2045 Meter Höhe bringen. Es soll ein typisches Rheinfrachtschiff sein,

Im Altgriechischen bedeutet «rhein» «fliessen». Im Rätoromanischen, was in Sedrun gesprochen wird, heisst «Rein» «Fluss», weshalb alle Bäche in der Region «Rein» im Namen tragen. Aber nur einer ist der wirkliche Quellfluss des Rheins, und an dem steht August Brändle. «Wir sind hier am Medelser Rhein, einem Zufluss des Vorderrheins», erklärt er gerade einer Gruppe von 30 Schweizern. Er könnte ihnen noch sagen, dass die Quelle des 25 Kilometer langen Medelser Rheins auch die wirkliche Rheinquelle ist. Nur liegt die in den schwer zugänlichen Gletscherwelten des Gebirges. Aber Brändles Zuhörer, die sich gerade Gummistiefel über die Jeans ziehen, sind gar nicht wegen der Rheinquelle gekommen. Sie sind hier, weil kein Fluss in den Alpen mehr Gold führt als der Medelser Rhein. Am 14. Juli 1996 wurde aus August Brändle der «Gold-Gusti», als der er heute mit Touristen auf Goldsuche geht. An diesem Tag rang er dem 51


Von Moritz Meyer

Fluss ein 48 Gramm schweres Nugget ab, ein grösseres hat niemand vor und nach ihm dort gefunden. Drei Tage lang hat er in dem eiskalten Gebirgsbach danach getaucht, sein Jubelschrei war in der ganzen Schlucht zu hören gewesen. Natürlich hoffen alle, denen Brändle gerade erklärt, wie man mit den grünen Plastikschalen das Gold aus dem Sand wäscht, der nächste Gold-Gusti zu werden. Es wäre wie ein Sechser im Lotto. «Ich geh‘ seit zwölf Jahren leer aus», sagt Gusti, der immer noch nach dem nächstgrösseren Nugget sucht. Aber wer etwas findet, darf es behalten. Meist sind es winzige Goldkörnchen, die Gusti dann vorsichtig in ein kleines, mit Wasser gefülltes Glasröhrchen gleiten lässt. Das Wasser ist original Quellwasser vom Rhein, aber wen interessiert das, wenn darin ein Stück Gold schwimmt. Doch vielleicht wird ein mit Wasser gefülltes Fläschchen bald auch ohne Gold zu einem Urlaubsmitbringsel. Wenn Roger Fischers Vision wahr wird, kann man sich den langen Marsch zu den Messingtafeln am Tomer See bald sparen. Sie könnten in dem Erlebniszentrum hängen, als amüsante Museumsstücke aus der Zeit, als der Rhein noch lang war. Unter ihnen sprudelt die neue Rheinquelle aus einem künstlichen Brunnen. Die Besucher stehen 52

Schlange, um sich daraus ein kleines Fläschchen mit Rheinquellwasser für zu Hause abzufüllen. Das wäre ein richtig guter Gag für Touristen.


«Gold, Golf und eine Vision: Die Sehnsucht nach der Rheinquelle»

«Rhein kürzer als gedacht»

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«Der Alp-Traumjob»

Alp-Alltag statt Backpacken: Immer mehr junge Touristen zieht es als Ferienjobber auf die Schweizer Hochweiden. Bergsenn auf Zeit – funktioniert das? Ein Selbstversuch. Der Lichtkegel zuckt über die dunkle Alm, begleitet von Hundebellen und scheppernden Kuhglocken. «Ejah, vea, vea!» Laute Rufe hallen vom unteren Ende der Weide, treiben die Kühe hinauf und in den Stall. Heisser Atem aus

«Wir sind das von klein auf gewöhnt», sagt Balthasar Jud und schliesst die Stalltür. Das, damit meint der 58-jährige Älpler das Leben in den Bergen. Jeden Sommer ziehen Schweizer Bauern für drei, vier Monate mit ihren Tieren auf die Hochweiden. Ihnen folgen immer

willig rückt sie auf ein Tätscheln zur Seite und lässt mich unter den 700-Kilogramm-Körper tauchen. Die Haut am Euter ist rosa und fühlt sich schrumpelig an. Warm liegen die Zitzen in der Hand. Sie müssen massiert werden, bis die Milch kommt. «Wie beim Mann», kommentiert Balthasar. Die Kuh lässt mein zaghaftes Zupfen stoisch über sich ergehen. Dann kommt Lea. Ein verkrusteter Kuhschwanz wedelt mir um die Ohren, ist es Lehm oder Schlimmeres? Die Motivation schwindet. Es stinkt. Fliegen schwärmen. Einzig die Aussicht auf Frühstück spornt an.

mehr junge Deutsche und Österreicher. Angelockt von Internetportalen wie zalp.ch und Werbekampagnen der Tourismusagenturen suchen sie auf den Almen ihren Traumjob. Das schlichte Leben in der Natur erscheint Studenten als urtümliches Outdoor-Camp: grüne Wiesen und mittendrin der Bergsenn, mit Blume im Mundwinkel und Wanderstock in der Hand. Heidi lässt grüssen, aber wie traumhaft ist der Alpalltag wirklich? Am frühen Morgen reichen drei Jacken kaum gegen die Kälte. Drinnen im Kuhstall herrschen dagegen Saunatemperaturen. Während die

Von den knapp vier Stunden, die bis dahin noch vergehen sollen, ahne ich nichts. Das Leben auf der Alp ist «streng», untertreiben die Bewohner. Kein Ausschlafen, keine Freizeit, kein Fernsehen. Nur ab und an eine Runde Karten «jassen» am Abend. Der Tag folgt dem Rhythmus der Kühe. Aufstehen, melken, auf die Weide treiben, putzen, essen, wieder melken und schlafen. Ein erwachsener Helfer bekommt dafür nach der Alppersonalrichtlinie zwischen 105 und 160 Euro Lohn in der Woche. Dieser vermeintlich leichte Verdienst

feuchten Schnauzen, lautes Muhen und drängende Leiber. Mein Magen knurrt. Es ist Viertel vor drei Uhr nachts. Ohne Kaffee und Frühstück beginnt auf der Alp Tarvisch im Schweizer Kanton Graubünden der Tag.

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Wellness-Bereiche teurer Luxushotels dezent nach ätherischen Ölen duften, riecht Natur hier anders. Leib an Leib stampfen die Tiere auf der Stelle. Die braune Isolde steht ganz vorne. Bereit-


Von Susanne Popp, 24 Erschienen auf «sueddeutsche.de», 26. August 2010

zieht in den Sommermonaten junge Arbeiter aus ganz Europa auf die 15 000 Schweizer Almen. Doch der harte Alltag

verfluchte sowohl den warmen Fleece-

zerstört schnell die romantischen Vorstellungen vieler Ferienjobber - sie reisen nach wenigen Tagen wieder ab. Müde, erschöpft und in meiner mit Kuhmist gesprenkelten Hose kann ich die Fluchtgedanken verstehen. Aber nur kurz.

langsam nachliess - und den Berg ganz

pullover als auch die Kühe – deren Tempo immerhin in den Serpentinen allgemein. Bis zur Ankunft. Ein letzter Rest Schnee schmolz in der Sonne vor der Alp Tarvisch, das ganze Tal lag vor mir. Der Aufstieg ist vergessen und auch am nächsten Morgen entschädigt der Blick für die kurze Nacht. «Wenn ein

Genau als sich die Sonne über den Piz Mitgel schiebt, gibt es das ersehnte Frühstück. Die Wanduhr mit eingraviertem Kuhkopf im Esszimmer zeigt Sieben. Knarzende Stühle und eine mit bestickten Kissen beladene Eichenbank stehen sich um den grossen Holztisch. Darauf warten selbstgemachter Joghurt und Butter, Bauernbrot, Käse, Marmelade und noch dampfende Milch frisch von der Kuh. Alles schmeckt intensiver als in der Stadt. Selten fängt die Alpsai-

Älpler zu diesem Zeitpunkt nicht rauf

son so spät an. In diesem Jahr erreichten die letzten Tiere die Sommerweiden erst Ende Juni. Genau wie ich. Eine Herde aus neunzehn Kühen und ebenso vielen lärmenden Glocken begleitete mich drei Stunden lang. Erwartungsfroh galoppierten die Tiere im Dorf Savognin los, den Grossteil des Weges sah ich die meisten nur von hinten. Es ging steil nach oben, bis auf 1.900 Meter, knapp über der Baumgrenze. Was in Heimatfilmen romantisch aussieht, entpuppte sich als Konditionstraining. Ich

währenddessen in der Waschküche die

darf, dann fehlt ihm was», sagt Balthasar. Er schiebt sich ein letztes Stück Frühstücksbrot in den Mund und geht auf die Weide. Arbeit gibt es immer. Balthasar senst am Wegrand vor der Hütte. Mit kräftigen Schwüngen pflügt er die glänzende Klinge durch Gras, Kräuter und Blumen. Sofort steigt der Geruch nach

wissen will. Immer wieder klaffen die Alp-Realität und die Geschichten von Johanna Spyris auseinander: Wenn Balthasar sich mit der Hand durch den beige-grauen Bart fährt, in Gummistiefeln und auf einen Stock gestützt, scheint er der personifizierte Alpöhi. Bis in seiner Jackentasche das grüne Handy piepst. Seit acht Jahren bewirtschaftet er jeden Sommer mit seiner Frau Anita und Tochter Barbara die Alp Tarvisch. Dort surft die 21-Jährige mittlerweile mit mobilem Internet-Stick im Web und zum schönsten Aussichtspunkt der Alp fahren wir im weissen Allrad-Jeep. Sogar die Milch wird nicht mehr in Kannen ins Dorf getragen, sondern fliesst vier Kilometer unterirdisch durch die Alp-Pipeline nach Savognin. Der richtige Älpler allerdings geht den ganzen Sommer über nicht runter.

frischem Heu in die Nase. Anita säubert Blechkannen vom morgendlichen Melken. Gefüllt wiegen die grauen Behälter an die 40 Kilogramm. Mein Versuch, lässig ein, zwei Kannen aus dem Stall zu tragen, scheitert. Stattdessen erhalte ich den Auftrag, Butter zu schlagen. Auf dem Heuwagen vor der Alp sitzend,

Grasgeruch in der Nase, komme ich mir doch ein bisschen wie Heidi vor. Allerdings nur bis ein Mountainbiker vorbeihetzt und die neuesten Ergebnisse der Fussball-Weltmeisterschaft

Von Balthasar verabschiede ich mich deshalb auf der Weide zwischen Zaunpfählen, die er neu mit Draht bespannt. Anita fährt mich im Jeep Kurve für Kurve zurück. An der Käserei vorbei, in der die Tarvisch-Milch schon vor Stunden angekommen ist. Noch nach Kuh stinkend, trete ich in die Lobby des Hotels. Für Menschen wie Balthasar ist das Alpleben sicher ein Traum. Für mich ist das jetzt eine heisse Dusche. Und ein Arbeitstag, der nicht um drei Uhr morgens beginnt. 55


«Das Weltmonument, das sich vor der Welt versteckt»

Die Salginatobelbrücke wurde 1991 zum architektonischen Kunstwerk erklärt. Seither kommen immer mehr Touristen. Für die Einheimischen ist sie Alltag. Fast vier Stunden lief Elisabeth Joos ohne Hosen durch den kniehohen Schnee. Nur in ihrem knöchellangen

Weltmonument. Einem von nur 45 Bauwerken überhaupt. Damit steht sie in einer Reihe mit dem Pariser Eiffelturm,

Kleid. Runter eineinhalb Stunden, rauf zwei. Über einen knapp zehn Kilometer langen Weg, unbefestigt und durch den Schnee unsichtbar geworden. Zu Fuss. Über Wochen. Monate. Und alle Jahre wieder. Die Winter sind lang in den Bergen des Prättigaus. Und nur unten in Schiers gab es einmal pro Woche Religionsunterricht.

der New Yorker Freiheitsstatue und der Inkastadt Machu Picchu in Peru. Jedes dieser Bauwerke hat seine Geschichte – und seine Geschichten. Auch die Brücke im Norden Graubündens.

Das alles war vor der Brücke. Und lange vor den Touristen. Dann kam das Jahr 1930. Da war Joos zwölf und den beschwerlichen Weg schon mindestens 300 Mal gelaufen. Und da liess Robert Maillart die Salginatobelbrücke bauen. Zwischen dem 50-Einwohner-Bergdorf Schuders und der 2500-Seelen-Gemeinde Schiers, 90 Meter über der Salginabachschlucht. Der Schweizer Ingenieur hatte sich mit seinem Entwurf beim Kantonalen Bauamt durchgesetzt. Es war das günstigste Angebot – 180 000 Franken. Ein Jahr später war die Salginatobelbrücke fertig: 130 Meter lang, 3,5 Meter breit, ein einziger langer Bogen aus Stahlbeton. Heute ist sie ein Kunstwerk der Architektur. Das jedenfalls sagt die American Society of Civil Engineers. Sie ernannte Maillarts Brücke 1991 zum 56

Eine wie die von Rita Berger. Mit ihrem Mann Hans Rudi und einem befreundeten Ehepaar stakst die Rentnerin über den matschigen Waldboden. Ein monotones Geräusch begleitet die Gruppe. Als wäre ein Fernseher auf Sendersuche. Es ist der Salginabach tief unten in der Schlucht. Sein Rauschen untermalt jeden schlammigen Schritt in die Höhe. In Richtung Brücke. Die lässt auf sich warten. Stattdessen überall Grün. Äste, Blätter, Büsche und Nadeln verdecken die Sicht. Immer wieder schieben sich neue ins Blickfeld. Rita Bergers Weltmonument scheint sich vor der Welt zu verstecken. Die Begleiter werden ungeduldig. «Wo ist sie denn nun?», fragen sie. Berger schweigt und lächelt wissend. Sie geniesst die Rolle als Führerin. Fast unsichtbar in den Bergen Dann ist sie da – die Brücke. Weiss, schlicht, gerade. Es sieht aus, als schwebe sie über dem Abgrund, zwi-


Von Martina Rippholz, 27 Erschienen in der «Aachener Zeitung», 2. September 2010

schen den frühlingsgrünen Bäumen und den immergrünen Tannen. Doch die Enden kleben links und rechts an den Felswänden. Alles dazwischen ist flach. Keine klobigen Stützen, kein imposanter Überbau, keine auffälligen Verzierungen. Die Salginatobelbrücke ist die in Beton gegossene Zurückhaltung. Genau das gefällt Rita Berger an ihr. Die meisten Leute werden erst auf den zweiten Blick mit ihr warm. Deshalb führt sie die Leute – Freunde, Touristen, Architekturfans – zu ihr. Seit vier Jahren schon. Und sie kennt die Geschichten. «Lausbubenstreiche» wie sie sagt. «Drei Nachbarskinder sind in den Sechzigern über den schmalen Rand des Geländers gelaufen – als Mutprobe», sagt sie und fügt fast frohlockend an: «Ihre Mutter hat von dort oben aus ihren Fenstern geguckt.» Berger deutet auf eine kleine Alp in Sichtweite der Brücke. Was Rita Berger aus Augenzeugenberichten anderer weiss, hat Elisabeth Joos selbst erlebt. Bloss drei Jahrzehnte früher. Ende der 20er Jahre war für den Bau der Salginatobelbrücke zunächst ein Holzgerüst errichtet worden. «Da bin ich mit meinem Vater drüber balanciert, übers Geländer. Die Strasse gab’s noch nicht», erzählt Joos. Ein schelmischer Ausdruck macht für einen

Moment Halt in ihrem faltigen Gesicht. «Aber nur zweimal», sagt sie dann, als würde das die ganze Sache irgendwie ungefährlicher machen. Joos stockt, seufzt, blickt durch das Fenster ihres bescheidenen Wohnraums. So, als könne sie die Vergangenheit, die ganzen letzten neun Jahrzehnte aus der weiten Landschaft da draussen lesen. Etwa die Zeit nach 1930, als dann die Brücke da war. Doch Joos Erinnerungen lassen sie im Stich. Dass vieles leichter wurde, das weiss sie noch. Doch zu Fuss gehen musste sie immer noch. Der Weg ins Tal war einfach zu schlecht für Autos. Bis in die 50er oder 60er Jahre. Die Jahrzehnte sind für Joos nicht mehr so klar zu trennen. Auf jeden Fall kam später ein Auto hoch nach Schuders – das Postauto. David Conzett-Giger ist gerade auf dem Weg zurück ins Tal. Der gelbe Lieferwagen hüpft und ruckelt über die Strasse wie ein Jeep auf Safari. In der nächsten Serpentine kommt er nicht weiter. Die steile Felswand, die schmale Fahrbahn und die extrem enge Kurve zwingen ihn in die Knie. Conzett-Giger stoppt, setzt ein Stück zurück und biegt dann mit einer geschmeidigen Lenkbewegung in die Kurve ein. Dann geht es weiter, holpernd aber zügig.

Conzett-Giger ist 63. Der Pensionär hilft bei der Post aus, wenn ein anderer Fahrer Ferien hat oder krank ist. Früher fuhr er mal mit einem eigenen Bulli Schulkinder den Berg rauf und runter, bis die Post das übernahm. Und immer ging’s auch über die Brücke. Die unausweichliche. So wie jetzt. Das Ruckeln hat aufgehört. Das Postauto scheint plötzlich dahin zu gleiten. 130 Meter ohne Steigung, ohne Kurve, ohne Unebenheit: Das ist Conzett-Gigers Brückenerlebnis. Sehen kann er das Weltmonument in diesem Moment nicht. Nur dessen glatte Strasse, die sich vor ihm weiss und gerade erstreckt. «Die Brücke nehme ich kaum noch wahr», sagt er. Tourismus gehört zum Alltag Für Elisabeth Joos ist die Brücke der Leitfaden ihres Lebens. Sie hat die jüngeren Generationen über die Brücke in ein anderes Leben gehen sehen. Statt die Viehzucht ihrer Väter zu übernehmen, suchten sie sich neue Möglichkeiten. Da draussen, in der weiten Welt, die Joos nur hinter den schneebedeckten Wipfeln vermuten kann. Stattdessen kamen die Touristen. Einerseits klagt Joos über den Wegzug der Jüngeren: «Das ist schlimm», sagt sie. «Die Gehöfte werden immer weniger. Die Ferienhäuser immer mehr.» 57


Von Martina Rippholz

Ihre Schwiegertochter hat selbst gerade erst eins bauen lassen, direkt neben Joos dunkelbraunem Blockhaus mit den rot-weiss karierten Stoffgardinen. Landwirtschaft und Tourismus – das ist auch in Schuders längst Alltag. Dem kann Joos – andererseits – auch Positives abgewinnen: «Ich freue mich, dass man mal neue Gesichter sieht.» Viele der neuen Gesichter kommen, weil Christoph Jaag es so will. Der 57-Jährige war noch nicht geboren, als der Brückenbau die Veränderung für Schuders einleitete. Heute ist er Bürgermeister der Gemeinde Schiers und gleichzeitig Vorsitzender des Brückenvereins. «Da besteht schon ein Interessenkonflikt», sagt Jaag. «Zwischen den Bürgern, die nicht so viele Touristen hier haben wollen, und denen, die die Brücke publik machen möchten.» Jaag sitzt in seinem Bürgermeisterbüro. Es ist übersichtlich. Zwei Tische, die aussehen, als seien sie gerade vom Klassenzimmer nebenan rüber getragen worden, stehen darin. Ein Kalender mit Bildern von Schiers hängt an der Wand. Das ist alles. Diese Nüchternheit passt so gar nicht zu Jaag. Er trägt Jeans, Poloshirt und einen Drei-TageBart. Seine Haut ist gebräunt, das Gesicht voller Lachfalten. Und während er spricht, scheint sich sein Körper langsam von dem kleinen Raum mit der Leuchtstoffröhre und dem Linoleumboden zu lösen. Viele Bürger, auch Bauern aus Schuders, seien skeptisch gegenüber einer Vermarktung der Brücke, meint Jaag. Vor allem wegen der Strasse. «Im Sommer ist da mehr Verkehr, als sie aushält», gibt er zu. «Aber es kommen immer mehr Touristen. Und denen müssen wir Informationen bieten.» Das 58

sei die Aufgabe des Brückenvereins. Der habe Wegweiser und Infokästen aufgestellt, Flyer gedruckt und ein Buch veröffentlicht. Das lockte noch mehr Besucher an. Als Bürgermeister will Jaag alles tun, damit die Bevölkerung das nicht als Belastung, sondern als Gewinn ansieht. Diesen Prozess nennt er Wertschöpfung. Wertschöpfung ist Jaags Lieblingswort, wenn es um die Brücke geht. «Wir können alle von ihr profitieren», sagt er. Erst vor wenigen Monaten hat er auf einer Seite der Brücke eine Tafel anbringen lassen. Auf der ist zu lesen, wo es auf der anderen Seite, in Schuders, welche Produkte zu kaufen gibt. Die Bauern können sich dort eintragen lassen, wenn sie wollen. Aber nicht alle wollen das. Thomas Meier hat weniger Probleme damit, die Anziehungskraft der Brücke zu nutzen. Ihm gehört das Hotel-Restaurant Prättigauerhof in Schiers. Der Gastraum ist bürgerlich eingerichtet. Dunkle Holzmöbel, dunkle Fliesen, auf den Regalen sitzen Clownspuppen, daneben stehen Nähmaschine und Ziehharmonika. Auf den Tischen wird die Spezialität des Hauses angepriesen: Schweinesteak mit Pommes-Frites und Café de Paris. An den Wänden ist sie wieder zu sehen – die Brücke. Auf Fotografien. Und auf Kontruktionszeichnungen. Meier hat sie alle: Querschnitte, Längsschnitte, einen Horizontalschnitt und eine Draufsicht. Meiers grösster Schatz befindet sich jedoch weiter hinten, im neueren Speiseraum. Es ist ein Modell der Salginatobelbrücke im Massstab 1:100. Das Lehrgerüst wurde mit Holzstäbchen nachgebaut. Das Flussbett ist mit Steinen, die Berge sind

mit Modelleisenbahn-Grün beklebt. Die Brücke selbst besteht aus weissem Plastik. Meier hat ihr in seiner Gaststätte ein kleines Museum gewidmet. Trotzdem ist sein Blick auf sie ein nüchterner geblieben. Vielleicht, weil er ein nüchterner Typ ist. Vielleicht auch, weil sie eben immer da war. Zumindest für Meier. Er lässt seine Ausstellungsstücke von der Brücke erzählen. Selbst spricht er weniger von ihr. «Was gibt‘s dazu auch zu sagen?» Er zuckt mit den Schultern und zapft ein Bier. Nebenan wartet der Männerstammtisch. Elisabeth Joos hat jede Menge dazu zu sagen. Sie ist heute die einzige, die Schuders noch kannte, bevor es die Brücke gab. Und sie ist heute mehr denn je auf sie angewiesen. Ihr Besuch – Kinder, Enkel und Urenkel – kommt meist von weit ausserhalb über die Brücke. Joos selbst kann kaum noch fort. Ihre Beine tragen sie gerade noch bis zur Haustürschwelle. Der steile Schotterweg hoch zur Strasse wäre für sie zu gefährlich – ihres Alters wegen. «Wenn ich einmal nicht mehr will, stapfe ich einfach da hoch», sagt sie und lacht. Eines ist sicher: Wenn Joos eines Tages geht, geht mit ihr ein Stück Geschichte. Geschichte der Salginatobelbrücke.


«Das Weltmonument, das sich vor der Welt versteckt»

«Die Brücke nehme ich kaum noch wahr.» 59


«Wenn Kühe zu Freunden werden»

Immer mehr Deutsche verbringen den Sommer auf einer Alp in den Schweizer Bergen. Bepackt mit Winterjacken, Bettdecken, Gummistiefeln, Hundefutter und zig Schachteln Lebensmitteln schlängeln sich der Jeep und der Fiat Panda die Bergstrasse hinauf. Die drei jungen Menschen schäkern mit dem Bauern, aus den Autoradios tönt leise Rockmusik. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt, bis zwischen den Bäumen auf 1800 Metern Höhe eine kleine Hütte erscheint. Es wirkt beinahe wie in der Wildnis Kanadas: Nur das Wippen der Bäume ist zu hören. Der Schnee liegt auch im Sommer gut 10 Zentimeter hoch. Die Hütte ist schlicht eingerichtet. Am Fenster stehen Holztisch und Bank, in der Ecke ein Holzofen, das Modernste ist die Spüle. Eine schmale Treppe führt in den ersten Stock. Dort stehen drei Betten. In einigen Tagen wird die Stille durch ständiges Kuhglocken-Geläut abgelöst werden. 90 Tage werden Manuela Kelch (34), Matthias Burka (22) und Kerstin Behr (31) auf der Alp Taspin im Schweizerischen Graubünden leben. Die ersten Tage verbringen sie auf der unteren Hütte, bevor sie dann gut 400 Meter weiter nach oben ziehen. Immer mehr Deutsche entscheiden sich seit einigen Jahren, den Sommer auf der Alp zu verbringen, einheimische Sennen gibt es kaum noch. 90 Tage ein Leben in der Abgeschiedenheit. 90 Tage ohne 60

Fernseher, Internet und Zeitung. 90 Tage ohne Familie und Freunde. Aber auch 90 Tage ohne Hektik und gesellschaftliche Zwänge. Die Post kommt einmal in der Woche, telefonieren geht nur auf einem Hügel, das Brot wird selber gebacken. Wanderer werden an der Alp nur selten vorbei kommen, lediglich der eine oder andere Bauer wird kurz nach seinen Tieren sehen. Für Sennerin Manuela Kelch, die mehrere Jahre in Niederbayern als Töpferin gearbeitet hat, ist das Älplerleben fast schon Alltag. Seit zehn Jahren zieht es sie Sommer für Sommer in die Berge. «Ich liebe die Kühe und die Berge», sagt die zierliche 34-Jährige, die mit Ringelshirt, T-Shirt und dem Nasenstecker so gar nicht dem klischeehaften Bild einer Sennerin entspricht. «Die Alp lässt mich einfach nicht mehr los.» Sie erlebe den Alpsommer sehr intensiv, das Freiheitsgefühl nach den 90 Tagen sei unbeschreiblich – dennoch stosse sie auch an ihre Grenzen. Mit Pfosten, Seilen und Isolatoren im Rucksack marschieren Sennerin Manuela, Zusenn Matthias und Junghirtin Kerstin am nächsten Morgen los. Das Thermometer an der Hütte zeigt sieben Grad an. Nach rund einem Kilometer erreichen sie ihr Ziel: Die Weiden, auf denen die Kühe grasen werden. Sie sind


Von Simone Sälzer, 31 Erschienen in der «Passauer Neuen Presse», 17. Juli 2010

so steil wie die schwarze Piste beim Skifahren. Matthias streift sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht. Er

folgenden 90 Tage aufstehen. Den Tag wollen sie mit Yoga beginnen. Matthias und Kerstin werden die Kühe von den

Hessen Ökologischen Landbau. Doch die kommenden drei Monate wird das Melken eine seiner Hauptaufgaben

schlägt mit einem Stein einen Pfosten in die Erde, Manuela befestigt das Seil, die sogenannte Litze. Junghirtin Kerstin geht schon zur nächste Weide voraus. Wie Hirtenhund Jambo rutscht sie auf der nassen Weide leicht ab, bewältigt einen Teil auf ihrem Hintern. Mehrere hundert Meter Zaun werden die Drei in den nächsten Tagen spannen müssen. Durchnässt kommen sie nachmittags in der Alphütte an. Sie tragen die neuen Zäune in eine Karte ein. Nach dem Essen gehen sie nochmals los – und zäunen bis etwa acht Uhr abends.

Weiden holen und einstallen, Manuela wird in der Sennerei Feuer machen, den Käse vom Vortag auspacken, mit Datum und Gewicht beschriften. In einer kurzen Kaffeepause werden sie den Tagesablauf besprechen. Danach geht es bei Matthias und Kerstin ans Melken der 41 Milchkühe und ans Ausmisten, bei Manuela ans Käsen. Rund 15 Laib Käse wird sie pro Tag herstellen. Während Matthias der Sennerin in der Käserei hilft, wird Kerstin die Kühe mit «Heho» und Stock auf die Weiden treiben.

sein. «Ich stelle mir das Melken auch meditativ vor», sagt er. «Es wird eine schöne ruhige, intensive Zeit mit viel Arbeit werden.» Er fühle sich schon jetzt wie in einer anderen Welt, erlebe die Natur sehr bewusst. Für Kerstin, die wie Matthias Ökologischen Landbau studiert hat, ist es der dritte Alpsommer. «Obwohl ich den ganzen Tag arbeiten muss, hat das Älplerleben für mich einen besonderen Reiz.»

Am Abend erhellen nur Kerzen die Hütte. Über dem Eingang hängt eine

Frühstücken werden die drei immer erst gegen Mittag – dann können sie sich auch einen kurzen Mittagsschlaf gön-

Stirnlampe: Für den Weg in das angrenzende Bad mit einfacher Toilette und Dusche. Denn wegen des schlechten Wetters funktioniert der Solarstrom nicht. Die drei sitzen abends noch zusammen. Wenn die junge Leute reden, hört sich das nach einem Mix aus Kneipen- und Alpfeeling an. «Mega» und «krass» vermischen sich mit «Melkgeschirr» und «Käseblättern». Gut eine Woche später werden die Bauern fast an die 200 Kühe auf die Alp treiben. Um vier Uhr werden Manuela, Matthias und Kerstin dann die darauf-

nen. «Anfangs werden wir mit einer halben Stunde auskommen müssen», sagt Manuela. Denn auch nachmittags heisst es: Rinder wie Weiden kontrollieren, Kühe einstallen und melken – und käsen. Gegen acht Uhr wird der Tag für das Alpteam enden.

Trotz der vielen Arbeit wirken die drei ausgeglichen und zufrieden. Nach den ersten zehn Tagen in der Abgeschiedenheit ist es so weit: Morgens um sechs Uhr kommen die ersten Kühe. Das Läuten der Kuhglocken und ein «Heho» durchbrechen die Stille der letzten Tage – und werden die drei die kommenden 90 Tage begleiten.

Für Zusenn Matthias ist es der erste Sommer auf der Alp. Er hoffe, den Kopf so richtig frei zu bekommen. Auch Zeit für sich zu haben. Melken und Käsen kennt er mehr aus der Theorie als der Praxis. Denn der 22-Jährige studiert in 61


«Mit der Kettensäge zum modernen Zuhause»

Blockbauten: Der Bündner Luzi Scherrer beweist, dass aus Rundhölzern gebaute Häuser nicht undicht, nicht schwerfällig und kein alter Zopf sind. Sie sind moderne Gebäude mit besten Wärmedämmungswerten. Die Biene scheint sich wohl zu fühlen. Surrend landet sie auf dem Stehkragen des roten Pullis, um dann den Satz in den schwarzen Vollbart zu wagen. Er-

noch in sich verdrehen, schwinden oder sogar reissen. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass alle Einschnitte exakt passen, damit sich später keine

staunlicherweise jedoch wird sie in den nächsten Minuten weder verscheucht werden noch einen schnellen Tod finden. Denn sie krabbelt auf einem Schweizer Urgestein, das tief in seine Arbeit konzentriert ist. Der 34-jährige Luzi Scherrer liegt seit Minuten nahezu bewegungslos auf dem kalten Betonfundament, robbt sich zentimeterweise nach vorne und zeichnet voll konzentriert die meterlangen Holzstämmen an. Sein Arbeitsgerät wirkt wie ein aufgeblasener Zirkel aus vergangenen Schulzeiten, mit zwei «Libellen», um exakt gleiche Abstände einzeichnen zu können. Immer wieder korrigiert er sei-

Spalten bilden, durch die Feuchtigkeit und Kälte eindringen können. Scherrer ist sich der vielen Vorurteile bewusst. «Blockbau schaut so einfach aus, dabei gibt es einfach so viele Sachen zu beachten,» sagt er.

ne Striche, prüft die Einstellungen und vergewissert sich alles angezeichnet zu haben. Wenn der Stamm später aus seiner Probeposition weggenommen wird, um den endgültigen Einschnitt zu erhalten, muss alles sitzen. Sonst war die Arbeit umsonst. Auch wenn man es als Betrachter zunächst nicht wirklich glauben kann, so geht es beim Blockbau um Millimeterarbeit – und natürlich um die richtige Erfahrung. Ein Zweistöckiges Blockhaus schrumpft um etwa 20 Zentimeter und jeder Stamm wird sich 62

Während eines Aufenthaltes vor 10 Jahren in Alaska lernte Luzi den Blockbau kennen und war so fasziniert, dass er sein Visum verlängerte, und schliesslich zwei Jahre in Kanada beim Blockbauen verbrachte. Die Technik, mit der dort gebaut wird, stammt ursprünglich aus Skandinavien und wurde dann in Kanada weiterentwickelt. Im Gegensatz zum ursprünglichen Blockbau im Alpenraum, bei dem die Stämme an den Ecken rund eingeschnitten werden, schneidet er die Überkreuzungen konisch, nach oben spitz zulaufend, ein. Dadurch können keine Spalten entstehen, wenn das Holz schwindet, da das Gewicht des Hauses die Stämme zum sacken zwingt. So bleibt ein Blockhaus auch nach Jahren wärmetechnisch «dicht» und kann so mit modernen Bauweissen durchaus konkurrieren. Dennoch entscheiden sich die meisten seiner Kunden aus Überzeugung für ein Blockhaus, weil es die natürlichste


Von Jona van Laak, 21 Erschienen in der «Schweizer Holz Zeitung», 26. August 2010

Form des Bauens ist – Holzstämme und dazwischen Schafswolle zur Dämmung. Andere Kunden hat Scherrer

Ehrlichkeit» sagt Luzi, Fichte, Lärche und Beton, mehr gibt es nicht.

für ein Blockhaus gefallen ist, fahren Kunde und Scherrer gemeinsam in die Berge. Sie stapfen durch den Wald,

aber auch schon überreden können. Sein bestes Argument dabei ist das eigene Haus.

«Blockbau ist Kunst», da ist sich Luzi sicher und ein Blockbauer ist dementsprechend ein Künstler, ein Virtuose mit der Kettensäge. Ein Baustellentag wechselt sich ab mit stundenlangem Dröhnen der Kettensägen und der beruhigenden Stille, wenn die Stämme einzeln ausgerichtet und angezeichnet werden. Dann dröhnen wieder die Kettensägen, die Ausschnitte werden gesägt. Jeden Schnitt gilt es präzise zu setzen, vieles liegt im Sichtbereich, da kann man sich keine Fehler erlauben. Um die 70 Liter Sprit werden die Arbeiter bis zu Fertigstellung eines Blockhauses durch die Kettensägen gejagt haben, viele Stunden in Zweisamkeit mit der Maschine. Da kann man schon mal sentimental werden

den Blick stetig nach oben gerichtet. Sie sind Stunden damit beschäftigt, die richtigen Bäume zu finden. Langsam gewachsene Bergfichten, mit geradem Wuchse und mindestens 35 Zentimeter Dicke müssen es für den Blockbau sein. Sie markieren die Bäume und wieder nach Hause. Dann ziehen Monate ins Land, bis zu jenem Tag im Dezember, an dem der Mond gut steht. Im tiefen Winter machen sie sich erneut auf den Weg, mit mehreren Männern und Kettensägen. Sie suchen den schönsten Baum, und dann nimmt der Kunde die Kettensäge und setzt den ersten Schnitt, schlägt die ersten Keile ein. Der Baum fällt. Es ist der erste Stamm, für ein neues Zuhause.

Erinnerungen an Alphütten Es riecht nach Holz. Nicht künstlich, sondern natürlich. Leicht harzig riechender Kiefernboden, kaum wahrnehmbare Fichtenstämme. Die Rundholzwände verursachen ein warmes Licht, im Ofen knistert ein Feuer. Erinnerungen an Alm- und Jagdhütten werden wach, und doch wirkt vieles anders. Schon im Eingangsbereich fällt der Sichtbeton ins Auge. Die Geschossdecke zum ersten Stock und einige Innenwände sind aus unverputztem Beton - ein harter Kontrast zum Holz. Der Esstisch aus heimischer Larche glänzt in der Abendsonne, die durch ein mannshohes Glasfenster fällt. Daneben, nach Süden ausgerichtet, eine, die gesamte Gebäudebreite umfassende Fensterfront, die einen wunderschönen Ausblick übers Prättigau erlaubt. Von der teilweisse über fünf Meter hohen Decke hängen an langen Kabeln Lampen aus dem Antiquariat. Der Fussboden, die Türen, die Wände, ein harmonisches Gesamtbild heimischer Hölzer. «Was mich am Blockbau fasziniert, ist seine

und so hat auch «Juliane» – eine 038er Stihl – ihre Eigenheit, sie lässt sich nur vom Chef starten. Doch wen wunderts, selbst so eine Beziehung ist nicht von Dauer, nach 3-4 Jahren gibt es ein neues Modell. Der erste Schnitt «Mir ist wichtig, dass sich der Baum wirklich durchzieht – vom Wald bis ins Haus» sagt Scherrer. Das ist seine Philosophie, die erlebt auch jeder seiner Kunden. Denn sobald die Entscheidung 63


«Wenn Männer nur noch Rot sehen»

Bahnferien: Rund um ein kleines Hotel an der 100 Jahre alten Berninalinie geben sich Zugfans der Faszination von Landschaft und Technik hin. Von den Gourmetspiessli mit Safranrisotto und Gemüsegarnitur ist nichts mehr übrig, als die Bedienung kommt, um die Teller abzuräumen. Und auch der Rotwein scheint zu schmecken: Dem letzten Schluck aus seinem Glas schickt einer der beiden Herren an Tisch sieben ein zischendes «Aahhh» hinterher. Der ältere Herr am Nebentisch hebt kurz den Kopf, vertieft sich aber bald wieder in ein schmales Buch. «Wollen Sie das Dessert gleich nehmen?», fragt die Kellnerin die beiden Geniesser. «Nein, wir warten noch, bis der AchtUhr-Zug da war», antwortet der andere. Und wie verabredet stehen beide auf, greifen sich ihre Fotoapparate und verschwinden nach draussen. Obwohl sie seinen Tisch fast streifen, blickt der Herr nebenan nicht auf. Richard hat sein Buch mittlerweile auf den Tisch gelegt. Mit dem Finger fährt er bedächtig über eine Seite. Trotz Lesebrille hält er seinen Kopf tief nach vorne gebeugt. Seit Anna Uffer mit ihrem Mann das kleine Hotel Grischuna in Filisur übernommen hat, ist das Haus zum Fixpunkt einer eingeschworenen Szene geworden: «Pufferküsser» nennt man sie umgangssprachlich in der Schweiz, manchmal auch «Ferophile». Oder ganz gemein: «Bahnsexuelle». Sie selbst bezeichnen sich lieber als 64

Eisenbahnfreunde – und freuen sich über Interesse an ihrem Hobby. Im Sommer 2008 hat die Unesco ein Stück der Albula- und Berninalinie auf ihre Weltkulturerbeliste aufgenommen. Heuer feiert die Rhätische Bahn den 100. Geburtstag der Berninalinie. Und der Ort, an dem Fans und Eisenbahn sich am nächsten kommen, ist das kleine Hotel Grischuna in Filisur. Aus dem Dorf, das dem Hotel zu Füssen liegt, dringt kein Laut bis hier oben. Das Essen, das die Bedienung auf silbrig-glänzenden Untertellern abstellt, auf denen selbst gehäkelte Deckchen liegen, ist in den anderen Hotels des Dorfes bestimmt nicht schlechter. Die Zimmer, in denen sich Holzvertäfelung und Teppichboden treffen, vielleicht sogar moderner. Aber kein anderes Haus hat so eine Toplage: Kaum fünf Meter neben den Zimmern quälen sich die Züge aus Chur oder Davos in Richtung St. Moritz den Berg nach oben – bequem zu beobachten aus dem angebauten Wintergarten. Seitdem sie ihn haben, müssen die Uffers nicht mehr so oft das Essen der Gäste wieder aufwärmen. Denn die müssen jetzt nicht mehr zwischendurch rausgehen, um die Züge zu sehen.


Von Matthias Zimmermann, 30 Erschienen in der «Augsburger Allgemeinen», 6. Juli 2010

Von einem der beiden Balkone an der Nordwand des Grischuna registriert eine Webcam jede Lok, die in den tatsächlich

An den Tischen neben ihm sitzen auffallend viele Männer auffallend alleine. Kaum einer von ihnen ist unter

nur einen Steinwurf entfernten Bahnhof einfährt. In seiner Heimatstadt Cardiff lädt sich Richard dieses Bild täglich auf seinen Computerbildschirm. Doch so oft er es auch anschaut, es bleibt nur ein Ersatz für das Erlebnis vor Ort.

40 Jahren. Gegen neun Uhr sind die meisten Gourmetspiessli Geschichte und im Hotelrestaurant kehrt Ruhe ein. Eisenbahnfans gehen früh ins Bett und stehen früh auf. Am Morgen gibt es das beste Licht zum Fotografieren. Anna Uffer sagt, sie könne sich keine pflegeleichteren Gäste vorstellen.

Heuer ist es bereits sein zweiter Besuch in Filisur – seiner zweiten Heimat wie er sagt, seit seine Frau gestorben ist. Vor acht Jahren, bei seinem ersten Urlaub hier, wäre Richard wohl mit den beiden Herren am Nebentisch aufgestanden und nach draussen gegangen, um den Regionalexpress 1165 nach St. Moritz im Abendlicht zu bewundern.

Wenn sie über die Bahnfans spricht, nimmt Anna Uffers Hochdeutsch unvermittelt eine schweizerdeutsche Färbung an: «Es ist ein Virus, oder?», erklärt sie die Leidenschaft ihrer Gäste – die über die Jahre immer mehr auch ihre eigene geworden ist. Als sie vor gut 17 Jahren mit ihrem Mann das

Jetzt, 22 Aufenthalte und viele tausend Fotos später, studiert er lieber in Ruhe den Fahrplan für die nächsten Tage, macht sich hin und wieder ein kleines Kreuz an den Rand, wenn er etwas Interessantes findet, und freut sich ansonsten, wenn Anna Uffer, trotz des hektischen Abendbetriebs im Speisesaal, ein paar Worte für ihn übrig hat.

Haus übernahm, hielt sie sich immun gegen dieses Virus. Inzwischen kann sie verschiedene Loks am Geräusch unterscheiden, hat in ihrer knappen Freizeit das gesamte Streckennetz der Rhätischen Bahn abgefahren und ist Mitglied in zwei Vereinen, die sich dem Erhalt alter Wagen und Lokomotiven widmen.

In Gedanken ist er ohnehin schon beim nächsten Tag, am Landwasserviadukt, der einen kurzen Spaziergang vom Grischuna entfernt eine Schlucht überspannt.

Doch die Begeisterungsfähigkeit ihrer Gäste überrascht sie immer noch. Als vor wenigen Jahren der Bahnhof renoviert und die Gleise erneuert wurden, kreischten vor dem Hotel nächtelang

schwere Maschinen. Doch statt sich über den Lärm zu beschweren oder gar früher abzureisen, standen die Bahnfans bis spät nachts an der Baustelle, fotografierten und filmten die Arbeiten an «ihrer» Strecke. Richard war nicht dabei. Aber er kann das gut nachvollziehen. Seine Modelleisenbahn zu Hause ist auch eine Rhätische Bahn. Und in der selbst modellierten Landschaft fährt die ebenfalls durch Filisur. Deswegen hat er sich auch so gefreut, dass es den Eisenbahnfreunden, mit einer Unterschriftenaktion und Anna Uffer an der Spitze, gelungen ist, den Abbau der drei grossen Gongs am Bahnhof Filisur zu verhindern: Je nachdem, aus welcher Richtung und auf welchem Gleis der nächste Zug kommt, warnen sie die Wartenden bis heute mit jeweils unterschiedlichen Tönen. Die Rhätische Bahn wollte sie bei der Modernisierung entfernen, da sie dank der modernen Bahnsteige und Anzeigen eigentlich nicht mehr nötig sind. Überhaupt die Rhätische Bahn: Auf sie ist Richard nicht so gut zu sprechen. Auf dem Weg zum Landwasserviadukt macht er seinem Ärger Luft. Früher hätte er am Bahnhof Filisur vier Personen jederzeit um Auskunft und kleine Gefallen bitten können. Heute sei er 65


Von Matthias Zimmermann

schon froh, wenn er im Bahnhof-Stübli seinen Rucksack abstellen könne.

Darin ist ein abgegriffener Bogen Papier, den er mehrmals auseinanderfaltet und auf dem Tisch glattstreicht.

Doch sosehr er manche Dinge auch beklagt, während er den schmalen, steilen Pfad in Richtung Tal geht, ab und zu ein paar Zentimeter auf dem feuchten Boden rutscht, es ist keine Anklage, die seinen Mund verlässt. Zu sehr mag er seine Bahn, als dass er jemals von ihr lassen könnte. Und so schweift er schon bald wieder ab und erklärt, dass es nirgendwo sonst auf der Welt eine Eisenbahn gebe, die solche Steigungen überwinde wie auf der Albula-/Berninastrecke der Rhätischen Bahn; dass sie auf ihrem 144 Kilometer langen Weg zwischen Chur und Tirano 55 Tunnels durch- und 196 Brücken überqueren müsse; und dass überhaupt die ganze Strecke ein Meisterwerk der Ingenieurskunst sei; und mittendrin in seinem Satz bricht er ab. Denn nach einem kurvigen Stück auf

Was aussieht wie der Ausdruck seines EKG, ist der grafische Fahrplan der Albula-Berninalinie. Nach einem kurzen Studium des Gewirrs aus Kurven, Linien und Zahlen stellt er zufrieden fest: «In drei Minuten kommt der GlacierExpress aus Chur.» Gerade noch Zeit, etwas zu klären: Ist nicht jeder Zug schon fotografiert worden, nur noch nicht von jedem?

einem breiten Feldweg und über einen kleinen Bach – das Landwasser – steht er plötzlich da: über 100 Jahre alt, 142 Meter lang und 65 Meter hoch: der Landwasserviadukt. Am Fusse der mächtigen Pfeiler stehen ein Tisch und zwei hölzerne Bänke. Etwas ausser Atem setzt sich Richard auf eine der Bänke und zieht aus seiner braunen Weste eine Mappe hervor. 66

«Kein Zug ist wie der andere. Manchmal hängt an einem Personenzug noch ein Güterwagen, mal eine andere Lok. Es ist immer verschieden.» Noch bevor er das vertiefen kann, wird er von einem Pfeifen unterbrochen. Auch ohne Fahrplan merkt man, dass der Zug kommt. Richard schweigt und lächelt, sein Fotoapparat klickt regelmässig. Andere sammeln Briefmarken. Richard fotografiert Züge. Im September kommt er wieder.


«Wenn Männer nur noch Rot sehen»

«Pufferküsser nennt man sie umgangssprachlich in der Schweiz.»

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© Nicole Sturz

Die Jury

Dorotheé Stöbener Hat in Mainz und Tours Publizistik, Jura und Italienisch studiert und gleichzeitig als freie Journalistin für das «ZDF» gearbeitet. Nach dem Studium besuchte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. 1999 kam sie zur «ZEIT», wo sie zunächst Redakteurin im Ressort «Chancen» war. 2001 übernahm sie die Leitung des Reiseressorts.

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Michael Hegenauer Michael Hegenauer hat Sportwissenschaften und Publizistik studiert, was zwar die Berufswahl Journalist, aber noch keinen Rückschluss auf die Reisebranche erkennen lässt. Zuvor, gleich nach dem Abitur, hat er allerdings dieses Metier von der Pike auf gelernt – mit einer Ausbildung zum Reiseverkehrskaufmann bei Hapag-Lloyd und während diverser Jobs bei verschiedenen Airlines. Volontariat an der Journalistenschule Axel Springer, dann vier Jahre Redakteur bei einem GolfFachmagazin in Hamburg; Wechsel zur «WELT» als Redakteur im Reise- und Autoressort. Dann der Schritt von den Holzmedien zum Online-Journalismus: Seit 2007 Channel Manager Reise bei «WELT ONLINE».

Andreas Heimann 1985 begann Andreas Heimann als freier Mitarbeiter beim Lokalblatt «Kreiszeitung Syke» über Schützenfeste und Feuerwehrwettkämpfe zu schreiben. Studiert hat er gegen die ausdrückliche Empfehlung seiner Eltern Germanistik, Geschichte, Anglistik und Philosophie in Oldenburg, Göttingen und Newcastle upon Tyne. Vollkommen unvorbereitet stolperte er während des Examens in die Aufnahmeprüfung an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg und bekam wider Erwarten einen Platz für die Ausbildung als Journalist. Heute ist er Redakteur beim Themendienst der «dpa», war dort mehrere Jahre verantwortlich für das Bildungsressort sowie für die Deutschland-Themen im Reiseressort, für das er seit mehr als einem Jahrzehnt schreibt.


Bettina Kochheim 2000 schloss Bettina Kochheim ihr Abitur mit einer Glanznote ab. Ab 2000 war

Christian Leetz Als ehemaliger Teilnehmer am Graubünden Nachwuchspreis für Reisejour-

Kristina Grunwald Kristina Grunwald studierte von 1984 bis 1988 in Leipzig Journalistik und

sie als Hospitantin und als feste Freie im Unterhaltungsressort bei «BILD.de» tätig. Gleichzeitig entschloss sie sich für ein Studium der Publizistik, Politik und Neuere Geschichte an der FU Berlin. Während des Studiums arbeitete sie Teilzeit bei «BILD.de» unter anderem in den Ressorts Ratgeber und Reise. 2007 übernahm sie die Leitung des Reisebereichs. Seit 2009 ist sie verantwortliche Redakteurin der BILD-Reiseseite und zusätzlich ist sie (hin und wieder) tätig als Chefin vom Dienst oder als Textchefin bei «BILD.de».

nalisten kennt er den Wettbewerb bestens. Christian Leetz war von 2004 bis 2005 Redakteur bei Ideenews in Frankfurt und gleichzeitig war er zuständig für den Reiseteil der «Abendzeitung München» und das Bordmagazin von Hapag-Lloyd Express. Bis 2009 war er als freier Journalist tätig für die «TAZ», «Süddeutsche Zeitung», «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», «Frankfurter Rundschau» u.a. Heute ist er Objektleiter «Reise Journal» bei der «Westdeutschen Allgemeinen Zeitung» (WAZ).

arbeitet seit ihrem Abschluss bei der «Sächsischen Zeitung» in Dresden. Nachdem sie verschiedene Ressorts durchlaufen hat, übernahm sie vor zehn Jahren die Reiseredaktion.

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Die Jury

Peter Linden Studierte in München Germanistik und Romanistik. Von 1985 bis 1993 arbeitete er für die «Süddeutsche Zeitung» als Redakteur. Seither ist Linden Buchautor sowie freier Reporter für zahlreiche Zeitungen und Magazine. Daneben lehrt Peter Linden an Akademien, Journalistenschulen und bei Verlagen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Stilistik und journalistische Darstellungsformen.

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Gieri Spescha Bringt als Vertreter von Graubünden Ferien die touristische Seite in die Jury ein. Er ist aber – aus eigener Erfahrung – auch mit dem spezifischen Bedürfnissen des Journalismus bestens vertraut. Vor seinem Wechsel in die TourismusPR arbeitete Gieri Spescha insgesamt acht Jahre als Print- und Radiojournalist. Den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalismus rief er zusammen mit Peter Linden 1998 ins Leben.

Till Bartels Till Bartels ist gelernter Buchhändler, studierte Literatur, Ethnologie und Publizistik und arbeitete lange als Fotojournalist und freier Autor. Er veröffentlichte ein Dutzend Reisebücher und gab über viele Jahre die Buchreihe «Anders reisen» im Rowohlt Verlag heraus. Ab 2002 leitete er die Redaktion vom travelchannel. Seit 2008 ist er für die Reiseseiten von stern.de verantwortlich.


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Touristische Partner

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Über den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten Die jeweils ca. 20 Teilnehmer des Graubünden Nachwuchspreises nehmen Anfang Saison an einem einwöchigen Recherche- und Reportage-Seminar in Graubünden teil. Die innerhalb einer gesetzten Frist publizierten Reportagen gelangen in die Wertung und werden von einer Fachjury beurteilt. Die Sieger werden mit einer Urkunde und Geldpreisen ausgezeichnet.

Graubünden Ferien Alexanderstrasse 24 CH-7001 Chur Tel. +41 (0) 81 254 24 24 Fax +41 (0) 81 254 24 00 contact@graubuenden.ch www.graubuenden.ch


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