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Labsal & Luxus in Lourdes
Von religiösem Kitsch und weltlichem Komfort
Wundern kann sich der Besucher in Lourdes immer. Doch auch für den rational veranlagten Geist ist der Wallfahrtsort durchaus magisch. Erst recht zu der Zeit, als der Ort „dank“ Corona ganz still und beschaulich auf den quirligen Pilgerstrom wartete. Eine einmalige Erfahrung.
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TEXT HUIB AFMAN FOTOGRAFIE PAUL SMIT
LOURDES
eine Großmutter ging immer nach Lourdes. Ich habe sogar noch so eine Flasche Wasser von ihr. L'eau de Lourdes, das ist doch von gestern!“ Einem Freund von mir kamen uralte Erinnerungen hoch als der Name „Lourdes“ fiel – er wunderte sich, was ich dort wollte. Seine Worte geistern mir durch den Sinn, als ich nach einer neunstündigen Fahrt am Bahnhof von Lourdes aus dem Zug steige. Es ist Mitte Juni und die Stadt ist menschenleer. Mir bietet sich kein unaufhörlicher Strom von Pilgern, Rollstuhlfahrern und Touristen, sondern ein trostloser Anblick. Das „von gestern“ ist plötzlich überall sichtbar. Man sieht es an den Neonschildern von Hotels mit Namen wie Hôtel Solitude und Hôtel du Vatican. Die Geschäfte in der Rue de La Grotte scheinen seit Jahrzehnten die selben Markisen zu haben. Der Text auf einer Plakatwand erinnert schnöde an den Tourismus der 1980er Jahre. Wo bin ich gelandet? Erst auf der Pont-Vieux komme ich wirklich an. Das Wasser des Gave de Pau plätschert leise im Hintergrund. Am Ufer entdecke ich ein riesiges Wandgemälde von dem Musical Bernadette de Lourdes. Ich bemerke kaum, dass sich jemand
“M nähert und neben mir stehen bleibt. „Willkommen“, sagt eine Stimme. Als ich mich überrascht umschaue, erkenne ich meinen Fotografen Paul Smit. Eine Mundmaske verdeckt seinen Gesichtsausdruck. Ach ja, Covid. Darum schlummert der Ort so ruhig. Es liegt nicht an der Vergangenheit, sondern an der Gegenwart.
Mariaerscheinung
Am nächsten Morgen wähne ich mich an einem Filmset. Auf der berühmten Esplanade der Wallfahrtskirche Notre-Dame de Lourdes ist dieser einzigartige Eindruck der Zeit wunderschön. Fast apokalyptische Stille, wo normalerweise Menschenmassen rumoren. Vor dem Informationszentrum haben wir uns mit Marie verabredet, die uns über das 52 Hektar große Gelände führen wird. „Am ersten Juli geht es wieder los“, sagt sie. „Das Musical, die Lichterprozession und die Basilika stehen dann wieder im Scheinwerferlicht“.
Das klingt nach Vorfreude oder zum Weglaufen. Der Trubel wird gewöhnungsbedürftig sein, stimmt sie wenig später zu. „Dank Covid haben wir jetzt täglich um 17 Uhr einen TV-Livestream mit Millionen Zuschauern. Bald werden all diese Menschen wieder herkommen.“ Wir passieren eine Reihe Automaten, an denen man Münzen mit Abbildungen der Lourdes-Grotte, von Papst Franziskus und natürlich von Sainte-Bernadette prägen lassen kann. Ohne ihre Geschichte hätte das Heiligtum keine Existenzberechtigung. Die Kurzfassung: 1858 sammelt die vierzehnjährige Bernadette Soubirous am Fluss Gave Holz, als sie in einer nahegelegenen Höhle eine weiß gekleidete Frauengestalt sieht, die einen Rosenkranz hält: die Jungfrau Maria. Die Gestalt Bernadette erscheint 18 Mal und weist auf eine Wasserquelle. Der Bischof von Tarbes leitet eine Untersuchung ein. Vier Jahre später sieht er es als erwiesen an, dass die Erscheinungen übernatürlicher Natur sind. Lourdes wird zu einem Wallfahrtsort, an dem im Laufe der Zeit eine Krypta und drei imposante Basiliken entstehen. Reiseführerin Marie nickt bedeutungsvoll zu den Türmen der MariäEmpfängnis-Basilika, einem schönen Beispiel neugotischer Architektur. Warum muss ich plötzlich an das Märchenschloss in Disneyland Paris denken? Die Rosenkranz-Basilika, ganz in der Nähe, hat dank ihrer römisch-byzantinischen Signatur eine ganz andere Ausstrahlung. Den Eingang markiert eine hohe Votivtafel und in der Apsis und im Querschiff der Basilika befinden sich fünfzehn beeindruckende Kapellen mit Darstellungen aus den Mysterien des Rosenkranzes. Die letzte Erweiterung des Heiligtums stammt aus dem Jahr 1958. Als wir wieder draußen sind, zeigt Marie auf den Boden. Die Basilika St. Pius X. erstreckt sich unter der imposanten Esplanade und bietet Platz für nicht weniger als 25 000 Menschen. Interessantes Detail: Das Centre des Nouvelles Industries et Technologies (CNIT) im Pariser Stadtteil La Défense ist genau so konstruiert, nämlich wie ein umgedrehtes Schiff.
De l’eau placebo
Und dann die Höhle mit dieser Quelle, um die es ja letztendlich geht. Marie führt uns entlang einer Route von Pilgerritualen. Die spärlichen Besucher, die sich hier ihrem Glauben widmen, haben etwas Besinnlichers, fast Rührendes an sich. › Aufschlagseite links: St..Bernadette in ihrer Kapelle neben der Basilika; rechts: Blick auf das Heiligtum. Links: ein Wallfahrer, der von den Cevennen nach Lourdes gelaufen ist; Marienbild in der Höhle der Marienerscheinung Bernadettes. Unten: die Fassade der neobyzantinischen Basilika.
SHOPPEN, ESSEN UND MUSEUM
In der Rue du Baron Duprat 10, einer Seitenstraße der Rue du Bourg, finden Sie Antiquités Brocante Lourdes mit einer geschmackvollen Auswahl an nostalgischen Gegenständen - und nicht nur Marienstatuen. Einen göttlichen Gaumenschmaus bietet die Chocolaterie Pailhasson an der Ecke des Place Peyramale. Dies ist das älteste Schokoladenhaus Frankreichs, gegründet 1729 von einer Apotheker- und Schokoladenmacherfamilie. Die kulinarischen Überraschungen des Departements Hautes-Pyrénées, zu dem Lourdes gehört, sind nirgendwo besser zu finden als in der Markthalle am Place du Champ Commun (am Ende der Rue du Bourg). All die französischen Käsesorten von denen wir nie genug bekommen können, werden dort mit ihren ebenso großartigen Namen prächtig präsentiert: Couronne d'Henry IV, Bleu de chèvre, Tomme de brebis, Lou Braizou und Ossau-Iraty. Auf dem gleichen Platz, in der Nummer 20, befindet sich die Tapas-Bar Les 100 Culottes, ein Muss für alle, die sich gerne unter die Einheimischen mischen. Auf der Speisekarte stehen Truite des Pyrénées (Pyrenäen-Forelle), Tartare de bœuf (Rindertartar) und Poulpe à la Galicienne (Oktopus)- mit spanischem Einschlag. Eine gute Adresse nach einem Nachmittagsspaziergang durch das Stadtzentrum und dem Besuch des Musée Pyrénéen im Schloss. Es zeigt viele Trachten aus Bigorre, Béarn und Couserans, sowie eine umfangreiche Sammlung von Kunsthandwerk und ausgestopften Tieren. Vom blühenden Schlossgarten aus hat man einen herrlichen Blick auf das Stadtzentrum. Noch weiter und eindrucksvoller wird das Panorama, wenn Sie mit der Seilbahn auf den Pic du Jer am Stadtrand fahren.
Sie berühren den Felsen, füllen ihre Flaschen mit Quellwasser, warten darauf, in eines der Becken mit Weihwasser getaucht zu werden, zünden eine Kerze an. Dans l’esprit de Bernadette. (Im Geiste von Bernadette). Schließlich sieht man hier, was man glaubt, und deshalb soll die Erfahrung so umfassend wie möglich sein. Marie fasst es mit einer auffallenden Aussage zusammen. „Das Wasser ist de l'eau placebo. Es ist nicht von sich aus heilig, aber wenn man daran glaubt, kann es etwas bewirken“. Das ist das perfekte Stichwort, um das Heiligtum hinter sich zu lassen und den Ort zu erkunden.
Religionskitsch und Rosenkränze
Das Zentrum von Lourdes liegt bei der Oberburg und hat zwei Hauptstraßen: die touristischere Rue de la Grotte und die gemütlichere Rue du Bourg. Um mit der ersten Straße zu beginnen: Hier ist nicht alles Religionskitsch. Das Monastère des Clarisses beherbergt fünfzehn engagierte Nonnen. Seit 35 Jahren verkauft Schwester Marie aus Fatima, Portugal, im Klosterladen handgefertigte Rosenkränze. Für 35 Euro können Sie einen einzigartigen Rosenkranz erwerben, der in fünf Stunden Arbeit von Frauen geknüpft und gefädelt wurde. Und wenn man sie freundlich anschaut, gewährt Schwester Marie fast automatisch einen Blick in die angrenzende Kapelle. Und sie singt. In der Rue du Bourg 79 befindet sich die Librairie Catholique Internationale Christ Source de Vie, ein Muss für jeden Liebhaber religiöser Belletristik und Kuriositäten. Die Regale sind bis unter die Decke mit Büchern, DVDs, Ikonen, Klosterfiguren und Weihnachtskrippen gefüllt. Der Eigentümer David navigiert geschickt mit seiner kleinen Leiter zwischen den Regalen und zieht ein Buch heraus. Er bläst den Staub vom Umschlage und geht damit zum Tresen zurück. „Celui-ci?“ (Dieses hier?) Die Dame, die auf ihn wartet, nickt erfreut. Dies ist einer dieser kleinen Läden, die es immer geben wird
Schaut man sie freundlich an, gewährt Schwester Marie gerne einen Blick in die Kapelle nebenan
Eklektischer Luxus
Unser Streifzug durch das Stadtzentrum bringt noch etwas anderes zutage. Zunächst springt die imposante Belle-Époque-Fassade des Grand Hôtel Moderne (Avenue Bernadette Soubirous 21) ins Auge. Neugierig geworden, gehen wir hinein und kommen mit dem energischen italienischen Besitzer Joseph ins Gespräch. Das Hotel des Architekten Jean-Marie Lacrampe aus dem späten 19. Jh. entpuppt sich als erstes Luxushotel von Lourdes. Und Luxus in der Belle Époque bedeutete Warmwasser, Telefon und Aufzug. Es ist regelrecht ein Museum. In den hohen Räumen dominiert ein eklektischer Stil aus klassischem Barock und ›
Links: Schwester Marie im Laden des Clarissenklosters. Diese Seite: eine Pause vom Flanieren gegenüber der MariäEmpfängnis Basilika; das Quellwasser, das Maria Bernadette zeigte, labt bis heute die Pilger.
Wer denkt bei Lourdes schon sofort an Golfspielen und anderen Luxus?
Das Luxus Spa von Hotel Belfry; eine der prächtigen Fassaden im Herzen von Lourdes.
Mit Dank an: Atout France. Destination Occitanie: tourisme-occitanie.com. Hautes-Pyrénées Tourisme Environnement: tourismehautes-pyrenees.com. Fremdenverkehrsbüro Lourdes: lourdesinfotourisme.com
Rokoko. Auch im Speisesaal mit den feinen Tischtüchern und den originalen Thonet-Stühlen (alle sechs Monate werden die empfindlichen Bezüge ausgetauscht) ist die Handschrift des Jugendstilkünstlers Louis Majorelle deutlich zu erkennen. Die Zeit steht hier still. Alle Silberwaren sind signiert, das Sèvres-Porzellan atmet die Atmosphäre einer anderen Welt. Der grüne Marmor des Kamins stammt aus dem Bergdorf Sarrancolin. Es ist derselbe exklusive Marmor, der auch das Schloss von Versailles ziert. Der erste Besitzer des Hotels, Jean Soubirous, war der Cousin von Bernadette.
Lourdes-de-luxe
Ist dies vielleicht das andere Lourdes, das wir noch nicht kennen? „Lourdes hat tatsächlich eine überraschend andere Seite“, bestätigt Hotelbesitzer Joseph. Und dass es tatsächlich mehr gibt als eine Flasche Eau de Lourdes, wird klar, als wir das andere Luxushotel besuchen. Der Belfried (Rue de la Grotte 66) ist rundum modern. Die geräumigen Suiten bieten einen Blick auf das Heiligtum und die umliegenden Hügel. Und im schicken Badezimmer mit freistehender Badewanne und Doppeldusche wartet eine wunderbare Auswahl an Pflegeprodukten von Acqua di Parma auf den Gast. Das Restaurant arbeitet mit einem Michelin-Sternekoch aus Paris zusammen, also sind die Gerichte exquisit. Wer einfach nur entspannen oder neue Energie tanken möchte, kann das Spa mit Hallenbad, Whirlpool, Hamam, Sauna und Fitnessraum nutzen. Das Hotel ist ein idealer Ausgangspunkt, um die Umgebung zu erkunden: die Pyrenäen, den Pic du Midi, Cauterets. An der Rezeption wird man Ihnen gerne die Möglichkeiten darlegen. Wer denkt schon bei Lourdes sofort an Golf? Nur drei Kilometer vom Zentrum entfernt, liegt in Richtung Pau der Lac du Lourdes. In dem Naturschutzgebiet am See können Sie herrlich Golf spielen - im Sommer umgeben von einer Explosion blühender Hortensien und im Winter in einem Meer von Mimosen. Die einzigen anderen Geräusche kommen von den Schlägen, den Vögeln und den Kuhglocken der schottischen Hochlandrinder. Wenn Sie genau hinschauen, können Sie von Loch Nummer 4 aus die Spitzen des Heiligtums sehen. Ein entferntes Kleinod, dem man in Lourdes nicht die alleinige Aufmerksamkeit schenken sollte. Denn Lourdes ist viel mehr als sein Ruf. Zumindest, wenn man daran glaubt. ■