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Auvergnes grüne Vulkanlandschaft
CANTAL Frankreichs grüne Vulkanlandschaft
Das in der Auvergne gelegene Departement Cantal besitzt keine große Stadt. Dafür aber eine zerklüftete Vulkanlandschaft, einen historischen Helden, der es bis zum Papst brachte, und würdevolle Kühe, die - zumeist - ausgesprochen höflich behandelt werden.
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TEXT & FOTOS PAUL SMIT UND MICK PALARCZYK
Claire schaut sich um und nickt ihren Freundinnen aufmunternd zu. Seit sie und ihr Damenclub in Allanche kurzerhand auf die Straße gesetzt wurden, sind sie alle sehr nervös. Aus gutem Grund, denn sämtliche Knechte des Dorfes sind gekommen, um sie zu sehen. Claire beäugt die roten Halstücher und albernen Hüte der Burschen. Sie wollen offensichtlich Eindruck schinden, und das verheißt nichts Gutes. Daphne zieht mit ihrem lächerlichen rot-weiß-blauen Band zwischen den Pobacken hoffnungslos die Aufmerksamkeit auf sich. Emilie knabbert aufgeregt an einem Ginsterstrauch. Die Jungs können ihre Hände nicht mehr bei sich behalten und fangen an zu schubsen und zu ziehen. Es läuft darauf hinaus, dass die Damen in vollem Tempo die Hauptstraße des Dorfes hinunterrennen. Überall ertönt fröhliche Musik und die Leute auf dem Bürgersteig klatschen anfeuernd Beifall. Die Transhumanz, der Almauftrieb der Kühe in die Berge der Allanche, hat begonnen.
Würdevolle Damen
In eine ockergelbe Staubwolke gehüllt, flüchtet Claires kleine Kuhherde aus dem Dorf, auf dem Weg in die wohlverdiente Ruhe der Planèzes, den höher gelegenen Weiden des Cantal. Dort werden sie bis Oktober in der
Nähe einer der vielen Burons (Hirtenhütten) der Region bleiben. Vor nicht allzu langer Zeit wurden all diese Hütten im Sommer auch von Hirten bewohnt, die dort Käse herstellten. Heute ist dies nur noch an einigen wenigen Orten der Fall. Schäfer Bernard, einer der letzten traditionellen Käsehersteller, nennt seine Salers-Kühe liebevoll Mesdames. „Mit ihren majestätisch geschwungenen Hörnern und ihrer würdevollen Erscheinung fängt man automatisch an, sie als Individuen zu sehen.“ Bernard ist also nicht ganz einverstanden mit der ruppigen Behandlung der Damen in Allanche. „Vor allem wenn es darum geht, ihre Schleifen zu binden, werden sie bisweilen widerspenstig. Das sind eben Charaktere, die sich nicht herumschubsen lassen. Sie lassen sich auch nicht einfach so melken.“ Der Hirte muss das Kalb zuerst zur Mutterkuh lassen. Nach einem Begrüßungsritual, bei dem die Schnauzen gerieben werden, löscht das Kalb seinen Durst, und erst dann darf der Hirte seinen Anteil bekommen. Bernard wühlt liebevoll mit seiner Hand in Claires dickem, rotbraunen Fell. „Das ist natürlich eine zeitaufwendige und mühsame Art der Milcherzeugung. Aber es herrscht großer Respekt zwischen Mensch und Tier. Und das ist für mich wichtiger als alles Geld der Welt.“ Im Winter, wenn die Kühe unten im Tal im Stall stehen und die Schneestürme um sein Haus toben, beschäftigt sich Bernard mit der Erdgeschichte seiner Heimat. Gemeinsam gehen wir ein Stück durch das im Wind tanzende Gras der Planèze. „Wenn ich im Sommer alleine herumlaufe, versuche ich mir oft vorzustellen, wie es hier vor acht Millionen Jahren aussah.“ Bernard lässt seinen scharfen Blick über die grüne Hochebene schweifen. „Stellen Sie sich das mal vor: Kein wogendes Gras, keine Butterblumen oder summenden Bienen, keine Lerchen. Diese ganze sanft abfallende Ebene ist ein riesiger rot glühender Lavastrom. Dort am Horizont, im Zentrum des Cantal, schleudert eine donnernde Explosion eine Aschewolke in die Luft. Ein grotesker schwarzer Rauchpilz taucht auf. Der Wasserdampf in der Atmosphäre bindet sich an die Rußpartikel und es beginnt zu regnen. Aber sobald die Wassertröpfchen auf die glühende Lava am Boden treffen, zerplatzen sie in Dampfwolken.“ Fasziniert lasse ich mich von der anschaulichen Beschreibung des Hirten mitreißen. Für Minuten sind das grüne Gras und der blaue Himmel verschwunden und wir sind umgeben von zischenden Dämpfen, schwappenden Lavamassen und dem Gestank von brennendem Schwefel. Bernards vulkanische Geschichten haben mich
während meines gesamten Aufenthalts im Cantal begleitet. Der Cantal ist eigentlich ein einziger großer Vulkan, der größte in Europa. Die Eruptionen hörten vor vier Millionen Jahren auf. Im Zentrum des Cantal-Vulkans befindet sich die pyramidenförmige Lavakapsel von Puy Mary. Von dort aus breiteten sich die riesigen Lavaströme, die heute erstarrt die Hochweiden bilden, radial aus. Sie liegen wie Speichen eines Rades rund um den höchsten Gipfel. Dazwischen liegen die isolierten Täler, wegen denen die Verbindung schon immer sehr schwierig war. Dadurch hat jedes Tal seinen ganz eigenen Charakter; manche sind zerklüftet und erinnern an Schottland, andere beherbergen charmante Dörfer, in wieder anderen hört man das Rauschen dichter, hoher Buchenwälder. Jahrhundertelang war das graue Vulkangestein das wichtigste Baumaterial in der Region. Der grüne, moosbewachsene und gelblich-weiße Kalkstein verleiht Scheunen, Bauernhöfen, Kirchen und ganzen Städten den Anschein, als seien sie ohne menschliches Zutun aus der Landschaft herausgewachsen. Dieses organische Aussehen wird durch die Bedachung mit Lauzen verstärkt: grobe, schuppige Platten, als hätten
Aufschlagseiten: frei lebende Pferde am Étang de Lascourt bei Le Claux, mit dem Puy Mary im Hintergrund.
Diese Seite im Uhrzeigersinn: Kühe auf der Weide; für den Almauftrieb werden die Kühe mit Ginsterblüten verziert. Ein Knecht im Festaufzug.
Manche Täler sind zerklüftet und erinnern an Schottland, andere beherbergen charmante Dörfer oder alte, dichte Buchenwälder
Vorherige Seiten: das Château de la Laubie aus dem 18. Jahrhundert nahe dem Dorf Belliac im Vallée de Mandailles.
Diese Seite im Uhrzeigersinn: Detail der steinernen Statue von der Grablegung Christi von 1495 in der St. Matthieu-Kirche von Salers; ein römischer Soldat in mittelalterlichem Aufzug; Rosensträucher am Schuppen im Weiler La Rouquette; die rostbraunen, kräftigen Salers-Rinder sind allgegenwärtig.
Der grüne, moosbewachsene Kalkstein verleiht Scheunen, Bauernhöfen, Kirchen und ganzen Orten den Anschein, als seien sie ohne menschliches Zutun aus der Landschaft herausgewachsen.
die Gebäude eine dicke, graue Reptilienhaut. Auch die Basaltsteinkirche von Saint-Jean-de-Dône sieht aus, als sei sie direkt aus der vulkanischen Erde emporgewachsen. Sie liegt, umgeben von hohen Bäumen und einem Friedhof, an einem Anger auf dem Schafe weiden. Die schwere Kirchentür steht einladend offen, ein hölzernes Klapptörchen hält die Schafe fern. Im Inneren erstreckt sich ein himmelblaues Gewölbe mit Hunderten von Sternen über die gesamte Länge des Kirchenraums. Während ich so dastehe und staune, spricht mich ein Besucher an. „Ich glaube, die Cantalesen haben eine Vorliebe für Sterne. Das muss an der klaren Bergluft liegen. Nachts kann man zwischen den Kühen und den Schafen endlos in andere Welten starren.“
Genie des Cantal
Der Fremde mit den schelmischen Augen und dem flachsfarbenen Bart stellt sich als Lucien vor, Amateurhistoriker aus dem benachbarten Aurillac. Er entpuppt sich als jene Art von begeistertem Geschichtenerzähler, die ich gerne als Geschichtslehrer gehabt hätte. Ob ich den großen Helden der Region kenne, fragt er: „Gerbert von Aurillac. Vor tausend Jahren hütete er hier im Tal als kleiner Junge Schafe.“ Lucien nimmt mich aus der Kirche mit zu einem kurzen Spaziergang. Bald blicken wir auf eines der schönsten Täler des Cantal. Ein Mosaik aus grünen Wiesen und Hecken, reichlich gesprenkelt mit dem Gelb der blühenden Ginstersträucher. Über uns erhebt sich die schwarze Silhouette des Vulkankegels. Lucien erzählt mir, dass dieses Tal im 10. Jahrhundert unter der Obhut der Mönche von Aurillac stand. Bei einem Abendspaziergang begegneten sie dem kleinen Hirten Gerbert und stellten fest, dass er sich mehr für die Sterne als für seine Schafe interessierte. Sie luden ihn in die Studierzimmer der Abtei ein, die er in den folgenden Jahren nicht mehr verlassen sollte. Gerberts Wissensdurst erwies sich als unstillbar, und schließlich beschloss der Abt von Aurillac, ihn ins maurische Spanien reisen zu lassen. Dort eröffneten arabische Astronomen und Mathematiker dem Hirtenjungen ein Weltbild, von dem die christlichen Wissenschaftler der damaligen Zeit nicht einmal zu träumen wagten. Als Gerbert schließlich in das rückständige christliche Europa zurückkehrte, fand er eine Gesellschaft vor, die von Angst beherrscht wurde. Der Grund: Das Jahr 1000 rückte näher und die Menschen glaubten, das Ende der Zeiten sei nahe. Bewaffnet mit seinen Arabischkenntnissen bekämpft Gerbert die Angst mit Vernunft. Er beginnt, an Schulen und Universitäten zu unterrichten. Mit Globen und anderen selbstgebauten Geräten zeigte er seinen staunenden Schülern, wie vorhersehbar sich die Sterne und Planeten bewegten. Er konstruierte Rechengeräte und ersetzte die unbeholfenen römischen Ziffern durch die arabischen, die wir heute noch verwenden. Sein Ruhm wuchs. Könige und Kaiser suchten Rat bei ihm. Im Jahr 991 wurde der einfache Junge vom Lande sogar Erzbischof von Reims. Von Luciens Faszination für Heimatgeschichte angesteckt, beschließe ich, mit ihm nach Aurillac zu fahren, um die ehemalige Abteikirche zu besichtigen. Zwei Straßen weiter, am Ufer der Jordanne, steht eine imposante Statue aus dem 19. Jahrhundert, die das Genie von Cantal darstellt. Lucien zeigt auf ein Relief auf dem Sockel. Es zeigt Gerbert als Hirtenjungen inmitten seiner Herde, der mit einem Fernrohr den Himmel absucht. „Ein Instrument, das erst sechshundert Jahre später erfunden wurde“, lacht Lucien, „aber diese kleine Geschichtsfälschung muss man den Machern nachsehen. Gerbert wurde im Jahr 999 zum Bischof von Rom gewählt. Der Papst des Jahres 1000 war ein französischer Schafhirte! Und darauf sind wir Cantalesen natürlich sehr stolz.“ ›
Der Kern des Schlösschens von Vixouze, nahe Polminhac, stammt aus dem 13. Jh., der Bau wurde zwischen dem 15. und 18. Jh. umgebaut und erweitert.
Tipps & Adressen
ANREISE
Zug: Frankfurt - Paris - Brive la Gaillarde (ca. 10h Fahrzeit) - dort ein Auto mieten für die letzten Kilometer nach Aurillac. Auto: Von Frankfurt nach Aurillac sind es 980 km oder knapp 10 Stunden Fahrt ohne Pausen. Flugzeug: Es gibt täglich zwei Flüge nach Aurillac (9:05 Uhr und 20:05 Uhr), ab Paris Orly. Da jedoch die meisten deutschen Flughäfen Paris Charles de Gaulle anfliegen, ist ein Umsteigen innerhalb von Paris erforderlich.
ÜBERNACHTEN
☛ B&B Enclos du Puy Mary
(Mandailles-Saint-Julien)
Jeden Tag ein anderes VierGänge-Menü mit regionalen Zutaten. Sehr zentral in den Monts du Cantal im wohl schönsten Tal gelegen. enclos-puymary.fr
☛ Hôtel Auberge des
Montagnes (Pailherois)
Dieses charmante Hotel mit Spa und Pool ist eine Mischung aus schick und rustikal. Teil von Logis de France, kurz: köstliche französische Küche garantiert. Die selbe Familie betreibt auch das Lofthotel Chez Marie an einem See in der Nähe. Und ganz besonders: drei einsame ehemalige Käserhütten Les Burons de Bâne auf 1400 m Höhe. auberge-des-montagnes.com
☛ B&B Château de Sédaiges
(Marmanhac)
Ein kleines Schloss in einem wunderschönen Park (mit Schwimmbad), in der Nähe von Aurillac und Salers, der schönsten Stadt des Cantal. Das Innere der Zimmer atmet die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, zum Teil wegen der Tapeten und der Sie soviel essen, wie Sie möchten, draußen unter Sonnenschirmen mit einer fantastischen Aussicht. Nur mittags, von Mai bis September. Reservierung erforderlich. Sie sind hier unter Franzosen. buronsdesalers.fr
historischen Möbel. Seit der Renaissance wird das Schloss von derselben Familie verwaltet. Erwarten Sie kein StandardLuxushotel, sondern echte Geschichte. chateausedaiges.com
ESSEN & TRINKEN
☛ Auberge de la Tour
(Marcolès)
Etwas außerhalb des Kerns der Monts de Cantal, aber in der Nähe von Aurillac. Das Dorf Marcolès ist sowieso einen Besuch wert. Auch wenn Sie nur zum Abendessen gehen, lohnt sich der Umweg und der Michelin-Stern ist verdient. Man kann hier auch übernachten aubergedela-tour.com
☛ L'Arsène sur Cour
(Aurillac)
Modernes, urbanes Ambiente zwischen Natursteinmauern, mit Terrasse. Das Restaurant ist bekannt für seine Fondues und die fairen Preise. aurillac-restaurant.com
☛ Crêperie Le Drac (Salers) Salers ist ein Muss, ein Dorf mit der Atmosphäre einer mittelalterlichen Stadt. Deshalb ist es im Sommer ziemlich voll und verlangen einige Restaurants einen Bonus. Trotzdem sollte man hier zu Mittag essen. Zum Beispiel bei Le Drac, mit normannischen Crêpes draußen auf dem gemütlichen Platz oder drinnen unter den Gewölben. ledrac.e-monsite.com
☛ Terrasse Les Burons de
Salers (Salers)
Die regionale Käsespezialität La Truffade ist ein Gericht aus frischem, lokalem Käse und Kartoffeln, das in einer großen Pfanne bereitet wird. Hier können
UNTERNEHMEN
☛ Die schönsten Dörfer Große Städte sucht man im Cantal vergeblich. Aurillac, die Hauptstadt, hat nur 26.000 Einwohner. Salers im Westen ist eine wunderschön erhaltene mittelalterliche Stadt, die fast vollständig aus Vulkangestein erbaut wurde. Auch das nahe gelegene Tournemire mit seiner Altstadt und dem Schloss Anjony verdient das Prädikat „Plus Beaux Villages de France“. Weiter westlich liegt Laroquebrou an der Cère, über dem sich die Burg erhebt. Marcolès überrascht mit seinen wunderschön restaurierten Straßen und Fassaden. Im Süden hat Raulhac einen rauen Bergcharakter, aufgrund seines grauen Steins, umgeben von sechs Burgen. Murat im Osten fühlt sich wie Salers eher wie eine Stadt als wie ein Dorf an.
☛ Museen • Maison du Buronnier (Laveissière): alles über die
Käseherstellung. hautesterrestourisme.fr/fr/ maison-du-buronnier • Maison de la Gentiane (Riomès-Montagnes): viel
Informationen über Wild- und
Heilpflanzen. auvergne-centrefrance.com/ geotouring/maisons/gentiane •Musée des Volcans (Aurillac): alles über die vulkanische
Geschichte des Cantal. musees.aurillac.fr ☛ Almauftrieb von Allanche Der Beginn der Transhumanz wird am 28. Mai 2022 mit der Fête de l'Estive in Allanche gefeiert. Es ist möglich, die Kühe bei einem Spaziergang zu ihren Sommerweiden zu begleiten hautesterrestourisme.fr/fr/fetede-lestive
☛ Wandern Mit seinen vielen sehr verschiedenen Tälern ist das Cantal ein ausgezeichnetes Wandergebiet. auvergne-destination-volcans. com/bouger/itinerancesrandonnee/a-pied/petiterandonnee-en-auvergne
☛ Käse Das Cantal hat das saftigste Gras Frankreichs. Neben dem nach der Region benannten Cantal, dessen gereifte Version (französisch: sec) sehr schmackhaft ist, gibt es auch den verwandten Salers, der strengeren Anforderungen unterliegt. Der Höhepunkt der französischen Käsekunst ist Saint Nectaire, der im Norden hergestellt wird. Und zwar nicht der aus der Fabrik (mit orangefarbener Rinde), sondern der des Bauern (graue Rinde). Der Geschmack ist einfach göttlich, aber der Geruch ist nicht ohne...
☛ Enzianwurzellikör Das regionale Getränk des Cantal ist Gentiane de Salers, ein gelber Likör, gewonnen aus den Wurzeln des Enzians. Ihm werden viele medizinische Eigenschaften nachgesagt. Bekannte Marken sind Suze, Avèze, Bellet und Bonnal.
WEITERE INFOS
auvergne-destinationvolcans.com