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Die schöne YimWingTsun
Dieser Kampf inspirierte Ng Mui bei der Erschaffung eines neuen Kampfstiles.
falls sie sich ihm verweigerte. Sie selbst war zu schwach, um ihm ernstlich Widerstand zu bieten, und ihr Vater war inzwischen zu alt, um sie zu schützen. Von dem Tag an machten sich Vater und Tochter große Sorgen um die Zukunft. Zu dieser Zeit lebte aber die buddhistische Nonne Ng Mui im Weißen Kranich-Tempel am Tai Leung-Berg und pflegte mehrere Male im Monat den Marktplatz des besagten Dorfes zu besuchen, um Notwendiges einzukaufen. Es traf sich, daß sie eine regelmäßige Kundin von Yim Lee wurde und sich oft mit den beiden unterhielt. Eines Tages erkannte sie am Verhalten und an den Blicken Wing Tsuns und ihres Vaters, daß diese von Sorgen gequält wurden. Auf ihre Fragen erzählten Vater und Tochter ihr alles.
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Ng Mui hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und beschloß, Wing Tsun zu helfen, aber nicht, indem sie s e l bst den Bösewicht besiegte (was sie früher sicherlich getan hätte). Denn zum einen wollte sie ihre Tarnidentität nicht aufgeben und zum anderen wäre ein Kampf zwischen ihr, der berühmten Meisterin eines angesehenen Kung-Fu-Stils, und einem unbekannten Dorfs chläger ungleich und damit unfair und ruhmlos gewesen. Deshalb wollte sie Wing Tsuns Problem lösen, indem sie ihr die Kunst des Kämp -fens beibrachte. Die Kampfkunst als solche war für Ng Mui nichts Fremdes, da ihr Vater ja früher Kung-Fu-Kämpfer gewes en war. Yim Wing Tsun selbst hatte allerdings vorher nie die Notwendig keit gesehen, ein Verteidigungssystem erlernen zu müs sen. Aber nun - unter der Anleitung der Meisterin Ng Mui -hatte sie ein Ziel vor Augen, so daß sie nach nur etwa drei Jahren Privatunterricht die ihr gezeigte Methode meister te.
Dieser Stein weist darauf hin, daß Bodhidharma hier vor einer Mauer meditierte.
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Ng Mui schickte sie nach Abschluß ihrer Ausbildung im Weißen Kranich-Tempel wieder zurück zu ihrem Vater. Wing Tsun war kaum den Tai Leung-Berg herabgestiegen, als der Schläger sie wieder bedrängte. Dieses Mal lief Wing Tsun nicht vor ihm davon, sondern forderte ihn zum Kampf auf. Der Rowdy war darüber entzückt, denn er war sich seines Sieges gewiß und freute sich darauf, da s schöne Mädchen endlich zu erringen. Aber er sollte sich getäuscht haben, denn Wing Tsun schlug ihn zu Boden, wo er hilflos liegenblieb, so daß er nie wieder die Lust verspürte, sie zu belästigen. Nachdem Wing Tsun den Schläger besiegt hatte, setzte sie ihre Kampfübungen fort. Ng Mui jedoch - gelangweilt vom monotonen Leben auf dem Tai Leung - beschloß, wieder weiterzureisen und sich im Lande umzusehen. Vorher aber ermahnte sie Wing Tsun, die Regeln der Shaolin einzuhal ten, einen würdigen Nachfolger zu finden und nur die richtigen Schüler zu unterweisen.
»Cho-Tso-Um«
Hier lebte Bodhidharma, der Gründer des ZenBuddhismus in China. Dort steht heute noch der auf der vorigen Seite abgebildete Erinnerungsstein.
Seitenansicht der Haupthalle des Shaolin-Klosters von Sung Shan
Wing Tsun heiratete schließlich doch ihren Verlobten Leung Bok Chau und gab die neue Kampfkunst -Methode, die sie von Ng Mui gelernt hatte, an ihn weiter. Leung Bok Chau soll schon vor ihrer Heirat Kung Fu geübt haben. Als sie nun geheiratet hatten und Wing Tsun oft über die Theorie der Kampfkunst zu ihm sprach, hörte er anfangs kaum zu, denn er glaubte, daß er mehr davon verstünde und daß sie ja nur eine schwache Frau sei. Dann aber fand Wing Tsun eine Gelegenheit, ihm ihr Können praktisch vorzuführen. Und so oft sie zusammen kämpften, so oft wurde Leung Bok Chau von ihr besiegt. Erst dann erkannte Leung Bok Chau, daß die Frau, die er geheiratet hatte, eine große Meisterin der Kampfkunst war. Er bewunderte das Können seiner Frau sehr und übte von nun an regelmäßig mit ihr. Ihr zu Ehren benannte er dieses Kung-Fu-System später »Wing Tsun Kuen« (Natürlich schrieb man den Namen damals ausschließlich in chinesischen Zeichen. Eine Widergabe in lateinischer Schrift — etwa für Ausländer — war kein Thema. Um den Gesamtstil — der zu Yip Mans Lebzeiten noch geeint war—in unserer Schrift wiederzugeben, verwenden wir oft das dann kleingeschriebene Wort »wing chun«. Den als Warenzeichen geschützten Namen »Wing Tsun« bzw. »WT« benutzt nur die Leung-Ting-Schule zur Unterscheidung gegenüber anderen »wing chun«-Stilen.)
Von Leung Bok Chau ging das System dann weiter zu Leung Lan Kwai, einem Krauter- und Knochenarzt, der seine KungFu-Kenntnisse aber für sich behalten und niemals publik machen wollte. Nicht einmal seine Verwandten und engsten Freunde wußten, daß er ein Meister des Kung Fu war. Sein Geheimnis wurde erst offenbar, als er eine Gruppe Schläger in die Flucht schlug, die einen einzelnen angriff. Leung Lan Kwai hatte niemals mit seinem Können angegeben - ganz eingedenk dem (heute überholten) Gebot seiner Kung FuAhnen, das da lautete: «Zeige der Öffentlichkeit nicht, daß du Wing Tsun Kuen beherrschst l»
Wong Wah Bö und Leung Yee Tei
Hätte Leung Lan Kwai sein Können niemals gezeigt, so hätte diese Geschichte des Wing Tsun Kuen wohl niemals geschrieben werden können. So aber geschah es durch glückliche Umstände, daß er sein Wissen an Wong Wah Bö weitergab, einen Schauspieler, der eine Heldenrolle in einer Operntruppe spielte. Damals nannte man alle Opern Truppen-Schauspieler »Jünger der Roten Dschunke«. Wong Wah Bö war solch ein Jünger der Roten Dschunke, als er von Leung Lan Kwai als Schüler angenommen wurde. Leung Lan Kwai hatte ursprünglich niemals jem and unterrichten wollen, aber Wong Wah Bös aufrechter Cha rakter und sein Gerechtigkeitssinn stimmten ihn um, so daß ihn Leung Lan Kwai als Schüler akzeptierte. Es war damals üblich, daß die meisten Jünger der »Roten Dschunke« etwas von der Kampfkunst vers tanden. Bei ihren Vorführungen mußten sie dicke Schminke auf ihre Gesichter auftragen, so daß sie nicht zu erkennen waren. Das war auch der Grund dafür, daß sich viele Anhänger des Shaolin-Klosters als »Jünger der Roten Dschunke« tarnten und so ihre wahre Identität vor der Manchu -Regierung geheimhielten. Ein gutes Beispiel dafür war der buddhisti sche Meister Chi Shin, einer der fünf Älteren des Shaolin Klosters. Meister Chi Shin, der der Belagerung des Shaolin Klosters entkommen war, hatte sich als Koch d er »Roten Dschunke« getarnt, um nicht verhaftet zu werden. Aber es war schwierig, Geheimnisse zu bewahren. Früher oder später offenbarte sich fast jeder einem Menschen, dem er vertrauen zu können glaubte. Meister Chi Shin war keine Ausnahme. Er vertraute sich schließlich mehreren »Jüngern der Roten Dschunke« an, die großen Gerechtigkeits sinn besaßen. Sie verrieten den »steckbrieflich gesuchten Verbrecher« nicht an die Regierung. Im Gegenteil! Sie schützten ihn mehrfach erfolgreich in gefährlichen Situatio nen, denn als rechtschaffene Menschen haßten sie die Manchu-Regierung und arbeiteten im geheimen an ihrem Sturz, indem sie geheime Vereinigungen gründeten, die Aktionen gegen die Manchu -Regierung unternahmen. So wurde Meister Chi Shin ihr Held. Er brachte ihnen die Kunst des Kämpfens bei, indem er sie im Shaolin -Kung-Fu unterwies, damit sie auf den bevorstehenden Kampf mit den Manchu-Soldaten vorbereitet waren. Unter Meister Chi Shins Schülern verdient Leung Yee Tei besondere Erwähnung. Er war nicht als Sc hauspieler, sondern als Seemann (engl. Poler) auf der »Roten Dschun ke«. Mit Hilfe einer langen Stange lenkte er die Dschunke. Von all den Techniken, die Meister Chi Shin demortstrierte, gefiel Leung Yee Tei deshalb die »Langstock-Technik« am meisten. Leung Yee Tei hatte doppeltes Glück: Meister Chi Shin war einer der seltenen Langstock-Experten, und er hielt Leung Yee Tei für würdig, diese Technik zu erlernen! Nun aber zurück zu Wong Wah Bö, der in der Schauspielertruppe der »Roten Dschunke« arbeitete, di e Leung Yee Tei mit seinem langen Ruder (engl. Pole) lenkte. Wong Wah Bö bewunderte Leung Yee Teis Langstock-Technik, und Leung Yee Tei wiederum bewunderte das waffenlose Wing-Tsun-Kung-Fu Wong Wah Bös. Sie konnten beide voneinander lernen und tauschten ihre Kenntnisse aus. Auf diese Weise wurde Leung Yee Tei ein Mitglied der Wing -Tsun-Familie und das Wing -TsunSystem hatte nunmehr zusätzlich zu seiner Doppelmesser Methode (Bart-Cham-Dao) auch noch eine weitere WaffenBewegungsfolge aufgenommen: die »6 1/2 PunktLangstock-Technik«. Als Wong Wah Bö und Leung Yee Tei einander halfen, die Technik des anderen zu erlernen, stellten sie fest, daß sie ihre eigene Technik mit Hilfe der Technik des anderen ergänzen und verbessern konnten. Zum Beispiel konnten sie die ursprüngliche Langstocktechnik verbessern, indem sie es den genialen WT -Prinzipien unterwarfen. Unter anderem übernahmen sie für den Lang stock die Wing-Tsun-Trainingsmethode der Arme »Chi Sau« (Klebende Arme), so daß die neue Langstock -Übung »Chi-K w u n « erschaffen wurde. Außerdem machten sie die Technik wirksamer, indem sie den Langstock weniger breit 14 faßten und die Schritt-Technik des waffenlosen Wing Tsun übernahmen.
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