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Flucht und Trauma

Einblicke und Lichtblicke in der Trauma- und Opferberatung des Seehaus Leonberg e.V.

Von Susanne Abrell

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•Es ist scheinbar ruhiger geworden um das Thema „Geflüchtete in Deutschland“. Stellen für Sozialarbeiter*innen wurden gestrichen. Unterkünfte wurden geschlossen. In der Presse haben sich andere Themen nach vorne gedrängt. Aber da sind sie noch, die Geflüchteten, sichtbar oder unsichtbar, depressiv oder fleißig, motiviert oder frustriert, vereinsamt und ohne Perspektive und Lebensmut oder mitten in Arbeit und voll im Leben. Oder irgendwas dazwischen. Drei Jahre Projektstelle Trauma- und Opferberatung im Seehaus e.V. Viele von ihnen haben wir kennengelernt in den letzten drei Jahren in der Trauma- und Opferberatung des Seehaus e.V., manche intensiv begleitet, manche nur ein, zweimal gesehen. Haben gestaunt über die Vielfalt an schweren Lebensgeschichten, sind mit eingetaucht in die Buntheit der unterschiedlichsten Kulturen und haben mit ausgehalten, was eigentlich nicht auszuhalten war. Ermöglicht wird dem Seehaus e.V. das durch die Finanzierung über „Aktion Mensch“ und dem „Deutschen Hilfswerk“.

Begleitung, Stabilisierung und Stressreduktion Eine Traumatisierung entsteht, wenn ein Mensch einer oder mehreren Situationen ausgesetzt ist, die seine Bewältigungsmöglichkeiten komplett überfordern. Wie können wir Menschen so begleiten, dass Vertrauen in die eigenen Kräfte, Vertrauen in andere Menschen, ja in die ganze Welt, wieder wachsen? Kleine Schritte dazu sind z.B. Übungen, die innere Anspannung reduzieren zu lernen, sind Atemübungen und Imaginationen, sind Distanzierungsübungen, die alle das Gefühl geben, wieder Herr im eigenen Körper zu sein und den Symptomen der Traumatisierung nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Das geht besonders gut auch in Gruppen. Meine Kollegin Petra Mack erzählt aus der Stabilisierungsgruppe für Dari sprechende Frauen in Kooperation mit dem Hoffnungshaus Bad Liebenzell:

Vierzehn Uhr ist frühestens halb drei Der Beginn war immer spannend. Um vierzehn Uhr sollte der Kurs starten, um halb drei waren nur zwei Frauen aus dem Hoffnungshaus da. WhatsApp-Nachrichten wurden geschickt, Anrufe getätigt. Wo waren die Frauen aus der Gemeinschaftsunterkunft, am Berg oben, die auch kommen wollten? Dann, es war schon 14:35 Uhr, wurde ein Kinderwagen gesichtet. Sie kamen! Auch in Zukunft immer erst um diese Zeit. Sarah Zinser, Leiterin im Hoffnungshaus und Petra Mack von der Trauma- und Opferberatungsstelle des Seehaus e.V. in Bad Liebenzell hatten den Kurs geplant und durchgeführt. Dass Sarah Zinser mit ihrer Familie drei Jahre in Afghanistan lebte, Dari sprach und die Kultur kannte, half dabei sehr. Die sechs Frauen, die sich jeden Dienstagnachmittag im Hoffnungshaus trafen, um sich mit dem Thema Trauma zu beschäftigen und um zu lernen, wie man mit den Folgen traumatischer Erfahrungen umgehen kann, kannten sich vorher nur teilweise. Alle waren als Geflüchtete auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland gekommen – aus Krieg und Verfolgung. Und alle waren sehr unterschiedlich. Jung und alt, Lehrerin und Analphabetin, kinderreich und kinderlos. Eines aber kannten alle: ständigen Stress, Panik schon bei geringen Anlässen, Schlafstörungen, Kopfschmerzattacken, Gefühlsausbrüche, die kaum zu kontrollieren sind. Die Liste der Traumafolgen war lang. Zu verstehen, woher alles kommt und dass man nicht verrückt ist, das half ihnen dann schon ein bisschen weiter. Aber auch Atem- und Körperübungen um sich selbst zu beruhigen zu erlernen und zu üben, fanden alle super. Dies geschah anhand einer Geschichte, in die die einzelnen Übungen eingebaut waren und es gab dabei, und auch sonst, viel zu lachen. Mit negativen Gedanken fertig zu werden und angstmachende Erinnerungen zu verpacken, stellte eine weitere Herausforderung dar. Ihre Vorstellungskraft war nötig. Auch Handarbeit und Kreativität waren gefragt, als es darum ging, ein Tagebuch für positive Gedanken oder einen Stressmesser zu basteln. In der Teepause fand ein reger Austausch statt und die zwei Kleinkinder, die auch mitgebracht wurden, sorgten zusätzlich für gute Laune. Den Abschluss des Kurses bildete eine Prüfung, in der jede noch einmal reflektieren konnte, was sie gelernt hatte und ein festliches Essen. Auch ein Zertifikat für die erfolgreiche Teilnahme hielt jede dann in den Händen. Das Schönste: Wir waren zu einer Gemeinschaft geworden, in der wir Sorgen und Nöte teilten und in der wir uns auf einer Ebene begegneten. Grenzen von Sprache und Kultur spielten keine Rolle mehr. Wir begegneten uns als Menschen, die sich mochten und gemeinsam feiern und lachen konnten. Dass es weitergeht, das war der Wunsch von allen, denn der Dienstagnachmittag war zu einem wichtigen Lichtblick in der Woche geworden. „Wenn du dienstags nach dem Kurs nachhause kommst, Mama, dann bist du immer so fröhlich.“ sagte das Kind einer Teilnehmerin.

Verrückt im Kopf Nicht alle Geflüchteten sind so offen für Angebote. Gelten doch in manchen ihrer Heimatländern Symptome der Seele oft als Hinweise auf eine psychische Krankheit, die deren Gesellschaft in den Kontext „verrückt im Kopf“ stellt. Das will keiner und keine sein – und schweigt deshalb. Erinnern wir uns: Auch in Deutschland hat es Jahrzehnte gedauert, bis traumatisierte Kriegsheimkehrer nicht als Schwächlinge belächelt, sondern mit Traumafolgestörungen als völlig normale Menschen ernst genommen wurden und schließlich angemessen beraten und behandelt werden konnten. Wer schweigt, versucht, irgendwie durchzukommen. Bei manchen geht das. Bei manchen nicht.

Traumata werden manchmal erst nach Jahren sichtbar Es gibt die Starken, die schweigen, die alles irgendwie hinkriegen. Wie Boris W. zum Beispiel, aus Weißrussland. Er ist mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnen hier. Niemandem mehr zu vertrauen, das hat er sich, der von Freunden verraten und dann verhaftet wurde, fest vorgenommen, und zunächst kommt er damit gut klar. Hat

den Deutschkurs gemacht, hat vor kurzem eine kleine Wohnung und sogar eine Arbeit gefunden. Doch schon bald fühlt er sich von seinen Kollegen hintergangen. Hört sie hinter seinem Rücken tuscheln. Sein Misstrauen wächst, wächst ins Unendliche, und er beginnt, Stimmen zu hören. Er schläft auf einmal schlecht, ist gereizt und gestresst, und es gibt einen handgreiflichen Streit mit einem Arbeitskollegen. Boris W. wird gekündigt. Zuhause hält er es nicht aus, auch da entsteht Streit – da ist der Weg zu häuslicher Gewalt nicht weit. Als seine Frau deswegen die Polizei ruft, erhält sie auch unsere Telefonnummer – und eine kurzfristig mögliche Beratung in der Trauma- und Opferberatung im Seehaus e.V. beginnt. Zunächst bei einer unserer Beraterinnen mit ihr: Wie kann ich mich und die Kinder schützen? Welche Vereinbarungen sind nötig und möglich? Wer kann mich unterstützen? Dann, bei einem unserer Berater, mit ihm: Wie ist es so weit gekommen? Was geschieht im Gehirn bei einer Traumatisierung? Wie kann ich meine Situation verbessern? Wo finde ich einen Arzt bzw. einen Platz für eine Traumatherapie? Wie kann ich bis dahin meine Symptome selbst regulieren, damit für die Familie keine Gefahr besteht, ja, wir miteinander sogar zu einem gelingenden Alltag zurückfinden? Beide lassen sich darauf ein, sind froh, erzählen zu können und Beistand und Begleitung zu erfahren. Die Situation verbessert sich für alle Beteiligten.

Hindernisse und Eigenverantwortung der Geflüchteten So ein Verlauf ist wünschenswert, aber nicht immer möglich. Termine werden abgesagt oder nicht wahrgenommen, wenn nach einer durchwachten Nacht das Aufstehen schwerfällt. Wenn die Kosten für die Anfahrt im Familienbudget vergleichsweise hoch sind. Wenn die Scham auf einmal übermächtig wird und sich ein zu Beratender wieder in sich zurückzieht, ohne sich anzuvertrauen. Dem gehen wir nach, soweit es geht, und wir arbeiten eng mit Netzwerkpartnern zusammen, die eigene Zugangswege zu Klient/ innen haben. Dennoch haben wir großen Respekt vor der Eigenständigkeit der zu Beratenden. Sie wissen am besten und sollen selbst entscheiden, ob und wann sie eine Beratung in Anspruch nehmen.

Die Vielfalt an Problemen überfordert die Ressourcen Soliana P. aus Eritrea ist nun seit vier Jahren in Deutschland. Sie hat selbst bei der Trauma- und Opferberatung im Seehaus Leonberg e.V. angerufen, anders als viele Geflüchtete, die über ihre Sozialarbeiter/ innen zu uns kommen. Sie hat drei kleine Kindern, eins davon behindert, und als sie das erste Mal anrief, sagte sie einfach: Es geht nicht mehr, ich brauche Hilfe! Neben traumatischen Erfahrungen im Heimatland und auf der Flucht sind jetzt erst einmal Lösungen für Kindergartenplatz und Förderschule gefragt, wenn Wartelisten lang und der Stress zuhause groß ist. Ihr Mann ist depressiv und sitzt wegen einer Beinverletzung im Rollstuhl. Er weint viel und braucht ebenfalls Zuwendung und Pflege. Erst als wir dazu helfen, dass sich hier vieles sortiert, die verschiedenen Netzwerkpartner und auch eine Ehrenamtliche aus dem AK Asyl an der richtigen Stelle ansetzen, lichtet sich die Flut an Problemen, und Soliana P. kann wieder durchatmen. Und sie hat Hoffnung geschöpft, dass sie damit bald auch Zeit und genug Kraft hat für den Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen. Sie beschließt, keine Therapie zu machen. Sie will das alles nicht mehr hervorholen. Mit großem Respekt für Ihre Entscheidung bieten wir ihr weitere Termine zur Stabilisierung und Ressourcenaktivierung an. Die beraterische Beziehung ist bereits jetzt von viel Vertrauen geprägt, und wir staunen, wie sich Soliana P. mit der Zeit zu einer energievollen Frau entwickelt, die ihre Ziele verfolgt. So kenne ich mich von früher, sagt sie.

Autorin Susanne Abrell, Sozialpädagogin, Systemische Supervisorin, EMDR-Traumatherapeutin Seehaus Leonberg e.V.

Sinn und Unsinn des Leidens

Gedanken zu einer traumasensiblen Theologie. Von PD Dr. med. Herbert Scheiblich

•Traumata sind neben Begriffen wie Hochsensibilität, Burn-out und Resilienz die aktuell meist gebrauchten Begriffe in der Psychotherapie. In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit drei Fragekomplexen:

[A] Was ist das biblische Äquivalent für

Trauma? [B] Die Theodizeefrage: Warum gibt es

Leid und Ungerechtigkeit in der Welt, wenn Gott allmächtig und allgütig ist? [C] Wie verhält sich ein Christ gerecht/ richtig im Umgang mit einem Trauma im Leben eines anderen?

Die nachfolgenden Gedanken differenzieren nicht zwischen den unterschiedlichen Formen von Traumata und existenziellen Fragen, sondern zur besseren Darstellung wird von Leid als Synonym für dieses Thema gesprochen. Dabei sind alle Formen auch der Gewaltanwendung und der Erfahrung des Bösen/Dämonischen implizit gemeint. Die hier benutzte Definition von Leid ist die Erfahrung einer nicht nur existenziellen, sondern fundamentalen Krise des bisherigen Lebensvollzugs, eine Erschütterung und Auflösung des Selbstkonzeptes und die Erkenntnis der Ohnmacht, keine Bewältigungsstrategien zu haben.

[A] „Trauma“ in der Bibel Die Bibel ist ein Buch voller Berichte von traumatischen Erlebnissen, Trennungen, Verlusten und anderen menschlichen Tragödien. Das herausragende Trauma ist hierbei der Kreuzestod Jesu, das in seiner Universalität die Grundlage einer traumasensiblen Theologie ist. Dieser Horizont kann im Umgang mit traumatisierten Menschen im Rahmen eines mehrdimensionalen Behandlungskonzeptes nicht genug zur Geltung gebracht werden. Die heutige Definition von Trauma(ta) ist jedoch nicht eins zu eins mit biblischen Grundbegriffen gleich zu setzen. „Trauma“ wird umschrieben mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Begriffen wie Mitleid, Scham, Trübsal, Krankheit, Tod, etc. (vgl. Abb. 1) Biblische Grundbegriffe zum Verwendung biblischer Themenkomplex „Trauma“ Texte im Umgang mit „Traumatisierten“ Leid: Hiob 29,25 (awbale: Trauriger, der Leid trägt); Psalm Biblische Geschichten sind 105,15 (rawah: traurig sein); Mt. 9,15 (pantheo: wehklagen); wegen ihrer fundamentaApg. 25,10 (akideo: jemandem Unrecht tun); Phil. 3,10; Kol. 1,24; 2. Tim.3,11; 1. Petr. 1,11 (panthema: Leid) len Bedeutung narrativ im Umgang mit traumatisierten Leiden: Mt. 16,21; Off. 2,10 (pascho: ertragen); Apg. 7,34 Menschen einzusetzen. Sie (kakosis: Misshandlung); Röm. 8,17 (sympascho) helfen, Worte zu finden für Schande/Scham: Mt. 1,19 (paradeigmatzio: öffentlich das, was sprachlich nicht auszur Schau gestellt); Röm. 1,17 (aschemosyne: Scham); 1. Kor. 6,5 (entrope: Beschämung); 2. Kor 4,2 (aischyne: Schande) drucksfähig ist und das Unfassbare des Leids vermittlungs- Trübsal/Bedrängnis: Hiob 36,15 (lachats: Angst, Jammer, fähig zu machen. Für diesen Qual); Mt. 24,9; 2. Kor. 1,4 ; Jak. 1,27 (thlipsis: Bedrängnis); Gebrauch ragt wiederum das Joh. 16,33 (thipsis: Angst) Buch Hiob heraus. Krankheit/Schwäche: Hiob 6,10 (kheel: Angst, Qual); Mt. 4,23 (malakia: Weichheit); Joh. 11,4 (astheneia: Schwäche), Bei dem Einsatz der Bibel ist es aber auch Schwachheit, so in 2. Kor. 11,30 „Mangel an …“ wichtig zwischen den folgenden Ebenen zu differenzieren: Abb. 1 • biblisch: Wort gebunden • theologisch: Interpretation der Bibel in Verbindung mit Philosophie und anderen Wissenschaften Diese klassische Frage der christlichen Theo• christlich: aus der Tradition der Chris- logie nach der Rechtfertigung/Gerechtigkeit tenheit und den aktuellen Ritualen Gottes ist heute aktueller als je zuvor; nicht nur auf dem Hintergrund des Holocaust, Diese Unterscheidung ist notwendig, um sondern auch der vielfältigen Ungerechtigkeine hermeneutischen Verwirrungen zu keiten, wie z.B. in Syrien und überall auf der schaffen und biblische Aussagen zu über- Welt. Diese Ungerechtigkeiten sind jedoch dehnen. Der Betroffene kann unter der nicht als eine Anklage gegenüber Gott zu Berücksichtigung dieser Ebenen seien eige- sehen, sondern eine Anklage an alle Mennen Sinn- und Bedeutungszusammenhang schen, wie wir mit dem anderen umgehen. entwerfen. Ein Beispiel: Etliche Christen erklären Leid [B] Theodizee – Wie kann Gott Leid und Traumata als eine Folge einer Kausal- und Ungerechtigkeit in der Welt und Wirkungsbeziehung: Wer in Sünde lebt zulassen, wenn er allmächtig, allund sie tut, für den ist Leid etc. eine Strafe wissend und allgütig ist? dafür. Jedes Leid habe seine Ursache und Der Begriff „Theodizee“ umfasst die Frage seinen Zweck! nach der Berechtigung/Rechtfertigung/ Gerechtigkeit Gottes. Diese Frage kommt Im Schatten dieser „logischen“ Rechtfer- bei fast jedem nach einem Trauma auf, also tigungen kamen religionskritische Fragen nach einem massiven Eingriff in seinen aktuauf und es entstanden verschiedene Ant- ellen psychosozialen Lebensbezug. Er/Sie wortversuche auf die Frage, wie das Leiden fragt psychologisch verständlicherweise: in der Welt mit der Vorstellung von einem Warum ich? Wozu? Weshalb? Was sind die allmächtigen, allgütigen und allwissenden Motive des*der Täter*in? Wo war/ist Gott? Gott zu vereinbaren sei. Er*Sie sucht Antworten und Erklärungen. Nach moderner theologischer Auffassung behandelt schon die Geschichte von Hiob Die Theologie versuchte im Rahmen der diese Fragestellung, wie es sein könne, dass Theodizee-Idee Antworten zu finden, dieses ein gerechter Gott dulde, dass einem guten Paradoxon des Theodizee aufzulösen. Hier Menschen Böses widerfahre. kurz gefasst die wichtigsten Lösungsansätze:

• „Das Auftreten von Leid und Bösem ist ein Mangel an Gutem“: Frühchristliche Kirchenlehrer wie Augustinus meinten, das Leid habe kein eigenständiges Sein, sondern nur ein Mangel an Gutem sei die Grundlage dafür. • „Wir leben in der besten aller möglichen Welten“: Leibnitz versuchte hiermit den Widerspruch philosophisch zu relativieren. • „Es ist eine Frage der Ethik“: Das Übel als Kontrast zum Guten leiste einen Beitrag zur Entwicklung einer moralischen Persönlichkeit. Leid gehöre also unerlässlich zum Bewusstwerden des Guten. Die Entscheidung des Willens für das Gute sei Voraussetzung für die Sittlichkeit.

Ein Einwand zur letzten Antwort: Es gibt aber Leiden, welches gar keinen Beitrag zur Förderung von Moral und Ethik leistet, wie z.B. der Tod unschuldiger Kinder. Wir leben in Europa in einer Welt der Bequemlichkeit und des Luxus in der es buchstäblich nichts gibt, was einer moralischen Entwicklung förderlich wäre. Diese Form des moralischen Wachstums mit Überwindung des Übels ist vielleicht nicht wichtig zur Beantwortung der theologischen Frage, sondern ist psychologisch wichtig. Auf diesem Hintergrund ist auch die Frage der Erziehung des Menschen zum Guten zu sehen. Die gesamte Bibel ist durchzogen von Hinweisen, dass Gott Menschen durch Leiden in eine engere Gemeinschaft mit ihm bringt/bringen will. Der Leidensweg von Hiob endet konsequent in dem Satz: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich gesehen“. (Hiob 42,5)

• Der stärkste Hinweis auf diese Transformation des Menschen findet sich in Römer 8,28: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen die nach seinem Ratschluss berufen sind.“ Es gibt noch weitere bekräftigende biblische Aussagen in diese Richtung. Aber die Einschränkung liegt in dem Nebensatz „nach seinem Ratschluss berufen sind“. Es sind somit anscheinend nicht alle Betroffenen und Traumatisierten gemeint. Aber in Verbindung mit Hebr. 12,5–7;10–11 und Röm. 5,2–12 hat jedes Leid und Übel den Sinn, zum rechten, menschlichen Verhalten anzuleiten.

• Diesen Gedanken der Züchtigung weiterverfolgend ist Übel/Leid nach Jakobus 1,21 eine Bewährungsprobe. Der Betroffene lernt Vertrauen in Gottes Handeln zu haben. Es ist nach Jakobus 5,10 eine Erprobung des Glaubens in Form einer Prüfung und nach 1. Korinther 10,13 eine Zurüstung für die Herrlichkeit. • Gemäß Lukas 13,4 ist Leid eine unabwendbar Folge des Menschseins in einer gefallenen Schöpfung und unabhängig von menschlichem Handeln und Maßnahmen. Es gehört ausstattungsmäßig zu unserem Leben. Die Frage nach dem Warum und Wozu ist daher nicht zu beantworten und somit überflüssig. • Leid ist Menschen an verschiedenen Stellen der biblischen Prophetie angekündigt und somit nicht zu verhindern. Es liegt ein Ratschluss Gottes vor. An dieser Stelle endet das menschliche Verständnis von Gottes Handeln.

Die Lösung der Theodizeefrage liegt auf zwei Ebenen: • dem Gottesbild • in der Person Jesus Christus

Das aktuelle allgemein verwendete Gottesbild ist streckenweise hochgradig renovierungsbedürftig besonders im Hinblick auf Gottes Logik gemäß Jesaja 55,8–9: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ Es ist eine Unverschämtheit, Gott und sein Handeln mit menschlicher Beschränktheit/Subjektivität zu beurteilen. Die Theodizeefrage ist deshalb eine fehlerhafte theologische Idee und ein Paradebeispiel der Vermengung von biblischen Aussagen mit philosophischen und psychologischen Ideen (Jes. 29,16). Ein prominenter Denkfehler ist: Gott will nur Gutes! Gott hat die Schöpfung auch mit Unheil erschaffen und nutzt dieses Gutes hervorzubringen. (Jes. 47,5; Am. 3,6; Ps. 119,91; Spr. 16,4; Röm. 11,8)

Die relationale Theologie geht Gott sei Dank von der Annahme aus, dass sich das psychosoziale Leben und die Spiritualität eines jeden Menschen, besonders von Christen, in der persönlichen Beziehung zur Trinität Gottes (Vater, Sohn und heiligem Geist), als dreifaches analoges/paralleles Beziehungsgeflecht von Selbst-, Welt-, und Gottesbild entfaltet. Leid ist daher von der Perspektive der Trinität zu bewerten. In dieser besonderen Beziehungssituation entfaltet sich die Subjektivität des Menschen und gibt Antwort auf seine Situation, besonders als Christ (siehe folgend im Text).

Das Leiden und die Auferstehung Christi hat für das Leid eines Opfers folgende Aspekte: • Die Passion Jesu ist allumfassend: ein Sieg des Lebens (1. Petr 3,18; Hebr. 2,9ff; 12,2) • Christus leidet mit uns (Hebr. 4,15) • Er hat sich den Menschen ausgeliefert und kann uns deshalb in allen Dingen verstehen (Mk. 9,31 u.a.) • Er erlitt/durchlitt ein Ausgeliefertsein, er war ohnmächtig (Mk. 15,34) • Er begründet den Gedanken des Leibes aller Christen: leidet ein Glied, leiden alle (1. Kor. 12,26)

Dem Leid und Kreuzestod von Christus ist auf der anderen Seite die Auferstehung gegenüber zu stellen: • Jesus errang den Sieg über den Tod (1. Kor 15,54–57) • Er siegte über die Welt (1. Joh. 5,4) • Er siegt auch in Ewigkeit (Off. 15,2) • Er ist Licht und Leben (Joh. 1,4) • Er ist die Auferstehung und das Leben (Joh. 11,25) • Er öffnete den Weg zu Gott (2. Tim. 1,10)

Die Realisierung dieses gewaltigen Hymnus über Christus führt uns zu folgender Frage.

Du bist von Gott geliebt, geachtet und wertvoll. Selbstannahme ist die Voraussetzung für Heilung.

[C] Wie verhält sich ein Christ gerecht/richtig im Umgang mit traumatischen Erlebnissen im Leben eines anderen? Die Behandlung von traumatisierten Menschen umfasst neben der körperlichen (wie Medikamente) und psychischen (wie Traumatherapie) Ebene auch die spirituellen und sozialen Bereiche des Betroffenen. Die nachfolgenden Artikel dieses Magazins führen zu diesen Ebenen im Rahmen des bio-psycho-sozial-spirituellen Modells Details aus.

Die Christlich-integrative Psychotherapie sieht die Spiritualität des Betroffenen als Ressource an und vermittelt dem Betroffenen folgende Grundeinstellungen: • Trauma ist immer ein individuelles Geschehen. Es benötigt daher ein individuelles Vorgehen in der geistlichen Bewertung. • Es erfordert ein unbedingtes Vertrauen zu Gott, dass er dem Ganzen einen Sinn und Bedeutungszusammenhang gibt. Die Suche nach kognitiven, rationalen Lösungen löst nicht die emotionalen Turbulenzen. • Gott hat einen Plan für den*die Betroffene*n als Credo: vgl. Jeremias 29,11 Er hat Gedanken des Friedens und nicht des Leidens über ihn*sie.

Die Beziehung zwischen Opfer und Therapeut*in ist gekennzeichnet von: • der Wahlfreiheit des*der Klient*in • einem gemeinsamen Gottes- und Menschenbild als Passung • der unbedingten Annahme und bedingungslosen Begleitung des*der Klient*in • Der optimistischen Lebenshaltung des Therapeuten gekennzeichnet von Glaube, Liebe, Hoffnung • Die Therapie braucht Zeit und Raum, damit der Heilige Geist wirken kann.

Die Christlich-integrative Psychotherapie ist von drei Leitlinien geprägt: Erste Leitlinie: Die Bearbeitung des Leids und der Erfahrung des*der Klient*in steht im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses: • Gefühle bearbeiten: Wut, Schmerz, Trauer und Angst sind wahrzunehmen, anzunehmen und in Beziehung mit der Liebes Gottes zu setzen. • Die Gefühle von Schuld, Scham und Schuldigkeit sind aufzulösen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt darauf, dass das Opfer keine Mitschuld trägt. • Der Ruf nach Gerechtigkeit und Rache ist konkret aufzulösen. • Das Selbstwertgefühl des Opfers ist zu stärken: Es ist von Gott geliebt, geachtet und wertvoll. Daher ist Selbstannahme Voraussetzung für Heilung. • Die Sinnfrage ist erst im Laufe des weiteren Heilungsprozesses zu stellen und ggf. zu beantworten.

Zweite Leitlinie: Wiederherstellung der Person durch: • ein neues Selbstkonzept, entwickelt auf dem Hintergrund eines neuen Lebensgefühls durch Christus. • Vergebung. Sie ist für das Opfer sehr schwer und vielleicht erst nach einer Therapie möglich. Ein weiterer Schritt in Richtung Vergebung/Versöhnung ist unter Umständen ein Austausch mit dem*der Täter*in nicht im Hinblick ihn*sie zu verstehen, sondern eine Einsicht in das Unrecht bei ihm*ihr zu bewirken. Die Vergebung braucht den richtigen Zeitpunkt und ist kein Willensakt. • Eine Vision entwickeln über das zukünftige Lebenskonzept und die schrittweise Umsetzung in der Realität.

Dritte Leitlinie: Verankerung des Opfers nicht nur in seiner Biografie und im Alltag, sondern auch in Christus durch: • Konzeptualisierung des Traumas in der Präsenz Gottes

• Die Grundhaltung der Dankbarkeit gegenüber Gott und das Loben seiner Gegenwart • Der Einsatz von christlichen Ritualen als Vergegenwärtigung Gottes, z.B. durch das Herzensgebet • die Entwicklung eines neuen Zeit-/ Raumgefühles im Hinblick auf die Ewigkeit Christliche Gemeinschaften und Kirchen kommen dem Auftrag der Diakonie, sich für die Schwachen und Bedürftigen einzusetzen nur unzureichend nach. Deshalb kann es nicht genug betont werden, dass eine christliche Gemeinschaft mit ihren sozialen Begegnungsmöglichkeiten ein Schonraum ist, in dem es dem Opfer möglich ist, zwei wesentliche Erfahrungen machen: – Er*Sie bekommt tätigen Beistand ohne

Vorbedingungen. Die Gemeindeglieder führen sich vor Augen: Gott hat keine anderen Hände als die unsrigen. – Er*Sie ist durch die Rituale in der

Gemeinde im Alltag verankert, als ein

Stück neue Normalität.

Zusammenfassend: Niemand ist vor Traumata geschützt. Jede*r Einzelne hat den existenziellen Fragen des Lebens nach Tod, Leid, Unfall, Krankheit, Erfahrung des Bösen seine persönliche Antwort zu geben. Dabei kann er*sie in Jesus den letzten Halt haben. Das Leid lässt sich dann evtl. auch nicht erklären, aber er kann darin bestehen.

Deshalb liegt in der Qualität der Beziehung des Gläubigen/Menschen zu seinem Gott und der Frage, welche Auswirkung dieses Gottvertrauen auf sein*ihr Leben haben kann, die Chance, ein gelingendes Leben trotz Leid zu entwickeln.

Autor PD Dr. med. Herbert Scheiblich ist Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychotherapie. Er ist in eigener Praxis tätig, zudem ist er Mitglied der de’ignis-Institutsleitung.

Zur Diskussion: Hier werden Beiträge veröffentlicht, die nicht in allen Punkten der Meinung des Redaktionsteams entsprechen müssen.

•Es gibt sie häufig, die traumatische Erfahrung, das schlimme Ereignis, die belastende Lebensphase, die tiefe Kränkung, der Missbrauch, der Unfall, die Naturkatastrophe oder ähnlich schlimme Erfahrungen. Sie dringen tief in das Bewusstsein, in die Erinnerung, in die Gedankenwelt, in das emotionale Erleben eines Menschen ein und werden zum zentralen Thema, so dass viele Lebensbereiche darauf fokussiert sind. Oft sind die Erinnerungen und Erlebnisse so furchtbar, dass der traumatisierte Mensch sie wegpacken, in eine Schublade legen, ja verdrängen muss, um weiterleben zu können. So schreibt der in der Türkei jahrelang inhaftiere Missionar Andrew Bronson über seine furchtbaren Erlebnisse im Gefängnis folgendes: Er habe all die bohrenden Fragen der vergangenen Monate im Geist in eine imaginäre Box verbannt und Gott die dazugehörenden Schlüssel übergeben. Wörtlich fährt er fort: „Gott hat die darin befindlichen Fragen bislang nicht beantwortet…“ (Idea Spektrum 25.02.2020 S. 24) Für sich selbst habe er in Vorbildern wie Paulus und anderen Märtyrern einen Umgang mit seinen Erlebnissen gefunden auch wenn wichtige Fragen, wie er selbst sagt, bis heute unbeantwortet seien.

Ja, traumatische Erlebnisse sind furchtbar und können das gesamte Leben belasten. Werden sie verdrängt und nicht aufgearbeitet, wirken sie oft im Verborgenen, erzeugen Alpträume, Angstzustände, rauben Kraft und Lebensenergie. Es ist wie Sigmund Freud in dem bekannten Vergleich zum Ausdruck bringt, der Wasserball, der ständig unter die Oberfläche gedrückt werden muss. Eindrücklich wurde mir das in folgender Situation verdeutlicht: Nach einem Vortrag auf einem Kongress kam eine ältere Frau auf mich zu und bedankte sich für meine Ausführungen. Ihr sei klar geworden, worunter sie leide und nie darüber sprechen konnte. Durch meine verständnisvollen Ausführungen sei sie nun ermutigt worden, zum ersten Mal darüber zu sprechen. Sie schilderte, wie sie in ihrer Kindheit von einem Nachbarn vergewaltigt wurde, während die Eltern auf dem Feld arbeiteten und sie allein zu Hause war. Von ihrer Not wollten die Eltern aus Furcht vor einem Skandal nichts wissen, und so blieb sie mit ihrer Not ein ganzes Leben lang allein. Immer wieder schluchzte sie: „Mein armer Mann, der hatte es so schwer, weil ich mich ihm nicht hingeben konnte. Mein armer Mann, er hatte es nicht leicht mit mir, aber er ist vor einiger Zeit gestorben. Jetzt ist es zu spät. Ach hätte ich doch schon früher mit jemandem darüber reden können.“ Oft hört man die Aussage: Trauma/Traumatisierung, wird hier nicht etwas aufgebauscht? Wie haben es die Leute mit ihren furchtbaren Kriegserlebnissen denn geschafft? Ich glaube, die äußere Not war so groß, dass die Frage, wie man überleben kann in Hunger, Kälte und Flucht im Vordergrund stand, so dass man keine andere Möglichkeit sah, als die Erlebnisse zu verdrängen, um überleben zu können. Existenzsicherung stand im Vordergrund. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Leid über das Erlittene keine Auswirkungen im seelischen Erleben hatte. Verdrängung führt oft zur emotionalen Erstarrung und mangelnder Empathiefähigkeit. Wenn man die eigenen Gefühle nicht zulassen kann, dann kann man sich für die Gefühle seiner Mitmenschen auch nicht öffnen. Die „Vaterlose Gesellschaft“ von der Alexander Mitscherlich schreibt, beinhaltet eben nicht nur den Verlust der Väter, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, sondern auch die emotionale Erstarrung derer, die ihre traumatisierenden Erlebnisse verdrängen, quasi „einfrieren“ mussten, um damit weiterleben zu können. Eine Traumatisierung ist furchtbar und wenn sie nicht verdrängt wird, was keine Lösung ist, fixiert sie den Menschen auf seine leidvollen, schmerzhaften Erfahrungen und nimmt ihn gefangen. Es sind jedoch nicht nur einzelne unerwartete Erlebnisse wie Missbrauch, Unfälle oder Naturkatastrophen, die traumatisierend wirken können, auch langanhaltende Lebensphasen, wie z.B. ein überforderndes leistungsorientiertes emotional kühles Elternhaus können eine traumatisierende Wirkung haben.

Was aber sagt die Bibel über dieses Thema? Den Begriff „Trauma“ finden wir in der Bibel natürlich nicht, weil er erst viel später geprägt wurde, wohl aber Menschen, die schlimme Erfahrungen gemacht haben. Wie sind sie damit umgegangen? Da ist z.B. Jakob. Ständig wurde er von seinem Vater Isaak gegenüber seinem Bruder Esau benachteiligt und nicht ernst genommen, dagegen von seiner Mutter verwöhnt (1. Mose 25,27). Dann, nach dem Betrug um den Segen des Vaters, der Bruch mit dem Elternhaus und die Flucht. Welch eine tragische Familiengeschichte. War Jakob traumatisiert? Wir wissen es nicht, aufgrund der Vorgeschichte wäre es aber möglich gewesen. Jedenfalls lässt Gott die Angelegenheit nicht auf sich beruhen. Jakob muss zurück in seine Heimat und Esau begegnen (1. Mose 32,10). Er muss sich seiner Vergangenheit stellen. Wie schwer ihm das fällt, sieht man am Vorabend der Begegnung mit Esau, als er aus Angst vor Esaus Rache seine Habe in zwei Kohorten aufteilt. Für den Fall, dass der eine Teil von Esau vernichtet würde, bliebe ihm noch der andere. Jakob ringt mit Gott. Gleicht die Aufarbeitung der Vergangenheit bei vielen Menschen nicht auch einem Ringen mit Gott? Warum ist dies oder das geschehen, warum hat Gott mir das zugemutet, mich nicht bewahrt etc.? So manche Lebensphase ist schwer in Einklang zu bringen mit der Vorstellung von Gott als liebevollem Vater. Auch Jakob ringt mit Gott wegen den Schatten seiner Vergangenheit. Aber er sagt: „Ich lass dich nicht, du segnest mich denn.“ So wird das Ringen mit Gott und die Verarbeitung seiner Vorgeschichte zu einem Segen für ihn und für andere. „Du sollst Israel heißen (Gottesstreiter), denn du hast mit Gott gerungen und bist Sieger geblieben“ (wörtlich: und hast überwältigt). Sieger bleiben im Ringen mit Gott über die Schatten der Vergangenheit bzw. die Vergangenheit überwältigen, statt von ihr überwältigt zu werden – vielleicht ein biblisches Modell für Traumatherapie? Sich mit Gottes Hilfe mit der Vergangenheit auseinandersetzen, wobei das subjektive Erleben Gott als Gegner erscheinen lässt.

Gott, warum hast du das zugelassen, warum denke nur an die Nacht mit den Löwen etc.) muss ich mich bis heute, bzw. wieder erneut oder bei den drei Freunden im Feuerofen – damit auseinandersetzen? Warum begegnet die Liste von Menschen mit traumatischen mir „mein Esau“ erneut und triggert mich Erlebnissen ließe sich noch lange fortsetwieder, wie oft denn noch? Wird auch mir zen. Gemeinsam ist ihnen ein wesentliches in meinem Ringen die Sonne wieder auf- Merkmal: Trotz traumatischer Erfahrungen gehen (1. Mose 32,32). Es ist nicht leicht, waren sie nicht traumatisiert. Auch bei viesich im Ringen mit schwerem Leid ein gutes len christlichen Märtyrern wird uns nichts Gottesbild zu bewahren und negative Got- von traumatischen Symptomen berichtet. tesbilder zu „besiegen“. War oder ist das fromme Verdrängung? tagelang ohne Unterbrechung zum Berg Oder gibt es eine Art von Glauben, der Gott bewahrt uns Elemente, Ressourcen, Perspektiven, spirituelle Erfahrungen oder etwas Ähnliches nicht vor unserer beinhaltet, die vor Traumatisierungen bewahren kann? Vergangenheit, Wie war das im Verhalten von Jesus? Er war aber er hilft uns verständnisvoll gegenüber Menschen, die versagt haben, aber hart gegenüber den fromüber sie hinaus- men Pharisäern, aber auch manchmal hart gegenüber seinen Jüngern. Man denke nur zuwachsen. an die Begebenheit auf dem See Genezareth, als ihr Boot am Sinken war und Jesus schlief. Ich denke in diesem Zusammenhang an Elia. ten Wellen, die Gischt wie Nadelstiche im Nach dem Stress der Konfrontation mit den Gesicht, das steigende Wasser im Boot, der Baals-Priestern auf dem Berg Karmel trifft aussichtslos erscheinende und verzweifelte ihn die Drohung Isebels unverhofft, und Kampf mit den entfesselten Naturgewalten, es folgt der psychische Zusammenbruch. die körperliche Anstrengung beim Rudern, Resignation, Erschöpfung, Wut … Depres- der Stress der Todesangst. Sie wecken Jesus, sion oder Traumatisierung? Wahrscheinlich und statt Trost bekommen sie noch einen beides! Gottes Therapie: Er lässt ihn erst Tadel: „Was seid ihr so furchtsam, Kleineinmal schlafen und sich austoben (er rennt gläubige?“ (Matthäus 8,26) Sturm, Inferno aus Wind, aufgepeitschHoreb: 1. Könige 19,8). Dann holt er ihn Ebenso Petrus, als er das Boot verlässt, tatliebevoll, empathisch ab im „Säuseln“ des sächlich eine Wegstrecke über das WasWindes, dann hört er sich geduldig seine ser geht, statt Lob für diesen Glaubensakt Wut und Resignation an und dann beauf- bekommt er Tadel, weil er es nicht zum guten tragt er ihn neu. Ende gebracht hat (Kleingläubiger, warum Sind das nicht Elemente der Verarbeitung zweifelst du? Matthäus 14,31). Die Liste schwieriger traumatisierender Lebenspha- ließe sich noch lange fortsetzen, wo Jesus sen: Toben (Frust ausagieren), Wut, Resi- statt zu trösten, eher herausfordert. Haben gnation, Trauer zulassen, Empathie und wir nicht häufig eine selektive Wahrnehmung Nähe als Schutzraum für Reifungs- und der biblischen Botschaft? Von GesetzlichVerarbeitungsprozesse? keit und Überforderung herkommend, schaffen wir jetzt einen süßlichen Jesus, Das Entscheidende im Rahmen einer Christ- der nur tröstet, nur lieb ist, nur die Seele lich-integrativen Psychotherapie ist jedoch heilt und darum besorgt ist, dass es uns gut die Gottesbegegnung. So war es bei Jakob, so geht? Ich will an dieser Stelle nicht falsch war es bei Elia, bei David, in dessen Leben verstanden werden. Wie anfangs ausgeführt: man ebenfalls traumatisierende Ereignisse Traumatisierte Menschen brauchen Schutz, finden kann, so war es bei Daniel (man Empathie und ein entspanntes, liebevolles Gottesbild, fachliche Hilfe in Form von Therapie und Zuwendung. Aber es gibt mittlerweile ein Heer von Menschen, die sich mit ihrer Traumatisierung identifiziert haben, die noch nach Jahren intensiver therapeutischer Bemühungen ihr Leid vor sich hertragen wie eine Monstranz, verbunden mit der mehr oder weniger unbewussten, aber doch artikulierten Forderung: „Wegen meiner schlimmen Vergangenheit muss meine Umgebung ständig Rücksicht auf mich nehmen.“ Sie sind oft nicht bereit, Schritte, die durchaus möglich wären zu tun, denn sie haben ja „eine so schlimme Vergangenheit, dass gar nichts mehr geht.“ Ja, es gibt Menschen, die aufgrund ihres ihnen zugefügten Leides für lange Zeit zu nichts mehr fähig sind und unser Verständnis und unsere Fürsorge brauchen. Es gibt aber auch diejenigen, die vielleicht verführt durch ein einseitiges therapeutisches Verständnis von Traumabehandlung eine Opfermentalität entwickelt haben, die sie unfähig macht, Schritte in eine angemessene und durchaus in ihren Möglichkeiten liegende Selbständigkeit zu wagen. Sagte nicht Jesus zu dem Gichtbrüchigen: „Nimm dein Bett und geh“ (Markus 2,9). Ich kenne mittlerweile eine ganze Reihe von Personen, die lieber liegenbleiben würden, um sich versorgen zu lassen. Wie gesagt: Die meisten Menschen mit Traumatisierungen brauchen unsere uneingeschränkte Unterstützung, aber es gibt immer mehr Personen, die sich mit ihrer psychischen Erkrankung, mit ihren Defiziten identifizieren und sich in einer therapeutischen Dauerschleife verfangen. Sie scheinen dann kein anderes Thema mehr zu haben, als ihrer Umwelt ständig zu vermitteln, was sie alles nicht können. Ja, wir haben es schon erlebt, dass Menschen, die erfolgreiche Schritte in ihrer Aufarbeitung der Vergangenheit und eine Entwicklung hin zur Verselbständigung durchlaufen haben, nach einem oder mehreren Aufenthalten in stationären Therapieeinrichtungen völlig regrediert zurückkommen, weil dort statt die Entwicklung zur Selbständigkeit zu fördern, zum X-ten Mal die alte leidvolle Lebensgeschichte aufgewärmt und statt Verselbständigung die besagte Opfermentalität gefördert wurde. Wenn die Beschäftigung

mit erlittenem Leid zum Dauerthema wird, verfehlt Therapie ihr eigentliches Ziel, nämlich dass der Patient über die Schrecken der Vergangenheit hinauswächst und die ihm möglichen Schritte zur Übernahme von Verantwortung für sein Leben unternimmt. Eigentlich eine Binsenweisheit, der jeder Therapeut sofort zustimmen würde. Für mich stellt sich jedoch die Frage: Warum gibt es so viele Menschen, die um ihr Leid herumtanzen, wie das Volk Israel um das goldene Kalb? Für sie stehen nicht Ressourcen und Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit im Vordergrund, sondern die übertriebene Forderung nach Schonraum und Bedürfnisbefriedigung. Wenn das erlittene Trauma zu einer Opferhaltung führt, besteht die Gefahr, dass die Patientenrolle zu einem Teil der Identität und Teil des Selbstkonzeptes wird. Es entwickelt sich dann eine defizit- statt ressourcenorientierte Lebensperspektive, die von therapeutischer Seite, bei allem empathischen Mitgefühl, nicht unterstützt werden sollte. Das erlittene Leid und die Vergangenheit darf nicht zum Dauerthema, ja zur Endlosschleife werden. In diesem Sinn äußert sich auch Dr. FrankThomas Bopp, der Chefarzt der Psychiatrie am Krankenhaus Sigmaringen: Ein Patient, der von der Behandlung Wunder erwartet und nicht an sich selbst arbeiten wolle, könne von der Psychotherapie keine Hilfe erwarten… „Ein Patient muss entscheiden, ob er das bekannte Unglück behalten oder in das unbekannte Glück vorstoßen möchte.“ (Schwäbische Zeitung 3. September 2020 Sigmaringen S. 13). Der Patient (der Leidende) sollte sich zum Facient (zum Handelnden) entwickeln, wie es ein Therapeut einmal treffend ausgedrückt hat. Es geht also um die richtige Balance zwischen schutzgebender Aufarbeitung und der Herausforderung einer Neuorientierung. Und da sind wir wieder bei Jesus. Er geht mit uns eine enge persönliche übernatürliche Beziehung, durch das Wirken des Heiligen Geistes, ein. Dieser Heilige Geist ist eine Quelle der Kraft und der Hoffnung: Er wirkt zutiefst heilend in Bezug auf die Wunden und Verletzungen der Vergangenheit. Auf diese Weise wird christliche Spiritualität zu einer Ressource im Rahmen der Christlich-integrativen Psychotherapie. Durch die Beziehung zu Christus entsteht ein übernatürlicher Schutz und Lebensraum, in dem Wiederherstellung und Heilung durch Hoffnung geschieht, in dem aber auch Herausforderung und neue Lebensperspektiven ihren Platz haben. Er ist der gute Hirte, der das verirrte Schaf sucht und es liebevoll auf seinen Schultern nach Hause trägt, so dass im Herzen des leidenden Menschen die Botschaft entstehen kann: „Und müsste ich wandern im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23,4). Dies beinhaltet die Entwicklung zu einer neuen Identität, nämlich das Aufgeben der Looser-Mentalität hin zu dieser Neuen Schöpfung in Christus, die von Hoffnung geprägt ist, von der das ganze Neue Testament spricht. Dadurch wird es möglich, im Rahmen einer geistlichen Entwicklung und therapeutisch begleiteten Aufarbeitung „zu vergessen, was dahinten ist und sich auszustrecken nach dem was vorne ist“ (Philipper 3,13). Möglich wird dies auch durch eine Berührung mit dem Heiligen Geist. Obwohl die Jünger nach der Auferstehung Jesus von Angesicht zu Angesicht begegnet waren, schlossen sie die Türen aus Angst, sie könnten das gleiche Schicksal erleiden wie Jesus. Erst die Erfüllung mit dem Heiligen Geist an Pfingsten bewirkte, dass sie über die traumatischen Eindrücke, als sie Jesus bei seinem grauenhaften Sterben am Kreuz zusehen mussten, hinwegkamen und ihre Angst bewältigten. Ihre Angst wich und es entstand eine übernatürliche Kühnheit und mutige Freude, mit der sie das Evangelium verkündigten. Auch dieses Beispiel zeigt, wie die verändernde Kraft des Heiligen Geistes zu einer therapeutisch wertvollen Ressource bei der Traumaverarbeitung werden kann. Autor Winfried Hahn ist Pastor und Pädagoge. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern studierte Pädagogik, war Pastor in mehreren freikirchlichen Gemeinden und machte eine Ausbildung zum christlichen Therapeuten. Heute leitet er das de’ignis-Wohnheim – Haus Tabor zur außerklinischen psychiatrischen Betreuung und ist Vorsitzender der de’ignisStiftung Polen. Er ist verantwortlich für den Fachbereich Theologie am de’ignisInstitut. Als Pastor im übergemeindlichen Dienst und Buchautor hält er Predigten, Vorträge und Seminare im In- und Ausland.

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