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Der Vergebungsprozess

Vergebung ist ein zentrales Thema im christlichen Glauben. Das Kreuz als wichtigstes Symbol des Christentums, lässt dies schon erkennen. Doch wie genau sieht der Prozess der Vergebung aus? Was sagt die Bibel zu diesem Thema?

Von Michael Appel

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Forgiveness, 1908–1909 von Carl Vilhelm Meyer (Öl auf Leinwand)

•Alle Vergebung basiert auf der Grundlage der Vergebung Gottes, welche durch den Glauben an Jesus Christus wirksam wird. Das Sterben Jesu am Kreuz ermöglicht erst diese Vergebung. Diese Vergebung bezieht sich nun nicht nur auf die vertikale Ebene, also von Gott zu Mensch, sondern auch auf die horizontale Ebene, also von Mensch zu Mensch. Das Neue Testament fordert darum auf, sich gegenseitig zu vergeben. Dies wird im Vaterunser deutlich: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ (Mt. 6,12). Auch der Apostel Paulus fordert die Christen in Ephesus auf, einander zu vergeben (Eph. 4,32). Wie alle geistlichen Dinge, zum Beispiel Bekehrung und innere Heilung, ist auch die Vergebung ein Prozess, in dem man verschiedene Stadien durchläuft. Die meisten Menschen, die verletzt werden, können nicht sofort vergeben, sondern brauchen Zeit dafür. Bei schweren Traumatisierungen, wie zum Beispiel langjährigem Missbrauch oder Kriegserfahrungen, kann dies Monate bis Jahre dauern. Vergebung ist nicht einfach und fordert uns heraus. Auch Gott hat einen hohen Preis für die Vergebung der Menschheit bezahlt: sein Sohn Jesus Christus hat am Kreuz dafür gelitten. Wie bei jeder Veränderung braucht es auch beim Vergebungsprozess einen ersten Schritt und dieser ist oft schwer. Der nachfolgend beschriebene Ablauf, soll ein Hilfsmittel sein, Menschen auf diesem Weg zu begleiten. Theologische Grundlagen Als Grundlage für Vergebung dient das Gleichnis des „Unbarmherzigen Schuldners“ bzw. „Schalksknechts“ in Matthäus ja alles zurückzahlen. Da bekam der Herr Mitleid, er gab ihn frei und erließ ihm auch noch die ganze Schuld. Kaum draußen, traf dieser Mann auf einen Kollegen, der ihm einen geringen Betrag schuldete. Den packte er an der Kehle, würgte ihn und sagte: Gib zurück, was du mir schuldest! Der Schuldner fiel auf die Knie und bettelte: Hab Geduld mit mir! Ich will es dir ja zurückgeben! Aber sein Gläubiger wollte nichts davon hören, sondern ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld beglichen hätte. Als das seine anderen Kollegen sahen, konnten sie es nicht fassen. Sie liefen zu ihrem Herrn und erzählten ihm, was geschehen war. Er ließ den Mann kommen und sagte: Was bist du für ein böser Mensch! Ich habe dir die ganze Schuld erlassen, weil du mich darum gebeten hast. Hättest du nicht auch Erbarmen haben können mit deinem Kollegen, so wie ich es mit dir gehabt habe? Dann übergab er ihn voller Zorn den Folterknechten zur Bestrafung, bis er die ganze Schuld zurückgezahlt haben würde. So wird euch mein Vater im Himmel auch behandeln, wenn ihr eurem Bruder oder eurer Schwester nicht von Herzen verzeiht.“ (Nach GNB) Jesus macht mit diesem Gleichnis die Wichtigkeit der gegenseitigen Vergebung deutlich. Außerdem dient die Anweisung des Apostel Paulus im Römerbrief 12,19 „Nehmt keine Rache, holt euch nicht selbst euer Recht, meine Lieben, sondern überlasst das Gericht Gott“ noch als weitere Basis für

die folgenden Überlegungen. 18, 21–35: „Jesus fuhr fort: Macht euch klar, was es bedeutet, dass Gott angefangen hat, seine Herrschaft aufzurichten! Er handelt dabei wie jener König, der mit seinen Verwaltern seine Güter abrechnen wollte. Gleich zu Beginn brachte man ihm einen Mann, der ihm einen Millionenbetrag schuldete. Da er nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn zu verkaufen, auch seine Frau und seine Kinder und seinen ganzen Besitz, und den Erlös für die Tilgung der Schulden zu verwenden. Aber der Schuldner warf sich vor ihm nieder und bat: Hab doch Geduld mit mir! Ich will dir

Ablauf des Vergebungsprozesses: Phase 1: Abrechnen So wie der König hier im Gleichnis mit seinen Knechten abrechnet, ist es notwendig im Vergebungsprozess mit den Angeklagten bzw. Schuldigen abzurechnen. Vergebung bedeutet nicht die Schuld unter den Teppich zu kehren oder zu verneinen. Sonst besteht die Gefahr, dass Verletzungen verdrängt werden und im Unterbewusstsein weiter brodeln. Die Folge kann sein, dass Menschen verbittern. Gott selber ignoriert Schuld nicht einfach, sondern sie muss beglichen werden. Anders ausgedrückt: Schuld/ Sünde sollte klar benannt werden. Dies hat oft eine befreiende Wirkung. Dabei ist es wichtig, zu klären, ob andere/weitere Dinge auch beim Patienten vorliegen, wie zum Beispiel: eigene Schuld, Übertragungen, eigene Verletztheit, Zwänge oder Versündigungswahn usw. In dieser ersten Phase gibt es aber auch eine Warnung: Es besteht die Gefahr in diesem Stadium stecken zu bleiben und dabei zu verbittern. Dies sollte der*die Seelsorger*in bzw. der*die Therapeut*in im Auge behalten.

Phase 2: Loslassen Wenn wir nun wissen, welche Schuld vorliegt, z.B. sexueller Missbrauch, Lügen oder Ehebruch usw. dann kommen wir zum Kern der Vergebungsarbeit. Normalerweise hätte nun der Schuldige die geeignete Strafe verdient. Statt das Urteil nun zu vollstrecken, wird dem Angeklagten die Schuld erlassen und es kommt zu einem Freispruch. Die Forderung nach Rache und Vergeltung wird fallen gelassen. Sehr oft bewirkt das Loslassen eine intrapsychische Entlastung und der Heilungsprozess wird unterstützt. Auch ist der*die Patient*in/Klient*in nicht mehr in der Opferhaltung, sondern wird aktiv. Durch dieses Loslassen wird geistliche Gebundenheit an den*die Täter*in gelöst und es kommt zu neuer Freiheit.

Phase 3: Übergeben Dies ist der letzte Aspekt bei der Vergebungsarbeit. Nach dem Römerbrief sollen wir Christen Gott das Richten und Strafen überlassen. Das heißt im Fall der Vergebungsarbeit, das Anliegen an Gott abzugeben. Gott sagt im Alten und Neuen Testament: „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.“ (Röm. 12,19) Gott wird die Schuldfrage gerecht und objektiv beurteilen. Das Delegieren an Gott befreit von Rachegedanken und ist hilfreich bei der Verarbeitung der Verletzungen. Gott der Herr wird Gerechtigkeit in Ewigkeit walten lassen. Dieser Ewigkeitsfaktor lässt die Schuld und die Verletzungen oft in einem anderen Licht erscheinen und hilft die Wunden heilen zu lassen.

Praktische Durchführung Wenn ich Patienten bei diesem Vergebungsprozess begleite, frage ich zuerst nach, ob sie das überhaupt wollen. Dann gebe ich ihnen

einen Vortrag zum Thema Vergebung und über den Vergebungsprozess zum Anhören mit. Danach dürfen sie einen Anklagebrief an den*die Täter*in schreiben. Im Anschluss wird dieser Brief in einer Stuhlarbeit vorgelesen. Der leere Stuhl gilt als Platzhalter für die Schuldige. Nach dem Vorlesen frage ich die Patientin, ob sie bereit ist, zu vergeben. Dies wird eigenständig vom Patienten im Gebet formuliert. Zum Schluss segne ich die Ratsuchende und stelle sie unter Gottes Segen und übergebe Gott die Angelegenheit. Danach wird der Anklagebrief geschreddert oder verbrannt.

Praxisbeispiele Herrn M. habe ich während seines Klinikaufenthaltes begleitet. Er wollte gerne seinem Vater vergeben, welcher ihn in der Kindheit sexuell missbraucht und geschlagen hatte. Er hatte schon im Gebet versucht, ihm zu vergeben, aber es blieb weiterhin ein wichtiges unerledigtes Thema für ihn. Er hatte seinen Vater aber noch nie konkret angeklagt. Während der Stuhlarbeit kam sehr viel Wut und Aggression hoch, welche er bisher verdrängt hatte. An den folgenden Tagen haben wir konkret mit seiner Wut gearbeitet. Dies erlebte er als sehr befreiend und auch andere psychische Probleme reduzierten sich. Ein zweites Beispiel ist Frau P. Sie konnte ihrem Ex-Ehemann einfach nicht vergeben, der sie über Jahre betrogen hatte. Sie schrieb einen zehnseitigen Anklagebrief, welchen sie über eine Stunde vorgelesen hat. All die Verletzungen und Schuld mal auszusprechen, war sehr hilfreich und entlastend für sie. Herr K. wollte gerne seinem christlichen Arbeitgeber vergeben, welcher ihn abserviert hatte, weil es zwischenmenschliche Konflikte gab. Er wusste aber nicht, wie er das genau machen sollte. Wir haben den kompletten Vergebungsprozess durchgearbeitet und den Anklagebrief gemeinsam geschreddert.

Vertiefende Aspekte zum Thema Vergebung Allgemeine Aspekte Für eine*n christliche*n Therapeut*in bzw. Seelsorger*in ist der Vergebungsprozess sehr wichtig, um besonders gläubige Patienten gut zu begleiten. Dieser Prozess ist sehr individuell und braucht Empathie, um zu erkennen, wo der*die Patient*in gerade steht und was wirklich dran ist. Die drei Phasen in der hier vorgestellten Vergebungsarbeit sollen ein Beispiel und Hilfsmittel sein. Eine einfache feste Struktur ist für viele Patienten nützlich und hilfreich. Neben dem geistlichen Aspekt ist der Vergebungsprozess auch für die psychische Gesundheit wichtig. Es hilft dem ganzen Menschen: Geist, Seele und Körper.

Vergebung und staatliche Gewalt Die Aufforderung, zu vergeben, ist an Christen gerichtet und nicht an Staaten. Laut dem Römerbrief Kapitel 13 ist der Staat dazu eingesetzt, das Böse einzudämmen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Wenn also jemand vor dem Staat/Gesetz schuldig wird, hat er auch die entsprechende Strafe verdient und muss diese tragen. Vergebung bedeutet also keine Schonung vor Strafverfolgung. Dies ist besonders in christlichen Kreisen wichtig, damit Vergehen nicht vertuscht, sondern angezeigt werden.

Vergebung und Gefühle Im Vergebungsprozess durchlaufen viele Menschen verschiedene Phasen von Gefühlszuständen, z.B. Verleugnung, Trauer, Wut und Resignation. Diese Gefühlsschwankungen sind normal und wichtig für eine gesunde Verarbeitung. Vergebung bedeutet auch nicht, wie oft fälschlicher Weise gesagt wird, dass alle negativen Gefühle weg sind. Dies kann natürlich passieren, ist aber kein objektives Kriterium. Vergebung ist kein 08/15 Schema, sondern läuft bei jedem anders ab, weil die Verletzungen und die Persönlichkeiten unterschiedlich sind. Heiliger Geist und Gnade Gottes Vergebung ist ein Geschenk Gottes. Diese Bereitschaft bewirkt der Heilige Geist in Menschen. Bei der Lösung von Schuld, sowie Heilung von Verletzungen ist der Geist Gottes am Wirken. Ohne das Eingreifen vom Heiligen Geist ist echte Vergebung nicht möglich. Deshalb können wir Vergebung auch nicht erzwingen. Aber wir können uns öffnen und Gott wirken lassen. Dies ist der aktive Part im Vergebungsprozess. Wir haben immer die Möglichkeit den Heiligen Geist einzuladen.

Vergebung und der Alte Mensch In der Bibel wird der „Alte Mensch“ als das „Widergöttliche“ im Menschen bezeichnet. Dieser „Alte Adam“ möchte keine Vergebung, sondern Rache und verletzen. Auch dieser Aspekt ist in der therapeutischen Arbeit zu berücksichtigen und ggf. anzusprechen. In diesem innerpsychischen Konflikt ist die alte christliche Frage berechtigt: Wem gebe ich Raum? Dem Heiligen Geist oder meinem alten Ego? Nur der Heilige Geist schafft die Überwindung unserer selbstsüchtigen Anteile (vgl. Röm. 8).

Wiedergutmachung Wiedergutmachung ist ein biblisches Prinzip (vgl. Gebote aus dem Alten Testament, Zachäus). Eine Wiedergutmachung ist oft hilfreich bei der Heilung von Verletzungen. Das Leid wird anerkannt und eine Entschädigung angestrebt. Dem*der Täter*in tut sein Verhalten leid und eine Entschädigung oder Entschuldigung wird gewährleistet. Er/ sie könnte aber auch eine Therapie bezahlen. Die Wiedergutmachung ist keine Voraussetzung für Vergebung. Wir haben die Aufforderung zu vergeben, auch wenn der Schuldige es nicht einsieht.

Detail des Gemäldes Abstieg vom Kreuz, 1435 von Rogier van der Weyden (Öl auf Leinwand)

Vergebung und Abgrenzung Einige Menschen wollen nicht vergeben, aus der Angst heraus, wieder verletzt zu werden. Vergebung bedeutet deshalb nicht, dass wir nie wieder verletzt werden, diese Gefahr besteht weiterhin. Ein*e Patient*in/ Klient*in hat aber das Recht auf Abgrenzung. Vergebung bedeutet auch nicht, dass jeder mit uns machen kann, was er will. Verletzte Menschen haben das Recht sich zu schützen.

Vergebung und Versöhnung Es gibt einen Unterschied zwischen Vergebung und Versöhnung. Vergebung ist, dass ich dem Betreffenden die Schuld nicht mehr anrechne. Versöhnung ist ein Neuanfang und Vergebung von beiden Seiten. Versöhnung ist oft wünschenswert, aber nicht immer möglich. Vergebung meinerseits ist jedoch immer möglich. Auch wenn Versöhnung erfolgt, ist ein ständiges Treffen nicht immer erstrebenswert z.B. bei starken Verletzungen.

Zusammenfassung Für mich ist Vergebung ein Geschenk Gottes. Gerade für eine*n Seelsorger*in ist der Vergebungsprozess ein wichtiges Instrument. Gegenüber säkularen Therapeut*innen ist der geistliche Aspekt der Vergebung ein Spezialgebiet des*der christlichen Therapeut*in und somit auch ein geistlicher Auftrag. Vergebung ist ein Prozess, der individuell verläuft. Anklagen, Loslassen und Übergeben sind wichtige Phasen. Kreative Elemente wie Anklagebrief, Stuhlarbeit und symbolisches Verbrennen des Briefes unterstützen diesen Prozess. Dabei fördern emotionale Reaktionen den Heilungsweg. Autor Michael Appel hat einen B.A. in ev. Theologie und ist Krankenpfleger in der de’ignis-Fachklinik

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