7 minute read
Erfahrungsbericht: Die Kontrolle zurückgewinnen
by de’ignis
Die Autorin ist der Redaktion bekannt.
Advertisement
•Aufgewachsen bin ich in einer „christlichen“ Familie. Nach außen hin schien alles wie eine „schöne heile Welt“, aber hinter verschlossener Tür gab es ein Geheimnis, von dem nicht mal mein Vater wusste. Während meiner gesamten Kindheit wurde ich von meiner Mutter verbal und körperlich missbraucht, gedemütigt, erniedrigt und in jeglicher Form als wertlos bezeichnet. Privatsphäre gab es für mich nicht. Aus ihrer Sicht war ich das „schwarze Schaf“ in der so weißen Familie. Wenn ich mich verletzt zeigte, war ich „zu sensibel“, wenn ich versuchte mich zu wehren war ich das „schwierige“ Kind, wenn ich etwas falsch machte wurde mir gesagt wie „dumm“ ich sei. Meine jüngere Schwester war die tolle, intelligente und wunderschöne Tochter. Das wurde mir immer wieder deutlich vermittelt.
Wenn ich „Trauma“ hörte, dachte ich, dass es sich um die Folgen eines schlimmen Moments oder einer Situation handelte. Tatsächlich war aber auch ich Opfer eines Traumas. Nicht ein Moment, nicht eine Situation, sondern jahrelanger verbaler und körperlicher Missbrauch beeinflussten mein Leben so stark, dass ich nicht fähig war als erwachsene Person richtig und gesund zu leben. Lange dachte ich, dass es normal sei und das Leben eben so ist. Ich dachte, dass es normal sei, sich mit verschiedenen Situationen schwer zu tun. Mir wurde irgendwann mal klar, dass meine Mutter nicht normal ist. Aber bis ich wirklich verstand, dass ich unter ihrem Einfluss litt, vergingen noch viele Jahre. Erst mit 35 Jahren hatte ich plötzlich den entscheidenden Moment, der mir klarmachte, dass mein Leben doch nicht normal war, dass meine Erfahrungen nicht ok waren und ich Hilfe brauchte.
Es war an einem schönen Sonntag im Mai, meine Eltern hatte mich, meine Familie und noch andere Verwandte zum Essen eingeladen. Anschließend gingen wir an einem Teich spazieren, wobei sich mein Sohn immer wieder von der Gruppe abnabelte und alleine ging. Er wirkte etwas anders als sonst, aber ich dachte, er brauchte einfach nur etwas Zeit für sich. Während des Nachmittags gab es, aus meiner Sicht, ein paar seltsame Momente zwischen meinen Kindern und meiner Mutter, aber ich vermutete, dass ich mir nur etwas einbildete. Später, als wir wieder zu Hause waren, brach mein Sohn in Tränen aus. Er erzählte mir wie sehr er sich von seiner Oma verletzt fühlte, wie er sich abgewiesen und deutlich benachteiligt (zu seiner Schwester) fühlte. Tröstend und ermutigend stand ich meinem Sohn zur Seite und nach dem er sich beruhigt hatte war das Thema für ihn erst einmal erledigt, doch mir ging sein Empfinden nicht mehr aus dem Kopf. Was mir an diesem Nachmittag aufgefallen war, war keine Einbildung. Meine Mutter hatte tatsächlich meinen Sohn abweisend behandelt und meine Tochter deutlich bevorzugt. Ich verstand nicht wie eine Oma ihre Enkel so behandeln konnte also begann ich im Internet nach Verhaltensmustern zu suchen um eine Erklärung zu finden, die das normalisieren könnte. In den folgenden Tagen kam es wie eine schreckliche Welle über mich, ein Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, als mir bewusst wurde, dass diese Situation genau dem entsprach, was ich als Kind durchgemacht hatte. Diese leise und unauffällige Abweisung die so sehr schmerzte, dieser Moment, wenn eine vertraute Person, von der man Liebe erwartet, einem plötzlich jegliche Grundlage für Liebe und Geborgenheit nimmt.
Immer weiter suchte ich nach Erklärungen, Beispielen von anderen und kam schließlich zu der Vermutung, dass meine Mutter wahrscheinlich eine Persönlichkeitsstörung hat. Auch wenn das nun all die schrecklichen Dinge erklärte, brachte das dennoch mehr und mehr die Erinnerungen aus meiner Vergangenheit hoch. Worte und Situationen von meiner Kindheit kamen in mein Gedächtnis, als wäre es gestern erst passiert. Plötzlich war der jahrelange, unterschwellige Schmerz real, er tat weh. Ich konnte nicht mehr klar denken und stand vor diesem riesigen Berg von schmerzlichen Erfahrungen und wusste nicht wie ich damit umgehen sollte.
Über Bekannte erfuhr ich von der de’ignisBeratungsstelle in Stuttgart und füllte sofort das Kontaktformular aus. Die drei Wochen bis zu meinem ersten Termin schienen mir wie eine Ewigkeit zu dauern. Als es dann endlich soweit war, kam eine Erleichterung über mich. Es fühlte sich an als würde mir jemand eine unglaublich schwere Last nehmen. Es dauerte fast zwei Jahre bis ich lernte anders zu denken und zu leben, aber dieser erste Termin gab mir das Gefühl, dass ich nicht mehr alleine durch das Ganze gehen muss und es jetzt jemanden gab, der mir zur Seite steht. In den folgenden zwei Jahren lernte ich erwachsen zu werden. Nach außen hin war ich das natürlich schon, verheiratet, zwei Kinder und selbstständig, aber innerlich war ich ein Kind, unsicher, verletzt, wütend und verängstigt.
Der erste Schritt bestand darin mir erst einmal klar zu machen, dass ich erwachsen bin. Meine Mutter war auf derselben Ebene wie ich, nicht über mir. Sie konnte mich nicht mehr beherrschen. Ich hatte meine Mutter etwa drei Monate lange gemieden und hatte all meinen Mut zusammengefasst um mich mit ihr alleine zu treffen. Auf dem Weg zu dem Treffen redete ich mir die ganze Fahrt über ein „Ich bin erwachsen, ich kann das …“ Bei dem Treffen erzählte ich ihr alles was sich ereignet hatte und erklärte ihr auch, dass es so nicht weitergehen kann. Sie schien verständnisvoll und ich hatte Hoffnung, dass es besser werden könnte, aber leider waren das auch wieder nur leere Worte von ihr.
Mir wurde klar, dass meine Mutter sich nicht ändern würde, also musste ich mich und meine Beziehung zu ihr ändern. Unter keinen Umständen wollte ich, dass meine Kinder das erfahren mussten, was ich durchgemacht hatte. Also beschloss ich für mich und meine Familie Grenzen zu setzten. Grenzen, die eine Beziehung ermöglichten, aber dennoch mich und meine Kinder schützten. Das passte zwar meiner Mutter, die Kontrolle liebte, überhaupt nicht, aber sie hatte keine Wahl, als das zu nehmen was sie bekam.
In dem Heilungsprozess war für mich die wahrscheinlich eindrucksvollste, therapeutische Erfahrung, eine Imaginationsübung. Mit Hilfe meiner Therapeutin versetzte ich mich in eine, für mich damals schmerzhafte Situation. Ich schloss meine Augen und begab mich zurück in genau diesen Moment, ich sah mein „Kind-Ich“, meine Mutter und ich sah wie sie mir weh tat. Ich konnte als Erwachsene in diesen Moment eintreten, konnte meiner Mutter das sagen was ich damals aus Angst und Unsicherheit nicht sagen konnte. Ich war in der Lage meiner Mutter in dieser Übung meine Meinung zu sagen und konnte ihr klarmachen, dass es nicht ok ist, was sie da tut. Es gab mir Kraft, Mut und es stärkte mein Selbstbewusstsein, es nahm mir jegliche Angst vor ihr. Auch wenn das für mich ein sehr großer Schritt war und unglaublichen Wert trug, war es dennoch für mich noch bedeutender meinem Kind-Ich zu helfen. So konnte ich dem kleinen Mädchen Mut machen und ihr sagen, dass alles irgendwann gut werden würde, dass all diese Erfahrungen dazu beitragen würden, eine tiefe und unbeschreibliche Freude auszulösen. Diese Erfahrung gab mir Frieden und eine Sicherheit, die ich bis zu diesem Zeitpunkt so nie gespürt hatte. Dennoch musste ich auch an mir arbeiten um voran zu kommen. Diese Übung hatte mir mehr Sicherheit gegeben, aber anwenden musste ich diese selbst und oftmals aus meiner bequemen/gewohnten? und sicheren Welt hinaustreten. Ich musste lernen Konfliktsituationen direkt anzusprechen, statt sie zu ignorieren und in mich „hinein zu fressen“. Das verlief anfangs sehr holprig und ich machte noch einige Fehler. Mit der Zeit lernte ich jedoch mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen und meinen Standpunkt ohne einen Angriff zu vermitteln. Es kam der Tag, an dem ich fähig war, meiner Mutter klar zu sagen, dass sie keine Kontrolle mehr über mich hat, dass ihre Worte mich nicht mehr angreifen können, dass es mir egal ist ob sie sich „verletzt“ fühlt, bei dem Verlust dieser Kontrolle. Dieser Tag war bedeutend, befreiend und der Wendepunkt meines Lebens. Ich zitterte und war aufgeregt, aber dennoch ruhig als ich mit ihr sprach. Ich war bestimmend und klar in dem was ich sagte. Ab diesem Moment änderte sich alles. Es war der Schlüsselmoment, den ich gebraucht hatte. Meine Angst vor anderen Menschen war plötzlich verschwunden und meine Unsicherheiten in alltäglichen Situationen waren weg. Ich fühlte mich stark, sicher und mutig. Es gibt hin und wieder Momente in denen mein kindliches Denken und meine Unsicherheiten hochkommen, aber jetzt bin ich in der Lage diese zu erkennen und zu ändern. Heute beginne ich jeden Tag mit Freude, kann vor Menschen sprechen, fühle mich in meinem Alltag sicher und stark. Ich bin Gott so dankbar, dass er mich zu de’ignis geführt hat und ich dort eine Therapie machen konnte. Gott hat mich in dem Prozess in vielerlei Hinsicht geleitet und half mir ein völlig anderes und neues Leben zu führen, ein Leben von dem ich nicht mal
wusste, dass es für mich existieren kann.