T I T E LT H E M A
Mutig Tabus brechen Die Lehrerin Rugiatu Turay engagiert sich in Sierra Leone gegen weibliche Genitalverstümmelung. Schätzungen zufolge müssen 86 Prozent der Mädchen in dem westafrikanischen Land die brutale Praxis über sich ergehen lassen. Weltweit leben mehr als 200 Millionen Frauen mit den Folgen der Genitalverstümmelung. Text Julia van Leuven, DW-Redakteurin
Rugiatu Turay ist zwölf Jahre alt, als sie kurz nach dem Tod ihrer Mutter mit ihren drei Schwestern und einer Cousine zu einer Tante gebracht wird, angeblich für einen Besuch. Mit verbundenen Augen wurde sie in einen Raum gebracht, erinnert sich Turay. „Jemand setzte sich auf mich, und ich fühlte einen schneidenden Schmerz. Ich blutete stark und hätte fast mein Leben verloren. Eine Woche lang konnte ich nicht laufen.“ Weibliche Genitalverstümmelung ist in Sierra Leone Teil der Einführung in sogenannte „geheime Frauengemeinschaften“ oder Bondo-Gemeinschaften, die Mädchen auf Ehe und Mutterschaft vorbereiten. Junge Mädchen werden über die Initiationsriten vorab nicht aufgeklärt. Turay flüchtete während des Bürgerkriegs, der von 1991 bis 2002 im westafrikanischen Sierra Leone wütete, ins benachbarte Guinea. Im Flüchtlingslager Kaliya erlebte sie,
Sie setzt sich für alternative Übergangsriten ein, um die Tradition des Initiationsritus zu respektieren, jedoch ohne die traumatisierende Gewalterfahrung. Dazu geht sie vor allem auf die Soweis zu, jene älteren Frauen, die die Verstümmelung durchführen.
Die Kultur ist nicht wichtiger als das Leben der Frauen. dass Frauen, die kaum ihre Familie ernähren konnten, an den grausamen Riten festhielten. Ein Schlüsselerlebnis für Turay: „Wir liefen vor der Gewalt weg, die uns andere Menschen antaten, und jetzt fügen wir uns diese Gewalt selbst zu.“ 2003 beschloss sie, auf das Thema aufmerksam zu machen. Und gründete die Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM).
18 Weltzeit 1 | 2021
Die Frauenrechtsaktivistin Rugiatu Turay kämpft seit Jahrzehnten gegen Genitalverstümmelung. Bei ihrer Aufklärungsarbeit geht sie auch in entlegene Dörfer.
„Ich mache den Frauen klar, dass ich nicht ihre Gemeinschaft in Frage stellen will. Vielmehr geht es mir darum, ihre Werte und das Leben der Frauen zu schützen“, so Turay. „Die Kultur ist nicht wichtiger als das Leben der Frauen.“ Turay geht es um Aufklärung, Schutz und Betreuung von Mädchen, aber auch um die Vermittlung von neuen Perspektiven für diejenigen Frauen, die mit dieser Praxis ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Aktivistin bewertet auch die Arbeit mit Männern als entscheidend im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Unter Männern in Sierra Leone sei das bislang „kein Thema“. Dennoch kommt ihnen, so Turay, „eine Schlüsselrolle bei der Veränderung des Narrativs zum Schutz von Mädchen und Frauen zu, da sie die Entscheidungsträger sind.“ Ein langer Prozess, der auch von Drohungen begleitet wird. Ihrer Aufklärungsarbeit tut das keinen Abbruch. Ihre Stimme gegen Verstümmelung zu erheben, bedeutet für Turay auch, in die Konfrontation mit eigenen „traurigen und schmerzhaften Erinnerungen“ zu gehen. Doch sie habe Mut gefasst, sagt sie: für ihre jüngeren Schwestern und Freundinnen,