Zürich – Aufbruch einer Stadt

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qualität? Die Grundsteine dafür wurden bereits in den Jahren zwischen

dem Abbruch der Befestigungsmauern ab 1833 und der Eingemeindung

1893 gelegt. Fünf bebilderte Essays zeichnen nach, wie diese Pionier-

jahre zur politischen, wirtschaftlichen, städtebaulichen und kulturellen Öff­-

nung Zürichs beigetragen und den einmaligen Zürcher Geist geprägt haben. Den Band runden zwei Spaziergänge durch eine Stadt im Aufbruch ab: Der erste führt durch das Zürich der Türme und Schanzen im Jahr 1867, der zweite durch das heutige Zürich der Hochhäuser und Netzwerke.

Mit vielen erstmals veröffentlichten Fotos, Plänen, Stichen, Plakaten und Dokumenten. Umschlagbild vorne: Zürich, Paradeplatz um 1900. Baugeschichtliches Archiv Zürich. Umschlagbild hinten: Transport des Schraubenraddampfers «Speer» mit Pferden limmataufwärts in den Zürichsee. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv.

ZÜRICH – AUFBRUCH EINER STADT

Wie wurde Zürich zu einer weltoffenen Metropole mit einzigartiger Lebens-

AUFBRUCH EINER STADT Stadtzunft (Hg.)

Zürich ist eine Erfolgsgeschichte. Nach dem Abbruch der Befestigungsmauern ab 1833 bis zur Eingemeindung von 1893 wurden jene Grundsteine gelegt, die Zürich heute ausmachen. Die Stadt entwickelte sich zu einer weltoffenen, verkehrstechnisch gut erschlossenen Wirtschaftsmetropole mit einer einzigartigen Lebensqualität und renommierten Hochschulen. Das Buch befasst sich mit diesen Pionierjahren, die den einmaligen Zürcher Geist geprägt haben. In historischen Essays werden die Veränderungen der Stadt in Politik, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Stadtentwicklung betrachtet – zum einen anhand von bekannten und unerwarteten Persönlichkeiten, die der Stadt ihren Stempel aufgedrückt haben, zum anderen durch Anekdoten, Geschichten und Analysen, die den Wandel erzählerisch festhalten. Sie lassen das Zürich des 19. Jahrhunderts mit zum Teil erstmals veröffentlichten Fotos, Plänen, Stichen, Plakaten und Dokumenten lebendig werden. Mit Beiträgen von Marco Cereghetti, Andreas Honegger, Andreas Hugi, Pascal Ihle, Adi Kälin, Adrian Lemmenmeier, Helmut Meyer, Thomas Ribi, Daniel Speich Chassé und Tobias Straumann.

Stadtzunft (Hg.)

Die Stadtzunft Zürich wurde 1867 in der Zeit des Aufbruchs der Stadt Zürich als erste der Zünfte der «jüngeren Linie» gegründet. Den Gründern ging es darum, die zünftigen Traditionen hochzuhalten und insbesondere das Sechseläuten zu retten. Die Stadtzunft feiert 2017 ihr 150-Jahr-Jubiläum und schenkt der Stadt Zürich aus diesem Anlass diesen Bildband über die bewegte und wichtige Zeit um 1867.

NZZ Libro ISBN 978-3-03810-292-2

www.nzz-libro.ch

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Inhalt Marco Cereghetti Vorwort

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Andreas Hugi, Pascal Ihle Einleitung

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Andreas Honegger 1867: Das Zürich der Türme und Schanzen – 12 Ein Spaziergang durch eine Stadt im Aufbruch

Helmut Meyer Politik: Von der Kleinstadt zum liberalen Gross-Zürich 30

Thomas Ribi Kultur: Kunst ist mehr als ein blosses Vergnügen 80

Adrian Lemmenmeier, Tobias Straumann Wirtschaft: Mit Industrie, Geld und Schienen zum Motor der Schweiz 102

Daniel Speich Chassé Bildung: Eine Stadt der Wissenschaft 144

Adi Kälin Städtebau: Arnold Bürkli oder die Entdeckung des Mondänen 170 Pascal Ihle, Andreas Hugi 2017: Das Zürich der Hochhäuser und Netzwerke – 220 Ein Spaziergang durch eine Stadt im Aufbruch

Anhang Zeittafel 228 Autoren 232 Quellen und Literatur 232 Bildnachweis 237 Dank 239 Impressum 239

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Planvedute der Stadt Zürich von Johann Caspar Ulinger um 1738: Die schützenden Befestigungsmauern fallen rund hundert Jahre später, um Platz für Neues zu schaffen. Mit winzigen Alltags­szenen belebt der Zeichner das Stadtbild – er selber sitzt in der unteren rechten Ecke.

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1867 4

Die Limmat trennt die «Kleine Stadt» und die «Grosse Stadt», der Fröschengraben, bereits bräunlich eingezeichnet, fliesst offen anstelle der heutigen Bahnhofstrasse, beim «Neuen Markt» quert ihn ein breiter Übergang direkt vor dem Hotel Baur. Handgezeichneter Plan von Heinrich Keller, 1864.

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Andreas Honegger

Das Zürich der Türme und Schanzen – Ein Spaziergang durch eine Stadt im Aufbruch Das Gehen kann mühsam sein, besonders im fortgeschrittenen Alter und an einem warmen Frühsommertag. Was wir Menschen ständig auf unseren Beinen herum­ gehen! Wer sich Pferd und Kutsche nicht leisten kann, bewegt sich in der Welt auf Schusters Rappen. Zum Glück können wir jetzt ja immerhin grössere Strecken mit der Eisenbahn zurücklegen. Vor wenigen Jahren hat das noch als Utopie gegolten, aber nun sind überall die Dampfrösser aufgetaucht, und Zürich will nun einen grossen repräsentativen Bahnhof bauen. Schliesslich fährt die Eisenbahn ja nicht nur wie seit 20 Jahren nach Baden, sondern weit darüber hinaus nach Schaffhausen, an den Bodensee, nach Basel, ja, bis Genf. Und die sogenannte Hördöpfelbahn erschliesst auch Verbindungen innerhalb des Kantons von Oerlikon bis Bülach oder bis Dielsdorf. Ja, Zürich entwickelt sich schnell, und man nimmt den Fortschritt auf Schritt und Tritt wahr. In grösseren Städten soll es in den Strassen sogar Pferde-Omnibusse geben, die den Fussgängern die langen Strecken durch Matsch und «Rossbolle» ersparen. Seit die Cholera in diesem Jahr Zürich wieder mit Krankheit und Tod über­ zogen hat, sind allüberall Baustellen entstanden. Die Stadtväter wollen eine moder­ ne Kanalisation bauen. Stadtingenieur Bürkli hat ein in Paris erprobtes System eingeführt, bei dem der Unrat in Kübeln gesammelt werden soll und nur das Wasser durch die Kanalisation in die Limmat geführt wird. Die «Abtritt-Kübel» werden vom Abfuhrwesen abgeholt. Man kann sich kaum vorstellen, was für ein Komfort das bringen wird, stinkt doch die Stadt an warmen Tagen zum Himmel. Ja, all das geht einem durch den Kopf, wenn man gezwungen wird, von Baustelle zu Baustelle zu wandern. In Zürich ist wirklich die Bauwut ausgebrochen, und es fragt sich, ob die nicht fast mit gleichen Schrecknissen verbunden ist wie die Cholera. Bald wird die Stadt wohl gar nicht mehr wiederzuerkennen sein. Natürlich finden meine jüngeren Freunde, dass ich ein alter Jammeri sei, dem auch gar nichts passe an unserer mo­ dernen, schnelllebigen Zeit. Aber viele können es wie ich nicht verstehen, dass man nun das romantisch-idyllische Bild der Stadt aus Mittelalter und Barock zugunsten von grossen Strassen opfern will. Wo man hingeht, reden die Leute nur über ein Thema: Soll man wirklich alle Türme und Mauern schleifen und alle Bollwerke einebnen, wie sie das in Paris machen? Jeder ist jetzt ein Napoleon III., jeder will ein kleiner Haussmann sein! So viel haben wir schon verloren! Den Fröschengra­ ben haben sie schon zugeschüttet, um eine noble Bahnhofstrasse zu bauen. Aber das hat nicht viel gebracht, die neuen Häuser stehen verloren herum und die alten passen gar nicht mehr dazu. Dennoch plant man, die Strasse über den Söimärt, pardon den Neumarkt, … äh, ich meine den Paradeplatz, wie er nun neumodisch heisst, hinaus bis zum See zu verlängern und das Kratzquartier samt Turm einfach abzureissen. Vermutlich passt das Quartier halt nicht zur noblen Dépendance, die 13

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Die Rämistrasse wird gebaut: Der erste Bergdurchstich nach Beseitigung des Rämibollwerks führt zu einem schmalen Durchgang und wird im Sechseläutenumzug 1837 gefeiert. 50 Jahre später soll sie den Verkehr der neuen Quaibrücke zuführen und wird grossstädtisch erweitert. 21

Projektplan Rämistrasse mit skizzierter Quaibrücke, um 1880. 22

Rämistrasse mit der Kartoffelmarkthalle, vormals Viehmarkt, vor dem Umbau. 23

Verbreiterung und Umgestaltung während der Bauperiode 1885/1887. 24

Blick Richtung Pfauen mit Tram der «Zürichberg-Linie», um 1895.

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Thomas Ribi

Kultur Kunst ist mehr als ein blosses Vergnügen Ein schwieriges Erbe

Zürich um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Das war eine Stadt mit grosser kulturel­ ler Vergangenheit. Einer Vergangenheit allerdings, mit der die Zürcher selber nicht mehr so recht froh wurden. Natürlich, die begeisterten Urteile hallten noch nach, mit denen Geistesgrössen aus Deutschland die kleine Stadt an der Limmat einst bedacht hatten: Während man in Berlin kaum drei bis vier Leute von Geist treffe, fänden sich im kleinen Zürich mehr als 20 bis 30, hatte der Dichter Ewald von Kleist (1715 – 1759) dekretiert, und mit dieser Einschätzung war er zu seiner Zeit bei Weitem nicht allein gewesen. Das Zürich des 18. Jahrhunderts war europaweit bekannt als Stadt der Gelehrten und Literaten. Es stand im Ruf, ein Ort zu sein, wo Kunst, Literatur und Wissenschaft in ganz besonderer Weise gepflegt werden, und es galt als Hort der Aufklärung. Christoph Martin Wieland (1733–1813) hatte hier einige unbeschwerte Jugendjahre verbracht, von denen er sein Leben lang schwärmte. Eine Reise nach Zürich – und das hiess selbstverständlich ein Besuch bei Johann Caspar Lavater (1741–1801), Salomon Gessner (1730–1788), Johann Jakob Bodmer (1698–1783) oder Johann Heinrich Füssli (1741–1825) –, das ge­ hörte bis zum Ende des Jahrhunderts zur «éducation intellectuelle» eines jungen Deutschen von Stand. Goethe besuchte die Stadt mehr als einmal, und der Glanz von Zürichs Kunst- und Literaturszene strahlte weit über die Landesgrenzen hin­ aus. Um 1867 lag das allerdings bereits einige Jahrzehnte zurück. Die Werke, welche vormals berühmte Namen geschaffen hatten, waren von einer dicken Staub­ schicht überzogen. Bodmers skurrile Dramen las niemand mehr, Gessners Idyllen galten als kraftlose Belanglosigkeiten und Lavaters schwärmerische Erbauungs­ schriften lösten nur noch betretenes Schulterzucken aus. Und vor allem hatte die Münze auch eine Rückseite: Natürlich war das alte Zürich eine einmalige Kul­ turstadt gewesen. Zugleich aber auch ein kleiner, enger Stadtstaat, geprägt von Regiment, Zunftverfassung, pingeligen Sittenmandaten und einer strengen Zensur. Er hatte den klaren Auftrag gehabt, alles zu unterbinden, was die allgemeine Ruhe stört und die Sicherheit und den Wohlstand der Republik gefährdet. Und er nahm ihn ernst. Das hiess in erster Linie, dass er alles von den Bürgern fernzuhalten versuchte, was sich gegen die Dogmen von Kirche und Staat richtete: naturwissen­ schaftliche Erkenntnisse, die den Lehren der Heiligen Schrift widersprachen zum Beispiel – und politisch unliebsame Ansichten sowieso. Im liberalen Zürich des 19. Jahrhunderts hatte man damit abgeschlossen, endgültig. Der Mief des Stadtstaats war vertrieben, die bürgerliche Revolution hatte die politischen Verhältnisse grundlegend und dauerhaft verändert. Man hatte eine neue demokratische Verfassung, die Herrschaft der Stadt über die Landschaft war gebrochen und innerhalb der Stadt selber waren die Macht des Patriziats und die 80

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Privilegien der Zünfte beseitigt. Es galt Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, die Gerichte waren unabhängig, die Wirtschaft und das letztlich auf die Reformation zurückgehende Bildungswesen waren im Sinn des bürgerlichen Liberalismus neu organisiert worden. Und im Gegensatz zu Deutschland, wo die erhoffte liberale Erneuerung in blutigen Kämpfen niedergeschlagen worden war, war es in Zürich gelungen, die Revolution zu einem guten Ende zu führen. Darauf war man stolz, zu Recht. Aber das hiess auch, dass im Selbstverständ­ nis des neuen, liberalen Zürich all das keinen Platz mehr hatte, was man mit dem alten, kleinkarierten Stadtstaat in Verbindung bringen konnte. Die neue Zeit brauchte auch ein neues Kulturleben. Eines, das sich an den neuen bürgerlichen Lebensumständen orientierte. Kunst, Literatur und Musik sollten nicht mehr länger Privileg einer kleinen Gruppe von Aristokraten sein, sondern dem Bürger­ tum offenstehen – den Akademikern, den Beamten, den freiberuflich Tätigen und den Geschäftsleuten – der gebildeten Mittelschicht eben, die aus der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgegangen war. Nur, ein öffentliches Kulturleben gab es zunächst noch nicht. Wenn man im 18. Jahrhundert in Zürich Kunst und Kultur gepflegt hatte, war es im privaten Rahmen der besseren Gesellschaft geschehen, im kleinen Kreis von Gleichgesinn­ ten. Seit dem 17. Jahrhundert waren zahlreiche Kollegien entstanden – Debattier­ klubs, Salons und Gesellschaften, in denen man aufklärerisches Bildungsgut debat­ tierte, literarische und philosophische Neuerscheinungen las, eigene Texte vortrug und besprach, gemeinsam Bilder betrach­ tete und Konzerte veranstaltete. Das war ein schwieriges Erbe. Ein Erbe, das man nicht weiterführen konnte. Man wollte neue Institutionen für das kulturelle Leben schaffen. Denn es war eine Grundüberzeu­ gung des bürgerlichen Liberalismus, dass Kultur im weitesten Sinn, also Schulen, Universitäten, Museen, Kunst, Literatur, Musik und Theater dazu beitragen, Menschen mündiger, unabhängiger und freier zu machen. Kunst war im Verständnis des bürgerlichen Liberalismus mehr als ein blosses Vergnügen. Sie sollte nicht nur Freude machen, war nicht nur Schmuck und Zierde, sondern erfüllte einen gesellschaftlichen Zweck. Sie formte die Men­ schen und half ihnen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln – und sie trug damit letztlich auch dazu bei, sie zu Staatsbürgern zu machen, die sich der Verantwortung für sich selber und für die Gesellschaft bewusst sind. Dieses Kulturverständnis schloss nicht nur die im engeren Sinn kulturellen Disziplinen ein, sondern aus­ drücklich auch wissenschaftliche Tätigkeiten – in Zürich etwa im Rahmen der bereits 1746 gegründeten Naturforschenden Gesellschaft. Aber es umfasste auch und gerade das Singen im Chor, wie es von Hans Georg Nägeli (1773–1836) am Anfang des Jahrhunderts propagiert und mit Sängerfesten und Chorwettbewerben gefördert worden war. Singen wurde an den neu gegrün­ deten Volksschulen von Anfang an zum obligatorischen Unterrichtsfach erklärt. Im Zug der liberalen Schulreform nach 1830 erhielt der Singunterricht einen noch höheren Stellenwert. Dahinter stand die Überzeugung, über das Liedgut könne

Musik und Gesang als gesellige, Einheit stiftende Aktivität. 79

Mittagsangebot am Musikfest von «Bœuf à la mode» bis «Wirz mit kleinen Bratwürsten». 80

Fest-Karte für das Eidgenössische Sängerfest 1858 in Zürich. Motto über dem Wappen: «Freut Euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht».

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Hans Georg Nägeli (1773–1836), einstiger Verleger von Musiknoten (Musik Hug in Zürich geht auf ihn zurück), wird mit seinem Singinstitut zum eigentlichen Sängervater des schweizerischen Chorwesens und der Volksschule. Er schreibt ein breites Repertoire an Chormusik und musikpädagogischen Schriften.

eine Verbindung zwischen der Hochkultur und dem traditionellen Brauchtum geschlagen werden. Das gemeinsame Singen galt in gewisser Weise als eine Art Einübung in die praktische Demokratie. Singen konnte jeder. Dazu brauchte es keine grossen Vorbereitungen. Man musste sich keine teuren Instrumente anschaf­ fen, und es verband Menschen in einem auf Harmonie ausgerichteten gemeinsamen Tun. Gerade Zürich nahm im Schweizer Sängerwesen einen wichtigen Platz ein. Das erste kantonale Sängerfest wurde 1854 in Zürich ausgerichtet, die Feier wurde zu einer grossartig inszenierten patriotischen Manifestation. Zu mehreren Sänger­ festen steuerte Gottfried Keller (1819 – 1890) feierliche Gesänge bei. Im Singen verbanden sich mindestens zum Teil auch die fortschrittlichen mit den konserva­ tiven Kreisen. Die Konservativen gab es natürlich nach wie vor. Und das zeigte sich im Widerstand gegen die erste Kulturinstitution, deren Gründung kurz nach der Machtübernahme der Liberalen an die Hand genommen wurde: das Theater. Ein Platz für die «Kinder des Olymps» – Das Aktientheater Zürich und das Theater – das war nie eine innige Beziehung. Vielleicht bis heute nicht. Die politischen Querelen um die Schiffbau-Bühne und die Intendanz von Christoph Marthaler sind nur das letzte Kapitel einer langen Geschichte, in der die Bühnenkunst letztlich wohl mehr geduldet als geliebt wurde und sich immer gegen widrige Umstände durchsetzen musste. Eine eigentliche Theaterstadt wie Wien oder Berlin war und ist Zürich nicht. Aber nichts wäre falscher, als das reflexartig auf die Reformation zurückzuführen. Im Gegenteil. In der Reformationszeit wurde in Zürich erstmals in mehr oder weniger festem Rahmen Theater gespielt. In be­ scheidenem Rahmen, auf improvisierten Bühnen, aber doch mit einigem Anspruch. Immerhin komponierte Huldrych Zwingli (1484–1531) selber die Musik für die Chöre, als die Schüler des Carolinums 1530 den Plutos des Aristophanes aufführten. Aus der gleichen Zeit weiss man auch von den Schauspielen des aus Deutsch­ land zugewanderten Stadtarztes Jakob Ruf (1505–1558). Er verarbeitete vor allem biblische Stoffe und Erzählungen aus der römischen Geschichte zu Theaterstücken. Durchaus lebendig, frisch und burlesk – ohne dass die heute als strenge Sittenrich­ ter verschrienen Reformatoren Zwingli und Bullinger dagegen eingeschritten wären. Im Gegenteil, Heinrich Bullinger (1504 – 1575) schrieb selber mehrere Theaterstücke. Eines davon ist sogar erhalten: eine Dramatisierung der Geschichte von der Schändung der edlen Römerin Lucretia. Ob es je aufgeführt wurde, wissen wir allerdings nicht. Erst ein gutes Jahrhundert nach Zwingli wurde das Theater­ leben eingeschränkt, als auf der Synode von Dordrecht die orthodoxen Strömungen in der reformierten Kirche die Oberhand gewonnen hatten. Von da an wurde jede Theateraufführung streng überwacht und kontrolliert. Die Vorbehalte gegen das Schauspiel liessen sich während fast zweier Jahrhunderte nicht mehr überwinden. Theater, das hiess im Zürich des 17. und 18. Jahrhunderts Gastspiele durchrei­ sender Schauspielertruppen. Zum Teil bessere – oder auch schlechtere – Jahrmarkts­ darbietungen, Auftritte von Artisten und Zauberern, Marionettentheater, aber auch Vorführungen von dressierten Hunden oder Präsentationen von Ärzten, die wundersame Heilmethoden propagierten. Dazwischen gab es vereinzelt Besuche

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bedeutender Truppen, die den Zürchern zeigten, was grosse Schauspielkunst sein kann. 1758 etwa war das damals berühmte Ensemble von Konrad Ackermann (1712–1771) aus Königsberg zu Gast, wahrscheinlich mit Lessings Miss Sara Sampson im Gepäck. Die Vorführungen waren von der Obrigkeit allerdings bis ins Detail geregelt und reglementiert: von den Eintrittspreisen, die verlangt werden durften, bis zur Aufteilung der Einnahmen. Ein Drittel kam dem Almosen- und Spitalamt zugute, sodass die Stadtoberen ruhig schlafen konnten: Das Allotria beförderte wenigstens einen guten Zweck. Im Lauf des 18. Jahrhunderts kamen mehrmals durchaus renommierte Theatertruppen in die Stadt und machten die Bevölkerung mit Stücken von Lessing oder Gellert vertraut. Die Vorstellungen fanden meist in einem Militärlager der alten Schanze statt, das für die Dauer der Aufführungen geräumt wurde. In der Stadt selber, von Zürchern, wurde kein Theater gespielt. Johann Jakob Bodmers Trauerspiele kamen nie auf die Bühne. Und sie waren vom Autor auch gar nicht dafür gedacht. Staunen kann man darüber, dass nicht einmal Christoph Martin Wielands Shakespeare-Übersetzungen gespielt wurden – die zum Teil in Zürich entstanden waren. Das Vorurteil gegen die fri­vole dramatische Kunst sass tief. In deutschen Städten gehörte ein festes Theater längst zur üblichen öffent­ lichen Infrastruktur, als Zürich noch immer zurückstand. Und es dauerte seine Zeit, bis das aufgeholt wurde. Erst in den 1830er-Jahren gründeten rührige Herren eine Kommission mit dem Ziel, ein festes Theater zu bauen, wobei die Initiative inter­ essanterweise von einem Mann ausging, der als extrem konservativ galt: Johann Georg Bürkli (1793–1851), Oberstleutnant, Mitglied des Grossen Rats und frivoler Interessen gänzlich unverdächtig. Gemeinsam mit dem Papierfabrikanten und Buchhändler Leonhard Ziegler (1782–1854) gründete er 1830 eine Theaterkom­ mission, scharte ein paar so illustre wie würdige Bürger um sich und suchte nach einem geeigneten Lokal für sein Vorhaben. Ganz einfach war das nicht. Die Regie­ rung stand dem Ansinnen zwar wohlwollend gegenüber. Aber es formierte sich Opposition, und zwar vonseiten der Kirche. Der Antistes Georg Gessner (1765– 1843) liess Flugblätter verteilen, in denen er die Bürger bat, sich nicht an diesem Projekt zu beteiligen. Ein Theater, befand er, schicke sich nicht für eine Stadt wie Zürich, die als Mutter lauterer Religiosität gelte. Bescheiden und sittenrein, so müsse Zürich bleiben. Es gebe Wichtigeres, als dass man an ein Theater denke. Sein Ruf verhallte vielleicht nicht ganz ungehört, doch im liberalen Zürich hatte die Kirche ihre beherrschende Position verloren, und auch in der Nachfolge Zwinglis konnte Gessner nicht verhindern, dass sich Interessierte fanden. Es muss­ te allerdings noch einige Zeit ins Land gehen. Im Dezember 1833 fand im Zunfthaus zur Meisen die erste Generalversammlung der Theatergesellschaft statt, und Bürkli stellte befriedigt fest, «die Kinder des Olymps» würden bald nicht mehr in Bret­ terbuden verbannt ihre Kunst ausüben müssen. Auch ein geeigneter Ort wurde gefunden. Ausgerechnet eine Kirche! Die ehemalige Kirche des Barfüsserklosters am Neumarkt, die schon in der Reformationszeit geräumt worden war und seit Jahrzehnten als Getreidespeicher genutzt wurde. Ein Ort mit Geschichte jedenfalls – 1336 war genau an dieser Stelle die Brun’sche Zunftverfassung mit einem feier­ lichen Schwur beschlossen worden. Mit wenigen Umbauten baute man das Kir­ 83

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Die Aussersihler-Bahnviadukte werden zwischen 1891 und 1894 im weitgehend unverbauten Feld mit Durch­lässen für den Strassenverkehr gebaut. 103

Tausende von Arbeitern, die Mehrheit davon Italiener, bauen vor der Stadt an den Bögen der Bahnviadukte.

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Bauarbeit ist Schwerarbeit; im Hintergrund Fabrikareal Escher-Wyss. 105

Bau der Verzweigung in Letten- und Wipkinger-Viadukt, links Materialtransport via Bahnwagen. 106

Luftansicht auf das wachsende Industriequartier mit Bahngeleisen um 1898, vom Ballon aus fotografiert.

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Pascal Ihle, Andreas Hugi

Das Zürich der Hochhäuser und Netzwerke – Ein Spaziergang durch eine Stadt im Aufbruch Wir staunen. Am Rande der Stadt Zürich, umgeben von Wäldern, Feldern, Kühen und Bauernhöfen, entsteht die Zukunft. Der Hönggerberg präsentiert sich an diesem sonnigen Mittag als Idyll, eines dieser harmlosen, fast schon kitischigen Landschaftsbilder, welche die Moderne ausblenden – wären da nicht die imposan­ ten Gebäude der Science City der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Die Strassen, Wege und Plätze erinnern an grosse Forscher und Wissenschafter, die hier unterrichteten, an Albert Einstein (1879–1955), Wolfgang Pauli (1900–1958) oder Leopold Ružiˇcka (1887–1976). Sie haben an der ETH und der benachbarten Uni­ versität gewirkt, beide Hauptgebäude thronen noch heute wie die Akropolis des Wissens über der Zürcher Altstadt. Wir gehen in die Alumni Quattro Lounge, um uns zu stärken. Die Menüs werden in Gläsern aufgewärmt. «Ghackets und Hörnli» für uns – es hätte auch ein Mango Gericht oder Baked Potatos – und setzen uns neben Studierende und Dozie­ rende auf die grosse Terrasse des Hauptplatzes. An den Tischen wird italienisch, französisch, englisch, spanisch und deutsch gesprochen, über alles Mögliche, mehrheitlich über Studien­ arbeiten, Forschungsprojekte, Praktika und Jobs, aber auch über anstehende Partys. Die Stimmung ist friedlich, locker, international. Wir könnten genauso gut auf einem Campus in Kalifornien, Grossbritannien oder Israel sein. Einzig der ge­ genüberliegende Coop und die blauen VBZ-Busse, welche den Hönggerberg mit dem Stadtzentrum verbinden, erinnern an die Limmatstadt. Wir kommen mit Studentinnen ins Gespräch. Sie erläu­ tern uns, zwei mittelalterlichen Stadtzürchern, voller Enthu­ siasmus ein neues Projekt, das für Schlagzeilen sorgte. Das benachbarte Institut für Technologie in der Architektur hat kürzlich ein neues Gebäude erstellt mit dem Namen «Arch_Tech_Lab». Das Besondere daran: Ein Roboter hat das 2300 Quadratmeter grosse Holzdach geplant und gebaut. Das Wunderwerk besteht aus 168 Trägern und 48 624 Holzelementen. Und dies ist nur eines der unzähligen Forschungsprojekte, die auf dem Hönggerberg entstehen. Welcome to the future! Die ETH und die Universität zählen beide weltweit zu den besten Hochschulen der Welt und sind wichtige Lokomotiven – sei es als Orte der Grundlagenforschung, des Wissens- und Technologietransfers oder der Ausbildung von hochqualifizierten Arbeitskräften, Denkern und Wissenschaftern. Wir kommen ins Sinnieren. Weshalb hat sich Zürich im Lauf der letzten 150 Jahre derart rasant entwickelt und nimmt in internationalen Vergleichsstudien je­ weils Spitzenplätze ein, so in der Wissenschaft, im wirtschaftlichen Umfeld, in der globalen Vernetzung, der Innovationskraft oder der Lebensqualität? Wieso verfügt

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Science City auf dem Hönggerberg.

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Sonja Lüthi, Pascal Ihle

Zeittafel

1831  Revision der Kantonsverfassung: Anerkennung der Volkssouveränität, Beschränkung der städtischen Vertreter im Grossen Rat auf einen Drittel der Sitze

Gräben werden beseitigt

1833

Beginn der Schleifung der Schanzen: Bollwerke, Wälle und

1833 1833    Eröffnung der Universität und der Kantonsschule   Aktientheater: erstes Theater in Zürich

1835 1836–1838  Erstes Dampfschiff «Minerva» auf dem Zürichsee   Bau der Münsterbrücke anstelle des hölzernen Stegs 1837 1837–1842  Gewerbefreiheit für das Zürcher Handwerk   Bau des Kantonsspitals

1838   Eröffnung Hotel Baur beim Parade-

1839 platz (1844 folgt die Dépendance Baur au Lac)   Züriputsch (Straussenhandel): Opposition konservativer Kreise gegen die Berufung des liberalen Theologen David Friedrich Strauss nach Zürich führt zum Sturz der liberalen Regierung

1839  Escher Wyss baut die erste Dampfmaschine

1844–1882  Wahl Alfred Eschers in den Kantonsrat: Beginn der Ära als Politiker und

Unternehmer (Polytechnikum, Kreditanstalt, Rentenanstalt, Gotthardbahn)

1847    Erster Bahnhof von Zürich für die Spanisch-Brötli-Bahn,

1848 der ersten schweizerischen Bahnlinie zwischen Baden und Zürich   Gründung des Bundesstaats und der neuen Bundesverfassung: repräsentative Demokratie

1849–1858    Richard Wagner lebt und arbeitet in Zürich

1855   Eröffnung des

Polytechnikums (Eidgenössisch-Technische Hochschule): Ausbildung von Ingenieuren zum Aufbau einer nationalen Infrastruktur;

1859 – 1864 Bau des Gebäudes nach Plänen von Gottfried Semper

der Mietdroschken

1855    Einführung der öffentlichen Gasbeleuchtung und

1856

Schweizerische Kreditanstalt, gegründet zur Finanzierung von Eisenbahnen;

1873 – 1877 Bau des Hauptsitzes am Paradeplatz durch Jakob Friedrich Wanner

und Rentenanstalt (heute Swiss Life)

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1857    Gründung der Schweizerischen Lebensversicherungs-

1860–1882  Arnold Bürkli gestaltet als Stadtingenieur die Stadt und ihre Infrastruktur neu:

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Seequais, Bahnhofstrasse, neue Quartiere und Brücken sowie Wasserversorgung, Kloakenreform, Abfuhrwesen und

Strassenbahn

1861–1876 1864/65    Der Schriftsteller Gottfried Keller ist Staatsschreiber in Zürich   Bau der Bahnhofstrasse (anstelle des

Fröschengrabens) zwischen Paradeplatz und Bahnhof

Jakob Friedrich Wanner

1865–1871  Neubau des heutigen Hauptbahnhofs durch

1865 1866    Benennung der Strassen und Plätze, Nummerierung der Häuser   Kantonales Gemeindegesetz:

Die Bürgergemeinde wird durch die politische Einwohnergemeinde ersetzt (die Bürger machen rund einen Fünftel der

Einwohner aus); Einführung von Wahlkreisen anstelle von Zünften; Wahl des Stadtrats durch die Gemeindeversammlung

1867

Gründung der Stadtzunft Zürich     als erste Frau an der Universität Zürich

1867

Die Russin Nadeschda Suslowa promoviert

1867    Cholera-Epidemie in Zürich und Umgebung: 771 Personen erkranken, 499 sterben

1867–1869  Sieg der demokratischen Oppositionspartei über das liberale System Alfred Eschers; Durchführung einer kantonalen Verfassungsrevision und Übergang zur reinen Demokratie mit direktdemokratischen Elementen

1868    Einführung der zentralen

Wasserversorgung: Wasserholen, Gemüserüsten und Fischputzen an Brunnen sowie Wäschewaschen am Fluss werden obsolet

1868 1870 1877–1880  Aufnahme des öffentlichen Telefonverkehrs   Gründung der Zürcher Kantonalbank   Bau der Börse an der Bahnhofstrasse 1882–1884  Bau der Quaibrücke

1882   Rösslitram: Strassenbahn mit 20 Wagen und 81 Pferden

1883 1887  Erste Schweizerische Landesausstellung in Zürich     Einweihung der Quaianlagen

1891   Seegfrörni

1891 1893  Eröffnung des Opernhauses, damals Stadttheater   Bau der alten Tonhalle am heutigen Standort 1893  Erste Stadterweiterung: Wollishofen, Enge, Leimbach, Wiedikon, Aussersihl, Wipkingen, Oberstrass, Unterstrass, Fluntern, Hottingen, Riesbach und Hirslanden gehören neu zur Stadt

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