INHALT R E I S E E TA P P E N 1
Zürich – Castiglion Fiorentino. Anreise: (Kl)eine Mond-
landung in Italien SE ITE 24 2 Castiglion Fiorentino – Bologna. Von Brunnen zu Brunnen: In Bruthitze über den Apennin SE ITE 42
3 Bologna – Bergamo. Flach, aber nie langweilig:
Über die Po-Ebene SE ITE 50 4 Bergamo – Monza. Oasen in der norditalienischen Industriezone SE ITE 70 5 Monza – Zürich.
II 2
Italien
4 IV V
3
Mit Stalldrang über die Alpen SE ITE 100 6 Zürich – Badenweiler.
III
Durch den Schwarzwald SE ITE 108 7 Badenweiler – Klein-
17
5
Schweiz
blittersdorf. Über die Vogesen an die Saar SE ITE 124 8 Klein
I
blittersdorf – Habay-la-Neuve. Immer der Kohle nach SE ITE 142
6
9
VI
Habay-la-Neuve – Liège. Über die märchenhaften Ardennen
SE ITE 160
10 Liège – Eindhoven. Als Kanalmatrose ins Land
VII
der Deiche SE ITE 178 11 Eindhoven – Oostende. Vom Wind zerzaust an die Nordseeküste SE ITE 194 12 Oostende – Canterbury. Der längste Tag: Über den Ärmelkanal SE ITE 202 13
Canterbury – London. Licht und Schatten rund um London
SE ITE 208
14 London – Frome. Mit Heckenblick durch Oxford-
und Wiltshire SE ITE 226 15 Frome – Le Havre. Am Wendepunkt: Zurück an die Südküste SE ITE 244 16 Le Havre – Dreux. Im Rauschen der Räder durch die Normandie SE ITE 250 17
Dreux – Basel. Endspurt: In drei Tagen nonstop nach Basel
SE ITE 266
7
8 VIII 9
Deutschland
Belgien
XI 10
11 X
Niederlande
Vorwort SE ITE 8 Einleitung. Der Rahmenbaukultur auf der Spur SE ITE 10 Epilog. Eine kleine Tourbilanz SE ITE 282
W E R K STAT T B E S U C H E
I
Fahrradbau Stolz. Stefan Bellini, Perfektionist unter der Ober
fläche SE ITE 14 I I Crisp Titanium. Darren Crisp, der suchende Stilist SE ITE 30 I I I Legend by Bertoletti. Marco Bertoletti, der stolze Patron SE ITE 58 IV Cicli Casati. Massimo und Luca Casati, Hüter des Familienerbes SE ITE 76 V Bixxis. Doriano und Frankreich
Martina De Rosa, die letzten Mohikaner SE ITE 88 VI Wiesmann Bikes. Florian Wiesmann, der Überzeugungstäter SE ITE 114 VI I VI I I
XIII
Mawisbikes. Mathias Scherer, der Entfesselungskünstler SE ITE 132 Noble Cycles. Nicolas Noblet, Macher mit Vorwärtsdrang
SE ITE 150
16
IX Cycles Deroy. Armand Deroy und Thomas Roba, der
Altmeister und sein Zauberlehrling SE ITE 166 X St Joris Cycles. Alex de Kraker, der anspruchsvolle Ästhet SE ITE 184 XI Mercredi. Adeline O’Moreau, die Unfassbare SE ITE 216 XI I Curtis Bikes.
15
Brian Curtis und Gary Woodhouse, Offroader erster Stunde
12 13 XII XI
14
Grossbritannien
SE ITE 232
XI I I Julie Racing Design. Christophe und Julie Vacheron,
das «Binom» SE ITE 256
VORWORT Fahrradbau Stolz blickt 2019 bereits auf eine 35-jäh-
Die schon lange währende Idee, die eigenen Er-
rige, bewegte Geschichte zurück. Im Vorfeld dieses
fahrungen und Sichtweisen in einem Buch mit den
Jubliläums für mich der Zeitpunkt, um einen Moment
Ansätzen anderer ausgewählter Fahrradbauer anzu-
innezuhalten und die Tätigkeit des Unternehmens zu
reichern und in Beziehung zu setzen, entwickelte sich
verorten. Wo stehen wir? Was macht uns aus? Was
im Verlaufe dieses Buchprojekts weiter und führte als
können unsere Kunden erwarten? Anstatt diesen
«work in progress» zu seiner jetzigen Form. Daran
Fragen mit einem Firmenrückblick nachzugehen, also
nicht ganz unschuldig ist der Autor des Buchs, Tho-
mit einer Selbstbetrachtung, entschloss ich mich für
mas Bochet, der sich sofort bereit erklärte, andere
eine andere Annäherung: den Blick über den eigenen
Fahrradbauer auf einem Stolz-Rad für Porträts zu be-
Tellerrand auf andere Fahrrad- beziehungsweise Rah-
suchen. Entstanden sind 13 Porträts und als «Neben-
menbauer aus der westeuropäischen Fahrradbaukul-
produkt» ein Reiseblog über die Etappen zwischen
tur. Jeder Reisende weiss es: Will man etwas über sich
den Besuchen. Die sechswöchige Reise im Sommer
selbst erfahren, muss man manchmal raus in die Welt
2017 wurde nun zum elementaren Bestandteil, denn
und den Spiegel des Anderen suchen. Diesen offenen
sie transportiert das Grundverständnis unseres Tuns
Blick immer wieder zu riskieren und zu pflegen, setzt
bei Fahrradbau Stolz. Letztlich geht es nicht lediglich
die Bereitschaft voraus, das eigene Schaffen stets in-
darum, technisch überzeugende und schöne Objekte
frage zu stellen. Dazu braucht es aber auch ein Grund-
zu bauen. Im Zentrum steht die Gesamtschau von
vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine nach-
Fahrer beziehungsweise Fahrerin und Fahrrad als
haltige Denkweise, zwei Handlungsprinzipien, von
Einheit, somit das Erfüllen von individuellen Bedürf-
denen ich überzeugt bin und die uns leiten.
nissen und das Ermöglichen von Erfahrungen. Das
8
Fahrrad soll seinem Besitzer, seiner Besitzerin ein persönliches Transportmittel für Erlebnisse sein.
Dieses Buch entstand nicht zuletzt aus Dankbarkeit unseren Kunden und langjährigen Partnern ge-
Die persönlichen Reiseerlebnisse in diesem Buch
genüber. Sie haben es möglich gemacht, über die
resultieren einerseits aus unserem Schaffen. Anderer-
Jahre all die unterschiedlichen Fahrrad-Bauprojekte
seits stellen sie das verbindende Element zwischen den
zu begleiten und zu ermöglichen. Sie sind der existen-
besuchten Fahrradbauern aus der spezifischen Sicht
zielle Bestandteil unserer ganzen Berufstätigkeit. Nun
des Autors dar. Auf diese Weise werden verschiedene
haben wir die Möglichkeit, etwas zurückzugeben und
Fahrradkulturen ganz wörtlich er-fahren und mit indi-
das entgegengebrachte Vertrauen ein Stück weit zu-
viduellen Begegnungen verknüpft. Fremde und eigene
rückzuzahlen. Indem wir uns nicht nur selber veror-
Herangehensweisen erhalten somit eine kulturelle
ten, sondern es den Lesern ermöglichen, sich am
Verortung. Die Porträts als «Meilensteine» erlauben
Hinterrad des Autors ebenfalls auf eine kleine Reise
sodann, 13 Menschen und ihre individuellen Arbeits-
durch die Fahrradbaukultur Westeuropas zu begeben
einstellungen kennenzulernen. Sie zeigen, dass die
und den Menschen zu begegnen, die sich mit Leib
Entstehung eines Fahrrads in hohem Masse durch
und Seele dem Fahrradbau verschrieben haben.
persönliche Haltungen geprägt ist. Die Wahl der Porträtierten traf ich aus persönlicher Neugier und dem
Zürich, im März 2019
Interesse, gezielt andere Perspektiven in Relation zu
Röbi Stolz
meiner eigenen zu setzen. Es geht um eine allgemeine Würdigung der handwerklichen Vielfalt und eben darum zu sehen, wo wir selber stehen. 9
EINLEITUNG Der Rahmenbaukultur auf der Spur Es gibt sie noch, die Menschen, die von Hand Fahr-
denn heute ein Fahrrad auf Mass, wo ein solches von
räder bauen. Massgeschneidert für andere Menschen.
der Stange seinen Dienst vollends erfüllt?
Gemeint sind jene selten gewordenen Handwerker und Handwerkerinnen, die Fahrräder nicht nur aus
Der Faktor Mensch und die Fahrradseele
den Einzelteilen zusammenmontieren, sondern auch
Diese Fragen und Behauptungen mögen überspitzt
den Rahmen als Kernelement selber herstellen. Sie
formuliert sein und es ist klar, dass sie je nach Perspek-
nennen sich daher Rahmenbauer, Cadreur, Telaista,
tive unterschiedlich betrachtet werden können. Es
Framebouwer oder Framebuilder. Das Rahmenbauer-
geht hier auch in keiner Weise darum, verschiedene
handwerk hat in Westeuropa eine lange Tradition,
Produktionsweisen gegeneinander auszuspielen. Das
doch geriet diese in den letzten Jahrzehnten mit der
Rahmenbauhandwerk lebte und entwickelte sich
Verschiebung der globalen Fahrradproduktion nach
schon sehr früh auch im Kontext der industriellen
Fernost fast in Vergessenheit und fristet heute ein Ni-
Massenproduktion, da ist Nostalgie fehl am Platz.
schendasein. Nüchtern betrachtet ist ein Fahrrad
Doch hier soll keine Fahrradbaugeschichte geschrie-
nicht mehr als ein Fahrrad, spielt es denn da eine
ben werden. Dieses Buch will auch die oben gestellten
Rolle, ob in langwieriger, teurer Handarbeit als Ein-
Fragen nicht weiterverfolgen, sondern mit der Fest-
zelanfertigung hergestellt oder containerweise und
stellung beginnen: Es macht einen elementaren Un-
kostengünstig am Fliessband? Was macht es für einen
terschied, von wem, für wen, wo und wie ein Fahrrad
Unterschied, von wem, wo und unter welchen Bedin-
hergestellt wird. Und zwar dann, wenn das Fahrrad
gungen ein Zweirad hergestellt wird, wenn sich damit
nicht nur als reiner Gebrauchsgegenstand betrachtet
gut fahren lässt und der Preis stimmt? Wer braucht
wird, sondern als ein Stück materialisierte Kultur.
10
Eine Kultur als Mix aus überliefertem Wissen und
Emotionen bilden eine Symbiose mit dem prak-
Können über Generationen, von gesellschaftlichen
tischen und technischen Aspekt des Fahrrads. Wenn
Gebrauchsweisen, Wertvorstellungen, ästhetischen
man also die Bauweise eines handwerklich hergestell-
Idealen, individuellen Lebenswelten und so fort. Ein
ten Fahrrads verstehen will, reicht eine rein techni-
einzeln von Hand hergestelltes Fahrrad kann zwar
sche Auseinandersetzung damit nicht aus. Man muss
durchaus aus derselben Rahmenbaukultur wie ein
in die Gefühlswelt vordringen, die mit einem Fahrrad
Massenprodukt stammen, doch unterscheidet es sich
verbunden ist. Viele Radfahrer und Rahmenbauer
davon in einem wesentlichen Punkt: dem Faktor
bezeichnen diese als Fahrradseele. Dazu ist es unum-
Mensch. Ein Massrahmen ist das Resultat einer per-
gänglich, sich mit der individuellen Geschichte und
sönlichen Interaktion zwischen individuellen, greif-
der erwähnten Kultur, in der es entstand, zu befassen.
baren Menschen: dem Rahmenbauer oder der Rah-
Man muss also die Menschen, die diese Objekte bau-
menbauerin und dem Kunden oder der Kundin.
en, und die Orte, wo diese Menschen leben und sich
Wenn ich fortan von Rahmenbauern spreche, sind die
bewegen, kennenlernen.
Rahmenbauerinnen genauso gemeint. Weil ein massgebautes Fahrrad und das zugrunde
Begegnungen auf «Rahmenhöhe»
liegende Handwerk nicht nur eine allgemeine Her-
Sich über die Menschen und ihre Umgebung der
stellungskultur, sondern auch individuelle Lebenswel-
Fahrradbaukultur zu nähern, darum geht es in diesem
ten widerspiegeln, birgt es neben seinem (massge-
Buch. Aus persönlichen Begegnungen mit Fahrrad-
schneiderten)
persönliche
bauern quer durch Europa resultieren 13 Porträts, die
Geschichten und weckt Emotionen. Mehr noch: Die
die reichhaltige Bandbreite dieser Handwerkskultur
Gebrauchscharakter
11
beleuchten. Wer sind diese Menschen, die noch die
ker darstellt, sodass der Bezug zum Gegenstand der
Mühe auf sich nehmen und das Wissen besitzen, Rah-
Betrachtung durch den alltäglichen Gebrauch bereits
men und Fahrräder von Hand und nach Mass herzu-
gegeben ist. Zudem erlaubt das Fahrrad als Transport-
stellen? Was treibt sie in ihrer Profession an und was
mittel einen unmittelbaren Kontakt zur Aussenwelt
inspiriert sie? Aus welcher Rahmenbaukultur heraus
und einen Reiserhythmus, der genug Zeit lässt, das
handeln sie? Dies sind die wichtigsten Fragen, auf
Gesehene und Erlebte zu verarbeiten und zu verste-
welche die Porträts Bezug nehmen. Vorweg sei gesagt,
hen. Indem ich mich selbst über sechs Wochen lang
dass es keine einheitlichen Antworten geben wird, zu
ins Radwandererdasein begebe und bewusst von ei-
unterschiedlich sind die besuchten Personen. Mar-
nem Kulturkreis zum nächsten radle, nähere ich mich
kant ist hingegen, welche Vielfalt an Charakteren und
ein Stück weit der passionierten Lebens- und Gefühls-
Vorgehensweisen anzutreffen sind, gepaart mit einer
welt der Porträtierten und begegne ihnen auf gleicher
einzigen Konstanten: einer unglaublichen Passion
«Rahmenhöhe». Dies ist gerade deshalb wichtig, weil
fürs Handwerk.
die Treffen manchmal nur wenige Stunden dauern
Als mich der Zürcher Fahrradbauer Röbi Stolz
konnten und eine gemeinsame Basis zwingend war,
anfragte, ob ich für ein Buchprojekt verschiedene
um sogleich die Person hinter dem Handwerker erfas-
Rahmenbauer in Europa besuchen und porträtieren
sen zu können.
würde, musste ich keine Sekunde zögern. Für mich war auch sofort klar, dies mit dem Fahrrad zu tun. Es
Im subjektiven Er-Fahrungsfluss
ist naheliegend, auf dem Fortbewegungsmittel zu rei-
Auf der Reise berichtete ich in einem täglichen Blog
sen, das letztlich das Produkt der besuchten Handwer-
von meinen Erlebnissen. So entstand neben den Port-
12
räts ein Fundus für einen Reisebericht in Etappen.
Dieses Buch ist eine Momentaufnahme aus dem
Dieser ist zwischen den Besuchen eingewoben, als
Blickwinkel eines Vorbeiziehenden. Die Auswahl der
Reisefluss, der die Farben der vorbeiziehenden Ge-
Porträtierten ist zwar von Röbi Stolz bewusst getrof-
genden aufnimmt und den Porträts die passende
fen worden, aber auch aus der Notwendigkeit heraus,
Grundierung verleiht. Die Fortbewegung auf zwei
sich festzulegen und eine machbare Route zu definie-
Rädern begünstigt eine Reduktion der Bedürfnisse
ren. Die Porträts und Berichte sind das Produkt von
und Wahrnehmungen auf die wesentlichen Aspekte
subjektiven Begegnungen. Sie können aber auch als
des Alltags: Begegnungen mit Menschen, Tieren und
verdichtete und typisierte Bilder gelesen werden, die
Landschaften, Essen und Schlafen, Wetter und Witte-
stellvertretend für andere Personen und Orte stehen
rung, Strassen und Verkehr sowie die Konfrontation
könnten. Letztlich zählt das Gesamtbild, in dem die
mit sich selbst und den Grenzen des eigenen Körpers.
handwerkliche Rahmenbaukultur als Ergebnis und
So entsteht ein Itinerar aus sich wiederholenden Ele-
Ausdruck menschlicher Vielfalt verstanden wird.
menten, die stets variieren. Oftmals handelt es sich
Mein grosser Dank gilt Röbi Stolz, der mich ein-
um sinnliche und bildliche Eindrücke, die sich kaum
fach losziehen liess und mir sein vollstes Vertrauen für
beschreiben lassen und visuell besser zu vermitteln
dieses Unternehmen schenkte. Ich genoss maximalen
sind. Die Fotografien stellen in diesem Buch deswegen
Gestaltungsspielraum und konnte meine persön-
einen ganz eigenen, gleichberechtigten Erzählstrang
lichen Eindrücke mit der Freiheit eines Radfahrers zu
dar. Sie ergänzen und illustrieren das Geschriebene,
Papier bringen. Für dieses Privileg bin ich unglaublich
eröffnen unmittelbar, was schriftlich kaum zu fassen
dankbar und freue mich, Sie, die Leserin, den Leser,
ist.
daran teilhaben zu lassen. 13
12. April 2017
FAHRRADBAU STOLZ Stefan Bellini, Perfektionist unter der Oberfläche Stefan kenne ich nun schon seit einigen Jahren. Er hat mir 2014 mein erstes Rennrad nach Mass für ein Nonstopradrennen rund um die Schweiz gebaut und konstruierte nun für meine Reise zu den Fahrradbauern ein zweites Fahrrad, einen Randonneur; er steht somit am Anfang meiner Porträtreihe. Um die Entstehung meines Gefährts zu dokumentieren, besuchte ich ihn mehrmals und bekam dabei auch einen sehr guten Eindruck von seiner Arbeitsweise. Das erste Mal verabreden wir einen Termin im Ladenlokal von Fahrradbau Stolz am Stadtrand von Zürich. Hier betreibt Röbi Stolz mit seinen angestellten Fahrradmechanikern das tägliche Reparaturgeschäft, betreut und berät seine Kunden, die sich ein Fahrrad bauen lassen möchten. Es ist bereits Frühling und das Alltagsgeschäft voll im Gang, an ein ruhiges Interview ist nicht zu denken. Während Röbi und die beiden Lehrlinge herumwirbeln, bleibt Stefan die Ruhe selbst. Man hat das Gefühl, je lauter es wird, desto ruhiger wird er. Etwas zu ruhig für ein Interview. So beschliesse ich fortan, ihn jeweils in der Werkstatt ausserhalb der Stadt, wo Stefan die Rahmen lötet und schweisst, zu besuchen und zu befragen. Hier, im Erdgeschoss eines alten Industriegebäudes in ZürichWallisellen abseits des Tagesgeschäfts – und ohne Internetverbin14
15
16
Als sich der gelernte Carosseriespengler 2009 bei Röbi Stolz bewarb, wusste er gar nicht, dass es noch Rahmenbauer in der Schweiz gibt.
dung –, ist seine Welt und sein kleines, wohlgeordnetes Reich. Entweder treffe ich ihn vertieft in seine Arbeit an, die er immer akribisch, bedacht, effizient und doch noch so locker ausführt, dass er mich beim Eintreten augenblicklich wahrnimmt. Oder dann sitzt er bereits am Bürotisch lehnend, den Rücken zum Computer, umgeben von Bücherregalen voller Fahrrad-Fachliteratur. Die Kaffeemaschine in Reichweite täuscht: Sie ist nur bei Besuch in Betrieb. Im Hintergrund läuft halblaut ehrlicher Rock aus den 80er-Jahren oder Blues. Stefan kam eher zufällig zum Rahmenbau. Als sich der gelernte Carosseriespengler 2009 auf die im Internet ausgeschriebene Stelle eines Rahmenbauers bei Röbi Stolz bewarb, wusste er gar nicht, dass es noch Rahmenbauer in der Schweiz gibt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch kein einziges Fahrrad gebaut. Sein solides handwerkliches Fundament für seinen jetzigen Beruf legte er bereits in seiner langjährigen Tätigkeit in der Blechverarbeitung für die Maschinen- und Flugzeugindustrie, im Schweissen hatte er bereits grosse berufliche Erfahrung. Die Begeisterung fürs Zweirad brachte er ebenfalls mit, zunächst vor allem als Rennmotorradfahrer. Die Faszination fürs Tempo und die Affinität zum Ausdauersport brachte den ehemaligen Spitzenjudoka und Ultramarathonläufer dann zum Rennrad. 17
18
In der geordneten Ruhe seiner Werkstatt ist Stefan wohler als im Trubel des Ladenlokals.
Als Stefan durch Röbi und seinen Vorgänger in den Rahmenbau eingeführt wurde, ahnte er noch nicht, wie komplex und vielfältig die Konstruktion des an sich einfachen Diamantrahmens ist. Vom Konstruktionsprinzip her grundsätzlich gleich, unterscheidet sich jeder Massrahmen in den geometrischen und materialspezifischen Details. Stefan hätte zu Beginn seiner Rahmenbauerkarriere nicht gedacht, dass sich hinter dem einfachen Bauprinzip eine so grosse Vielfalt von Möglichkeiten auftut. Ein in jeder Hinsicht zum Kunden passendes Fahrrad bauen zu können, macht für ihn die Faszination des Rahmenbaus aus. Ungefähr 250 Rahmen hat Stefan insgesamt schon hergestellt, für einen breiten Anwendungsbereich vom Tourenpackesel bis zur Rennmaschine für unterschiedlichste Fahrertypen. Bei Stolz steht die Funktionalität klar im Vordergrund, es wird nicht jedem Trend sogleich nachgerannt. Die Fahrräder sind durchwegs schlicht gehalten, die Ästhetik ergibt sich aus der Form. So sind denn die Lackierungen oft einfarbig, eine Beschriftung sucht man bei den meisten Rädern vergeblich. Stefan verarbeitet sowohl unterschiedliche Stahl- wie auch Titanrohre in allen möglichen Konstruktionsweisen, seine allgemeine Technikbegeisterung geht aber weit über diese beiden Materialien hinaus. Dieser breite Horizont ent19
Nicht die Oberfläche interessiert ihn, sondern ob ein Fahrrad unter der Lackierung hält, was es verspricht.
spricht einer unausgesprochenen Philosophie bei Stolz: Die Materialund Konstruktionsart richtet sich nach dem Einsatzzweck der Produkte und einer materialgerechten Verarbeitung. Was dem Zweck dient und machbar ist, wird gebaut. Stahl und Titan erweisen sich dabei im Massrahmenbau als die einfachsten und vielfältigsten Materialien. Hippe Coolness ist nicht Stefans Ding. Nicht die Oberfläche interessiert ihn, sondern ob ein Fahrrad unter der Lackierung hält, was es verspricht, im wahrsten Sinne des Worts. Stefans grösste Sorge widerspiegelt seine grundehrliche Arbeitseinstellung: Die Rahmen müssen halten, ein Leben lang. Kein Kundenwunsch bringt ihn aus dem Gleichgewicht, alle technischen Umsetzungsmöglichkeiten werden von ihm sachlich in Betracht gezogen. Dabei setzt er für sein Schaffen die höchsten Qualitätsmassstäbe an, so hoch, dass Röbi Stolz ihn auch manchmal in seinem Perfektionismus bremsen muss. Obwohl es schwer vorstellbar ist, wie Stefan in seinem unscheinbaren, stoischen Schwung aufgehalten werden könnte. Obwohl keineswegs menschenscheu, ist Stefan der Mann im Hintergrund bei Stolz, der ruhige, bedächtige Pol der Firma, der Techniker. In der geordneten Ruhe seiner Werkstatt ist ihm wohler 20
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als im Trubel des Ladenlokals. Röbi Stolz berät seinerseits die Kunden, misst sie aus und erarbeitet die Konzepte. So hält jeder dem anderen für seine Arbeit den Rücken frei. Obwohl er oft seine Kunden gar nie zu Gesicht bekommt, hat Stefan gleichwohl in höchstem Masse ein Feeling dafür, was diese wollen. Einerseits kann er sich als Rennradfahrer und Sportler in die Kunden hineinversetzen, auch wenn er sie nicht einmal sieht. Andererseits unterrichtet Stefan seit Jahren in Röbis Rahmenbaukursen. Dabei wird er mit Wunschvorstellungen der Kursteilnehmer konfrontiert, die so ungefiltert wohl kaum bis zu ihm vordringen würden. In diesen Kursen sieht Stefan denn auch ein Potenzial für die Zukunft, sie folgen dem Do-it-yourself-Trend, aber auch dem Bedürfnis, durch das Selbermachen dem Produkt näher zu kommen. Ein Massrahmenbauer baut nicht nur Fahrräder, er erfüllt Wünsche, die so persönlich sind wie die Fahrer des jeweiligen Fahrrads. Als ich meinen fertig montierten Randonneur wenige Tage vor Reisebeginn im Ladenlokal begutachten komme, hat Stefan eines seiner dezenten Zeichen gesetzt. Bei der Lackierung hatte ich mich für ein tiefsattes, glänzendes Dunkelblau entschieden, ganz ohne weitere farbliche Verzierungen oder Beschriftungen. Stefans Anre22
gung, kleine orangefarbene Akzente an den Ausfallenden anzubringen, stand ich eher ablehnend gegenüber. Als ich nun so vor dem Fahrrad stehe, leuchten mir tatsächlich am vorderen und hinteren Ausfallende dezente orange Ringe entgegen und ich fühle mich in meiner kleinen Eitelkeit ertappt. Ich sehe nun ein, dass gegen solche Fahrradbau Stolz (seit 1984) Hofwiesenstrasse 200 , 8057 Zürich , Schweiz Webseite: www.fahrradbaustolz.ch E-Mail: fahrradbau @ bluewin.ch Telefon: +41 44 362 92 90
künstlerische Freiheit jeder Widerstand zwecklos ist. Und so fährt mit den orangen Streifen fortan immer ein wenig von Stefans schalkhafter List mit, die nun sinnbildlich neben aller Perfektion und Akribie herausblinkt. 23
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Besuche an. Nach der Überfahrt nach Le Havre wartet als letzte
Schlaufe über London und nahe von Bristol stehen zwei weitere
nach Südengland über, einer Wiege des Fahrradbaus. In einer
nen will. Nach einer Querung der Nordseeküste setze ich in Calais
ungeplant dazu) und einem niederländischen Fahrradbauer begeg-
Benelux-Region, wo ich einem belgischen (ein zweiter kommt dann
lich führt mich die Route in die raue, aber traditionell radverrückte
Elsass zu zwei Rahmenbauern auf deutschem Gebiet. Weiter nörd-
stadt Zürich soll es weitergehen durch den Schwarzwald und das
Fahrradkultur dar. Nach einer taktischen Pause in meiner Heimat-
schen und klimatischen Grenze, sondern auch einen Wechsel der
Schweizer Alpen stellt nicht nur die Überwindung einer geografi-
und des damit verflochtenen Rahmenbaus. Die Überquerung der
beginne ich in einem traditionellen Kerngebiet des Radrennsports
wärts in Norditalien drei italienische «telaisti» zu treffen. Somit
amerikanischen Rahmenbauer zu eröffnen, um dann weiter nord-
sammen mit Röbi beschliesse ich, die Tour in der Toskana bei einem
Wochen Ferien stehen zur Verfügung, um sie alle zu besuchen. Zu-
zwischen Italien und England stehen auf dem Tourprogramm, sechs
Elf Rahmenbauer (vom zwölften weiss ich zu Beginn noch nicht)
Anreise: (Kl ) eine Mondlandung in Italien
ZÜRICH – CA STIGLION FIORENTINO
7. Juli 2017
Raum für Korrekturen. Ich gehe ja nicht auf Marsmission, nur fast.
rich hatte ich dies in weiser Voraussicht miteingeplant, so bleibt
zwischen Italien und Zürich fällt. Bei der Streckenführung über Zü-
Tourbeginn zur Verfügung, sodass die Testphase auf den ersten Teil
ven von allen Beteiligten, der Randonneur steht genau einen Tag vor
Fertigstellung beziehungsweise Endmontage verlangt gesunde Ner-
muss. Oder gar etwas Eindruck schinden kann? Die fristgerechte
schicken, damit ich mich bei meinen Besuchen nicht blamieren
Aufwand, um mich auf einem fahrenden Kleinod auf die Reise zu
eingangs porträtierter Mitarbeiter Stefan Bellini scheuen keinen
ten Randonneur, zu unternehmen. Röbi Stolz und vor allem sein
gens dafür gebauten Stolz-Reiserenner nach Mass, einem sogenann-
Teil des Projekts ist es, die Runde standesgemäss auf einem ei-
Sommer voll in der Produktion und haben beileibe andere Sorgen.
gar kaum erreichbar. Auch kein Wunder, sie alle stecken mitten im
zum Übernachten eingeladen, andere sind etwas reservierter oder
eine rollende Kommunikation absehbar. Einige haben mich direkt
mehr oder weniger konkret zugesagt, bei den einen oder anderen ist
dest für meine Beine als Ruhetage. Alle Rahmenbauer haben mir
gen haben werde. Die Rahmenbauerbesuche fungieren somit zumin-
Gründen eine fast auf den Tag genau getaktete Marschroute zu befol-
Reise auch einen Blog verfassen will und aus organisatorischen
rad zurücklegen. Ein recht ambitionierter Plan, zumal ich auf der
pro Tag. Diese will ich wenn möglich ununterbrochen mit dem Fahr-
verteilt auf etwa 30 reine Fahretappen, ergibt dies etwa 100 Kilometer
Das sind hochgerechnet mindestens gute 3000 geplante Kilometer,
Eine ehrgeizige Mission
und die Beine erlauben.
ich mir nach erfüllter Mission offen, je nachdem, was das Zeitbudget
«petite reine», kleine Königin, genannt wird. Den Schlussspurt lasse
Station ein französischer «cadreur» im Land, in dem das Fahrrad Das sind hochgerechnet mindestens gute 3000 geplante Kilometer.
25
26
eine ganze Werkstatt zum Wiederaufbau bräuchte. Ich entscheide
schriftsgerecht zu zerlegen und zu verpacken, obwohl ich am Zielort
Gehorsam fiebrig nach einer Lösung, meinen Randonneur vor-
ten Folge zu leisten. Und doch suche ich wieder in vorauseilendem
absurden Hinweisen und Warnungen der Schweizer Schalterbeam-
eigentlich aus verschiedenen Erfahrungen, dass es sinnlos ist, den
weisen aufeinander und münden in kafkaesken Leerlauf. Ich weiss
der Schweiz prallen zwei völlig unvereinbare Systeme und Denk-
brechen. Bei der Organisation des Fahrradtransports in Italien aus
Spiessrutenlauf wird, bereitet mir dieser Start am meisten Kopfzer-
Im Wissen, dass die Zugreise mit dem Fahrrad nach Italien ein
absehbar.
radcomputer, Tablet, Handy, Powerbank. Der Akkustress ist bereits
zu kurz, die digitale Gesellschaft fordert ihren Tribut: Kamera, Fahr-
der Umgebung einlassen. Die Elektronik kommt aber auch so nicht
provisation und Begegnungen. Ich will mich auf Interaktionen mit
sprechen, trotz sportlichem Fahrplan muss Raum bestehen für Im-
überlassen. Dies würde auch dem Ziel der Reise diametral wider-
karten. Ich will die Kontrolle nicht einem elektronischen Gerät
planung an. Grundsätzlich fahre ich ohne GPS, sondern mit Papier-
schiedlichen Kombinationen. Etwas lockerer gehe ich die Routen-
«Packecke», mehrmals fülle und leere ich die Taschen in unter-
zu sein. Tag für Tag kommt ein neuer Ausrüstungsgegenstand in die
Mit dem Ziel, zügig voranzukommen und weitgehend unabhängig
unterwegs sein, ohne gleichzeitig dafür ein Vermögen auszugeben.
fung. Ich will so leicht wie möglich und so gut ausgerüstet wie nötig
Gegenstand einer akribischen Relevanz- und Multifunktionsprü-
dem Ziel, nur das Nötigste mitzunehmen, dafür unterziehe ich jeden
Sozialisierung. Wochen im Voraus plane ich meine Packliste mit
Hier trifft wohl eine persönliche Veranlagung auf meine Schweizer
Zur Belustigung meiner Frau bin ich ein recht neurotischer Packer.
Im Packfieber Tag für Tag kommt ein neuer Ausrüstungsgegenstand in die «Packecke».
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tung lässt die Zugchefin im italienischen Schnellzug Gnade vor
mir so entfernt wie eine Mondlandung. Entgegen meiner Befürch-
mittag meinen ersten Rahmenbauerbesuch anzutreten, erscheint
zum Hauptbahnhof Zürich. Der Gedanke, bereits am späteren Nach-
Und schon ist der Tag X da. In der Dämmerung mache ich mich auf
Ein Katapultstart!
zu beweisen und eine milde Behandlung zu erfahren.
entspricht und hoffe, damit vor dem Zugchef meinen guten Willen
die bei Weitem nicht den Normen der italienischen Staatsbahnen
mich letztlich zu einer minimalen Demontage und Mogelpackung,
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Das Fahrrad ist das ideale Instrument dazu, denn es zwingt zum
delns und Denkens durch Körper, Raum und Zeit bestimmen lassen.
Platz machen. Und genau dies will ich: den Rhythmus meines Han-
ken stehen nun eher im Weg und müssen der physischen Erfahrung
chenlang auf die Reise vorbereitet habe. Im Gegenteil: Die Gedan-
einer Zwischenwelt. Daran ändert nicht, dass ich mich geistig wo-
per ist zwar in Italien angekommen, der Kopf steckt aber noch in
katapultiere mich aus dem Zug und aus dem Alltagsleben. Der Kör-
rentino fühlt sich dann wie eine Fallschirmjägerlandung an. Ich
volle Fracht. Die Ankunft einen halben Tag später in Castiglion Fio-
Recht walten, dennoch wache ich wie auf Nadeln über meine wert-
Und da atme ich erstmals durch.
rant, worauf er mich in die wohl beste Osteria des Städtchens schickt.
schluss noch feineinstellt. Und diesen frage ich nach einem Restau-
einem Mechaniker, der meinen Randonneur auch nach Laden-
nach Reifenluft, nach dem Preis. Und so frage ich auch heute: Nach
bonus. Man muss nur fragen. Nach dem Weg, nach einer Unterkunft,
chen Vorgabeleitplanken richten, schon gar nicht mit Ausländer-
merken, keine sturen Systeme einhalten und sich nach irgendwel-
wöhnt, ist das Leben eigentlich einfach. Man muss sich keine Regeln
über mündliche Kommunikation funktioniert. Einmal daran ge-
kenntnisse einen grossen Vorteil: Italien ist ein Land, in dem alles
eigenen Beinen stehen kann. Aber ich habe dank meiner Italienisch-
ger der gesamten Reise. Ich fühle mich wie ein Kind, das kaum auf
erweist sich im Nachhinein aber als einziger kulinarischer Querschlä-
te Panino in der erstbesten Bar beruhigt meine Nerven nicht gerade,
Unterkunft und versuche, mich zurechtzufinden. Das angeschimmel-
ren Crisp montiere ich mein Fahrrad, organisiere per Internet eine
Gerade mal mit einer Stunde Reserve bis zum Besuch von Dar-
Sorgen.
sollen eine Einheit werden. Doch im Moment habe ich dringendere
mittelbar mit den Beinen und der Umgebung. Körper und Geist
Antrieb aus eigener Körperkraft und koppelt die Gedanken unDer Körper ist zwar in Italien angekommen, der Kopf steckt aber noch in einer Zwischenwelt.
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