Diogenes
Magazin
Schonen Sie Ihre Augen! Lassen Sie andere lesen: Illustration: © Jean-Jacques Sempé
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Otto Sander und Ulrich Matthes lesen Anton ¢echov Heikko Deutschmann und Daniel Brühl lesen Martin Suter Hans Korte liest Bernhard Schlink Anna Thalbach liest F. Scott Fitzgerald Burghart Klaußner liest Ian McEwan Mario Adorf, Senta Berger und andere lesen Joseph Roth Helmut Qualtinger liest H.D. Thoreau Rufus Beck liest Der kleine Nick Roger Willemsen liest Die kleine Alice Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
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Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Gelesen von Otto Sander
Gelesen von Ulrich Matthes
Gelesen von
Gelesen von Daniel Brühl
Gelesen von Hans Korte
»Eine Liebesgeschichte und Satire rund ums Buch – brillant.« Focus
»Bernhard Schlink ist einer der erfolgreichsten und einer der vielseitigsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart.« Volker Hage / Der Spiegel
Gelesen von Anna Thalbach
»Wie kaum ein anderer hat Anton ◊echov auf den Pulsschlag des modernen Lebens gehorcht, sein literarisches Werk ist für das 20. Jahrhundert wegweisend geworden.« Neue Zürcher Zeitung
4 CD
Erzählung
Heikko Deutschmann
Anton Čechov Ein Duell
Kleiner Roman
»Eine ausgesprochen unterhaltsame, kurzweilige und letztlich auch moralische Geschichte.« ndr Kultur, Hamburg
6 CD
Martin Suter Der Koch
Roman
»Mit dem Plot von Lila, Lila ist Martin Suter ein raffiniertes Kunststück gelungen.« Neue Zürcher Zeitung
Martin Suter Lila, Lila
5 CD
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Gelesen von Mario Adorf
Gelesen von Helmut Qualtinger
Gelesen von Rufus Beck
8 CD
Bitte frankieren
Diogenes Verlag AG Diogenes Magazin Sprecherstrasse 8 8032 Zürich Schweiz
Diogenes Hörbuch
»Ian McEwan wagt das schwierige Kunststück, Wissenschaft und Politik mit deftiger Komödie zu verbinden. Und es gelingt ihm großartig.« Nick Cohen / The Guardian, London
Ian McEwan Solar Roman
»Joseph Roths letzte Lebensphase muss rauschhaft in jeder Hinsicht gewesen sein. Die Legende vom heiligen Trinker liest sich wie die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal.« Süddeutsche Zeitung
1 CD
»Ein glänzender, umwerfend komischer Kabarettist.« Alfred Polgar
Joseph Roth Die Legende vom heiligen Trinker Erzählung
»Das Pointenfeuerwerk des Spotts lässt die Gesellschaft in ihrer ganzen Lächerlichkeit erstrahlen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
1 CD
Das Helmut Qualtinger Hörbuch Von Kaiser Franz Joseph zu Herrn Karl Weltgeschichte in Pantoffeln
244 Hörbücher mit Hörprobe:
7 CD
Roman
Gelesen von Burghart Klaußner
Goscinny
Sempé
Der kleine
»Nick ist ein Freund, wie man ihn sich nur wünschen kann. Ein Freund fürs Leben. Alt werden? Stillhalten? Ohne uns.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
1 CD
Bernhard Schlink Sommerlügen
im Zirkus
»Der erste Roman, der das ›System Hollywood‹ erforschte und beschrieb. Inklusive einer schmetterlingszarten Liebesgeschichte von perfekter Schönheit.« Barbara Rett / Die Presse, Wien
4 CD
F. Scott Fitzgerald Die Liebe des letzten Tycoon Roman
Diogenes Hörbuch Gelesen von Roger Willemsen Eine der berühmtesten Kindergeschichten der Welt, vom Autor selbst für die Kleinsten der Kleinen neu erzählt: »Jetzt ist es mein Ehrgeiz, von Kindern gelesen zu werden, die zwischen null und fünf Jahre alt sind.« (Lewis Carroll)
1 CD
Lewis Carroll Die kleine Alice Diogenes
Illustration: © Tomi Ungerer
1 CD
Anton Čechov Die Dame mit dem Hündchen
© IMAV, Paris
»Die Virtuosität des einfachen Erzählens – darin liegt Sanders Meisterschaft, eine Meisterschaft der präzisen Beiläufigkeit und des vielsagenden Zwischenraums.« Die Welt, Berlin
D Nr.5
Herbst 2010
Diogenes
Magazin
Wir gratulieren Ingrid Noll zum 75. Geburtstag
Der letzte Sommer Eine neue Erzählung von Bernhard Schlink Mythisches Gestein: Rolf Dobelli und Donna Leon über den neuen und alten Gotthardtunnel Ein Leben wie ein Roman: Paulo Coelho
D Diogenes Magazin
D
Paulo Coelho Rolf Dobelli Friedrich Dürrenmatt Joey Goebel John Irving Donna Leon Petros Markaris Ian McEwan Ingrid Noll Bernhard Schlink Hansjörg Schneider Jean-Jacques Sempé Martin Suter H.D. Thoreau
5
www.diogenes.ch 4 Euro / 7 Franken
9
783257 850055
D
Serie
Diogenes
Jeder kennt die Frage: »Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?« Wir haben Petros Markaris gefragt. Und um es ein wenig spannender (und bequemer) zu machen, durfte er mehr als nur ein Buch auf die Insel mitnehmen. Der griechische Schriftsteller ist mit seinen Kriminalromanen um den Ermittler Kostas Charitos bekannt geworden. Gerade ist als Diogenes Taschenbuch sein Roman Die Kinderfrau erschienen, Kostas Charitos’ fünfter Fall.
Roman Stendhal, Die Kartause von Parma
Lieblingsessen (süß) Ekmek Kadayif
Erzählung Edgar Allan Poe, Der Untergang des Hauses Usher
Lieblingsgetränk (nichtalkoholisch) Kaffee
Sachbuch Mark Mazower, Salonica, City of Ghosts
Lieblingsgetränk (alkoholisch) Whisky, Wein und Raki
Lyrik Die Gedichte von Konstantinos Kavafis
Technisches Gerät iPod Kleidungsstück Jeans, Hemd und Pullover
Theaterstück Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame
Lebensretter Meine Tochter
Illustration: © Chaval; Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
Zeitung Süddeutsche Zeitung Zeitschrift Lettre International
Schauspieler Bruno Ganz
TV-Sender Um Gottes willen, keinen!
Schauspielerin Catherine Deneuve
Radiosender France Culture
Klassik Mozart, Sinfonie Nr. 38, die »Prager«
Film Luis Buñuel, Le charme discret de la bourgeoisie
Lieblingsessen (nichtsüß) Gefüllte Tomaten und Paprika
Im nächsten Magazin: Tatjana Hauptmann
Gesprächspartner Mo Grimeh, der ehemalige Geschäftsführer der Bank Lehman Brothers
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Magazin, ab Nr. 6
Petros Markaris auf der einsamen Insel
Illustration: © Jean-Jacques Sempé
Magazin
Name Vorname Geburtsdatum Straße / Hausnummer Land / PLZ / Ort Telefonnummer / E-Mail ■ Ich zahle per Rechnung für 3 Hefte ■ € 10.– (D /A) oder ■ sFr 18.– (CH) – weitere Länder auf Anfrage ■ Rechnungsanschrift siehe oben ■ Abweichende Rechnungsanschrift: Name Vorname Straße / Hausnummer Land / PLZ / Ort Telefonnummer / E-Mail
Streitpartner Samis Gavriilidis, mein griechischer Verleger Joker-Artikel: Was würden Sie noch mitnehmen? Auf eine Insel? Eine Angel mit Zubehör, was sonst?
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Datum / Unterschrift
Amuse-Bouche
Sławomir Mro˙zek
Der Nobelpreis Sławomir Mro˙zek, der im Juni dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feierte, war immer wieder als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch. Der Literatur-Nobelpreis 2010 wird im Oktober bekanntgegeben, zur Einstimmung hier eine Nobelpreis-Geschichte von Mro˙zek.
E
in Dichter, ein Nobelpreisträger, kam zu uns zu einer Begegnung mit dem Publikum. Das war eine große Ehre, weil es ein berühmter Dichter war und wir eine kleine Stadt sind. Also gab es zahlreiche Ansprachen und ein Orchester für den Empfang und danach ein Festessen im blumengeschmückten Saal. Während des Festessens spürte der Dichter das Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen, und ging hinaus. Irgendwie kam er lange nicht zurück. Schließlich ging der Bürgermeister persönlich hinaus, um nachzusehen, ob ihm nicht etwa übel geworden wäre. Im Toilettenvorraum fand er die Klosettfrau und den Nobelpreisträger. »Ich lasse ihn nicht rein!«, rief die Klosettfrau dem Bürgermeister zu. »Er hat kein Kleingeld.« »Aber gute Frau, er hat den Nobelpreis!«
»Das hat er mir eben selber gesagt. Ich würde ihn ja sogar ohne Bezahlung reinlassen, ein alter Mann, da habe ich Mitleid. Aber nachdem er gestanden hat, dass er diese Krankheit hat, lass ich ihn niemals rein! Was denn, dass er mir die anderen Kunden ansteckt? Wenn er den Nobel hat, dann soll er zum Arzt gehen und nicht in anständige Toiletten kommen.« Es war nichts zu machen, und der Nobelpreisträger musste in die Büsche gehen. Er sagte zwar, es mache ihm nichts aus, aber er war wohl doch beleidigt. Als er abgereist war, kündigte man der Frau die Stellung. Jetzt arbeitet ein junger, gebildeter Mann mit Universitätsabschluss Kultur dort, belesen, er weiß, was Nobelpreis bedeutet. Nur ist ungewiss, ob noch einmal irgendein Nobelpreisträger zu uns kommen wird.
•
Aus dem Polnischen von Christa Vogel
Illustration: © Selbstportät von Sławomir Mroz˙ek; Foto Titelseite: © Gary Rogers
Buchtipps »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«, so Goethe – wirklich hilfreich ist das jedoch nicht. S¥awomir Mro‡ek lässt uns dagegen nicht im Stich. In diesem Buch werden alle lebenswichtigen Themen abgehandelt, von A wie Abwechslung, Anarchie und Angst über Fortschritt, Frauen, Freiheit, Rente und Revolution bis Tod, Tourismus und Wahrheit. Mro‡ek weiß immer Rat.
S¥awomir Mro‡ek Das Leben für Anfänger Ein zeitloses ABC mit Zeichnungen von Chaval
S¥awomir Mro‡ek Balthasar Autobiographie
Diogenes
Diogenes
Diogenes Taschenbuch detebe 24014, 192 Seiten Auch als Diogenes Hörbuch
384 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06581-7
S¥awomir Mro‡eks Stücke wie Tango und Striptease werden rund um den Globus gespielt, kein anderer Theaterautor nach Samuel Beckett wurde so berühmt. Nun schrieb der Dramatiker von Weltrang ein Buch über sein Leben. »Die Autobiographie eines der letzten wirklichen Humanisten in der europäischen Literatur bietet Vergnügen und Lebensschule zugleich.« Hajo Steinert /Die Welt, Berlin
Diogenes Magazin
D1
Ersatz für das leidige
Editorial Diesmal eine Bildergeschichte von Olaf Gulbransson: Der Dichter und die Kritiker.
Zum Lesen Die Schachspieler 36 Eine Erzählung aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatt
2
D Diogenes Magazin
Der letzte Sommer Eine Erzählung von Bernhard Schlink. Mit Bildern von Anna Keel.
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Amuse-Bouche Schaufenster Impressum / Vorschaufenster
1 12 86
Schweiz Tunnelgeschichten 16 Rolf Dobelli erzählt vom längsten Bahntunnel der Welt, der seit 1999 in der Schweiz entsteht, und von seinem neuen Roman Massimo Marini. Und: Immer wenn Donna Leon durch den Gotthardtunnel fährt, regt sich ihre kriminelle Phantasie. Spannende Schweiz Drei legendäre Schweizer Kommissäre: ihre Steckbriefe.
28
Konolfingen 31 In Dürrenmatts Geburtsort gibt es seit 2008 ein Kirchenfenster nach einer DürrenmattZeichnung. Charlotte Kerr Dürrenmatt erzählt, wie es dazu kam.
Illustrationen links: © Olaf Gulbransson; Foto: © Sant Jordi Asociados; Illustration: © Tomi Ungerer
Paulo Coelho 38 Seit dem Erscheinen des Alchimisten ist er einer der meistgelesenen Autoren der Welt – doch wer ist Paulo Coelho? Jetzt ist die erste große Biographie des Brasilianers erschienen, aus der ersichtlich wird: Paulo Coelhos Leben ist wie ein Roman.
Diogenes Magazin Nr. 5
Illustration oben: © Grandville; Foto links: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag; Bild Mitte (Ausschnitt): © Anna Keel; Foto rechts: © Isolde Ohlbaum
Inhalt
Hansjörg Schneider 26 Hansjörg Schneider über Kriminalromane und seinen Kommissär Hunkeler.
Martin Suter 82 Martin Suter erhielt den Swift-Preis für Wirtschaftssatire 2010. Hoch verdient – die Dankesrede, die Suter genial in eine Business ClassKolumne verwandelte, beweist es.
Bernhard Schlink 52 Ein Interview mit Tilman Krause zum Erscheinen von Bernhard Schlinks Erzählband Sommerlügen. Dazu die Erzählung Der letzte Sommer.
Interviews Hotel Frankfurter Hof Eine legendäre literarische Adresse – nicht nur während der Frankfurter Buchmesse
46
15
Denken mit H. D. Thoreau
Ingrid Noll
4
Rolf Dobelli
16
Jürgen Carl 49 Chef-Concierge des Frankfurter Hofs und leidenschaftlicher Leser
Rubriken Lesefrüchtchen
Ingrid Noll 4 Sie ist eine der erfolgreichsten deutschen Erzählerinnen – und zudem eine sympathische Gesprächspartnerin, wie dieses Interview zeigt.
80 Bernhard Schlink
Literarisches Kochen Mit Ian McEwan
44
Wer schreibt hier? Gewinnspiel
87
Top 10 51 Deutsche Wörter von Joey Goebel
Mag ich – Mag ich nicht John Irving
88
Owl’s Eye 85 Wenn der Liebste keine Bücher liebt
Die einsame Insel Petros Markaris
89
52
Anne Goscinny 72 René Goscinnys Tochter über die Kinoverfilmung Der kleine Nick Jean-Jacques Sempé 76 über den kleinen Nick Arnon Grünberg
79 Diogenes Magazin
D3
Titelgeschichte
Ein Interview mit Ingrid Noll
Ich werde mich bemühen, wenigstens schlappe hundert zu werden
Foto links: © Jörg Sänger, Medienfabrik Gütersloh GmbH; Illustration: © Ingrid Noll
Das schönste Geschenk zu ihrem 75. Geburtstag Ende September hat Ingrid Noll ihren Fans gemacht: Soeben ist ihr neuer Roman ›Ehrenwort‹ erschienen, eine bitterböse Familien- und Kriminalkomödie über drei Generationen unter einem Dach. Über ihre eigene Familie, Probleme im Alter und ihre späte Karriere als Schriftstellerin spricht Ingrid Noll in diesem Interview. Diogenes Magazin: Sie haben erst mit 54 Ihren ersten Roman geschrieben, warum so spät? Ingrid Noll: Leider hatte ich mich vorher nicht getraut, wollte mich nicht lächerlich machen. Abgesehen davon habe ich jahrelang in der Arztpraxis meines Mannes mitgearbeitet, drei Kinder aufgezogen, gekocht, den Garten bearbeitet, im Chor gesungen, mich im Elternbeirat engagiert und ähnliche Beschäftigungen – nicht ungern – ausgeübt. Ich hatte nur wenig Zeit und Ruhe zum Lesen und Schreiben, vor allem kein eigenes Zimmer. Wie haben Ihr Mann und Ihre Kinder damals darauf reagiert? Verblüfft. Erinnern Sie sich noch daran, wie der Roman den Weg zum Diogenes Verlag gefunden hat?
So etwas vergisst man nicht. Als ahnungsloses Greenhorn schrieb ich mir beim Buchhändler zehn Verlagsadressen heraus. Zu Hause wurde ich allerdings etwas mutlos. Zehnmal das Manuskript kopieren, zehn Briefe
Nie hätte ich gedacht, dass Autoren einem Wanderzirkus angehören und tingeln gehen wie Straßenmusikanten. schreiben und wahnsinnig viel Porto ausgeben? Ich beschloss, es erst einmal bei meinem Lieblingsverlag zu versuchen und bei Rücksendung nach und nach bei der Konkurrenz anzuklopfen. Das Klinkenputzen konnte
ich mir zum Glück ersparen, denn der Diogenes Verlag reagierte prompt und positiv. Wie war der erste Besuch im Verlag, das erste Treffen (oder Telefonat) mit dem Diogenes Verleger Daniel Keel? Beim ersten Telefongespräch hatte ich keine Ahnung, wer dieser Herr Keel überhaupt war. Er erklärte es mir sehr charmant und geduldig, dann plauderten wir fast eine Stunde lang. Am Ende wussten wir das Wichtigste voneinander, und ich hoffe sehr, dass meine Sympathie ein wenig erwidert wird. Was haben Sie sich beim Beruf des Schriftstellers ganz anders vorgestellt? Nie hätte ich gedacht, dass Autoren einem Wanderzirkus angehören und tingeln gehen wie Straßenmusikanten. Diogenes Magazin
D5
6
D Diogenes Magazin
Der Begleitbrief zum Manuskript von ›Der Hahn ist tot‹
Foto: © Jörg Sänger, Medienfabrik Gütersloh GmbH; Illustration: © Ingrid Noll
In den Gästebüchern vieler Hotels entdeckt man mit schöner Regelmäßigkeit die Geistesblitze der Kollegen. Ebenso hätte ich nicht so viel Büround Pressearbeit erwartet. Sie haben bis heute unglaublich viele Lesungen in Buchhandlungen und Bibliotheken gemacht, warum? Welches waren die schönsten, welches die anstrengendsten Lesungen? Schreiben ist ein einsames Geschäft, der Kontakt mit meinen Lesern ist mir daher wichtig. Schön ist es immer, wenn das Publikum an den richtigen Stellen lacht oder überrascht reagiert. Anstrengend wird es, wenn in der ersten Reihe ein schläfriger Zuhörer sitzt, den man selbst mit der Peitsche nicht aufwecken kann. Allerdings gibt es Menschen, die von Geburt an eine missmutige Physiognomie haben, sich aber trotzdem amüsieren. Welche Frage hat man Ihnen in Interviews am häufigsten gestellt? Ob mein Mann noch lebt … Welche Frage sonderbarerweise nie? Welche Mordversuche er bereits unternommen hat.
Wie sieht Ihr Alltag aus? Sehr normal. Ich stehe meistens früh auf, lese im Morgenrock die Zeitung und trinke dabei Kaffee. Ab neun Uhr sitze ich oft am Schreibtisch, um elf trifft man mich vielleicht im Supermarkt, von eins bis zwei in der Waagerechten, ab drei wieder im Arbeitszimmer. Am späten Nachmittag wird gekocht und gegessen, danach spielen mein Mann und ich gern eine Partie Scrabble. Allerdings werden diese Gewohnheiten ständig über Bord geworfen, wenn zum Beispiel Besuch kommt. Ein Nachmittag pro Woche gehört meinen Enkelkindern. In der Freizeit lese ich natürlich gern. Nebenher koche ich, bügle, fülle Wasch- und Spülmaschine, lasse dabei den Kopf leerlaufen und fühle mich durch profane Arbeit wieder geerdet. Welche Schreibrituale haben Sie? Ich brauche viel Licht, einen bequemen Stuhl, einen tadellosen Bildschirm und nicht zu viele Unterbrechungen. Aber ich bin keine Zwangsneurotikerin, die scheitert, wenn nicht alle Bleistifte gespitzt und nach Größe geordnet parat liegen. Wer in Ihrer Familie liest Ihre Bücher als Erster? Mein Mann. Hat Ihre Mutter Ihre Bücher gelesen?
Meine Mutter konnte nur meine beiden letzten Bücher nicht mehr lesen. Ihre Kommentare waren die einer stolzen Mama: »Sehr niedlich!« Welche Leserrückmeldung hat Sie besonders gefreut, welche besonders irritiert? Es freut mich, wenn Leser behaupten, dass ihnen meine erfundenen Protagonisten leibhaftig über den Weg gelaufen sind. Ein altes Tantchen kränkte mich mit den Worten: »Pfui, wie kannst du nur so etwas Abscheuliches schreiben!« Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Geschichten, Ihre Romanfiguren? Im Laufe meines Lebens habe ich viele Menschen kennengelernt, und dieser Prozess ist noch längst nicht abgeschlossen. Ich beobachte mit Leidenschaft, ich phantasiere gern und muss zuweilen nur eine halbe Stunde in einer Hotelhalle sitzen, um mir einen neuen Typ aus arglosen Passanten zusammenbasteln zu können. Ihre Mutter ist 106 Jahre alt geworden, Sie haben sie 16 Jahre lang zu Hause gepflegt. Wie kam es dazu? Sind Ihre Erfahrungen in Ihren neuen Roman eingeflossen? Nun, ich musste meine Mutter anfangs überhaupt nicht pflegen. Als sie mit 90 Jahren zu uns zog, war sie noch
Illustrationen: © Jean-Jacques Sempé; Foto: © Isolde Ohlbaum
Ingrid Noll mit ihrer Mutter Gertrud Foto: © Isolde Ohlbaum
Diogenes Magazin
D7
Meiner Mutter habe ich mit der Pudding-Kur das Leben gerettet. und abends eine Altenpflegerin zum Waschen, Baden, Windeln, An- und Ausziehen. Wie sah der Alltag aus? Morgens brachte ich ihr Frühstück und Zahnprothese ans Bett. Gegen neun war sie damit fertig und studierte die Börsennachrichten, dann kam die Pflegerin. Gewaschen und im FleeceAnzug saß meine Mutter schließlich im Sessel und löste Kreuzworträtsel. Zum Mittagessen servierte ich ihr das 8
D Diogenes Magazin
Tablett am Tisch. Am Ende ihres Lebens musste ich sie allerdings oft füttern. Nach dem Essen brachten wir sie wieder zu Bett, wo sie bis drei Uhr Siesta hielt. Danach bekam sie Kaffee und etwas Süßes, um sechs ein Butterbrot, ein Glas Milch und Obst. Schließlich erschien wieder eine Pflegerin und machte sie bettfertig. Wir legten ihr die Fernbedienung und die Kopfhörer in Reichweite und ließen sie allein. Bevor ich selbst ins Bett ging, sah ich noch einmal nach meiner Mutter. Meistens schlief sie bei laufendem Fernseher, so dass ich ihr den Kopfhörer abnahm und das Gerät ausschaltete. Alle sechs Wochen schnitt ich ihr die Haare. Gern teilten wir ihr mit, was es Neues in der Familie gab, schrieben ihr die Namen der Urenkel auf und zeigten Fotos. Notgedrungen beantworteten wir auch die Anfragen der Krankenkasse und andere Post. Gelegentlich konnte ich ihr auch von meinen Reisen etwas Interessantes erzählen: Zum Beispiel hatte ich einmal eine Lesung im Geburtsort meiner Mutter und wohnte im Haus ihrer Eltern, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbracht hatte. Sie freute sich sehr, dass die schöne Jugendstilvilla, 1900 von meinen Großeltern erbaut, jetzt im Besitz einer sympathischen Familie ist. Alles wurde erhalten und behutsam restauriert und modernisiert. Welche Probleme gab es? Immer wenn ich unterwegs war, hat mein Mann für meine Mutter gesorgt, und zwar vorbildlich und sehr liebevoll. Aber wir konnten das Haus nicht allzu lange gemeinsam verlassen; der Urlaub musste langfristig geplant werden, damit eines meiner Geschwister ins Haus kam und sich um unsere Mutter kümmerte. Spontanes Wegfahren war nicht möglich. Insofern waren wir in der eigenen Freiheit stark beschnitten. Worin besteht der Unterschied zwischen dem Aufziehen eines Kleinkindes und der Pflege eines betagten Menschen? Ein Kleinkind macht ständig Fortschritte, bei sehr alten Menschen ist
Illustrationen: © Jean-Jacques Sempé
in bester Verfassung, arbeitete im Garten, fuhr mit dem Bus zur Bank, strickte und las viel. Sie verlor erst ihre Selbständigkeit, als sie sich das Bein brach, operiert wurde und nur noch wenige Schritte – mit Hilfe – laufen konnte. Natürlich habe ich den Verlust ihrer Vitalität aus nächster Nähe miterlebt und konnte daher authentische Erfahrungen in meinen Roman einflechten. Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter, bevor Sie sie zu sich nach Hause genommen haben und während dieser 16 Jahre? Im Grunde war meine Mutter eine Lady der alten Schule, die sich nicht gehenließ, ein »standhafter Zinnsoldat«, wie ihre Enkel sagten. Als Kind hätte ich mir vielleicht etwas mehr herzliche Zuwendung gewünscht, aber als Erwachsene wusste ich ihre kluge Zurückhaltung und Diskretion sehr zu schätzen. Natürlich hat sich unser Verhältnis geändert, als sie immer hilfsbedürftiger wurde. Aber mein Respekt, wie sie sich ohne Jammern in ihr Schicksal fügte, ist riesengroß. Und meine Dankbarkeit und Zuneigung ebenso. Wie haben Sie sich um sie gekümmert? Hatten Sie Hilfe von Pflegern? Meine Mutter hat selbst entschieden, dass sie die peinlichen Angelegenheiten nicht den nächsten Angehörigen zumuten wollte. Also kam morgens
das Gegenteil der Fall. Bei einem Erwachsenen neigt man eher dazu, ungeduldig oder gar vorwurfsvoll zu reagieren, wenn etwas partout nicht mehr klappen will. Wenn zum Beispiel das Bett schon wieder neu bezogen werden muss und so weiter. In Ihrem Roman heißt es einmal: »Nach über fünfzig Ehejahren schweigen sich Paare sowieso die meiste Zeit an, immerhin besser als Streit.« Sie sind über fünfzig Jahre verheiratet, was ist das Geheimnis Ihrer glücklichen Ehe? Wir schweigen uns eben nicht an, sondern reden oder diskutieren viel miteinander. Wichtig ist, dass wir Platz im Haus haben und uns nicht 24 Stunden täglich auf die Nerven gehen müssen. Sie haben Germanistik und Kunstgeschichte studiert, das Studium aber abgebrochen, um eine Familie zu gründen. War das im Rückblick die richtige Entscheidung? Es war natürlich Drückebergerei und nicht empfehlenswert. Eine der Figuren in Ihrem Roman ist Buchhändlerin und mit einem Ingenieur verheiratet, hat aber eine Affäre mit einem literaturinteressierten Lehrer. Sind gemeinsame Interessen für eine Beziehung wichtig? Ganz ohne gemeinsame Interessen wird eine Beziehung schal. Aber natürlich muss jeder auch eigene Schwerpunkte setzen. Wenn der Mann Fußballfan ist und die Frau gern in die Oper geht, dann sollten sich beide über die Eigenständigkeit des Partners freuen und nicht missionarisch auf ihn einwirken. Im Roman wirft der Großvater mit lateinischen Sprichwörtern um sich und irritiert damit seine Umwelt. Haben Sie Latein gelernt? Ich habe zwar das große Latinum (nolens volens), war aber faul und schlecht in diesem Fach. Sie beschreiben in Ihrem Roman sehr ergreifend (und witzig) das sogenannte Durchgangssyndrom. Haben Sie das bei einem Verwandten erlebt? Bei meiner eigenen Mutter kam es gelegentlich zu Halluzinationen. Die Verwirrung alter Menschen kann ko-
misch sein, aber auch erschütternd und tragisch. Man sollte nicht versuchen, ihnen die bedrohlichen Wahnvorstellungen einfach auszureden, denn sie sind für den Kranken absolut reell. Aber man kann trösten und versichern, dass sie beschützt werden und ihnen nichts Schlimmes passieren wird. Im Roman ist Max »der Wunsch gleichaltriger Kommilitonen, möglichst früh aus dem elterlichen Haus auszuziehen« fremd. Wie war das bei Ihren Kindern? Unsere Söhne sind früh zu ihren älteren Freundinnen übergelaufen, kamen aber als Asylanten zurück, wenn die Liebe erloschen war. Auch die Tochter ging zum Studieren nach Berlin. Glücklicherweise waren alle drei keine Nesthocker, sonst hätte ich immer noch kein eigenes Zimmer. Wir oft sehen Sie Ihre Kinder, Ihre Enkelkinder? Ein- bis zweimal pro Woche. Max pflegt seinen Großvater nach dessen Sturz mit Pudding gesund – ist das ein geheimes Familienrezept? Meiner Mutter, die nach dem Krankenhausaufenthalt das Essen verweigerte, habe ich wohl mit der PuddingKur das Leben gerettet. Andersherum versuchen die Eltern von Max, den Großvater mit rabiaten Methoden loszuwerden, zum Beispiel mit der Stolpermethode. Wie kamen Sie auf die Idee? Liegt doch auf der Hand: Hinfällig kommt von hinfallen. Wie können Sie sich erklären, dass alte Leute von überfordertem Heimpersonal gequält oder sogar umgebracht werden? Nicht jeder ist für diesen Beruf geeignet. Es gehört viel Geduld, Empathie und menschliche Größe dazu; eigene Bedürfnisse müssen oft zurückgestellt werden. Lassen sich Frauen leichter betreuen als Männer? Es ist möglich, dass Frauen besser mit dem demütigenden Verlust der Selbstbestimmtheit fertigwerden. Könnten Sie sich vorstellen, Ihren Lebensabend in einem Altenheim zu verbringen? Diogenes Magazin
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dern eher eine surreale Ausschmückung. Oder ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn böse Gedanken in Taten umgesetzt würden? Sie sind mit einem Arzt verheiratet, und auch Ihr Vater war Arzt – waren Krankheit und Tod zu Hause immer schon ein Thema? Mein Vater sprach zuweilen beim Mittagessen über den Verlauf einer Operation, mein Mann konnte auch abends die Sorgen um seine Patienten nicht immer ausblenden. Wie viele Ideen zu weiteren Romanen haben Sie noch? Im Vorratsschrank liegt noch ein voller Sack. Es geht mir ja um menschliche Verhaltensformen, und da gibt es unendlich viele Variationen und Möglichkeiten. Welchen Traum möchten Sie sich noch unbedingt erfüllen? Anlässlich unserer Goldenen Hochzeit hatten wir unsere Kinder und Enkel zu einem Urlaub nach Apulien eingeladen. Es war traumhaft schön und seltsamerweise absolut harmonisch, so dass ich es in ähnlicher Form
gern wiederholen möchte. Wenn man kleinen Kindern beim selbstvergessenen, kreativen Spiel zuschaut, ist es eine wunderbare Therapie gegen das Altwerden. kam
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Buchtipp
Ingrid Noll Ehrenwort
Roman · Diogenes
336 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06760-6 Auch als Hörbuch
Ingrid Nolls neue bitterböse Kriminalkomödie erzählt von einer Familie, die das Altern anpackt – auf unkonventionelle Art.
Foto: © Jörg Sänger, Medienfabrik Gütersloh GmbH
Angeblich existieren Gnadenhöfe für Zirkuspferde; in Wien gibt es zum Beispiel ein Heim für alte Künstler. So etwas könnte doch ganz lustig sein. Ihre Mutter ist 106 Jahre alt geworden, Ihre Großmutter 105, Sie werden am 29. September 75 … Leider bin ich – als notorische Schreibtischtäterin – längst nicht so fit, wie es meine schlanke, asketische Mutter war. Aber ich werde mich bemühen, wenigstens schlappe hundert zu werden. Welche Kriminalromane mögen Sie? Als ich vor vielen Jahren Patricia Highsmith entdeckte, war ich sofort begeistert. Unter meinen deutschsprachigen Kollegen und Kolleginnen habe ich ebenfalls Favoriten, neuerdings auch Hansjörg Schneider mit seinen kauzigen Hunkeler-Romanen. In Ihrem neuen Roman gibt es weniger Tote als in den früheren, warum? Zuweilen bin ich des Mordens müde, man wirft mir bereits Altersmilde vor. Doch der Tod gehört zum Leben. Im Übrigen sind die Leichen nicht die Hauptsache in meinen Büchern, son-
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PSYCHOLOGIE HEUTE
habe Schnelllesen gelernt. Ich kann Krieg und Frieden in zwei Sekunden lesen. Es sind zwar nur drei Wörter, aber immerhin.« Tim Vine stellte übrigens 2004 den Guinness-Rekord für die meisten Witze auf, die ein Mensch in einer Stunde erzählen kann: 499 waren es an der Zahl. Leider hielt Tim Vines Rekord nur bis Mai 2005, als der Australier Anthony »Lehmo« Lehmann ganze 549 erzählte.
Krieg und Frieden Als vor zwei Jahren der TV-Vierteiler Krieg und Frieden in Deutschland zum Quotenhit wurde, stieg die Nachfrage nach der literarischen Vorlage, und auch die Diogenes Ausgabe von Tolstois Opus magnum verkaufte sich stärker als sonst. Ob auch alle die 2122 Seiten gelesen haben? Die Freundin einer Diogenes Lektorin jedenfalls bekannte ganz freimütig, die langen Beschreibungen der Kriegsszenen übersprungen zu haben. Was ihr gutes Recht ist, denn laut Daniel Pennac gehört zu den unantastbaren Rechten des Lesers unter anderem das Recht, Seiten zu überblättern. Die Leserin, die die Schlachtszenen übersprang, hat genau genommen nicht Tolstois Krieg und Frieden gelesen, sondern den Roman Frieden. Jetzt gibt es einen neuen Grund, Tolstoi vollständig zu lesen – mit oder ohne Schlachten: Am 20. November wird Tolstois 100. Todestag begangen. Übrigens kann man den feinen Unterschied zwischen amerikanischem und britischem Humor gut an einem Witz erkennen, der mit Tolstois Krieg und Frieden zu tun hat. Sehr bekannt ist Woody Allens Scherz: »Ich habe einen Schnelllesekurs gemacht und danach Krieg und Frieden in zwanzig Minuten gelesen. Es spielt in Russland.« Und kennen Sie die Variante des britischen Comedians Tim Vine? »Ich 12
D Diogenes Magazin
Verleger des Jahres Diogenes Gründer und Verleger Daniel Keel wurde in Anerkennung seiner verlegerischen Arbeit zum ›Schweizer Buchmenschen des Jahres 2010‹ gewählt. Die Fachzeitschrift Schweizer Buchhandel vergab den Preis in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband (SBVV) und dem Schweizer Buchzentrum (BZ) zum ersten Mal. Diogenes Autor Urs Widmer hielt die Laudatio, die im nächsten Diogenes Magazin zu lesen sein wird.
Daniel Keel, Karikatur von Federico Fellini
Vier Bände in Kassette detebe 21970, 2122 Seiten
Goldene Eulen
Eine alte Traditon im Diogenes Verlag ist die Verleihung der Goldenen Diogenes Eule an Autoren, die entweder über 1 Million Bücher verkauft haben oder ihr 25-jähriges Verlagsjubiläum feiern. Vor kurzem wurden so Hartmut Lange (links) und Ian McEwan ausgezeichnet – in beiden Fällen über-
gab Winfried Stephan (Mitglied der Geschäftsleitung / Programm) im Namen der Diogenes Verleger Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart die Auszeichnung, die nach einer Zeichnung von Tomi Ungerer gestaltet ist.
Illustration links: © Bosc; Illustration rechts: © Federico Fellini; Foto links: © Archiv Diogenes Verlag; Foto rechts: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag; Foto ›Goldene Eule‹: © Diogenes Archiv
Schaufenster
Die Phantasie an die Macht!
In eigener Sache
Wissen Sie, welche Straßen in Paris als Grad sein Gewissen dem Gesetzgeber erste asphaltiert wurden? Die Straßen überlassen? im Quartier Latin, dem StudentenKühn reklamierte Thoreau, eben viertel um die Sorbonne. Nach den erst dreißig geworden, ein individuel68er-Unruhen wollte man rund um les Gewissensrecht gegen ungerechte die Universität keine MehrheitsentscheidunStraßen mit Pflastergen: »Wenn das Gesetz steinen mehr (wahrdich zum Arm des scheinlich fehlten die Unrechts macht, dann, meisten sowieso). sage ich, brich das GeAls es 1968 noch setz.« Oder: »Wir sollH. D.Thoreau hieß: Pflasterstein in der ten erst Menschen sein, Über die einen Hand, Buch in und danach UntertaPflicht zum Ungehorsam der anderen, gehörte nen.« gegen den neben Mao und Marx »Mahatma Ghandi Staat und andere Essays besonders ein Buch zur verteilte die Schrift wie Pflichtausrüstung der ein Lehrbuch unter Diogenes Jugend: H. D. Thoreaus seine Schüler; AnhänÜber die Pflicht zum ger der amerikanischen Diogenes Taschenbuch detebe 20063, 96 Seiten Ungehorsam gegen den Bürgerrechtsbewegung Auch als Hörbuch Staat. Und das, obwohl trugen sie im MarschgeThoreaus Essay bereits päck», so Der Spiegel. 1849 geschrieben wurde. Jetzt ist das bahnDoch die Kernfragen brechende Brevier für der Demokratie, die alle Unangepassten und Thoreau darin stellte, Verweigerer endlich sind bis heute aktuell: wieder lieferbar, als Darf eine Mehrheit über »kleines weißes« DioRecht und Unrecht, genes Taschenbuch und ja sogar über Gewisauch als Diogenes Hörsensfragen entscheiden? buch – gelesen vom leDarf der Bürger auch gendären Helmut QualHelmut Qualtinger, Karikatur von Friedrich nur für einen Augentinger. Dürrenmatt blick und im geringsten
Noch nicht mal zwei Jahre alt und schon einen Preis gewonnen. Das Diogenes Magazin wurde mit dem ›Best of Corporate Publishing Award 2010‹ in der Kategorie Business to Client Rubrik Kultur mit Silber ausgezeichnet. Mit über 600 eingereichten Publikationen ist der BCP Europas größter Wettbewerb für Unternehmenspublikationen.
FESTSPIELKALENDER
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»Eigentlich sollte ich mich freuen – Drittbester im Brummen – aber trotzdem …«
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Illustration links: © Friedrich Dürrenmatt; Illustration rechts: © F. K. Waechter
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Wie viel Staat braucht der Mensch? Und warum braucht der deutsche Mensch besonders viel? Wo liegen im Widerstreit von Freiheit und Paternalismus, mit Wilhelm von Humboldt gesprochen, „Die Grenzen der Wirksamkeit des Staats“?
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DIE GRENZEN DER WIRKSAMKEIT DES STAATS
» Ideen zu einem Versuch
zu bestimmen «
Über Freiheit und Paternalismus
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Doppelheft 736 / 737 September / Oktober 2010 € 21,90 / sFr 34,90 / € 22,60 (A) ISBN 978-3-608-97128-6 Erscheint Mitte September
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Buchgeschichte Auch Bücher haben ihre Geheimnisse, Zum Verständnis hier Kurt Tucholskys wie dieser Leserbrief zeigt: Geschichte Der Floh aus dem DiogeEtwas Merkwürdiges ist mir pas- nes Taschenbuch Kurz und bündig. siert, und ich möchte Ihnen kurz dar- Die schnellsten Geschichten der Welt. über berichten. Im Buch Kurz und bündig las ich auf Seite 17 Kurt Tu- Im Département du Gard – ganz richcholskys Kurzgeschichte Der Floh, tig, da, wo Nîmes liegt und der Pont die mit dem Satz endet: »Als der Brief du Gard: im südlichen Frankreich –, ankam, war einer drin.« da saß in einem Postbüro ein älteres Unter diesem Satz sah man links Fräulein als Beamtin, die hatte eine am Seitenrand einen kleinen längli- böse Angewohnheit: Sie machte ein chen Punkt, der sich mit der Lupe be- bisschen die Briefe auf und las sie. trachtet als winzig kleiner Floh her- Das wusste alle Welt. Aber wie das so ausstellte, es war zumindest ein Insekt in Frankreich geht: Concierge, Telemit sechs Beinen. Ich erzählte meiner fon und Post, das sind geheiligte InstiFrau kurz die Geschichte und zeigte tutionen, und daran kann man schon rühren, aber daran darf ihr den kleinen gedruckten Punkt, den auch sie man nicht rühren, und mit der Lupe als Floh so tut es denn auch keiidentifizierte. ner. Einige Stunden später – Das Fräulein also las ich hatte inzwischen in die Briefe und bereitete dem Buch weitergelemit ihren Indiskretiosen – wollte ich mir nen den Leuten manKurz und bündig den Floh mit einer stärchen Kummer. Die schnellsten Geschichten der Welt keren Lupe noch mal Im Département von Anton ¢echov, Franz Kafka, Robert Walser, F. Scott Fitzgerald, genauer ansehen und wohnte auf einem schöW. Somerset Maugham, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Loriot, Doris Dörrie, John Irving und anderen konnte meinen Augen nen Schlosse ein kluger Diogenes nicht trauen: Der Floh Graf. Grafen sind war weg. Nicht mehr zu manchmal klug, in Diogenes Taschenbuch sehen, auch mit der starFrankreich. Und dieser detebe 23680, 224 Seiten ken Lupe nicht! Graf tat eines Tages War das alles eine Sinnestäuschung? Folgendes: Er bestellte sich einen GeOder ist das ein in das Buch eingear- richtsvollzieher auf das Schloss und beiteter Trick? schrieb in seiner Gegenwart an einen Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Freund: wenn Sie mich aufklären könnten. Lieber Freund! Da ich weiß, dass das Postfräulein Mit freundlichen Grüßen Emilie Dupont dauernd unsre Briefe Rudolf Schwan öffnet und sie liest, weil Neuenstadt am sie vor lauter Neugier Kocher (D) platzt, so sende ich Dir inliegend, um ihr einLeider konnten wir das mal das Handwerk zu Rätsel auch nicht lösen. legen, einen lebendigen Ein Trick war es jedenFloh. falls nicht, und da das Corpus Delicti Mit vielen schönen Grüßen, nicht mehr vorhanden war, kann auch Graf Koks nicht überprüft werden, ob es sich viel- Und diesen Brief verschloss er in Geleicht um einen Bestimmungsfehler genwart des Gerichtsvollziehers. Er handelte und der vermeintliche Floh legte aber keinen Floh hinein. nicht gar eine Loriot-Steinlaus war. Als der Brief ankam, war einer drin.
Illustration: © Loriot
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Serie
Lesefrüchtchen
»Die meisten lesen gern über das, was sie schon kennen, und es gibt sogar ein Publikum für das Wetter von gestern.« Nancy Mitford
wieder fast das volle Menü, das neue Buch eines Kollegen nehme ich nicht aus der Mappe, ich komme nicht dazu und weiß Stunden lang nicht, was tun, bis früher oder später (meistens über Labrador) eine Hostess kommt und sich ein Autogramm von Friedrich Dürrenmatt wünscht.« Max Frisch, ›Entwürfe zu einem dritten Tagebuch‹. Herausgegeben von Peter von Matt, Suhrkamp Verlag mal versuchte. Endlich hörte er sie sagen: ›Da ist jemand im Schrank.‹« Aus: Ian McEwan, ›Unschuldige‹ Schicken Sie uns bitte (Diogenes Taschenbuch 22579) Ihre Lieblingssätze aus Eingeschickt von Manfred Röllinghoff, einem Diogenes Buch, Aschaffenburg eine Auswahl veröffentlichen wir im nächsten »Wenn Egon erzählt, drückt einem, Diogenes Magazin. während man wiehert vor Vergnügen, Bitte mailen an: zuweilen eine kalte nasse Hand innen msc@diogenes.ch das Herz zusammen. Ich glaube, er seloder auf einer Postkarte an: ber will sich immer wieder als ein heiteDiogenes Magazin rer oberflächlicher Egon sehen, um Sprecherstr. 8 nicht von seiner eigenen Lava verschlun8032 Zürich, Schweiz gen zu werden. Er bückt sich beim Wandern, um eine Raupe in Sicherheit zu bringen. Aber stell einen Lastwagen mit »Abmachungen mit sich selbst sind Wi- Nitroglyzerin vor die Tür, und er balgt derspiegelungen der Erwartungen, die sich darum, ihn über Schottwerwege in die Umgebung an einen hat.« die Berge fahren zu dürfen.« Aus: Connie Palmen, ›Luzifer‹ Aus: Urs Widmer, ›Liebesnacht‹ (Diogenes Taschenbuch 24015) (Diogenes Taschenbuch 21171) Eingeschickt von Jörg Reinhardt, Berlin Eingeschickt von Bärbel Lieb
»Nach der Pass-Kontrolle und der Durchleuchtung (ich zeige die beiden Dunhill-Dosen im Voraus und werde nur selten nach Waffen abgetastet) das Warten in den Kunstledersesseln. Endlich ist es so weit, FASTEN YOUR SEATBELT, es kommt die Zeit für Leitartikel, dazu das Bedürfnis nach einem Whiskey, aber wir stehen noch auf der Piste, das Abheben von unserer Erde ist seit Jahrzehnten keine Sensation mehr, und ich lese dabei. Wie oft im Jahr wird mir die gelbe Schwimmweste vorgeführt? Wider alle Vorsätze verfuttere ich
»War es Unkenntnis oder Unschuld, dass er sich einbildete, das immer raschere Pochen ihres Herzens an seinem Arm sei Erregung, die weitaufgerissenen Augen, die winzigen Schweißperlen auf ihrer Oberlippe, die Schwierigkeiten, die sie hatte, ihre Zunge zu bewegen, um ihre Worte zu wiederholen – das alles gelte ihm? Er neigte sich näher zu ihr. Sie wisperte im denkbar leisesten Flüsterton. Ihre Lippen streiften sein Ohr, die Silben klangen pelzig. Er schüttelte den Kopf. Er hörte, wie sich ihre Zunge löste und es noch ein-
»Wenn du vieles überflogen hast, nimm dir täglich ein Wort heraus. Ich tue das auch. Aus dem, was ich lese, greife ich mir einen Spruch heraus.« Seneca
»Einen Satz, den ich nie wieder hören möchte: ›Und so ernenne ich euch zu Mann und Frau.‹« Meir Shalev in einem Fragebogen im ›Tagesspiegel‹, Berlin »Wenn man mir die Kamera wegnimmt, dann habe ich noch immer einen Bleistift. Und wenn man mir das Papier wegnimmt, dann schreibe ich eine Geschichte auf diese Tischdecke.« Doris Dörrie in einem Interview mit dem Magazin ›Neon‹
Illustration: © Tomi Ungerer
»Ich fand es schon als Kind einzigartig: Man schreibt etwas, und jemand anderes kann es deuten. Zauberhaft.« Ingrid Noll in einem Interview mit der ›Zeit‹
»Travel, trouble, music, art / A kiss, a frock, a rhyme – / I never said they feed my heart, / But still they pass my time.« Dorothy Parker »Aufgabe des Menschen: Steuermann seines Narrenschiffes zu sein.« Egon Friedell, ›Steinbruch‹ »Das Leben ist ein Labyrinth, in dem wir den falschen Weg einschlagen, bevor wir laufen gelernt haben.« Palinurus, ›Das ruhelose Grab‹
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Foto: Š Matthias Willi
Interview
Ein Interview mit Rolf Dobelli
Der Gotthardtunnel ist das Schweizer Urgestein
Foto: © Archiv Rolf Dobelli
Der Held in Rolf Dobellis neuem Roman ›Massimo Marini‹ ist ein Mann, dessen Aufstieg vom Gastarbeiterkind zum Bauunternehmer phänomenal ist. Umso tiefer ist der Fall. Im Mittelpunkt des Romans steht der Gotthard-Basistunnel, mit 57 Kilometern der längste Tunnel der Welt. Für Mitte Oktober ist der finale Durchstich geplant, ein Jahrtausendbauwerk. Diogenes Magazin: Die Hauptfigur Ihres neuen Romans Massimo Marini ist, wie man in der Schweiz sagt, ein Secondo. Was ist das? Rolf Dobelli: Das sind Kinder von Einwanderern, die hier geboren und aufgewachsen sind. In meiner Jugend waren dies vorwiegend Kinder italienischer Eltern – wie Massimo Marini. Der Begriff ist in der Schweiz durchaus positiv besetzt – auch von den Secondos selbst. Sie fühlen sich nicht verloren im Niemandsland zwischen den Kulturen, wie man ja annehmen könnte, sondern beiden Kulturen zugehörig. Zu Hause sind sie ganz Italiener; dort wird italienisch gesprochen, gegessen, gebetet. In der Schule und im Alltag sind sie Schweizer. Wir Schweizer Kinder haben die Secondos darum – auch wenn wir das nicht zugeben wollten – stets ein bisschen beneidet. Sie waren für uns der erste Kontakt mit einer anderen Welt. Sie waren Underdogs, aber sie hatten
diese natürliche Grandezza – expressive Gestik, Italianità. Und unter der rauhen Schale ein riesiges Herz. Ich denke nicht, dass man die Kinder eines amerikanischen oder deutschen Ehepaars, die in der Schweiz geboren sind, als Secondos bezeichnen
Der Gotthardtunnel als Süd-Nord-Verbindung ist Sinnbild für die geographische und kulturelle Bewegung der Gastarbeiter. kann. »Secondo« hat mit Gastarbeitern oder Flüchtlingen zu tun, mit Schichten, aus denen manchmal ein kometenhafter Aufstieg gelang – wie jener von Massimo Marini. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?
Emmenbrücke, ein Vorort von Luzern, ist meine Heimat. Dort bin ich aufgewachsen. Manche sprechen von der »Bronx der Schweiz«. Es ist die Schweizer Gemeinde mit dem höchsten Ausländeranteil. Unsere Schule war voller Secondos. Auf den Straßen hörte man Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und viel Schweizerdeutsch mit stark italienischem Einschlag. Erst rückblickend wurde mir klar, welch einzigartiges Biotop dieses Emmenbrücke war – und noch immer ist. Was hat der Gotthardtunnel damit zu tun, um den es in Ihrem Roman auch geht? Der Gotthard ist das Schweizer Urgestein schlechthin – und der Tunnel, als Süd-Nord-Verbindung, Sinnbild für die geographische und kulturelle Bewegung der Gastarbeiter. Wie ich auf das Thema gestoßen bin, kann ich Ihnen aber nicht sagen. Als Schriftsteller probiert man ein Dutzend Geschichten aus, und plötzDiogenes Magazin
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Schwärmen, wenn ich an diese Meisterleistung denke. Überhaupt komme ich ins Schwärmen angesichts dieses Jahrhundertbauwerks. Es freut mich sehr, dass der Tunneldurchstich zeitgleich mit der Publikation des Romans erfolgt. Was für Menschen bauen diesen Tunnel? Was hat Sie beeindruckt? Bei früheren Tunnelbauten in der Schweiz waren dies hauptsächlich Italiener. Heute sind es vorwiegend Österreicher und Deutsche im Alter von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren. Der Job des Mineurs ist anspruchsvoll, technisch knifflig und gefährlich. Kein einziger Mineur, mit dem ich gesprochen habe, möchte mit einem Bauarbeiter auf der Erdoberfläche tauschen. Die sind alle so stolz, Mineur zu sein. Es ist eine verschworene Truppe – wie eine Kompanie, die schon einige Kriege hinter sich hat. Was bedeutet dieser Tunnel für die Schweiz, für Europa? Zuerst einmal ist es ein Weltrekord. Mit 57 Kilometern Länge ist der Gotthard-Basistunnel der längste Tunnel der Welt. Für Europa bedeutet er ein Jahrhundert-, wenn nicht ein Jahrtausendbauwerk. Zürich wird zum Vorort von Mailand oder umgekehrt. Und er ist ein Quantensprung für den Schienenverkehr. Es wird nun zum ersten Mal wirtschaftlich sinnvoll sein, Güter auf der Nord-Süd-Achse per Zug statt per LKW zu transportieren – mit allen Vorteilen in puncto Ökologie. Am Anfang Ihres Romans steht Massimo Marini auf dem Höhepunkt seines beruflichen und privaten Erfolgs, danach kommt ein steiler Fall. Hat Ihnen das Beschreiben nicht weh getan? Doch, natürlich. Wenn man sich so sehr mit einer Person identifiziert, wie es beim Schreiben der Fall ist, wenn man sich monatelang in seinem Zimmer einschließt, um eine solche Person zu erfinden und auszufeilen, erlebt man den Aufstieg und den Niedergang seines Protagonisten am eigenen Leib. Die Aufgabe liegt darin, diese Empfindungen auf den Leser zu übertragen.
Fotos: © AlpTransit Gotthard AG
lich merkt man, dass eine zieht. Es ist ein bisschen wie Angeln. Wo es zieht, da schreibt man weiter und lässt die anderen Entwürfe liegen. Wie das genau funktioniert, bleibt ein Rätsel. Waren die Italiener nach dem Zweiten Weltkrieg die Einwanderungsgruppe Nummer eins in der Schweiz, sind es seit einigen Jahren die Deutschen. Gibt es hier ähnliche Konflikte wie damals? Nach den Italienern kamen die Spanier, die Portugiesen, die Tamilen, dann die Türken, die Ex-Jugoslawen, heute die Deutschen – und alle produzieren andere Geschichten. Es ist wie in der Chemie: Je nachdem, was man zusammengießt, passiert etwas anderes. Im Roman baut Massimo Marini mit seinem Bauunternehmen am Jahrhundertbauwerk des GotthardBasistunnels mit. Haben Sie vor Ort recherchiert? Ich war zwei Mal drin im Stollen. Das erste Mal 2005, das zweite Mal 2009. Ein guter Freund ist Besitzer und Geschäftsführer einer der größten Baufirmen der Schweiz. Er ermöglichte mir die beiden Besuche bis hin an die Stollenbrust, also dort, wo seine Mineure bohren und sprengen. Ein einmaliges Erlebnis. Ich schlüpfte in einen orangefarbenen Overall. Man verpasste mir einen Helm mit Stirnlampe, Gummistiefel und einen sogenannten Selbstretter. Das ist eine Art Schutzmaske für den Notfall. Vom Bergdorf Sedrun ging es einen halben Kilometer horizontal in den Berg hinein. Dann riss uns ein Lift fast einen Kilometer in die Tiefe. Das war die eigentliche Tunnelröhre. Und von dort aus nahm uns ein Transportzug sechs Kilometer bis an die Stollenbrust mit. Es ist gespenstisch dort unten – trotz der Beleuchtung. Was mich am meisten beeindruckte: Der Berg ist nicht fest. Er fließt. Er drückt den Tunnel wieder ein Stück zusammen. Die Mineure spannen deshalb gleich nach der Bohrung Eisenbögen, um dem Bergdruck entgegenzuwirken. Und es scheint zu funktionieren. Man stelle sich das vor: Eisenbögen gegen Millionen von Tonnen Fels! Ich komme ins
In seinen 21 Punkten zu den Physikern hat Dürrenmatt postuliert: »Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.« Hat Sie das beim Schreiben Ihres Romans beeinflusst? Eine Geschichte ohne dramatische Wendungen ist langweilig. Ich mag keine langweiligen Geschichten. Insofern haben mich seine 21 Punkte schon beeinflusst. Das heißt nicht, dass man als Schriftsteller unbedingt bis an die Dürrenmatt’sche Schallmauer gehen muss. Plot-Akrobatik um ihrer selbst willen taugt nichts. Der Schluss, auch wenn es der schlimmstmögliche ist, muss sich aus einer inneren Notwendigkeit heraus ergeben. Das darf man nicht überdrehen. Eine Geschichte, besonders ein Roman, muss glaubhaft bleiben. Nehmen Sie ◊echov. Seine Geschichten sind dramatisch, ohne penetrant akrobatisch zu wirken. Massimos Vater zwingt ihn, Architektur zu studieren, er schreibt sich an der philosophischen Fakultät ein. Was haben Sie studiert? Was hätten Sie gerne studiert? Studiert habe ich Betriebswirtschaft in St. Gallen. Wenn es ein Studium gibt, das die Welt nicht braucht, dann ist es BWL. Kaum eine Studienrichtung, die mehr Worthülsen und weniger Substanz produziert. Diese Überheblichkeit. Diese furchtbare Blasiertheit! Ich habe nie verstanden, warum St. Gallen dieses Eliteimage besitzt. Was ich während der vier Jahre dort gelernt habe, hätte ich in vier Wochen bequem und einfacher zu Hause aus Büchern gelernt. Warum ich nicht ausgestiegen bin? Was man angefangen hat, bringt man zu Ende – so meine damalige Überzeugung. In dieser Hinsicht bin ich reifer geworden. Wenn ich heute nochmals studieren würde, dann ganz klar Biologie. Es gibt keine spannendere Frage als die: »Was ist Leben, und wie funktioniert es?« Bekämpfen eigentlich die Söhne immer erst ihre Väter, um dann doch so zu werden wie sie?
Der Vater als Vorbild und Gegenbild, als Ziel und Antipol, als Gott und Hassobjekt. Eine furchtbar komplizierte Phase, die Adoleszenz. Wie froh ich bin, dass ich die hinter mir habe! Ich beobachte das oft, besonders bei Unternehmersöhnen: Sie wählen dann bewusst eine andere Karriere als der Vater. Sie studieren Philosophie, Kunstgeschichte oder Literaturwissenschaften, verbringen einige Zeit bei Greenpeace oder trotten um die Welt,
Als Schriftsteller probiert man ein Dutzend Geschichten aus, und plötzlich merkt man, dass eine zieht. Es ist wie Angeln. um schon nach wenigen Jahren selbst erfolgreicher Unternehmer zu werden. Massimo Marini ist keine Ausnahme. Was schreiben Sie als Nächstes? Das ist noch offen. Ich bin noch am Angeln. kam
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Buchtipp
Rolf Dobelli Massimo Marini
Roman · Diogenes
384 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06754-5
Es ist der Höhepunkt in der Karriere eines Mannes, als am 17. Oktober 2007 der erste große Durchstich des längsten Tunnels der Welt, des GotthardBasistunnels, gefeiert wird. Aber dieser Tag ist zugleich ihr Ende. Ein packender Gesellschaftsund Entwicklungsroman.
»Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern.« Friedrich Dürrenmatt, ›Justiz‹
Das Magazin für den überforderten Intellektuellen · Nr. 34
Friedrich Dürrenmatt · Martin Suter Patricia Highsmith · Hugo Loetscher · Peter von Matt Donna Leon · Tim Krohn u.a.
Wann tritt Europa der Schweiz bei?
Wilhelm Tell, neu dramatisiert von Urs Widmer
Peter von Matt über die Spannungen zwischen Hochdeutsch und Dialekt Mit Zeichnungen von Tomi Ungerer · H.U. Steger Tatjana Hauptmann · Friedrich Dürrenmatt u.a.
Diogenes Taschenbuch, detebe 22034 400 Seiten, nur € 8.– / sFr 15.– (empf. LP) / € (A) 8.30
Alle reden immer nur davon, ob die Schweiz es sich leisten kann, nicht der EU beizutreten. Warum fragt niemand umgekehrt: Wann tritt die EU der Schweiz bei? Denn die Schweiz ist, besonders in Krisenzeiten, das Sehnsuchtsland vieler und heute sogar Auswanderungsland Nr. 1 der Deutschen. Das neue ›Tintenfass‹ bietet ein literarisches Potpourri über die Insel des Wohlstands und des Glücks mitten in Europa.
»Einiges spricht dafür, dass der liebe Gott ein Schweizer sein könnte – weit weg und nur zuschauen, das ist ebenso göttlich wie schweizerisch.« Hugo Loetscher
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Illustration: Š Paul Flora
Essay
Donna Leon
Kriminelle Phantasien im Gotthardtunnel Mit Zeichnungen von Paul Flora Regelmäßig besucht Donna Leon ihren Verlag in Zürich, die meiste Zeit kommt sie aus Venedig mit dem Zug. Hier eine kleine Hommage an die Bahnfahrt zwischen Venedig und Zürich durch den Gotthardtunnel, der Donna Leon immer wieder zu kriminellen Phantasien inspiriert.
Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
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ine gewisse déformation professionelle droht wahrscheinlich in jedem Metier. Ich zum Beispiel bin, seit ich angefangen habe, Kriminalromane zu schreiben, auf Verbrechen fixiert. So unaufhaltsam, wie eine Purpurwinde dem Licht zustrebt oder eine Kürbisranke über den Komposthaufen emporklettert, kreist mein Denken beharrlich um dieses eine Thema. Das geht sogar so weit, dass meine Phantasie selbst die harmlosesten Situationen kriminalisiert und Verbrechen ersinnt, die daraus entstehen könnten, wenn ein habgieriger oder gewalttätiger Mensch sie sich zunutze machte. Wann immer ich bei einem Weinhändler ein paar Flaschen Prosecco kaufe, lasse ich in meiner Vorstellung stets auch einige Flaschen Tignanello oder Gaja mitgehen, die ich, in Stiefelschäften oder Jackenärmeln versteckt, aus dem Laden schmuggele. Ich weiß
nicht, in wie vielen Modeboutiquen Venedigs ich schon mit dem Plan geliebäugelt habe, beim Anprobieren mehrere Kaschmirpullis übereinander zu ziehen, bevor ich die Preisschilder entferne, in meinen Blazer schlüpfe
Die Bahnreise von Venedig nach Zürich und zurück ist etwas, worauf ich mich immer wieder freue. und mich unauffällig verdrücke. Und es gibt keinen Füller, kein Notizbuch in den Regalen der Schreibwarenhandlung Testolini, die ich nicht schon heimlich stibitzt hätte. Doch ich begnüge mich nicht allein mit Ladendiebstahl: Vielmehr habe ich schon so manche Geldbörse aus achtlos vor dem Katzenfutterregal bei
Billa geparkten Einkaufswägen entwendet oder mich auf überfüllten Vaporetti als Taschendiebin versucht. Und es ist erst wenige Wochen her, dass ich in London, in der St. George’s Church am Hanover Square, wie gebannt auf jenes Portemonnaie starrte, das neben mir auf der Kirchenbank aus einer offenen Handtasche lugte, während die leichtsinnige Besitzerin am Abendmahl teilnahm. Bei so viel krimineller Phantasie können Sie sich vielleicht vorstellen, was mir alles in den Sinn kommt, sobald mein Zug sich, mal von Norden, mal von Süden her, dem Gotthardtunnel nähert. Auf dem Weg in die Schweiz haben wir die Zollkontrolle da schon hinter uns, weshalb ich die elegante Dame im Auge behalten muss, die in Como zugestiegen ist und deren Koffer sicher nicht bloß Kleidung zum Wechseln enthält. Ganz zu schweigen Diogenes Magazin
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Folglich beginne ich schon zehn Kilometer vor Airolo, die Mitreisenden zu mustern und abzuschätzen, wie sie sich wohl verhalten werden, wenn das Unvermeidliche geschieht: Der Zug fährt in den langen Tunnel ein, und dann, genau in der Mitte, kommt es zu einem Störfall, der die Gleise in beide Richtungen blockiert. Wer wird den Helden geben, wer den Feigling und wer den Schurken? Wie lange werden wir festsitzen? Eine
Meine Schmuggelware beschränkt sich auf Parmigiano aus Italien und Schokolade aus der Schweiz.
Überlegung, die mich zwangsläufig zu den Wasservorräten führt: In den vierzig Jahren, die ich nun schon auf dem europäischen Schienennetz unterwegs bin, habe ich mich immer wieder gefragt, ob das acqua wirklich non potabile ist. Wie lange werden die Kräcker und die Panini im Bordbistro reichen? Wird die Beleuchtung ausfallen? Könnte ich mich dazu überwinden, eine Cola zu trinken? Werden wir von meinem Parmigiano nicht alle schrecklichen Durst bekommen? Da ich im Tunnel ungern lese, behalte ich die Protagonisten des Dramas im Auge, das ich gerade so eifrig zusammenbastle. Doch die gebärden
sich weder heldenmütig noch feige oder schurkenhaft, sondern bleiben ruhig auf ihren Plätzen, lesen, plaudern, schlafen und ahnen nichts von dem packenden Schicksal, das ich ihnen auf den Leib schreibe. Etwa auf halber Strecke des Tunnels muss ich mich leider jedes Mal von meinen abenteuerlichen Phantasien verabschieden. Denn in den fünfzehn Jahren, die ich nun schon zwischen Venedig und Zürich unterwegs bin, ist es noch nie vorgekommen, dass ein Zug seine Fahrt im Tunnel auch nur verlangsamt hätte. So viel zu den Riesenkrabben. Die eine oder andere Reise bleibt gleichwohl durch irgendeinen besonderen Vorfall in Erinnerung. So die nach Zürich vor ein paar Jahren an Ferragosto, dem Feiertag, der für die Italiener den Start in die Sommerferien bedeutet und an dem der große Exodus aus den Städten beginnt. Im Radio hatte man schon seit Tagen vor der Blechlawine gewarnt, die sich an diesem Wochenende in Gang setzen würde. Da ich als Bahnreisende nicht davon betroffen war, hatte ich mir nicht gemerkt, auf wie viele Zehntausende von Autos sich die Schätzungen beliefen. Aber als ich dann im Zug saß und ein paar Kilometer vor dem Tunnel beiläufig nach rechts blickte, wo die Autostrada parallel zu den Gleisen verläuft, da bot sich mir vor dem Fenster eine Szene wie aus einem jener Katastrophenfilme: Kilometerweit war der Verkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Die Insaßen tigerten um ihre Fahrzeuge herum, etliche hatten die Motorhaube hochgeklappt, bei manchen drang Dampf aus dem Kühler. STAU! Fehlte nur noch die Riesenkrabbe, die aus der Schlucht emporklettert und die kreischenden Autofahrer über die Böschung stürzt. An jenem Abend erfuhr ich, dass sich die Schlange vor dem Tunnel allein auf italienischer Seite über vier-
Illustrationen: © Paul Flora
von dem Typen mit dem schlechten Haarschnitt: garantiert ein Kurier, der größere Mengen Drogen, Diamanten oder Plastiksprengstoff, am Körper festgeklebt, außer Landes schmuggelt. Und warum haben die Beamten sich nicht den Pass des Mannes zeigen lassen, der zunehmend nervös wurde, als die Grenze näher kam? Auf der Rückreise nach Italien führen alle übrigen Passagiere natürlich haufenweise Bargeld mit, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wofür der ganze Zaster bestimmt ist. Zum Ankauf von Waffen? Mädchen? Politikern? Meine Schmuggelware, zu der ich mich freimütig bekenne, beschränkt sich auf Parmigiano aus Italien und Schokolade aus der Schweiz. Zwei Produkte, mit denen ich, sollte der Zug je im Gotthardtunnel stecken bleiben, gute Chancen hätte, zur neuen besten Freundin all meiner Abteilgenossen zu avancieren, habe ich doch jeweils genug Proviant dabei, um die ganze Siebte Flotte mindestens eine Woche lang zu verköstigen. Die Bahnreise von Venedig nach Zürich und zurück ist etwas, worauf ich mich immer wieder freue. Denn sie beschert mir jeweils acht Stunden ohne Telefon, Fax oder E-Mail. Acht Stunden reiner Lesezeit, unterbrochen von nichts als meiner Phantasie. Die funkt allerdings kräftig dazwischen. Als ausgesprochener Kinomuffel kenne ich Katastrophenfilme zwar nicht aus eigener Anschauung, aber ich habe immerhin so viel darüber gelesen, dass die brennenden Gebäude und sinkenden Schiffe mir ebenso geläufig sind wie jene Riesenkrabben, die sich nach irgendeinem atomaren Desaster die Erde untertan machen werden. Aus der Lektüre einschlägiger Bücher kenne ich überdies die Formel: Wann immer sich eine Katastrophe zusammenbraut, bricht sie auch aus. Irgendein Unheil lauert immer vor der Haustür. Oder im Tunnel.
zehn Kilometer erstreckt hatte. Wir dagegen waren glatt durchgekommen und pünktlich ans Ziel gelangt. Ein besonderes Vergnügen – das der Bahnreisende vornehmlich auf der Nordroute genießt, wenn sich die italienischen Passagiere vom heimischen Herd entfernen – ist die gemeinsame Mahlzeit. Das Land Italien mag sich offiziell zum katholischen Glauben bekennen, doch seine wahre Religion ist das Essen. Sicher hängt es mit dem Einfluss der Hl. Kommunion zusammen, dass Italiener sich geradezu moralisch verpflichtet fühlen, ihre Mahlzeiten mit allen Anwesenden zu teilen. Ich jedenfalls bin noch nie mit Italienern im selben Coupé gereist, ohne dass man mir nicht etwas angeboten hätte. Lehne ich dankend ab, so bestehen sie darauf, dass ich mich nicht ziere und ein Stück, eine Handvoll oder die Hälfte von Wasauch-immer annehme. Mindestens aber eine Kostprobe – »eigens von meiner Mutter zubereitet!« Was die Einladung tatsächlich in die Nähe eines Sakraments rückt. Seit ich sicher weiß, dass solche Angebote nicht aus bloßer Höflichkeit gemacht werden, nehme ich sie meistens an und komme so auf meinen Reisen in den Genuss von allerlei Obst, Sandwichhälften, riesigen Käsewürfeln. Nicht selten begleitet von einem Glas Wein oder frischgepresstem Saft aus Trentiner Äpfeln. Umgekehrt versteht es sich natürlich von selbst, dass ich, als ich mich einmal auf dem Heimweg in einem Abteil mit fünf Italienern wiederfand, meine Pralinenschachtel Cru Sauvage anbrach und herumreichte. Ein eigenartiges Phänomen, das ich auf Bahnfahrten wahrnehme, ist meine eigene Unsichtbarkeit. Die daher rührt, dass ich eine Frau im gewissen Alter bin, die weiße Haare hat und liest. Deshalb gehen die Zollbeamten an meinem Abteil vorbei und
übersehen mich ganz einfach. Sie achten auf junge Frauen, junge Männer, bemerken jeden, der wie ein NichtEuropäer aussieht oder einen besonders großen Koffer mitführt. Aber sie haben kein Auge für weißhaarige Frauen, die bloß dasitzen und lesen. Dadurch, dass ich mir meine Unsichtbarkeit an der Grenze nicht zunutze mache, verspiele ich womöglich die Chance auf eine interessante Verbrecherkarriere. Ich bin mir dessen wohl
Vor uns gähnt der Eingang des Tunnels, der mich immer noch auf den Beginn eines Abenteuers hoffen lässt.
bewusst, tröste mich aber mit dem Gedanken an den Parmigiano und die Schokolade. Die Bahn ist, ich gebe es unumwunden zu, mein bevorzugtes Verkehrsmittel. Man geht zum Bahnhof, besteigt den Zug, setzt sich ins Abteil, liest während der Fahrt, steigt wieder aus und ist am Ziel. Wer stattdessen von Venedig aus fliegen will, muss erst mit dem Boot zum Piazzale Roma, dann weiter mit dem Bus zum Flughafen, dort einchecken, Zoll- und Sicherheitskontrolle passieren und bis zum Abflug nicht selten längere Wartezeiten oder Verspätungen erdulden. Nach der Landung folgen neuerliche Kon-
trollen, Warten aufs Gepäck, Zugfahrt in die Stadt, endlich Ankunft. Die Zeitersparnis beträgt nur wenige Stunden, und überdies lässt der Stakkatorhythmus einer Flugreise die Ruhe und Beschaulichkeit vermissen, die man zum Lesen benötigt. Hinzu kommen emotionale und ästhetische Erwägungen. Flugpassagiere sind in der Regel mürrisch und in Eile – Bahnreisende dagegen geduldig und gesprächsbereit. Flughäfen sind – seien wir doch einmal ehrlich – verkappte Shopping-Center, in denen von der Sonnenbrille bis zur Babywindel alles sehr viel teurer verkauft wird als außerhalb des Airports. Und auch wenn mancher davon schwärmt, wie wunderbar es sei, ein Flugzeug abheben zu sehen, leuchtet mir nicht ein, was daran schöner sein soll als an einem Zug, der aus dem Bahnhof rollt. Apropos Schönheit: Wolken sind – Wolken, was sonst? Und auf die Landstriche unten erhasche ich, da ich im Flieger nie einen Fensterplatz belege, nur hie und da einen flüchtigen Blick. Gut, zugegeben, der Anflug auf Venedig (sofern man rechts vom Gang sitzt, einen Fensterplatz und einen klaren Tag erwischt hat) ist atemberaubend. Doch das gilt ebenso für die Bahnreise in der Gegenrichtung, und zwar beiderseits der Strecke, sobald der Zug Como verlassen hat und die herrliche Alpenlandschaft durchquert. Seen, Kühe, Schafe, noch mehr Seen, schäumende Wasserfälle; und wenn man Glück hat, wölbt sich über den schneebedeckten Gipfeln jener durchdringend klare Berghimmel, dessen Bläue mit keinem anderen Blau der Welt zu vergleichen ist. Vor uns aber, vor uns gähnt der Eingang des Tunnels, der mich, auch wenn ich ihn all die Jahre ohne Zwischenfall passiert habe, immer noch auf den Beginn eines Abenteuers hoffen lässt.
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Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke
Diogenes Magazin
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Der SPIEGEL im Abo: www.spiegel.de/abo
Interview
Mathias Gnädinger als Kommissär Hunkeler in der Verfilmung des Schweizer Fernsehens
Hansjörg Schneider über seinen Kommissär Hunkeler Diogenes Magazin: Wie kamen Sie auf diese inzwischen berühmte Figur des Kommissärs Hunkeler? Hansjörg Schneider: Etwa 1990 las ich in der Zeitung von einem Kanalarbeiter, der in der Kanalisation gestohlene Diamanten gefunden hatte. Ich dachte mir, das wäre doch ein Stoff für einen Fernsehkrimi. Ich habe dann ein Drehbuch für die Fernsehserie Eurocops geschrieben, mit den zwei vorgegebenen Ermittlerfiguren. Bei der Verfilmung wurde an dem Drehbuch natürlich noch viel gekürzt und geändert. Da habe ich mir gesagt: Ich sperre die Geschichte zwischen zwei Buchdeckel, dann kann keiner mehr ran. Und dabei entstand die Figur von Peter Hunkeler. Gibt es Parallelen zwischen Hunkeler und Ihnen? Ich habe ihm natürlich viel von mir gegeben, auch einige biographische Stationen, doch vor allem haben wir 26
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einen ähnlichen Blick auf die Welt. Und es ist praktisch, so einen Doppelgänger zu haben, den man schicken kann, wohin man gerade Lust hast. Zum Beispiel in das Haus im Elsass, das ich nicht mehr besitze – das hat er von mir geerbt. Kennt man bei der Basler Polizei Ihre Bücher? Ja klar, die lesen das alle. Ich lasse jeden neuen Roman zudem vom Sprecher der Staatsanwaltschaft Basel gegenlesen. Aber ich nehme mir auch meine Freiheiten. Ich schreibe über das Kriminalkommissariat Basel so, wie Karl May über den Wilden Westen schrieb. In Ihrem neuen Roman wird Hunkeler pensioniert. Will er sich denn wirklich zur Ruhe setzen? Mal abwarten. Ich nehme an, der meldet sich schon wieder. Bei jedem Hunkeler-Roman, den ich schreibe, denke ich: Das ist jetzt der letzte. Aber schon
bald packt mich dann wieder die Lust. Es ist auch einfach schön, einen Hunkeler zu schreiben, es ist wie heimkommen. Mit Hunkeler kann ich einfach eine Geschichte erzählen, ohne große Literatur machen zu müssen. Und der neue Roman zum Beispiel, Hunkeler und die Augen des Ödipus, der im Theater-Milieu spielt: Ich wüsste gar nicht, wie ich diese Geschichte ohne Hunkeler erzählen könnte, wie ich ohne ihn einen Zugang in diese Welt finden würde. … die für Sie aber nicht ganz fremd ist. Nein, nein. Wie Hunkeler habe auch ich als junger Mann am Theater Basel gearbeitet, das war ’68, in der Ära Düggelin. Ich habe da sozusagen alles gemacht – ich war Regieassistent, Komparse, sogar die Hauptrolle in einem Weihnachtsmärchen habe ich gespielt. Und meine ersten literarischen Erfolge hatte ich ja auch als
Foto: © SF / Foto: Sava Hlavacek
Diesen Herbst erscheint bei Diogenes Hansjörg Schneiders Roman ›Hunkeler und die Augen des Ödipus‹, der neue Fall für den Kommissär Peter Hunkeler vom Kriminalkommissariat Basel. Grund genug, den Autor über seine literarische Figur zu befragen.
Dramatiker. Das Theater bleibt eine alte Liebe von mir. Sie haben zwölf Romane geschrieben (darunter acht Hunkeler-Romane), zahlreiche Theaterstücke, dazu Erzählungen, Essays, Reportagen, autobiographische Texte. Wie waren Ihre Anfänge als Schriftsteller? Seit ich 18 war, schrieb ich Gedichte, traurige Liebesgedichte vor allem. Doch ich sagte niemandem etwas davon, außer meiner damaligen Freundin und meinem besten Freund. Ich hatte immer davon geträumt, Schriftsteller zu werden, aber nie daran geglaubt. Im Aargau, wo ich aufgewachsen bin, hätte sich das niemand vorstellen können, es fehlten die Vorbilder, wir kannten keine Autoren – abgesehen von Erika Burkart. Der Wunsch, Schriftsteller zu sein, war auch der Wunsch, eine Revolution zu machen: gegen das Leben damals, die Dressur der 50er-Jahre, die Erstarrung im Kalten Krieg. Ich habe dann zunächst Literatur studiert, und nach dem Doktorat war der Zeitpunkt gekommen, wo ich nicht mehr sagen konnte: Eigentlich möchte ich schreiben. Ich musste mich entscheiden. Und so fing ich an. mdw
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Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag. Mit Dank an das Theater Basel für die Gastfreundschaft.
Buchtipp
Hansjörg Schneider Hunkeler und die Augen des Ödipus Roman · Diogenes
240 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06761-3
Der neue Fall des KultKommissärs aus Basel: Ein havariertes Hausboot auf dem Rhein. Ein Theaterskandal. Und ein paar alte Rechnungen.
Hansjörg Schneider im Großen Saal des Theater Basel, wo er selbst als junger Mann gearbeitet hat
Martin Ritt als Kommissär Bärlach
Kommissär Bärlach Berner Polizei Name: Hans Bärlach Alter: kurz vor der Pensionierung
»Kommen die besten deutschsprachigen Kriminalromane aus der Schweiz? Man könnte es manchmal fast glauben: Friedrich Glauser, der Begründer des modernen deutschsprachigen Krimis, war zum Beispiel Schweizer. Friedrich Dürrenmatt, der Vater des literarischen Kriminalromans, ebenfalls. Der mit dem Glauser-Preis ausgezeichnete Autor Martin Suter ist auch Schweizer. Und Hansjörg Schneider, der Basler Autor und Dramatiker, gewann diesen wichtigen Krimipreis ebenfalls – so dass man mit Fug und Recht sagen kann: Die Schweiz ist krimimäßig zwar klein, aber oho!« Ulrich Noller / Deutsche Welle, Bonn Hier stellen wir Ihnen die drei wohl bekanntesten Schweizer Kommissäre vor.
Wohnort: Altenberg an der Aare in Bern, Altenbergstrasse, schließt seine Haustür nie ab. Laufbahn: War in Istanbul, dann in Deutschland ein bekannter Kriminalist, bis er 1933 in die Schweiz zurückkehrte, und zwar wegen einer Ohrfeige, die er »einem hohen Beamten der damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte«. Methode: Er setzt auf seinen Instinkt, auf Menschenkenntnis, misstraut neuen, wissenschaftlichen Vorgehensweisen. Für Bärlach ist das Prinzip Zufall die Chance des Detektivs. Zuweilen überschreitet er die Grenzen des Legalen in seinen Ermittlungen. Isst: gern und liebt gutes Essen, er ist Gourmet und Gourmand. Bittere Ironie: Er hat Magenkrebs und nur noch ein Jahr zu leben. Trinkt: Wein Raucht: Brissago Marotten: Liebt Ärzte noch weniger als die moderne Kriminalistik. Liebt Protokolle noch weniger als Tote. Spielt gerne mit dem Feuer, trägt nur selten eine Waffe bei sich. Besondere Kennzeichen: Ist konservativ, aber ein unbestechlicher Idealist. Er besitzt eine große Hausbibliothek und liest gerne.
Friedrich Glauser Wachtmeister Studer
Hansjörg Schneider Hunkeler und die Augen des Ödipus
Roman · Diogenes
Roman · Diogenes
Roman · Diogenes
Diogenes Taschenbuch detebe 22535, 192 Seiten Auch als Diogenes Hörbuch
Diogenes Taschenbuch detebe 21733, 256 Seiten
240 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06761-3
Dürrenmatt Der Richter und seinHenker
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Kommissär Bärlach ermittelt in zwei Romanen von Friedrich Dürrenmatt.
Illustration: © Friedrich Dürrenmatt; Foto Pinnwand mit Notizzettel: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag; Foto Kommissär Bärlach: © ddp Images
Drei legendäre Schweizer Kommissäre
Mathias Gnädinger als Kommissär Hunkeler
Heinrich Gretler als Wachtmeister Studer
Kommissär Hunkeler sel Kriminalkommissariat Ba
Name: Peter Hunkeler
Wachtmeister Studer Berner Kantonspolizei Name: Jakob Studer Alter: kurz vor der Pensionierung
Foto Wachtmeister Studer: © Heinrich Gretler als Wachtmeister Studer im Film ›Wachtmeister Studer‹, 1939; Foto Kommissär Hunkeler: © SF / Foto: Sava Hlavacek
Zivilstand: verheiratet mit Hedwig, die er Hedy nennt, eine Tochter Aussehen: massig, dick, knorrig, mit Schnurrbart, »schwer und hart wie einer jener Felsblöcke, die man auf Alpwiesen sieht« Laufbahn: Früher Kommissär, wurde wegen einer undurchsichtigen Geschichte zum Wachtmeister degradiert. Methode: »Ich brauche weniger die Tatsachen als die Luft, in der die Leute gelebt haben.« Trinkt: Kaffee Kirsch Raucht: Brissago Marotten: »Hocked ab« (Setzen Sie sich), sagt er zu den Verdächtigen, bevor er seine langen Verhöre beginnt. Besondere Kennzeichen: Er ist eigentlich grundgutmütig, nimmt Partei für die kleinen Leute, hegt Sympathie für Außenseiter. Oppositionsbereitschaft gegenüber jeder Obrigkeit. Ist nur im Geheimen ein wenig abergläubisch.
Wachtmeister Studer ermittelt in fünf Romanen von Friedrich Glauser.
ht er sechs die Augen des Ödipus ste Alter: In Hunkeler und rung. Wochen vor der Pensionie eden«. Familienvater, jetzt geschi Zivilstand: »gewesener . Hat hat kt nta Ko t der er kaum Eine Tochter, Isabelle, mi ist. rin tne gär der die Kin eine Freundin, Hedwig, ren Strasse, Basel. Wohnort: in der Mittle ass. Besitzt ein Haus im Els hten Bauchansatz. Aussehen: Hat einen leic in Basel ein dem Kanton Aargau, ist Laufbahn: Stammt aus ide Studien (be rt tur und Jura studie Zugezogener. Hat Litera ne Tochter sei Als . itet Theater gearbe abgebrochen) und beim hat er als zur Polizei. Manchmal geboren wurde, ging er hen. ste der falschen Seite zu Alt-68er das Gefühl, auf abdrücke und eressierten nicht Finger Methode: »Hunkeler int nicht immer n Menschen.« Hält sich Schmauchspuren, sonder konflikt uer Da im n. Steht deswegen an die Dienstvorschrifte . rin dö Ma ter eis tm ach tektiv-W mit seinem Kollegen, De Sommereck . Seine Stammkneipen: Isst: währschafte Küche Milchhüüsli, r, Ba Rio le, et), Kunsthal (mit Wirt Edi befreund Folgensbourg, hafen. Im Elsass: Jeck in Pizzeria Schiff am Rhein Scholler in Knoeringue. d kann auch aps verträgt er nicht) – un Trinkt: Bier, Wein (Schn trinken. mal einen über den Durst Raucht: Zigaretten Sommer frühmorgens im Marotten: Liebt es, im schwimmen. Rheinbad St. Johann zu ein angry n: Neigt zu Wutanfällen, Besondere Kennzeiche auben an Gl n kei r abe htigkeitssinn, old man. Starker Gerec die staatliche Justiz.
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Mit Ihnen im Lesefieber. Jede Woche von Neuem. Mit den Literatursendungen auf DRS 1: Montag 14.05 Uhr HörSpiel – Hörgeschichten für das Kino im Kopf. Dienstag 14.05 Uhr Schwiiz und quer – Für Liebhaber von Mundart und Brauchtum. Mittwoch 14.05 Uhr HörBar – Literatur fürs Ohr. Donnerstag 14.05 Uhr WortOrt – Orte und ihre Geschichten. 21.05 Uhr Schnabelweid – Die Schweiz und ihre Mundarten. Freitag 14.05 Uhr BuchZeichen – Weckt die Lust am Lesen.
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Bericht
Charlotte Kerr Dürrenmatt
Dürrenmatts Apokalypse in Glas In der Kirche von Konolfingen, dem Geburtsort von Friedrich Dürrenmatt, kann man heute ein Glasfenster besichtigen, das nach Dürrenmatts Zeichnung ›Apokalypse II‹ gestaltet wurde. Charlotte Kerr Dürrenmatt über die Entstehungsgeschichte dieses Fensters.
Text: © Charlotte Kerr Dürrenmatt; Fotos: © R. Becker, P. Moret, W. Weyhe, Charlotte Kerr Dürrenmatt
I
rgendwann im Februar 1991 fahre ich ins Emmental, nach Konolfingen. In Konolfingen ist Friedrich Dürrenmatt geboren, im Pfarrhaus. In der Kirche gegenüber war sein Vater Pastor. Am Pfarrhaus eine Gedenktafel: Hier wurde Friedrich Dürrenmatt geboren, am 5.1.1921. Der Platz darunter ist leer. Ich bin dankbar, dass sie das Sterbedatum nicht eingraviert haben: 14.12.1990, vor drei Monaten. Ich gehe in die Kirche, ein sachlicher Längsschiffbau, an der Seitenwand zwei schöne Jugendstilfenster, die anderen Fenster aus blassblaurosagelben graphischen Elementen ohne Aussage. »Wie schön wäre hier ein Fenster nach einer Federzeichnung von F.D., Der Engel mit der Posaune des Jüngsten Gerichts, eine der vier Federzeichnungen Apokalypse I–IV, der letzten, schönsten Federzeichnungen von F.D.« Der Gedanke verscheucht meine Traurigkeit. Ich gehe über den kleinen Friedhof, Namensschilder von Toten, im Werk von F.D. lebendig. Zwischen den Grabsteinen hat Fritz mit seiner Schwester Vreni gespielt, erste Eindrücke von Labyrinth. Alltag bricht ein. Letzter Versuch, die absurde Aufführung von Herkules und der Stall des Augias zur 700-Jahr-
feier der Schweiz im Parlament zu verhindern, Dürrenmatt wollte sie nicht. Der Versuch scheitert. Die Aufführung wird zum Jahrhundertflop. Vor dem Bundeshaus demonstrieren die Intellektuellen im Regen gegen die Ausschaffung von Flüchtlingen, ich bin mit ihnen. Dürrenmatts Stimme schallt durch die Lautsprecher über den Bundesplatz: »Die Schweiz ein Gefängnis …«, Auszüge aus der berühmten Havel-Rede, Dürrenmatts Testament an die Schweiz. Es folgt der Kampf um den Bau des Centre Dürrenmatt von Mario Botta, acht Jahre lang, zwei Jahre Bauzeit, kreative Zeit, dann steht es, neuer Kampf um die Inhalte, Kampf um Midas – Prozesse –. Ich vergesse das Kirchenfenster. 2007, im April, fällt es mir plötzlich wieder ein. Ich verabrede mich mit Pfarrer B. in Konolfingen. Zwischen Kirche und Friedhof eine Doppelgarage, ein breites Wellblechdach wölbt sich über Fahrradständer. »Der Friedhof wird eingeebnet. Ich kämpfe noch darum, dass es ein Rasenplatz bleibt, mit einem Gedenkstein«, sagt Pfarrer B. Wir gehen in die Kirche. Ich habe eine Photographie vom Engel mit der Posaune mitgebracht. Pfarrer B. geDiogenes Magazin
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Ich rufe Moscatelli an, den Glaskünstler in Neuchâtel. »Ich entwerfe nur, der Beste dafür ist in Lausanne: Herr Weyhe.« Ich fahre mit dem Engel mit der Posaune unter dem Arm nach Lausanne, ins Glasstudio von Herrn Weyhe. Er fotografiert den Engel, wird eine erste maßstabgerechte Übertragung machen. Dann höre ich wochenlang nichts. Eines Tages ruft Frau G. an, Mitglied des Kirchenrats der Reformierten Kirchgemeinde Konolfingen. »Es gibt lange Diskussionen – soll man in der Kirche an den Tod erinnern? An das Jüngste Gericht –« »Wo sonst, wenn nicht in der Kirche, soll man an den Tod erinnern?« »Das war auch mein Argument«, sagt Frau G. »Was sind die anderen Argumente?« »Man fragt sich, ob denn Dürrenmatt ein guter Schweizer gewesen sei, schließlich war er sehr kritisch gegenüber der Schweiz, außerdem habe er Konolfingen ein Kaff genannt – ob der Engel in Schwarzweiß nicht zu düster sei für ein Kirchenfenster – ich habe alle Argumente widerlegt, und der Kirchenrat hat mehrheitlich für das Fenster gestimmt.« Ich bedanke mich bei Frau G., bitte sie, die interessante Diskussion aufzuschreiben. Herr Weyhe braucht die genauen Maße des Kirchenfensters, Lichteinfall, Umfeld. Wir fahren zusammen nach Konolfingen, an einem schönen Sonntag Anfang August. Pfarrer B. erwartet uns vor der Kirche, neben ihm die Frau Kirchenrätin G., Juristin. Die Fensterseite der Kirche liegt nach Südost. »Der starke Lichteinfall
ist gerade für dunkle Töne gefährlich, das Glas springt, man darf nicht zu große Felder machen …«, Herr Weyhe misst das Fenster genau aus, dann lade ich alle zum Sonntagsschmaus ein. »Wenn es Ihnen recht ist, darf ich Sie ins Pfarrhaus einladen, ich habe etwas vorbereitet.« Liebevoll gedeckter Tisch, kalte Vorspeisen, Pfarrer B. bindet die Kochschürze um, brutzelt in der Pfanne Putenbrüstchen, während Weyhe fünfzehn Glasproben, die er mitgebracht hat, mit Tesafilm ans Fenster klebt – lauter verschiedene Töne von Grau, mit Blau-Grün-Rosaschimmer, hell-, dunkelanthrazitgrau, mundgeblasen. Und später wird mit der Hand schraffiert, mit einem Glasgriffel, wie Dürrenmatt seine Federzeichnungen mit dem Skalpell schraffierte, um die Weißtöne herauszuholen. Die Bedenken der Frau Kirchenrätin gegen Schwarzweiß sind ausgeräumt. Glücklich setzen wir uns zu Tisch. »Auf unseren Engel der Kirche von Konolfingen, auf Dürrenmatt.« Verlegenes Schweigen. Frau Kirchenrätin G. bricht es: »Wir brauchen aber doch noch eine Kirchenratssitzung …« – »Ich denke, der Kirchenrat hat mehrheitlich zugestimmt?« – »Ja, aber eigentlich wollen wir Einstimmigkeit …« »Und ich möchte doch meine Gemeinde mitnehmen auf diesem Weg …«, wendet Herr Pfarrer B. ein. »Dazu hatten Sie zwei Monate Zeit, ich dachte, das wäre beschlossen?« »Im Emmental dauert das länger. Wir brauchen mindestens noch eine Kirchenratssitzung und eine öffentliche Gemeindesitzung …« »Und wie lange dauert das?«
Fotos: © R. Becker, P. Moret, W. Weyhe, Charlotte Kerr Dürrenmatt
fällt die Idee. Wir sind uns einig: Das mittlere der sieben Fenster an der Seitenwand wäre das richtige. Am Nachmittag fährt mich Pfarrer B. zu den Plätzen aus F.D.s autobiographischen Erzählungen in den Stoffen: das Genist der Bauernhöfe, wo sie auf den Tennen im Heu spielten, die Mohammedaner-Mission, die Milchsiederei, die Schule, das kleine Kirchlein hoch über den Wäldern. Pfarrer Dürrenmatt predigte den Bergbauern noch in der Wohnstube. Auf dem Hinweg, an der Hand den kleinen Fritz, dachte er über die Predigt nach, auf dem Rückweg durch den dunklen Tann erzählte er von Minotaurus und dem Labyrinth, von Theseus, von Prometheus, von Herkules und seinen Taten, am Sternenhimmel verewigt. »Stoffe« werden lebendig. Zwei Tage später ruft Pfarrer B. mich an: »Ich sitze immer wieder in meiner Kirche und denke, wie schön der Engel da aussehen wird …« Aber Pfarrer B. kann nichts entscheiden. Er muss das Projekt der Gemeinde und dem Kirchenrat vorlegen. Ich bin wohlgemut. Wer sollte sich über so ein Geschenk nicht freuen.
»Die nächste Kirchenratssitzung ist am 9. August, die Gemeindesitzung einzuberufen dauert mindestens drei Wochen, wir müssen den Aushang machen …« »Also gut – ich gebe ihnen Zeit bis zum 2. September, über einen Monat, dann verlange ich eine Entscheidung.« »Ich schätze sehr, dass Sie so klar Ihre Meinung sagen«, bemerkt Frau Kirchenrätin G. »Das können Sie immer von mir haben.« Am 18. August besucht eine sechsköpfige Delegation des Kirchenrats von Konolfingen Herrn Weyhe in seinem Atelier in Lausanne. Der Besuch am Tatort überzeugt. Am 5. September bekomme ich einen Brief vom Präsidenten des Kirchenrats: freudige Zustimmung und Dank. Ein- und Ausbau bezahlt die Gemeinde. Die Kalkulation für das Fenster ist in meinem Stiftungsrat genehmigt, alle lieben die Idee des Engels der Apokalypse von F.D. als Fenster in der Pfarrkirche seines Heimatorts. Ich erteile den Auftrag.
Dialog beim Warten auf den Karpfen Weyhe: Die Zeichnung von Dür-
Zeichnung Engel: © Friedrich Dürrenmatt
Am 9. Oktober 2007 fährt Herr Weyhe nach Waldsassen im Fichtelgebirge. In Waldsassen ist eine der größten letzten Glashütten Europas. Pfarrer B. begleitet ihn, aus Interesse und Freude. Ich werde die beiden, aus
München kommend, in Waldsassen treffen. Waldsassen liegt etwa am Ende der Welt. Ich fahre ab Nürnberg mit dem Taxi. Durchs Land der unendlichen Wälder, mit ihrem Holzreichtum die Basis für die Glashütten, und der tausend Seen, alle voll Karpfen. Zurzeit ist Karpfenfestival, es wird abgefischt. Vor jedem Restaurant steht ein bunter Karpfen aus Pappmachee, am aufgesperrten Maul hängt die Einladung: »Mr. Fisch bittet zu Tisch.« Hauptgericht ist der Gastgeber.
renmatt hat nicht das gleiche Format wie das Konolfinger Kirchenfenster. Sie ist in der Relation breiter. Wenn wir sie 1:1 übersetzen, bleibt oben und unten viel Raum, dadurch verliert der Engel an Kraft. Ch.K.: Wie viel Raum bleibt? Weyhe: Oben der Bogen, da sollten wir die gleichen Schraffierungstechnik fortsetzen wie auf der Zeichnung, unten mindestens ein halber Meter. Pfarrer B.: Da wäre doch vielleicht ein Bibelzitat schön – wir haben das unterwegs besprochen … Ch.K: Versuchen Sie nicht, durch die Hintertür – oder das Fenster – Dürrenmatt in die Kirche zurückzuholen. Er war Atheist. Pfarrer B.: Das würde ich nie wagen, dazu respektiere ich ihn viel zu sehr. Aber so ein kurzes Bibelzitat – eines, das auch erklärt – vielleicht aus der Johannes-Apokalypse. Apokalypse heißt Offenbarung … Ch.K: Dürrenmatts Engel der Apokalypse offenbart sich von selbst. Pfarrer B.: Aber es besteht doch kein Zweifel, dass Dürrenmatt sich sein Leben lang mit Glauben, mit Religion, mit Gott auseinandergesetzt hat. Ch.K: Sicher. Sehr ernsthaft, besonders mit Barth. Mit dem Fazit, dass er am Ende seines Lebens sagte: »Ich kann mir keinen Gott mehr vorstel-
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sie prüfend gegen das Licht, wählt aus, stellt zurück, langsam füllt sich der Wagen. Am 12. geht der Transport mit dem kostbaren Glas für unseren Engel nach Lausanne. Die Arbeit kann beginnen, sie wird fünf Monate dauern. Die drei Meister der Glaskunst Werner Weyhe, Pascal Moret und Aline Dold schneiden, malen, schraffieren, behandeln mit Säuren, decken ab, brennen, setzen zusammen, bleiverglasen, Feld für Feld, ein unendlich langwieriger, kunstvoller Arbeitsprozess. Ein neues, eigenständiges Kunstwerk entsteht. Am 18. Mai 2008 wird das Fenster eingeweiht. Ein pfingstliches Fenster.
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DVD- und CD-Tipp Portrait einesPlaneten Friedrich Dürrenmatt Ein Film von Charlotte Kerr
Diogenes
Director’s Cut Neufassung 2006 2 DVD / 194 Minuten
2 DVD, Spieldauer 194 Minuten, ISBN 978-3-257-95140-0
Der monumentale Dokumentarfilm von Charlotte Kerr: Nie war ein Einblick in die Arbeitsweise und Gedankenwelt Dürrenmatts direkter und fesselnder.
Diogenes Hörbuch Gelesen von Charlotte Kerr Gert Heidenreich »Eine bis in Details durchkomponierte philosophische Kriminalnovelle.« Süddeutsche Zeitung »Wärmstens zu empfehlen …« Library Journal
3 CD
Friedrich Dürrenmatt Der Auftrag Novelle
3 CD, Spieldauer 203 Min. ISBN 978-3-257-80268-9
Charlotte Kerr bringt mit Gert Heidenreich Dürrenmatts philosophische Novelle zum Klingen.
Foto: © RDB / sobli / Laslo Irmes
len, und was ich mir nicht vorstellen kann, kann ich nicht glauben.« Und vergessen Sie nicht: Die vier Federzeichnungen Apokalypse I– IV gehören ausdrücklich zum Durcheinandertal. Es sind Dürrenmatts letzte Zeichnungen, Durcheinandertal ist sein letzter Roman: Zum Schluss geht alles in Flammen auf, das ganze Durcheinandertal verbrennt. Pfarrer B.: Aber Elsi überlebt. (Pfarrer B. kennt seinen Dürrenmatt, er zitiert:) »Und Elsi schaute mit leuchtenden Augen ins Feuer, lächelte und flüsterte: ›Weihnachten.‹ Und das Kind hüpft vor Freude in ihrem Bauch.« Das ist ein biblisches Zitat. Eine Anspielung auf die Geburt des Messias. Ein Kind! Zukunft! Mitten im Untergang. Schließlich war der erste Titel von Durcheinandertal Weihnacht II. Ch.K: Ich denke, Sie kennen Weihnacht I, Dürrenmatts erste literarische Veröffentlichung? »… Das Christkind liegt im Schnee. Es ist eiskalt. Ich hebe es auf. Ich esse den Heiligenschein. Er schmeckt wie altes Brot. Ich habe Hunger. Ich beiße den Kopf ab. Vertrocknetes Marzipan …«, Durcheinandertal ist der bessere Titel: Dürrenmatts literarische Apokalypse. Der Karpfen kommt. Ich habe Hunger. Ich schneide den Kopf ab. 11. Oktober, 7.30 Uhr früh. Ein riesiges Areal, Lager, Büros und die Fabrikationshalle, ein Bau aus dem Industriezeitalter, schwarz verrußt, nur durch die bunten bleiverglasten Fens-
ter hoch oben zwischen den Eisenverstrebungen dringt geheimnisvolles Licht. Rotglühende Lohe in Schmelzöfen, alle zehn Minuten läutet eine Glocke, dann kommen drei Männer quer durch die Halle gerannt, einer trägt eine große Kelle mit rotglühender Glasmasse, zwei stützen die Kelle mit einer Trage an langen Holzstangen, sie tragen sie im Laufschritt die Rampe hinauf, kippen die glühende Glasmasse auf das vorbereitete Eisenblech, sie wird in das Maul des Schmelzofens geschoben, das schließt sich bis auf wenige Zentimeter Lufteinlass. An einem anderen Schmelzofen zieht ein Meister eine glühende Glaskugel an einem langen Eisenrohr aus einem Herdschlund, beginnt die Stange mit großer Geschwindigkeit zu drehen, während er mit vollen Backen in das Rohr bläst wie ein Trompeter zum Fortissimo, die rotglühende Kugel bläht sich auf, er taucht sie im Sekundentakt in ein Kühlbecken, setzt wieder an, dreht, bläst, schiebt sie zurück in den Feuerschlund, das alles mit größter Geschwindigkeit, das glühende Glas lässt sich nur bei einer Temperatur von ca. 1000 Grad aufblasen, ausbreiten, verflüssigen, gießen, formen, die Koordination zwischen Mensch und Maschine läuft hier ab wie ein sorgfältig choreographiertes Ballett von äußerster Perfektion. Wir gehen ins Produktionsbüro. Regale über Regale mit quadratischen Glasmustern in allen nur denkbaren Farben in allen nur erdenkbaren Nuancen, nummeriert, klassifiziert … Herr Weyhe sucht die in Frage kommenden Grautöne aus, hell, dunkel, Anthrazit mit Blau-Rosa-Grünschimmer, dann gehen wir ins Lager, da hängen in endlosen Reihen die Glasplatten, nach Mustern nummeriert, klassifiziert, Herr Weyhe zieht Glasplatte um Glasplatte heraus, hält
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Die Schachspieler Eine Erzählung aus dem Nachlass
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in junger Staatsanwalt geht zur Beerdigung seines Vorgängers, eines alten Staatsanwalts, und lernt bei dieser Gelegenheit einen Richter näher kennen, welcher der Freund des verstorbenen Staatsanwalts gewesen ist. Während die beiden im Leichenzug dahinschreiten, erzählt der Richter, er habe jeden Monat einmal mit dem Verstorbenen Schach gespielt. Der Staatsanwalt meint (sie nähern sich schon dem Krematorium), auch er sei ein Liebhaber des Schachspiels. Die beiden nehmen an der Trauerfeier teil, dann schreiten sie nicht weit hinter dem Sarg dem ausgehobenen Grab entgegen. Der alte Richter fragt den jungen Staatsanwalt, ob er ihn nicht auch zu einer Schachpartie einladen könne, der Staatsanwalt nimmt die Einladung an, sie verabreden sich auf den nächsten Sonnabend, des Staatsanwalts junge Frau ist ebenfalls eingeladen; zwar ist der alte Richter Witwer, doch führt dessen Tochter den Haushalt. Am nächsten Sonnabend trifft gegen sieben Uhr der junge Staatsanwalt mit seiner Frau beim alten Richter ein, der in einer stillen Villa wohnt, umgeben von einem großen Park mit riesigen Tannen, alles in einer Vorstadt gelegen, wo nur die Reichen wohnen, im sogenannten »englischen Viertel«. Von den Tannen und Bäumen her noch Vogelgezwitscher, ferner letzte Sonnenstrahlen. Das Mahl ist ausgezeichnet, die Weine erlesen. Nach dem Essen führt die Tochter des Richters die Frau des Staatsanwalts in den Salon; die Herren ziehen sich in das Arbeitszimmer zurück. Das Schachspiel steht schon bereit. Der alte Richter serviert Kognak, die beiden sitzen sich gegenüber, doch bevor das Spiel beginnt, äußert der alte Richter, er habe dem Staatsanwalt ein Geständnis zu machen. Es sei zwanzig Jahre her, dass er den eben verstorbenen Staatsanwalt kennengelernt habe, und zwar anlässlich der Beerdigung des Richters, dessen Nachfolger er geworden ist. Während dieser Beerdigung sei er mit dem eben verstorbenen Staatsanwalt aufs Schachspiel zu sprechen gekommen, denn auch der eben
Illustrationen: © Jean-Jacques Sempé
Friedrich Dürrenmatt
verstorbene Staatsanwalt habe mit dem vor zwanzig Jahren verstorbenen Richter monatlich ein Schachspiel durchgeführt, und zwar ein ganz besonderes Schachspiel: Die Schachfiguren nämlich bedeuten bestimmte Personen, die ein Spieler für sein Spiel selber bestimmen konnte, die Dame hatte die Person zu sein, die dem Spieler am nächsten stand; für den Staatsanwalt war es dessen Schwester, die ihm nach dem Tode seiner Frau den Haushalt führte, für den Richter seine Frau. Von beiden Spielern würden die Läufer mit befreundeten Pastoren oder Lehrern, die Springer mit Rechtsanwälten oder Offizieren, die Türme mit Industriellen oder Politikern gleichgesetzt, die Bauern stellten einfache Bürger dar, auch das eigene Dienstmädchen oder den Milchmann. Die Regel des Schachspiels bestand nun darin, dass jeder Spieler, verlor er eine Figur, den Menschen, der durch
diese Figur dargestellt wurde, töten musste. Das Spiel konnte erst wiederaufgenommen werden, wenn der Mord ausgeführt worden war. Wer jedoch schachmatt gesetzt wurde, musste sich das Leben nehmen, was dazu führte, dass ein Spiel Jahrzehnte dauerte, jeder Zug wurde oft monatelang überdacht. So hatte der alte Staatsanwalt mit dem Vorgänger des alten Richters fünfzehn Jahre lang
Zwanzig Jahre hätten sie so miteinander gespielt, er hätte um jede Figur gerungen … gespielt, bis er diesen mattsetzen konnte, hatte allerdings vorher – wie auch sein Gegner – seine Frau ermorden müssen. Wer das Spiel erfunden, war nicht auszumachen – auch der Vorgänger des Richters habe es mit dem Vorgänger des eben verstorbenen Staatsanwalts gespielt, der es ebenfalls vom Vorgänger des Vorgängers des alten Richters übernommen hätte, immer hätten wohl in dieser Stadt der Richter und der Staatsanwalt dieses geheime Spiel geführt. Das sei die Erklärung des alten Staatsanwalts gewesen, die dieser ihm, dem Richter, abgegeben habe, und dieser Erklärung sei eine Beichte der Morde erfolgt, die der alte Staatsanwalt mit dem verstorbenen Richter begangen hätte. Seine erste Reaktion, fährt der alte Richter fort, sei gewesen, den Vorgänger des jetzi-
gen Staatsanwalts sofort zu verhaften, doch dann habe er der Versuchung nicht widerstehen können, mit dem Staatsanwalt ein neues Spiel zu beginnen: Der Staatsanwalt hätte als Dame seine älteste Tochter, die ihm den Haushalt führte – da seine Frau aus Schachspielgründen hatte das Zeitliche segnen müssen – , und er seine junge Frau eingesetzt. Das Leben hätte von nun an für ihn einen anderen Sinn bekommen: Durch das Schachspiel hätten sie über bestimmte Personen die Macht von Göttern bekommen, wie Ahriman und Ormuzd seien er und der alte Staatsanwalt einander gegenübergesessen. Zwanzig Jahre hätten sie so miteinander gespielt, er hätte um jede Figur gerungen, es sei entsetzlich, aber gleichzeitig gewaltig gewesen, wenn man eine Figur hätte opfern müssen, und nie vergesse er den Tag, wo er – um sich vor dem Schachmatt zu retten – seine eigene Gattin hätte hergeben müssen – bis sich endlich vor einer Woche der alte Staatsanwalt hätte das Leben nehmen müssen, weil er selber schachmatt gesetzt worden sei. Es sei vielleicht erstaunlich, dass die Morde, die sie im Verlauf dieser zwanzig Jahre hätten begehen müssen, nie entdeckt worden wären, doch – abgesehen davon, dass sie sehr sorgfältig ausgeführt worden seien, was der Richter mit einigen Beispielen belegt – habe der Grund auch darin gelegen, dass niemand hinter den Morden ein so ausgefallenes Motiv wie ein Schachspiel hätte vermuten können. Der junge Staatsanwalt hörte sich die Beichte des alten Richters mit Entsetzen an. Der Richter lehnt sich zurück, aus dem Nebenzimmer ist das muntere Gespräch der beiden Frauen zu hören. »So, Sie können mich verhaften«, sagt der alte Richter. Der junge Staatsanwalt greift dann nachdenklich zu den Figuren, die neben dem Spielbrett stehen, und stellt die Dame auf ihren Platz. »Ich setze meine Frau«, sagt er. Der alte Richter entgegnet: »Ich setze meine Tochter«, und stellt seine Dame aufs Spielbrett.
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Diogenes Magazin
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Die Biographie des Paulo Coelho Diogenes
Foto: Š David Brabyn / Corbis / Specter
Fernando Morais Der Magier
Vorabdruck
Paulo Coelho nach der Verhaftung durch die Politische Polizei (DOPS) im HäftlingsOverall, als »Aufrührer« eingestuft
Fernando Morais
Ein Leben wie ein Roman: Paulo Coelho Seit Erscheinen des ›Alchimisten‹ ist Paulo Coelho einer der meistgelesenen Autoren der Welt, doch wer IST Paulo Coelho? Fernando Morais hat die erste große Biographie eines der bekanntesten und zugleich rätselhaftesten Menschen unserer Zeit geschrieben. Hier einige Auszüge mit Fotos aus Coelhos privatem Fotoalbum.
Foto: © Arquivio Publico do Estado do Rio de Janeiro (Staatsarchiv des Staates Rio de Janeiro)
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aulo Coelho war ein rebellischer, verstockter Schüler, Sohn eines unerbittlich strengen Vaters, der ihn dreimal in eine psychiatrische Anstalt einweisen liess, wo er brutalen Elektroschockbehandlungen unterzogen wurde. Hatte Paulo in seiner Jugend große Schwierigkeiten im Umgang mit Frauen, so entwickelte er sich als Erwachsener zu einem wahren Sammler amouröser Eroberungen – und von so manchen bekamen auch die Medien Wind. Seine ganz eigene Art in der Beziehung zu Frauen war und ist jedoch kein Hinderungsgrund, seit 28 Jahren eine stabile Ehe mit der bildenden Künstlerin Christina Oiticica zu führen, und wie er versichert, kann ihn nichts und niemand auf der Welt dazu bringen, sich von ihr zu trennen. Der Mann, der vor mehr als dreißig Jahren dem Kokain abgeschworen hat und seit vielen Jahren auch nicht mehr kifft, hatte einst, und zwar ziemlich lange, tief in der Drogenwelt gesteckt
und auch hier praktisch nichts ausgelassen. Seine Abneigung gegen formales Lernen, weshalb er in der Schule ständig versagte, hat Paulo nicht daran gehindert, zu einem echten Bücherwurm zu werden. Die wahllose Lektüre von sowohl unanfechtbaren Klassikern als auch wahrer Schundliteratur bahnte ihm den Weg in die Welt, von der er träumte. Dieser Weg begann zunächst mit kleinen, unvergüteten Rollen im Kindertheater, mit der Zeit wagte er sich dann ans Schreiben und produzierte und inszenierte kleinere Theaterstücke. Parallel dazu begann er zu reisen und übernahm Jobs in der alternativen Presse – als Redakteur einer Undergroundzeitschrift suchte ihn schließlich ein Mann auf, der sein Leben prägen sollte: der heute legendäre Rockmusiker Raul Seixas, mit dem er dann als Songtexter sechs Jahre und Dutzende von Songs lang zusammenarbeitete. Damit kam er zu mehr Ruhm, Geld und Macht, als er sich je hatte träumen lassen – doch bei wei-
tem noch nicht so viel, wie es später werden sollte. Vor und noch während seiner Partnerschaft mit Raul Seixas führten seine ständige Neugier auf neue Erfahrungen einerseits und andererseits seine Neigung, Bücher regelrecht zu verschlingen, zu erschreckenden Abstürzen. So liebäugelte er in seiner Jugend mit Selbstmord, schnitt aber dann doch lieber einem Haustier die Kehle durch, damit der »Todesengel« statt seiner eigenen wenigstens eine andere Seele mitnehmen konnte. Mit seiner Überschreitung der Grenzen zum mysteriösen Reich der Finsternis geriet er in gefährliche Extremsituationen und ließ sich auf geradezu unglaubliche Dinge ein. Seine Karriere bei den Satanisten endete nach einem haarsträubenden, grauenhaften, sich zwölf Stunden hinziehenden Experiment, das Paulo als seine Begegnung mit dem Satan beschreibt. Die entsetzliche Vision, die seine Freundin ebenfalls erlebte, war der Diogenes Magazin
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Beginn seiner Rückkehr zum christlichen Glauben, den ihm die strengen Jesuitenpater in der Schule eingetrichtert hatten. Obwohl er als Jugendlicher und junger Erwachsener überhaupt kein Interesse an Politik hatte, wurde er unter der Militärdiktatur zweimal verhaftet und einmal vom Geheimdienst DOI-Codi, dem brutalsten Repressionsinstrument der Diktatur, entführt – was ihn tief geprägt und seinen schon vorher vorhandenen Verfolgungswahn noch verstärkt hat. Eine andere Art von Verfolgung, die brasilianische Kritik, die bis auf ganz wenige Ausnahmen seine Bücher verachtet und ihn als minderwertigen Schreiberling behandelt, scheint ihn nicht zu tangieren. Empört reagiert er nur, wenn die Vorbehalte seiner Arbeit gegenüber Verachtung für jene implizieren, die er hingebungsvoll und mit orientalischer Geduld pflegt: seine Leser. Der Verachtung der brasilianischen Kritik zum Ausgleich hat Paulo eine Menge vorzuweisen. Und damit ist nicht die Aufnahme in die Academia Brasileira de Letras gemeint, auch nicht die Auszeichnungen, die ihm im Ausland verliehen wurden, wie etwa der fraglos ehrenvolle Orden der französischen Légion d’Honneur, sondern zahlreiche, nicht versiegende Loblieder seitens Kritikern aus Dutzenden von Ländern, darunter auch die des hochangesehenen italienischen Schriftstellers und Semiologen Umberto Eco. Diese Fakten aus Paulos Leben sind nur eine bescheidene Kostprobe der außergewöhnlichen Karriere eines Brasilianers, dessen internationaler Erfolg sich nur mit dem von Pelé vergleichen lässt. Um ein Haar wäre jedoch das alles gar nicht möglich gewesen, denn Paulo kam tot zur Welt. Paulo Coelhos Geburt Paulo Coelho de Souza kam in der regnerischen Nacht zum 24. August 1947, dem Tag des heiligen Bartholomäus, in dem Mittelschichtsviertel 40
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Humaitá in Rio de Janeiro in der Klinik São José zur Welt. Als Totgeburt. In Tränen aufgelöst baten die Eltern, jemanden zu holen, der das Totgeborene mit der letzten Ölung versehen konnte. In Ermangelung eines Priesters kam eine in der Klinik arbeitende Nonne, doch dann mischte sich in die Schluchzer der Eltern ein Wimmern: Das Kind war keineswegs tot. Es lag in tiefem Koma, aber es lebte. Die Geburt war die erste Bewährungsprobe, die das Schicksal dem kleinen Jungen auferlegte – und er hatte sie bestanden. Paulo Coelho und der Traum, Schriftsteller zu werden Sein Vater hätte ihn gerne in seinen Fußstapfen als Ingenieur gesehen, doch Paulo wusste schon sehr früh, dass er schreiben wollte. Mit dreizehn weiß Paulo Coelho, was er später werden will: Schriftsteller. Seine Mutter will ihm den Traum ausreden: »Mein lieber Sohn, es hat keinen Sinn, diese Phantasie zu nähren, du könntest Schriftsteller werden. Es ist sehr schön, dass du all diese Sachen schreibst, aber das Leben ist anders. Überleg nur: Brasilien hat siebzig Millionen Einwohner, Tausende davon sind Schriftsteller, aber nur Jorge Amado kann von seinen Büchern leben. Und einen Jorge Amado gibt es nur einmal.« Jugendlektüren Mit sieben Jahren kam Paulo in die Jesuitenschule San Inácio in Rio de Janeiro, in der er unter anderem in einem Lyrikwettbewerb den ersten Platz belegte. Doch die wahre Schule für Paulo Coelho waren seine Lektüren. Am Ende des Jahres 1970 bekam Paulo Coelho die Zulassung zu drei verschiedenen Studiengängen in Rio: Jura, Theaterregie und Kommunikationswissenschaften. Dass Paulo seine Schullaufbahn in einer Schule ohne Qualitätstradition beendet, aber die Aufnahmeprüfung an drei Hochschu-
len bestanden hatte, ließ sich auch mit seinem Lesehunger erklären. Seit er vier Jahre zuvor begonnen hatte, sich systematisch Notizen zu seinen Lektüren zu machen, hatte er über dreihundert Bücher gelesen, mithin 75 pro Jahr, eine astronomische Zahl, wenn man bedenkt, dass seine Landsleute damals im Schnitt ein einziges Buch im Jahr lasen. Paulo war ein Viel- und Allesleser: von Cervantes bis zu Kafka, von Jorge Amado bis zu F. Scott Fitzgerald, von Aischylos bis zu Aldous Huxley. Er las sowjetische Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und den respektlosen brasilianischen Humoristen Stanislaw Ponte Preta. Er las, schrieb einen kurzen Kommentar zu jedem Werk und verteilte nach Gutdünken Sterne, genau wie die Kritiker es später beim ihm tun sollten. Vier Sterne, die höchste Auszeichnung, erhielten nur wenige Auserwählte wie Henry Miller, Borges und Hemingway, während Der Alptraum (Norman Mailer), Revolution in der Revolution (Régis Debray) und die beiden brasilianischen Klassiker Krieg im Sertão (Euclides da Cunha) und História Econômica do Brasil (Caio Prado Jr.) null Sterne bekamen. Okkultismus, Hexerei, Satanismus In diesem bunten Salat von Themen, Zeiten und Autoren wandte sich Paulos Interesse allmählich einem bestimmten Genre zu: Büchern, die sich mit Okkultismus, Hexerei und Satanismus beschäftigten. Seit ihm das schmale Buch Alquimia Secreta de los Hombres des spanischen Gurus José Ramón Molinero in die Hände gefallen war, verschlang er alles, was mit Übersinnlichem zu tun hatte. Nachdem er den Weltbestseller des magischen Realismus Aufbruch ins dritte Jahrtausend von dem Belgier Louis Pauwels und dem Franko-Ukrainer Jacques Bergier gelesen hatte, betrachtete er sich selbst bereits als Mitglied dieser neuen Gesellschaft. »Ich bin ein Magier, der sich zum Aufbruch rüstet«, schrieb er in sein Tagebuch.
Paulo Coelho als Songwriter Zwischen 1974 und 1976 schrieb Paulo zusammen mit Raul Seixas Dutzende von Rocksongs, die in Brasilien sehr populär wurden – und für die Militärdiktatur eine Provokation darstellten. 1974 wurden beide deswegen für kurze Zeit verhaftet.
Foto ›Paulo Coelho und Raul Seixas‹: Quelle nicht eruierbar (It. Biograph); alle anderen Fotos: © IPC– Instituto Paulo Coelho
Paulo Coelho als Zehnjähriger in der Grundschule Nossa Senhora das Vitórias (erste Reihe, Zweiter von links)
Raul Seixas und Paulo Coelho
In den USA, 1971
Abgesehen davon, dass sie sich beide für fliegende Untertassen interessierten und miserable Schüler gewesen waren, hatten Raul Seixas und Paulo Coelho wenig gemeinsam. Der Erste arbeitete als Musikproduzent für die internationale Plattenfirma CBS, hatte einen ordentlichen Haarschnitt und trug immer Jackett, Schlips, in der Hand ein Diplomatenköfferchen. Er hatte noch nie Drogen genommen, nicht einmal einen Zug von einem Joint. Der andere hatte ungekämmtes Haar bis auf die Schultern und trug Hüfthosen, Riemensandalen, Halsketten, eine achteckige Brille mit lila Gläsern – und war meistens high. Raul hatte eine feste Adresse, war verheiratet und Vater der zweijährigen Simone, Paulo dagegen lebte in Gruppen, deren Mitglieder wie die Jahreszeiten wechselten. Seit ein paar Monaten bestand seine Familie nur noch aus Gisa und Stella Paula, einem bildhübschen Hippiemädchen aus Ipanema, das vom Okkultismus und allem Jenseitigen genauso fasziniert war wie er. Mit der Erfahrung eines Musikers, der in so kurzer Zeit über achtzig Stücke geschrieben hatte, besaß Raul das notwendige Geschick, die Vorurteile auszuräumen, die Paulo immer noch gegen jede Form von Dichtung hegte. »Wer sich ernsthaft mit anderen Menschen unterhalten will, muss sich nicht kompliziert ausdrücken«, sagte Raul während ihrer endlosen Gespräche immer wieder. »Im Gegenteil, je einfacher du bist, umso ernster kannst du sein.« Fast lehrerhaft erklärte er, es gehe nicht um ein Wunderwerk: »Musik machen heißt, in zwanzig Zeilen eine Geschichte erzählen, die man zehn Mal hören kann, ohne dass sie Diogenes Magazin
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einem auf die Nerven geht. Wenn du das hinkriegst, hast du einen großen Sprung getan, ein Kunstwerk geschaffen, das alle verstehen.«
Die menschliche Gestalt, die er in Dachau »gesehen« hatte, saß, zu Fleisch und Blut geworden, am Nebentisch und trank Tee. Paulo erschrak zuerst maßlos. Er hatte von Gesellschaften gehört, die, um ihre Geheimnisse zu wahren, Abtrünnige verfolgten, ja sogar töteten. Verfolgte ihn jemand aus der Welt der schwarzen Magie und des Satanismus? Während ihn die Angst in Wellen überkam, erinnerte er sich einmal mehr an eine der Lektionen des Sportunterrichts in der Fortaleza de São João: Die beste Art, weniger zu leiden, war, sich der Angst zu stellen. Er schaute den Fremden an – einen etwa vierzigjährigen, europäisch aussehenden Mann in Jackett und mit Krawatte – , nahm allen Mut zusammen und sprach ihn dann unfreundlich auf Englisch an: »Ich habe Sie vor zwei Monaten in Dachau gesehen und möchte eines klarstellen: Ich habe keine Verbindungen mehr zum Okkultismus, zu Sekten oder Orden und will auch keine haben. Wenn Sie deswegen hier sind, war Ihre Reise vergebens.« Paulo entspannte sich, als der Mann sich schließlich vorstellte. Er sei Franzose jüdischer Herkunft, arbeite als Manager des niederländischen Philips-Konzerns und gehöre einem jahrhundertealten geheimnisvollen katholischen Orden an mit dem Namen R.A.M. – Regnum Agnus Mundi 42
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Im Buckingham Palace, 2006, mit dem brasilianischen Staatspräsidenten Lula, in der Mitte die brasilianische First Lady Marisa Letícia und Christina
Paulo Coelho mit seiner Ehefrau Christina auf ihrer Reise durch die MojaveWüste in den USA
Bei den Pyramiden, die Paulo Coelho zur Schlussszene seines Romans ›Der Alchimist‹ inspirierten
In Budapest während seiner Europatour, 1982
Oberstes Foto: © Ricardo Stuckert Filho; alle anderen Fotos: © IPC– Instituto Paulo Coelho
Der Orden R.A.M. Auf einer Reise durch Europa besuchte Coelho mit seiner Freundin und späteren Frau Christina unter anderem das Konzentrationslager Dachau, wo er eine entscheidende Vision hatte. Es erschien ihm ein Mann, den er zwei Monate später in einem Café in Amsterdam zufällig und real traf. Dieser forderte Paulo später auf, den Pilgerweg nach Santiago de Compostela zu gehen.
(Lamm des Reiches der Welt) oder aber Rigor, Amor et Misericordia (Strenge, Liebe, Barmherzigkeit). Seinen wahren Namen – es könnte »Chaim«, »Jayme« oder »Jacques« sein –, gibt Paulo nie preis, er wird ihn in der Öffentlichkeit nur »den Meister«, »Jean« oder einfach nur »J.« nennen. Mit ruhiger Stimme sagte Jean, er wisse wohl, dass der Brasilianer einen Weg der schwarzen Magie begonnen, diesen aber abgebrochen habe. Er sei bereit, ihm zu helfen. »Wenn Sie den Weg der Magie wieder aufnehmen und Sie es innerhalb unseres Ordens machen wollen, kann ich Sie führen. Aber wenn Sie sich einmal dafür entschieden haben, müssen Sie alles, was ich Ihnen sage, widerspruchslos befolgen.« Autogeschichten Während der gleichen Europatour kaufte Paulo Coelho einen alten Mercedes. Nach einer Übernachtung in Budapest fuhren Paulo Coelho und Christina weiter in Richtung Belgrad, der Hauptstadt des damaligen Jugoslawien, wo sie drei Tage bleiben wollten. Nicht dass sie Belgrad besonders reizvoll fanden, vielmehr trauten sie sich kaum mehr, wieder in den kalten, unbequemen Citroën zu steigen, den sie für die Reise gemietet hatten und den sie nun zu gern wieder loswerden wollten. Mit Hilfe des Geschäftsführers ihres Hotels gelang ihnen ein Schnäppchen: Die Botschaft von Indien bot einen hellblauen MercedesBenz zum Verkauf an, neun Jahre alt, aber in gutem Zustand, zum Spottpreis von tausend Dollar. Das Auto hatte zwar schon etliche Kilometer zurückgelegt, besaß aber einen 110PS-Motor und eine ordentliche Heizung. Der Autokauf sollte die einzige große Ausgabe auf der ganzen Reise sein. Für alles andere – Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten – richteten sie sich nach dem bekannten Reiseführer Europe on 20 Dollars a Day, der aber immer noch um einiges anspruchsvoller war als die Bibel der
Hippies: Europe on 5 Dollars a Day. Ganz richtig: Im Jahr 1982 konnte man tatsächlich in jedem europäischen Land für bescheidene fünf Dollar am Tag essen und übernachten. In Südfrankreich, wo Paulo Coelho in der Nähe von Tarbes eine alte Mühle erwarb und zum Wohnhaus umbaute, fuhr er später einen einfachen, geleasten Renault Scénic. Sein sichtbares Desinteresse an Konsumgütern, zu dem eine gewisse Knauserigkeit hinzukommt, haben dazu geführt, dass er, obwohl er sehr reich ist, erst im Jahr 2006 seinen ersten Luxuswagen bekam, und selbst den bei einer Art Tauschgeschäft. Der deutsche Autohersteller Audi hatte bei ihm einen Text von sechstausend Zeichen bestellt – das entspricht zwei Schreibmaschinenseiten – als Begleittext der jährlichen Bilanz, die die Firma ihren Aktionären schickt. Coelho wurde gefragt, was er für die Arbeit haben wolle, und er hatte gescherzt: »Ein Auto!« Er schrieb den Text und schickte ihn per E-Mail. Wenige Tage später lud ein aus Deutschland gekommener Lastwagen einen glänzenden, schwarzen Combi vor seiner Tür ab, einen nagelneuen Audi Avant. Eine brasilianische Journalistin rechnete, nachdem sie erfahren hatte, dass der Wagen beim Autohändler etwa 100 000 Euro kostet, nach und schrieb dazu, dass der Autor sechzehn Euro pro geschriebenen Buchstaben bekommen hatte. »Das ist sehr gut«, war seine Reaktion, als er den Artikel las, »denn mir wurde gesagt, dass Hemingway fünf Dollar pro Wort bekommen hat.«
spieler] Perry [Salles] haben mich angerufen und gebeten, ein Stück für einen Mann allein auf der Bühne zu schreiben. Ich sah zufällig gerade das Video von Duell [Steven Spielberg, 1971], einen Film über einen Mann, der allein unterwegs ist. Da hatte ich folgende Idee: ein großes Laboratorium, darin ein alter Mann, ein Alchimist, auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Er möchte genau wissen, was ein Mensch durch Inspiration erreichen kann. Der Alchimist (wäre vielleicht ein guter Titel) würde Texte von Shakespeare und Chico Anysio deklamieren. Er würde Musik machen und Selbstgespräche führen, mehrere Personen spielen. Es könnte ein Alchimist oder ein Vampir sein. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Vampire die Phantasie der Menschen außerordentlich anregen, und Humor und Horror habe ich lange nicht zugleich auf der Bühne gesehen. Aber genau wie Faust begreift auch der Alchimist, dass die Weisheit nicht in den Büchern, sondern in den Menschen zu finden ist, und die Menschen sitzen im Publikum.« Das Stück gelangte nie auf die Bühne, doch diese kleine Skizze für ein Theaterstück wurde so lange bearbeitet und verändert, bis daraus erzählende Prosa geworden war. Paulo war am Ende so innig mit dieser Geschichte vertraut, dass er kaum mehr als zwei Wochen brauchte, um die zweihundert Seiten zu schreiben, die daraus einen Roman entstehen ließen.
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Buchtipp Fernando Morais
Die Inspiration zum Alchimisten Von der ersten Auflage des ›Alchimisten‹ wurden nur 900 Exemplare verkauft. Erst im zweiten Anlauf in einem anderen Verlag wurde das Buch, das eigentlich als Theaterstück geplant war, ein Erfolg.
Der Magier 720 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06752-1
Die erste Biographie eines der bekanntesten und zugleich rätselhaftesten Menschen unserer Zeit: Paulo Coelho. Eine ebenso faszinierende wie auch streckenweise schockierende Lektüre.
Der Alchimist ist ursprünglich als Einmannstück geplant gewesen, nicht als Prosa: »Menescal und [der SchauDiogenes Magazin
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Literarisches Kochen
Aus dem Roman Saturday E
Er schüttet die restlichen Muscheln ins große Sieb und schrubbt sie unter ¬ießendem Wasser mit der Gemüsebürste ab. Die blassgrünen Venusmuscheln sehen sauber und lecker aus, weshalb er sie nur abspült. Einer der Rochen krümmt den Rücken, als wollte er aus dem kochenden Wasser ¬iehen. (…) Aus dem Kühlschrank nimmt er eine angebrochene Flasche Weißwein, das letzte Viertel von einem Sancerre, und gießt ihn über den Tomatenmix. Den Seeteufel legt er auf einem breiteren, dickeren Hackbrett zurecht, schneidet ihn in Stücke und füllt ihn in eine große weiße Schüssel. Dann wäscht er das Eis von den Riesengarnelen und gibt sie gleichfalls dazu. Die Venus- und Miesmuscheln kommen in eine zweite Schüssel. Mit Tellern abgedeckt, stellt er beide Schüsseln in den Kühlschrank. (…) Er putzt die Küche, wischt den Dreck von der Kücheninsel in einen großen Mülleimer und bürstet die Schneidbretter unter ¬ießendem Wasser. Dann ist es Zeit, den kochenden Rochen-und-Muschel-Sud in die Kasserolle zu gießen. Er schätzt, er hat jetzt um die zweieinhalb Liter hellorange Fischbrühe, die weitere fünf Minuten einkochen soll. Kurz vor dem Essen wird sie dann noch einmal aufgewärmt, um mit den Venusmuscheln, dem Seeteufel, den Miesmuscheln und Garnelen erneut zehn Minuten zu köcheln. Zum Stew gibt es Vollkornbrot, Salat und Rotwein.
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Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Foto: © Jonathan Player / Redux / laif
r beginnt drei Zwiebeln zu schälen und kleinzuhacken. Er hat keine Geduld mit der papiernen Außenhaut, macht einen tiefen Einschnitt, drückt das Messer mit dem Daumen durch vier Schichten und reißt sie herunter, verschwendet ein Drittel der Knolle. Den Rest schneidet er zügig klein und schüttet ihn in eine Kasserolle mit jeder Menge Olivenöl. Die relative Ungenauigkeit und der Mangel an Disziplin gefallen ihm am Kochen – eine Erholung von den Anforderungen im Operationssaal. Sollte man in der Küche versagen, sind die Folgen nicht allzu schlimm: Enttäuschung, vielleicht ein An¬ug von selten geäußerter Unzufriedenheit. Niemand stirbt daran. Er schält und zerkleinert acht dicke Knoblauchzehen und gibt sie zu den Zwiebeln. Was Rezepte angeht, hält er sich nur an die allgemeinsten Richtlinien. Er mag Kochbuchautoren, die von einer »Handvoll« reden, einer »Prise«, davon, dieses oder jenes »großzügig unterzumengen«. Sie geben alternative Zutaten an und ermuntern zu Experimenten. Henry hat sich damit abgefunden, dass er nie ein ordentlicher Koch sein wird, dass er »nach Gefühl« kocht, wie Rosalind es nennt. Aus einem Becher schüttet er sich mehrere getrocknete rote Chilischoten in die Hand, zerdrückt sie und gibt die Schalenstücke mitsamt den Samenkörnern auf die Zwiebeln und den Knoblauch. (…) Auf die glasigen Zwiebeln und den Knoblauch kommen eine Prise Safran, ein paar Lorbeerblätter, geriebene Orangenschalen, Oregano, fünf Sardellen⁄lets und zwei Dosen geschälte Tomaten. (…) Die Überreste der drei Rochen gibt er in einen Suppentopf. Die Köpfe sind ganz, die Lippen mädchenha∫ voll. Sobald die Augen aber mit dem kochenden Wasser in Berührung kommen, werden sie trübe. (…) Henry nimmt gut ein Dutzend Muscheln aus dem grünen Einkaufsnetz und kippt sie zu den Rochen. Falls sie noch leben und Schmerz spüren, weiß er nichts davon. (…) Der Sa∫ der Tomaten köchelt mit den Zwiebeln und dem Rest vor sich hin und wird vom Safran orangerot gefärbt. (…)
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Fish-Stew à la Ian McEwan Zutaten
Henry Perow nes Fisch-Stew aus Ian McE wans Roman Saturday Vom Autor du rchgesehen, de utsch von Wer Hinweis: Wo M ner Schmitz. engenangaben fehlen, folgen oder Appetit. Sie Ihrem Inst inkt
– 3 Rochenknochen (oder anderer Knochenfisch) Legen Sie die K oder ein gutes Pfund nochen von dr ei Rochen (ode Knochenfischen Weißfisch r anderen ) inklusive der vollständigen Su ppentopf mit ko – ein gutes Dutzend K öpfe in einen chendem Wasse r (mindestens Wenn Ihr Fisc Miesmuscheln ein Liter). hhändler dam it nicht dienen Sie ein gutes Pf kann, nehmen – 3 Zwiebeln und Weißfisch . Geben Sie ein muscheln in de Dutzend Mies – 8 große Knoblauchzehen n Topf. Zwanzi g Minuten lang cheln lassen. kö– Olivenöl Unterdessen sc hälen und hack – 2 Chilischoten en Sie drei Zwiebe ln und acht gr – 1 Prise Safran Buchtipp oße Knoblauchzehe n. – Lorbeerblätter Bei wenig Hitz e mit viel Oliv – 1 Orange enöl in einer Kasserolle anschwitzen. – Oregano Wenn alles wei ch genug ist, fü – 5 Sardellenfilets gen Sie hinzu: zwei ze rs toßene Chilisch – 2 Dosen geschälte oten, eine Prise Safr an, ein paar Lor Tomaten be erblätter, geriebene Ora ngenschale, O regano, – 1/4 Flasche Weißwein fünf Sardellenf ilets, zwei Dos en geschälte Tomaten. Nach Belieben: Ian McEwan Wenn sich in de – Venusmuscheln r Hitze alles gu t vermischt Saturday hat, geben Sie – Miesmuscheln eine Viertelfla sche Weißwein hinzu. Suppe ab – Seeteufelschwänze seihen und in die Kasserolle geben. Die Mis – Riesengarnelen chung zwanzi g Roman · Diogenes Minuten lang köcheln lassen . Als Beilage: Diogenes Taschenbuch Die Venusmus – Vollkornbrot cheln und die detebe 23627, 400 Seiten re st lic he m n us M ch ieseln spülen und/ – Salat oder abbürsten eine Schüssel le und in Henry Perowne, 48, ist ein – kräftiger Rotwein gen. Die Seeteufels zufriedener Mann: erfolgreich chwänze grob zerteilen und in eine zweite Schü als Neurochirurg, glücklich ssel legen. verheiratet, zwei begabte Kinder. Die Riesengar nelen waschen und zu den Se Das Einzige, was ihn leicht teufeln legen. ebeunruhigt, ist der Zustand der Beide Schüssel n in den Kühls chrank stellen. Welt. Es ist Samstag, und er freut sich auf sein Squashspiel. Doch an Vor dem Servie ren die Kassero diesem speziellen Samstag, dem lle noch einmal aufkochen. Ve nus- und Miesm 15. Februar 2003, ist nicht nur die us cheln, Seeteufel und Gar nelen zehn Min größte Friedensdemonstration ut en Kasserolle köch lang in der eln lassen. aller Zeiten in London. Perowne hat unversehens eine Begegnung, Zu dem Einto pf passen Vollk die ihm jeden Frieden raubt … ornbrot, Salat ein kräftiger R und otwein.
Im nächsten Magazin: Banana Yoshimoto Diogenes Magazin
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Legendäre literarische Orte
Der Frankfurter Hof W
as ein wirkliches Grand Hotel ist, habe ich erst wieder in Frankfurt gesehen, im Frankfurter Hof. Da weiß man doch, wofür man zahlt, und tut’s mit einer Art Freudigkeit«, schrieb Thomas Mann seinem Bruder Heinrich im Mai 1907. Und das Hotel gefiel Thomas Mann so gut, dass er sich revanchierte und den Frankfurter Hof literarisch adelte: Der Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull entstand und spielt zu Teilen im Frankfurter Hof. Der imposante Bau im Stil der Hochrenaissance wurde 1876 eingeweiht: mit 250 Zimmern, 20 Salons, einem Speisesaal für 800 Personen, und schon damals mit Aufzügen und einer Dampfheizung. Für den Komfort der Gäste wurden jegliche technische Neuerungen bemüht: 1880 wurde der erste Telefonanschluss gelegt, 1891 besaß der Frankfurter
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Hof die erste öffentliche Fernsprechstelle Frankfurts, und ein Jahr später erhellten elektrische Glühbirnen die Zimmer und Hallen. Bei so viel Luxus verwundert es kaum, dass im gleichen Jahr Hotellegende César Ritz aus Paris lui-même das Hotel pachtete. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben vom Luxus leider nur die Fassaden übrig, Bomben hatten im März 1944 das Gebäude komplett zerstört. Doch Albert Steigenberger, der das Hotel 1940 gekauft hatte, gab nicht auf, und 1953 wurde das Hotel prächtiger denn je wiedereröffnet. 1961 war der Frankfurter Hof nach diversen Erweiterungen mit 700 Betten sogar das damals größte Hotel Deutschlands. Heute sind es immer noch 229 Zimmer und 33 Suiten, die natürlich alle ausgebucht sind, wenn zur Frankfurter Buchmesse die Büchermenschen das Hotel überfallen. Und wer kein
Zimmer findet oder des nötigen Kleingeldes entbehrt, für den gibt es noch die ehrwürdige Halle, die diversen Salons und Restaurants, die Zigarrenbar, die Terrasse am Kaiserplatz und natürlich die berühmte Autorenbar. Überall wird geredet, verhandelt, gekauft und verkauft, geplaudert, geplappert, gegessen, getrunken, gefeiert und und und … »Lesen Sie, um zu leben«, riet Gustave Flaubert. Während der Messe, so scheint es, liest im Frankfurter Hof niemand, umso mehr wird hier gelebt. Wenn sich abends die Tore der Messehallen schließen, wird aus der Frankfurter Buchmesse die Frankfurter Hofmesse und das Steigenberger Grandhotel zum Schauplatz eines wilden Treibens, das bis in die Morgenstunden geht. Die Geschichten über wilde Partys in den Salons oder Zimmern sind so
Fotos: © Steigenberger Hotel Frankfurter Hof
Einmal im Jahr, während der Buchmesse, ist Frankfurt die Bücher-Hauptstadt der Welt. Die Messehallen mit Hunderttausenden von Besuchern stehen zwar offiziell im Zentrum des Geschehens, aber der eigentliche Nukleus ist das Steigenberger Hotel Frankfurter Hof. Eine Woche lang machen die Literati und Glitterati im legendären Hotel die Nacht zum Tag.
Foto links: © Christian Altorfer; andere Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag
Daniel Keel, Willy Brandt, Friedrich Dürrenmatt bei einem Abendessen im Frankfurter Hof 1985, an dem auch Rudolf C. Bettschart, Muriel Spark und Joan Aiken teilnahmen
geheimnisumrankt wie skurril: Die Autorenbar soll in einer Woche mehr Umsatz machen als manche Hotelbar in einem vergleichbaren Haus in einem ganzen Jahr. Viele Kenner schwören, dass nach jeder Buchmesse alle Teppiche im Foyer herausgerissen und ersetzt werden müssen. Es heißt, die besten Mitarbeiter aus allen Steigenberger Hotels Deutschlands werden für die Woche der Buchmesse nach Frankfurt verlegt, um dem Ansturm Herr zu werden. Andere moderne Legenden: Ein englischer Kunstbuchverleger, der sich kein Zimmer leisten kann, soll seit Jahren während der ganzen Messe jede Nacht in der Bar in einem Sessel schlafen. Oder: Vor Jahrzehnten, im dichtesten Gedränge, soll sich ein junger Autor hinter eine Bar gestellt haben, die nicht besetzt war, um sich ein Bier zu zapfen. Sofort wurde er von den Umstehenden aufgefordert, auch für sie Getränke herauszugeben, und ehe er
Die berühmte (und während der Buchmesse berüchtigte) Autorenbar des Frankfurter Hofs
sich’s versah, zapfte er die halbe Nacht lang Bier für die durstigen und drängelnden Gäste. An dem Abend soll der junge Autor mehr Geld eingenommen haben als mit seinem ersten Roman. Auf die wilde Messe und das bunte Treiben freuen sich nicht nur die Gäste, sondern auch die vielen Helfer hinter den Kulissen. Und auch der Chef höchstpersönlich. Was für einen Verlag der Verleger, der dem Haus die Handschrift gibt, ist in einem Hotel der Direktor. Seit September 2008 kümmert sich Spiridon Sarantopoulos um das Wohl seiner Gäste: »Die Buchmesse ist für den Steigenberger Frankfurter Hof und seine Mitarbeiter ein ganz besonderes Ereignis im Jahr, für das bereits lange im Vorfeld viele Vorbereitungen getroffen werden. Wir sehen dieser Woche immer wieder gespannt entgegen, sie ist eine Herausforderung, auf die wir uns jedes Jahr freuen und bei der wir stets
versuchen, den hohen Erwartungen vom Vorjahr nicht nur zu entsprechen, sondern diese möglichst noch zu übertreffen. Vor allen Dingen freuen wir uns aber auch darauf, viele unserer langjährigen Stammgäste und prominente Personen aus der literarischen Welt wieder bei uns begrüßen und verwöhnen zu dürfen.« Natürlich gib es auch eine enge Verbindung zwischen dem Frankfurter Hof und dem Diogenes Verlag: Viele Diogenes Autoren haben während der Buchmesse im Frankfurter Hof gewohnt, Friedrich Dürrenmatt, John Irving, Paulo Coelho oder Leon de Winter – um nur einige zu nennen. Viele Abendessen und Empfänge hat der Verlag in den Festsälen oder im Restaurant Français ausgerichtet, zum Beispiel das Treffen von Dürrenmatt und Willy Brandt und das Abendessen mit Federico Fellini, Rudolf Augstein und Alice Schwarzer oder im Jahr 2002 den Empfang zum 50. Verlagsjubiläum. Viele Jahre lang fand im Großen Ballsaal der Diogenes Cocktail am Messe-Donnerstag statt. Diogenes Magazin
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Über 20 Empfänge und 30 Diners werden im Hotel währen der Buchmesse veranstaltet, im Bankettbereich werden für ca. 2000 Gäste Menüs, Buffets und Snacks zubereitet. Wie viele Liter Champagner und anderes Perlendes oder Hochprozentiges den Durst der Gäste löschen, darüber schweigt Hoteldirektor Spiridon Sarantopoulos galant. Aber bei solch einem Betrieb wird deutlich: »Egal wie exklusiv und überzeugend ein Hotel ist, das wichtigste Kapital sind seine Mitarbeiter.« Und Sarantopoulos kann sich auf viele langjährige Mitarbeiter stützen. Für den Chef-Concierge Jürgen Carl ist die diesjährige Buchmesse die 44. im Frankfurter Hof. Herr Carl kennt alle Geheimnisse der Buchmesse. Er ist selber belesener Buchliebhaber und umgekehrt wohl der beliebteste Concierge der Buchwelt. Elke Heidenreich schrieb über ihn: »Seine Seele ist riesengroß und wärmt uns alle.« Diogenes Verleger Daniel Keel meint schlicht: »Ein Hotel ohne
Herrn Carl ist kein Hotel.« Wenn sich ein neuer Autor anmeldet, druckt Herr Carl schon mal ein Porträtbild aus, reichert es mit wichtigen Daten zu Leben und Werk an und verteilt die Informationen unter dem Hotelpersonal, damit der Gast entsprechend begrüßt werden kann. Viele Schriftsteller und Verleger kennt er seit Jahrzehnten und führt die letztjährigen Gespräche mit den Stammgästen fort wie mit alten Bekannten. »Während der Buchmesse weht ein ganz besonderes Flair bei uns durchs ganze Haus«, so Hoteldirektor Spiridon Sarantopoulos. »Genau dieser Bezug zwischen dem Frankfurter Hof und der Buchmesse liegt dem Namen Autorenbar zugrunde. Die Bar heißt seit 1988 so und etablierte sich sofort bei Gästen wie Mitarbeitern. Was während der Buchmesse in der Autorenbar los ist, ist einfach legendär«, erzählt stolz der Hoteldirektor. Hinter dem Tresen der Autorenbar steht Barchef Ömer Gezer, oder sollte man lieber sagen: läuft? Denn für
Ömer, wie ihn alle nennen, ist die Buchmesse eine Art Marathon. Während der Messe, bis jetzt hat er 37 hinter sich, ist die Autorenbar bis zur letzten Bestellung geöffnet, die vier Mitarbeiter des Normalbetriebs werden von acht weiteren unterstützt; zusätzlich richtet man in der Empfangshalle und im Flur einige weitere Bars ein. Trotzdem ist alles ständig zum Bersten voll, nicht nur die Barhocker sind besetzt, sondern auch alle Treppenstufen. Ömer Gezer ist der Mann, der gelassen auch noch im Morgengrauen seinen Mantel wieder ablegt und den Gästen ein »letztes« und »allerletztes« und »allerallerletztes« Glas nachschenkt. Während der Messe ist Ömer manchmal im 24-Stunden-Einsatz, völlig übermüdet, aber immer geduldig und freundlich. Er ist der Barmann, dem weltweit wohl am meisten Bücher gewidmet wurden. Nicht wenige Male half er einem Gast, dem das Gedränge zum Hindernis wurde, sich auf Schleichwegen und durch geheime
Diogenes Verleger Daniel Keel am Empfang zum 50. Verlagsjubiläum im Oktober 2002 im Frankfurter Hof. Neben ihm seine Frau Anna Keel, in Hintergrund Doris Dörrie, Alice Schwarzer und Rudolf C. Bettschart.
Bei ihm bleiben die Gläser nie leer: Ömer Gezer, der Chef der Autorenbar
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Foto links: © Steigenberger Hotel Frankfurter Hof; Foto Mitte: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag; Foto rechts: © Markus Kirchgeßner
Fortsetzung auf S. 50
Interview
Der Bücher-Concierge
Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag
Für Jürgen Carl ist die Buchmesse der Höhepunkt des Jahres im Frankfurter Hof, denn dann kann der Chef-Concierge zwei Leidenschaften verbinden: den Gästen jeden Wunsch erfüllen und seine Liebe zu Büchern leben. Ein Gespräch über Bücher und Büchermenschen mit dem »Magier des Hotels«, wie ihn Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész genannt hat. Diogenes Magazin: Wie haben Sie Ihre Liebe zu Büchern entdeckt? Jürgen Carl: Im sehr, sehr armen Kinderheim, in das ich nach dem Zweiten Weltkrieg kam, gab es keine Bücher, mit einer Ausnahme: die Bibel. Die habe ich von A bis Z gelesen, und ihr Inhalt hat mein Leben bis heute geprägt. Darum freue ich mich auch, dass der Diogenes Verlag Meister Eckhart und andere geistliche Literatur im Programm hat. Das »Buch der Bücher« hat meine Liebe zur Literatur geweckt. Sie sind über 70, warum arbeiten Sie noch immer? Da gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist sicherlich die Buchmesse und die Begegnung mit »Büchermachern«. Das möchte ich auf keinen Fall missen. Im Oktober erscheint Ihr Buch Vom Glück, für andere da zu sein im LübbeVerlag. Hatten Sie den Wunsch, ein Buch zu schreiben? Der Wunsch bestand nicht – man musste mich »überreden«.
Was ist schöner, lesen oder schreiben? Lesen ist das größte Glück. Was bringt Sie aus der Ruhe? Nicht der Trubel während der Buchmesse. Sehr unruhig werde ich aber, wenn der Stapel ungelesener Bücher immer kleiner wird. Sind Autoren und Verleger schwierige Gäste? »Liebe macht blind«, sagt man. Da ich Autoren und Verleger liebe und verehre, denn sie schenken mir die glücklichsten Stunden im Leben, habe ich keine Schwierigkeiten mit ihnen. »Büchermenschen« sind eine ganz besondere, liebenswerte Spezies. Wie hat sich die Buchmesse im Lauf der Jahre verändert? Wo sind heute die »Verlagspatriarchen und -gründer«, die lange Jahre das Bild der Buchmesse durch ihre Persönlichkeit geprägt haben? Die wunderbare Atmosphäre der Buchmesse ist aber trotzdem geblieben. Haben Sie genug Zeit zum Lesen? Leider, leider nein. Das Zeitunglesen – und das ist für den Concierge ein
Muss – nimmt viel Zeit vom Bücherlesen. Bücher lese ich zu Hause am Tag und in der Nacht. 15 Stunden in der Woche kommen da schon zusammen. Was ist Ihr liebstes Diogenes Buch? Diese Frage ist schwer zu beantworten bei den vielen Diogenes Büchern in meiner Bibliothek. Ich leiste im Geiste Abbitte bei denen, die ich nicht nenne und »liebe«. Am Tag lese ich Carson McCullers und in der Nacht Barbara Vine – und beide oben genannten Damen mögen mir verzeihen, dass ich trotz meiner Liebe zu ihnen oft »fremdgehe«. Haben Sie ein Lebensmotto? Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb vor kurzem Felicitas von Lovenberg unter dem Titel »Das Leben ist lesenswert« über den neusten Roman Solar von Ian McEwan. »Das Leben ist lesenswert« käme durchaus als Lebensmotto für mich in Frage. Ansonsten: »Nimm dich nicht so wichtig, den nächsten Tag dafür umso mehr.« kam /msc
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Fortsetzung von S. 48
Gänge auf sein Zimmer zurückzuziehen. Ömer macht das Unmögliche möglich und lässt schon mal um fünf in der Früh ein Katerfrühstück in der eigentlich geschlossenen Küche servieren. Als ein runder Geburtstag von Jakob Arjouni vor einigen Jahren mitten in die Buchmesse fiel und Freunde ihm einen selbstgebackenen Geburtstagskuchen in einer Weinstube in Haidhausen überreichten, gestattete der Wirt nicht, dass der Kuchen in seinem Restaurant angeschnitten würde. Die Geburtstagsparty wurde schnurstracks in den Frankfurter Hof verlegt. Ömer Gezer organisierte sofort Sitzplätze für 20 Personen, obwohl die Halle zum Bersten voll war – und schnitt höchstpersönlich die Geburtstagstorte an. Aber im Frankfurter Hof kümmert man sich rührend nicht nur um Gäste, die schreiben, Bücher verlegen, einen Nobelpreis gewonnen haben oder Literaturpapst sind – und auch nicht nur während der Buchmesse. Denn, so Hoteldirektor Spiridon Sarantopoulos: »Lediglich zufriedene Gäste reichen nicht, nur begeisterte Gäste bringen noch andere mit. Jeder Gast soll nach seinem Aufenthalt eine schöne Geschichte erzählen können«. Und der Frankfurter Hof kann viele Geschichten erzählen … Für Bücherliebhaber ist der Frankfurter Hof deshalb auch außerhalb der Buchmesse eine ideale Adresse, denn dann findet man in der Autorenbar problemlos einen freien Sessel, und die vielen Bücher in den Regalen sind endlich zu sehen. Und am wichtigsten: Endlich herrscht Ruhe – zum Lesen. kam / js
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Kalender für Bücherfreunde
Wandkalender mit 61 Blatt Format 24 x 28 cm € (D) 19.90 / € (A) 19.90 / sFr 30.50 ISBN 978-3-0347-6011-9
Wandkalender mit 53 Blatt Format 24,2 × 29,6 cm € (D) 19.95 / € (A) 19.95 / sFr 36.50 ISBN 978-3-538-03011-4
Arche Literatur Kalender 2011 Orte & Landschaften »Manche Dinge fallen nie aus der Zeit. Nach mehr als 25 Jahren ist er längst zum modernen Klassiker avanciert.« Spiegel Online
Artemis & Winkler Literaturkalender 2011 Der literarische Begleiter durch die Wochen des Jahres 2011 bringt Literatur und Kunst auf überraschende, intelligente, oft witzige Weise zusammen.
Wandkalender mit 26 Blatt Format 23,9 × 29,6 cm € (D) 18.– / € (A) 18.– / sFr 32.90 ISBN 978-3-538-03013-8
Wandkalender mit 368 Blatt Format 14 × 19,5 cm € (D) 14.95 / € (A) 20.40 / sFr 34.90 ISBN 978-3-942048-16-3 In Deutschland nur über www.zweitausendeins.de
Artemis & Winkler Künstler und ihre Katzen 2011 26 Katzendarstellungen mit Zitaten namhafter Autoren, begleitenden Texten und Wissenswertem rund um die Katze – fast eine kleine Katzenkulturgeschichte.
Der Raben-Kalender 2011 Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Der Klassiker seit 1986: Der komischste aller Literaturkalender. Weisheiten und Frechheiten für jeden Tag.
Top 10
Joey Goebel
Top 10 Deutsche Wörter 1. Kugelschreiber Vorab eine Erklärung: Ich bin ein amerikanischer Schriftsteller, dessen Bücher sich in den USA nicht verkaufen; die Menschen sind zu sehr damit beschäftigt, Sex mit Tiger Woods zu haben, um zu lesen. Die deutschsprachige Leserschaft hingegen hat meine Romane mit offenen Armen aufgenommen, was in mir – einem zutiefst einsprachigen Produkt des amerikanischen Schulsystems – den Wunsch weckte, Deutsch zu lernen. Was natürlich keineswegs leicht ist. »Kugelschreiber« steht beispielhaft dafür, wie schwer es mir mitunter fällt, deutsch zu sprechen, verglichen mit englisch, wo ich schlicht und einfach »pen« sagen würde. Aus meinen einsilbigen Wörtern werden eure Ungetüme mit 14 Buchstaben. 2. Krankenschwester Doch in diesen Ungetümen findet sich so manche Schönheit. Klar, Deutsch ist nicht die melodiöseste aller Sprachen, was ich aber durchaus reizvoll finde, weil gerade die schroffen Laute euren Wörtern Energie verleihen. In meinen Ohren haben Wörter wie »Krankenschwester« etwas Kraftvolles, Wuchtiges. Verglichen mit einem derart brutalen Wort wirkt das englische Pendant »nurse« fade und leblos. Es auszusprechen macht richtig Spaß, und wenn ich es sage, fühle ich mich deutsch. Ähnlich geht es mir bei »Schornsteinfeger«, »schmutzig«, »faltenfrei«, »dort drüben« und »fünf«.
5. Plötzlich Rasch lernte ich, dass deutsche Vokallaute nicht so fließen, wie ich es gewohnt bin. Ich bin aus Kentucky, spreche mit Südstaatenakzent und dehne meine Vokale. Deswegen klingt mein Deutsch vermutlich ganz besonders albern. Und dann gibt es noch diese abgefahrenen Umlaute, wie in dem phantastischen Wort »plötzlich«, die für Englischsprechende doch recht gewöhnungsbedürftig
sind. Dr. Barrette erzählte mir, um den Umlaut zu meistern, solle ich mir vorstellen, jemand nähme den oben erwähnten »Kugelschreiber« und führte ihn von unten nach oben in meine Person ein.
3. Badewanne Andererseits stoße ich gelegentlich auf ein deutsches Wort, das anmutig dahinfließt. Vergleichen Sie mein kaltes, schlichtes »bath tub« mit eurer warmen, einladenden »Badewanne«, ein Wort, das so sexy klingt, dass jede Stripperin gut beraten wäre, es als Künstlernamen zu nehmen.
Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
Woche zum Unterricht zu gehen. Nach jedem Monat Lernen belohnt mich mein Lehrer damit, dass er mir ein deutsches Schimpfwort beibringt.
4. Bitte Höflichkeit steht bei mir ganz oben, daher bin ich von diesem höflichen Mehrzweckwort beeindruckt. Mein Deutschlehrer Dr. Craig Barrette, einer meiner ehemaligen Literaturprofessoren, sagte mir, solange ich möglichst viele »bitte« einstreue, wäre alles paletti. Ich vertiefe mich nicht nur täglich eine halbe Stunde lang in ein Deutsch-Lehrbuch, sondern versuche auch, ein Mal pro
6. Schlafen Dieses Wort ist mir besonders ans Herz gewachsen, da einer der ersten Sätze, die ich erfolgreich auf Deutsch von mir gab, »Ich muss schlafen« lautete, und zwar, als ich in Hamburg zu einer Lesereise eintraf, nachdem ich im Flugzeug nicht schlafen konnte. Außerdem gehört es unbedingt in diese Liste, weil ich wenigstens ein Verb brauche, ohne das kein Satz komplett ist. Während sich mein Wortschatz nach fünf Monaten ganz ansprechend entwickelt, habe ich mit eurem Satzbau immer noch so meine Probleme. Und ich wünschte mir inständig, ich hätte nie das Wort »Dativ« gehört, denn bisher treibt mich dieser Aspekt des Deutschen regelrecht in den Wahnsinn.
7. Genau Wenn man eine neue Sprache lernt und von Muttersprachlern umgeben ist, frustriert einen das ungemein. Sie reden so schnell, und allein die Vorstellung, je mit ihnen Schritt halten zu können, kommt einem unerreichbar vor. So habe ich mich auf meiner letzten Lesereise gefühlt. Doch hin und wieder fühlt man sich ermutigt, wenn ein vertrautes Wort auftaucht, bei dem man am liebsten schreien würde: Das habe ich verstanden! So war es bei mir mit »genau«. Ihr sagt das oft und gern. 8. Töten Ein weiteres deutsches Wort, das ausdrucksstärker ist als sein englisches Pendant. Es klingt angemessen bedrohlich und hat irgendwie etwas Endgültiges. Auch muss ich dabei an eine angenehme Erinnerung von meiner Lesereise denken, als mich der Diogenes Verlagsvertreter Tilman Solleder in einen Plattenladen mitnahm, wo ich mir CDs der Toten Hosen kaufen sollte, mit der Bemerkung, da ich Punkrock mochte, würden diese Burschen eventuell mein Deutsch verbessern. 9. Geschirrspülmaschine Das schwierigste Wort, das ich lernen musste. Als ich es auswendig konnte, empfand ich das als kleinen Triumph. Eigentlich kein Wort, sondern ein kompletter Satz. 10. Neunundzwanzig Im Grunde ist das mein absolutes Lieblingswort. Wenn ich Leuten einen deutschen Beispielsatz nennen soll, entscheide ich mich immer für »Ich bin neunundzwanzig«. Letzteres gern in wütendem Tonfall. Welch ein Wort! Sogar eure Zahlwörter sind kraftvoll! Deutsch zu lernen ist schwierig und bringt mich häufig zur Verzweiflung, doch ich mag die irren Dinge, die es mit meiner Zunge anstellt. Und wenn schließlich »neunundachtzig« des Wegs kommt, kann ich eure Sprache vielleicht fließend.
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Von Joey Goebel ist zuletzt der Roman ›Heartland‹ als Diogenes Taschenbuch erschienen.
Im nächsten Magazin: Top10 Lieblingsautoren von Philippe Djian Diogenes Magazin
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Foto: Š Regine Mosimann / Diogenes Verlag
Interview
Tilman Krause im Gespräch mit Bernhard Schlink
Es gibt keine falschen Entscheidungen, nur verschiedene Leben
Foto: © Martin Lengemann
Fernweh, Familienbande, Intimität, Entscheidungen, Lebenslügen – das sind die Themen in Bernhard Schlinks neuen Erzählungen, die der Literaturkritiker Tilman Krause im exklusiv für das ›Diogenes Magazin‹ geführten Gespräch mit Bernhard Schlink aufgreift. Tilman Krause: Herr Schlink, in Ihrem neuen Buch, den sieben Erzählungen, die Sie unter dem Titel Sommerlügen zusammengefasst haben, wird sehr viel gereist. Erleben reisende Menschen einfach mehr als andere? Bernhard Schlink: Sie kennen das schöne Gedicht des Berliners Gottfried Benn, das rhetorisch fragt: »Meinen Sie, Zürich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt …?«, um selbst die Antwort zu geben: »Ach, vergeblich das Fahren …« Aber im Ernst: Reisen bewirkt zweierlei. Einerseits wirft es einen auf sich selbst zurück, mehr, als dies das alltägliche Leben tut. Andererseits wirft einen das Reisen aber auch in ungewöhnliche, fremde, neue Situationen. Diese Mischung macht den Reiz des Reisens aus, den Reiz,
sich neu zu erfahren. Damit erlebt man tatsächlich mehr. Sie selbst sind ein Mensch, der viel herumkommt. Sie haben Gastprofessuren in der gesamten englischsprachigen Welt absolviert, beson-
Ich liebe das schreibende Reisen oder das reisende Schreiben. ders gern und oft in New York. Spuren davon finden sich zuhauf in diesem Buch. Ist der autobiographische Anteil hoch in diesem Band? Natürlich gibt es einen autobiographischen Anteil. Es gibt ihn immer. Aber … lassen Sie es mich mit einem
Bild ausdrücken: Ich habe in einem Tal Ferien gemacht und phantasiere danach über das Nachbartal, das hinter dem Berg liegt, zu dem ich immer wieder geschaut habe – es wird ähnlich wie mein Tal sein, aber vielleicht auch ganz anders. Aus diesem bildlichen Ausdruck darf man wohl schließen, dass das Autobiographische nur der Anstoß ist: Was Sie dann daraus machen, hat wiederum viel mit Ihrer Phantasie zu tun. Aber kommen wir noch einmal auf das Reisen zurück. Gibt es bei Ihnen eigentlich auch einen Zusammenhang zwischen Reisen und Schreiben? Ich habe in meinem Leben als Juraprofessor oft auf Reisen die Zeit gesucht und gefunden, um zu schreiben. InsoDiogenes Magazin
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es sich um harte, rigide Eltern handelt, wie meine Generation sie noch oft hatte, oder um weiche, liberale, verständnisvolle. Denken Sie nur an die Beziehungsmuster: Für meine Generation hatte die Rebellion gegen das Elternhaus zentrale Bedeutung, und die erste Liebe, die erste Beziehung gab der Rebellion oft den emotionalen Rückhalt. Das hat umgekehrt der ersten Liebe oft eine erstaunliche Stabilität gegeben. Gegenüber den weichen Eltern entfällt das Bedürfnis nach Rebellion meistens. Und prompt ändern sich auch die Beziehungsmuster. Ich
sehe bei den jüngeren Generationen viel offenere, diffusere, sowohl unverbindlichere als auch freundlichere Muster. Man findet sich leichter und lässt sich leichter gehen. Es fehlt das Unbedingte. Auch bei anderen Themen spielen die weicheren Verhaltensmodelle, die Eltern heute vorleben, eine wichtige Rolle: Man schwingt leichter hier mit und dort mit. Das ist eine so schicksalsmächtige Prägung durch die Familie, wie meine Generation sie erfuhr, nur von anderer Art. In der Erzählung Das Haus im Wald haben Sie einen Protagonisten erfunden, der so sehr in Familienseligkeit schwelgt, dass er nicht erträgt, wie seine Frau eigene Wege geht. Am Schluss versperrt er ihr gera-
dezu den Weg zur Außenwelt und zerstört damit letzlich seine Familie. Haben Sie damit auch den Klammergriff, das Überholte dieser Lebensform zeigen wollen? Die Sehnsucht nach Familie hat bei diesem Protagonisten etwas Kompensatorisches; die Familie soll ihn dafür entschädigen, dass er als Schriftsteller im Vergleich zu seiner Frau erfolglos bleibt. Mit dieser kompensatorischen Aufgabe überfrachtet, kann die Sehnsucht nicht mehr in ein sinnvolles Lebensmodell umgesetzt werden. Der Held wird übergriffig, überwältigend. Zwar will sich seine Sehnsucht von den traditionellen Rollenbildern von Mann und Frau lösen, sie kann es aber nicht und erzeugt ebenfalls den Klammergriff des traditionellen Familienmodells, nur noch vereinnahmender, noch zerstörerischer. In der vorletzten Erzählung im Band Johann Sebastian Bach auf Rügen scheinen Sie mir ein anderes Problem der Lebensform Familie aufs Korn nehmen zu wollen, das man als »Tyrannei der Intimität« bezeichnen könnte: Ein Sohn macht mit seinem Vater eine Reise, um ihm näherzukommen. Er bombardiert ihn mit Fragen, und am Ende ist ihm sein Vater fremder als je zuvor. Ja, das Phänomen, das Richard Sennett »Tyrannei der Intimität« genannt hat, beschäftigt mich. Ich selbst habe nach dem Tod meines Vaters manches Mal gedacht: Vielleicht hätten wir einmal miteinander wegfahren sollen, vielleicht hätte es uns einander nähergebracht, wenn wir zusammen ans Meer gefahren wären und Bach gehört hätten, was wir beide liebten bzw. lieben. Das spiele ich in der Geschichte durch. Aber vielleicht muss man sich mit der Tatsache abfinden, dass Intimität zwischen Eltern und Kindern nur begrenzt lebbar ist. Wie man sich mit der Tatsache abfinden muss, dass sich hinter der harten, abweisenden Seite, die Eltern manchmal zeigen, nichts Weiches verbergen muss, das nur verschüttet ist, sondern tatsächlich etwas Hartes, vielleicht sogar Befremdliches liegen kann. Das muss man stehenlas-
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fern besteht ein Zusammenhang zwischen Reisen und Schreiben. Ich war bei mir und zugleich frei vom Alltag und seinen Routinen und Zwängen. Ja, ich habe das schreibende Reisen oder reisende Schreiben immer sehr geliebt, und ich liebe es immer noch. Die Liebe zum Reisen ist ja ein alter deutscher Topos und sehr wichtig für unsere Literatur. Deutsche Dichter haben das Reisen gern befrachtet. Denken wir an Goethe und seine »Neugeburt« in Italien, denken wir an die Romantiker und ihre Erlösungsbedürftigkeit. Hat das Reisen für Sie auch eine metaphysische Dimension? Fernweh ist eine Variante des Heimwehs. »Wo gehen wir hin? Immer nach Hause«, heißt es bei Novalis, um auf Ihre Romantiker zu kommen. Was suchen wir eigentlich, wenn wir reisen? Uns selbst? Unsere Kindheit? Den Bauch der Mutter? Wie das Heimweh nicht wirklich gestillt werden kann, kann es auch das Fernweh nicht, und die eine Reise erzeugt nur den Wunsch nach der nächsten. Andererseits will ich nicht verschweigen, dass ich mich vor jeder Reise gefragt habe und bis heute frage: Was mache ich eigentlich? Warum fahre ich dortoder dorthin? Warum bleibe ich nicht, wo ich bin? In gewisser Weise ist das Reisen gegen meine Natur. Ich bin ein anhänglicher Mensch. Anhänglich an Personen, anhänglich an Orte. Aber ich weiß: Was wäre ich ohne meine Reisen? Wenn ich mich überwunden hatte zu fahren, hat es sich immer gelohnt. Ihre Anhänglichkeit an Personen und Orte zeigt sich auch an dem hohen Stellenwert, den Sie in Ihren Erzählungen jeweils der Familie, der eigenen wie der Herkunftsfamilie, einräumen. Fast alle Protagonisten Ihrer sieben neuen Erzählungen definieren sich stark über ihr Verhältnis zur Mutter, zum Vater. Ist Familie für Sie eine Schicksalsmacht? Ganz ohne Frage ist sie das, auch wenn sie heute oft ein Patchwork ist. Die Prägung durch die Eltern ist fundamental. Dabei ist es gleichgültig, ob
sen können. Es lässt sich nicht alles Befremdliche in Wohlgefallen auflösen. Ein anderes Phänomen, das heute das Zusammenleben der Menschen erschwert, so könnte man aus Ihren Erzählungen schließen, sind die vielen Bilder vom Sex, die im Umlauf sind. Mehrere Paare in Ihren Texten scheitern daran, dass sie den vorgefertigten Bildern von gutem und erfülltem Sex zu entsprechen suchen. Das geht dann schief. Ich empfinde manchmal einen gewissen kulturellen Neid, wenn ich an die Zeiten und Kulturen denke, in denen jedes Paar seine Erotik und Sexualität noch für sich und alleine erfinden konnte und nicht mit Bildern überschüttet war, wie Leidenschaft und Orgasmus und Erschöpfung nach dem Liebesakt klingen und aussehen müssen. Gewiss, wenn man miteinander vertraut ist, entsteht allemal etwas Individuelles, Unverwechselbares. Aber zunächst ist heute alles vorgeprägt, und viele Paare versuchen eher, der Prägung gerecht zu werden, als das Ihre zu finden. Eine große Rolle in Ihren Erzählungen spielt das Thema Entscheidungen: Woran bemisst sich, ob man sich im Leben für das Richtige oder für das Falsche entschieden hat? Das Thema beschäftigt mich immer wieder, und in meinen Geschichten spiele ich verschiedene Antworten auf die Herausforderung, sich zu entscheiden, durch. Ich bin geneigt, Adalbert aus der letzten Geschichte Die Reise nach Süden recht zu geben, der meint, es gebe keine falschen Entscheidungen, es gebe nur verschiedene Leben. Aber ich bin mir nicht sicher. Ist der Weisheit letzter Schluss nicht vielleicht, die richtige Entscheidung nicht so sehr rational herbeiführen zu wollen, sondern mehr auf das »Es« zu vertrauen, »aus dem Bauch heraus« zu entscheiden? Diese Haltung scheint die Erzählung Der letzte Sommer nahezulegen, in der Sie so einen planvollen Menschen vorführen, der immer alles strategisch angeht, sogar seinen eigenen Tod, der immer »alle Zutaten des
Glücks« zusammenhat, und der dann doch nur ein Glück bekommt, das »nicht stimmt«? Scheitert der Protagonist dieser Geschichte daran, dass er dem »Es« zu wenig vertraut? Vielleicht. Aber was könnten wir daraus lernen? Hätte ich auf mein »Es« gehört, hätte ich die Reisen nicht gemacht, die ein Teil von mir geworden sind. Das »Ich« und auch das »Über-Ich«, um bei dem Freud’schen Modell zu bleiben, lassen sich nicht ausschalten. Warum sollte man auch? Kommen wir zum Schluss noch auf das Thema Lügen, das Ihrem gesamten Buch den Stempel aufgedrückt hat. Kommen wir vor allem auf die letzte Ihrer Erzählungen, Reise nach Süden, in der eine alte Frau eines Tages feststellt, dass sie ihre Kinder und Enkel nicht mehr liebt, dass sie sich lange Zeit nur eingeredet hatte, sie zu lieben. Mit dieser Lebenslüge räumt sie dann auf. Ist es, allgemein gesprochen, im Alter einfacher, auf das Lügen, auch das Sich-selbst-Belügen, zu verzichten? Ich merke es an mir selbst. Ich mache mir nicht mehr so viele Illusionen über mich wie früher. Lebenslügen dienen dazu, Frustrationen, Enttäuschungen, Konflikte zu vermeiden. Im Alter hält man den Frustrationen besser stand. Im hohen Alter sehe ich das bei manchen allerdings eine Gestalt annehmen, die ich traurig finde. Sie kennen sicher auch die alten Menschen, die gewissermaßen den Gesellschaftsvertrag, unter dem man zum anderen freundlich ist, damit er auch zu einem freundlich ist, aufkündigen. Sie sagen sich, und sie sagen es oft verhärtet und verbittert: Warum soll ich zum anderen noch freundlich sein, wo ich doch bald tot bin? Aber der Verzicht auf Lebenslügen muss nicht in Verhärtung und Verbitterung führen. Desillusionierungen sind auch erleichternd, und mit ihnen lässt sich leicht, spielerisch, ironisch umgehen. Und wenn wir sie akzeptieren, lassen sie uns überdies milder gegenüber anderen werden.
Sie würden also sagen, um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«? Ja. Zugleich denke ich, dass wir gut daran tun, mit den Lebenslügen der anderen behutsam umzugehen. Lebenslügen kompensieren Lebensschwächen, und das Zerschlagen der Lebenslüge bringt die Lebensschwäche ans Licht – eher etwas für eine Psychoanalyse oder -therapie als für eine Freundschaft. Jedenfalls gibt es eine Wahrheitsbrutalität, die ich schrecklich finde – und dann gilt der Satz von Ingeborg Bachmann nicht mehr.
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Buchtipp
Bernhard Schlink Sommerlügen Diogenes
288 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06753-8
Lebensentwürfe, Liebeshoffnungen, Alterseinsichten – was ist Illusion, und was stimmt? Was bleibt, wenn eine Illusion zerplatzt? Die Flucht in eine andere? Weil das Leben ohne Lebenslügen nicht zu bewältigen ist? Sieben irritierend-bewegende Geschichten von Bernhard Schlink. Auch als Hörbuch, gelesen von Hans Korte Diogenes Hörbuch Gelesen von Hans Korte »Bernhard Schlink ist einer der erfolgreichsten und einer der vielseitigsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart.« Volker Hage / Der Spiegel
Bernhard Schlink Sommerlügen
7 CD
7 CD, Spieldauer 475 Min. ISBN 978-3-257-80297-9
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Erzählung
Der letzte Sommer Eine Erzählung von Bernhard Schlink Mit Bildern von Anna Keel Ein Mann, unheilbar krank, arrangiert einen letzten Sommer mit den Seinen, um in den Tod zu gehen, wenn das Leben noch schön ist. Aber bald muss er merken, dass sich das Leben, wie auch das Sterben, nicht genau planen lässt. Der letzte Sommer wird für ihn ein Sommer des Nachdenkens über Glück, Lebensentwürfe, Lebenslügen – und über die Liebe.
Bild: © Anna Keel
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r erinnerte sich an sein erstes Semester als Professor in New York. Wie hatte er sich gefreut: als die Einladung kam, als er das Visum im Pass hatte, als er in Frankfurt ins Flugzeug stieg und in JFK mit dem Gepäck in die Wärme des Abends trat und eine Taxe in die Stadt nahm. Auch den Flug hatte er genossen, obwohl die Reihen eng und die Sitze schmal waren; als sie über den Atlantik flogen, sah er in der Ferne ein anderes Flugzeug, und ihm war, als sitze er auf dem Deck eines Schiffs, dem auf dem weiten Meer ein anderes Schiff begegnet. Er war schon oft in New York gewesen, als Tourist, zu Besuch bei Freunden, als Gast auf Konferenzen. Jetzt lebte er im Rhythmus der Stadt. Er gehörte dazu. Er hatte eine eigene Wohnung, wie alle; sie war zentral gelegen und nicht weit vom Park und vom Fluss. Wie alle nahm er morgens die U-Bahn, zog die Fahrkarte durch den Schlitz, ging durchs Drehkreuz und über die Treppe auf den Bahnsteig, drängte sich in einen Wagen,
konnte sich nicht rühren und die Zeitung nicht umblättern und drängte sich nach zwanzig Minuten aus dem Wagen. Am Abend fand er in der UBahn einen Sitzplatz, las die Zeitung zu Ende und erledigte in der Nachbar-
Die Idee des gemeinsamen Sommers, seines letzten Sommers, war die Idee eines letzten gemeinsamen Glücks. schaft seiner Wohnung Besorgungen. Er konnte zu Fuß ins Kino und in die Oper gehen. Dass er in der Universität nicht ganz dazugehörte, störte ihn nicht. Die Kollegen hatten mit ihm nicht zu besprechen, was sie untereinander zu besprechen hatten, und die Studenten nahmen ihn, dem sie nur ein Semester lang begegneten, nicht so ernst wie die Professoren, mit denen sie Jahr um
Jahr zu tun hatten. Aber die Kollegen waren freundlich und die Studenten aufmerksam, sein Unterricht war ein Erfolg, und aus dem Fenster seines Büros hatte er den Blick auf eine gotische Kirche aus rotem Sandstein. Ja, er hatte sich gefreut, schon vor dem Aufbruch und auch noch nach der Rückkehr. Aber eigentlich war er dort unglücklich. Sein erstes Semester in New York war das erste Semester, in dem er an seiner deutschen Universität nicht unterrichten musste – er hätte gerne diese Freiheit genossen, statt wieder zu unterrichten. Seine Wohnung in New York war düster, und im Hof lärmte die Klimaanlage so laut, dass er sich Stöpsel in die Ohren stecken musste, um schlafen zu können. An vielen Abenden, an denen er alleine in billigen Restaurants aß oder schlechte Filme sah, fühlte er sich einsam. In seinem Büro blies die Klimaanlage trockene Luft in sein Gesicht, bis seine Nebenhöhlen eiterten und er sich operieren lassen musste. Die Operation war furchtbar, und als Diogenes Magazin
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er aus der Narkose aufwachte, fand er sich nicht in einem Krankenbett, sondern auf einem Liegestuhl in einem Raum mit anderen Patienten in Liegestühlen und wurde wenig später mit schmerzendem Kopf und blutender Nase nach Hause entlassen. Er hatte sich das Unglück nicht eingestanden. Er wollte glücklich sein. Er wollte glücklich sein, weil er es aus der kleinen deutschen Universitätsstadt ins große New York geschafft hatte und dort dazugehörte. Er wollte glücklich sein, weil er sich dieses Glück so sehr gewünscht hatte und es jetzt da war – oder doch alles, was er sich als dessen Zutaten immer vorgestellt hatte. Manchmal ließ sich leise eine innere Stimme vernehmen, die Zweifel am Glück anmeldete. Aber er brachte sie zum Verstummen. Schon als Kind, Schüler und Student litt er, wenn er zu einer Reise aufbrach und seine Welt und seine Freunde verlassen musste. Was hätte er versäumt, wenn er damals immer zu Hause geblieben wäre! Also sagte er sich in New York, es sei eben sein Schicksal, Zweifel überwinden zu müssen, um das Glück da zu ⁄nden, wo es zunächst nicht zu sein schien. 2 Auch in diesem Sommer kam wieder eine Einladung nach New York. Er nahm den Umschlag aus dem Briefkasten und öffnete ihn auf dem Weg zu der Bank, auf der er morgens seine Post las. Die New Yorker Universität, der er jetzt seit fünfundzwanzig Jahren verbunden war, lud ihn zur Veranstaltung eines Seminars im nächsten Frühling ein. Die Bank stand am See, auf dem Teil des Grundstücks, der durch eine kleine Straße vom Rest des Grundstücks und dem Haus getrennt war. Als sie das Haus gekauft hatten, hatten seine Frau und die Kinder die Straße als störend empfunden. Sie hatten sich daran gewöhnt. Er hatte von Anfang an gemocht, dass da ein eigenes kleines Reich war, zu dem er eine Tür auf- und zumachen konnte. Als er 58
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erbte, ließ er das alte Bootshaus herrichten und den Dachstuhl ausbauen. In vielen Sommern hatte er dort gearbeitet. Aber in diesem Sommer saß er lieber auf der Bank. Sie war sein Versteck, vom Bootshaus und -steg, wo sich die Enkel gerne tummelten, nicht zu sehen. Wenn sie weit hinausschwammen, sahen sie ihn und er sie, und sie winkten einander. Er würde im nächsten Frühling nicht in New York lehren. Er würde nie mehr in New York lehren. Sein Leben in New York, über die Jahre ein so selbstverständlicher Bestandteil seines Lebens geworden, dass er sich schon lange nicht mehr fragte, ob er dort glücklich oder unglücklich sei,
Das Wetter war schön, Kaiserwetter, sagte seine Frau lächelnd, und das Gewitter am zweiten Abend war ein Kaisergewitter. war vorbei. Weil es vorbei war, gingen seine Gedanken zum ersten Semester dort zurück. Sich einzugestehen, dass er damals in New York unglücklich war, wäre nicht schlimm, wenn es nicht zum nächsten Eingeständnis führte. Als er aus New York zurückkam, lernte er bei einem Unfall eine Frau kennen; sie stießen mit den Fahrrädern zusammen, als sie beide fuhren, wie sie nicht hätten fahren dürfen – er fand es eine hübsche Art, einander kennenzulernen. Zwei Jahre lang trafen sie sich, gingen in die Oper und ins Theater und zum Essen, ein paar Mal verreisten sie für ein paar Tage, und immer wieder verbrachte sie die Nacht bei ihm oder er bei ihr. Er fand sie hinreichend schön und hinreichend klug, fasste sie gerne an und ließ sich gerne von ihr anfassen und dachte, er sei endlich angekommen. Aber als sie wegen ihres Berufs wegzog, wurde die
Beziehung rasch mühsam und erlosch. Erst jetzt gestand er sich ein, dass er erleichtert war. Dass er schon die beiden Jahre mühsam gefunden hatte. Dass er oft glücklicher gewesen wäre, wenn er zu Hause geblieben und gelesen und Musik gehört hätte, statt sie zu treffen. Er hatte sie getroffen, weil er wieder dachte, alle Zutaten des Glücks seien da und er müsse glücklich sein. Wie war das mit den anderen Frauen in seinem Leben? Mit seiner ersten Liebe? Er war glücklich, als Barbara, das schönste Mädchen in der Klasse, mit ihm ins Kino ging, sich von ihm auf ein Eis einladen, nach Hause bringen und unter der Tür küssen ließ. Er war fünfzehn, es war sein erster Kuss. Ein paar Jahre später nahm Helena ihn mit ins Bett, und es klappte schon beim ersten Mal, er kam nicht zu früh, und sie kam auch, und bis zum Morgen gab er ihr, was ein Mann einer Frau geben kann, er, der Neunzehnjährige, der Zweiunddreißigjährigen. Sie blieben zusammen, bis sie mit fünfunddreißig einen Rechtsanwalt in London heiratete, mit dem sie, wie er schließlich erfuhr, seit Jahren verlobt war. Er machte damals Examen, ein besseres Examen, als er erwartet hatte, wurde Assistent, schrieb Aufsätze und Bücher und wurde Professor. Er war glücklich – oder wollte er wieder nur glücklich sein? Dachte er wieder, er müsse glücklich sein, weil alles stimmte? War das Glück, das er empfand, wieder nur das Zutaten-Glück? Er hatte sich manchmal gefragt, ob das Leben nicht anderswo sei, und die Frage verdrängt. Wie er verdrängt hatte, dass es Eitelkeit war, was ihn Barbara umwerben und Helena bedienen ließ, und dass er den Einsatz im Dienst der Eitelkeit oft anstrengend fand. Er scheute sich, über sein Glück in der Ehe und mit der Familie nachzudenken. Er wollte sich über den blauen Himmel und den blauen See und das Grün der Wiesen und des Walds freuen. Er liebte die Landschaft nicht wegen der Alpen in der Ferne, son-
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dern wegen des sanften Schwungs, mit dem die nahen Berge sich hoben und der See sich zwischen sie bettete. Draußen saßen ein Mädchen und ein Junge im Boot; er ruderte, und sie ließ die Beine ins Wasser hängen. Die Tropfen, die vom Ruderblatt ⁄elen, glitzerten in der Sonne, und die leichten Wellen, die das Boot und die Füße des Mädchens zogen, liefen weit über die glatte Oberfläche. Die beiden Kinder, es mussten Meike, die älteste Tochter seines Sohns, und David, der älteste Sohn seiner Tochter, sein, redeten nicht. Seit das Postauto vorbeigekommen war, hatte nichts mehr die Stille des Morgens gestört. Seine Frau bereitete im Haus das Frühstück vor; bald würde ein Enkelkind kommen und ihn holen. Dann dachte er, dass er die Einsicht, wie trügerisch sein Glück gewesen war, nicht negativ, sondern positiv nehmen sollte. Was konnte es für einen, der aus dem Leben gehen will, Besseres geben als diese Einsicht? Er wollte gehen, weil die letzten Monate, die ihm bevorstanden, entsetzlich würden. Nicht dass er keine Schmerzen ertragen konnte. Erst wenn die
Schmerzen unerträglich würden, würde er gehen. Aber ihm gelang nicht, die Einsicht positiv zu nehmen. Die Idee des gemeinsamen Sommers, seines letzten Sommers, war die Idee eines letzten gemeinsamen Glücks. Es hatte nicht viel Überredung gebraucht, dass seine beiden Kinder mit ihren Familien für vier Wochen ins Haus an den See kamen, aber doch ein bisschen. Er hatte auch seine Frau ein bisschen überreden müssen; sie wäre lieber mit ihm nach Norwegen gefahren, von wo ihre Großmutter stammte und wo sie noch nie gewesen waren. Jetzt hatte er seine Familie beisammen, und auch sein alter Freund würde für ein paar Tage zu Besuch kommen. Er hatte gedacht, er hätte das letzte gemeinsame Glück gut vorbereitet. Jetzt fragte er sich, ob er wieder nur die Zutaten für ein Zutaten-Glück versammelt hatte. 3 »Großvater!« Er hörte eine Kinderstimme und schnelle Kinderfüße, die über die Straße und die Wiese zum See liefen. Es war Matthias, der jüngste
Sohn seiner Tochter, der jüngste seiner fünf Enkel, ein stämmiger Fünfjähriger mit blondem Schopf und blauen Augen. »Das Frühstück ist fertig.« Als Matthias das Boot mit seinem Bruder und seiner Cousine sah, rief er sie wieder und wieder und hüpfte auf dem Steg hin und her, bis sie anlegten. »Machen wir ein Wettrennen?« Die Kinder rannten los, und er folgte ihnen langsam. Vor einem Jahr hätte er noch mitgemacht, vor ein paar Jahren noch gewonnen. Aber sie vor sich den Hang hinaufrennen und dann die großen Kinder zurückfallen sehen, weil sie das kleine gewinnen lassen wollten, war schöner als mitmachen. Ja, so hatte er sich den letzten gemeinsamen Sommer vorgestellt. Er hatte sich auch vorgestellt, wie er gehen würde. Ein befreundeter Arzt und Kollege hatte ihm den Cocktail besorgt, den die Organisationen der Sterbehilfe ihren Mitgliedern geben. Cocktail – ihm ge⁄el die Bezeichnung. Er hatte nie Lust auf Cocktails gehabt und nie einen versucht; sein erster würde auch sein letzter sein. Ihm ge⁄el auch die Bezeichnung »Sterbeengel« für das Mitglied Diogenes Magazin
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und gelaufen wurde. Manchmal spielte er mit, wenn die anderen Boccia spielten, gesellte sich mit der Flöte dazu, wenn sie musizierten, nahm mit einer Bemerkung an ihrem Gespräch teil. Sie reagierten überrascht, und er war selbst überrascht, wenn er sich mit ihnen beim Spiel, bei der Musik oder im Gespräch fand.
Er liebte auch seine Frau. »Natürlich liebe ich meine Frau«, hätte er gesagt, wenn jemand ihn gefragt hätte. Es war schön, wenn er in der Ecke des Sofas saß und sie sich zu ihm setzte. Noch schöner fand er, sie im Kreis der anderen zu sehen. Unter den Jungen wurde sie jung, als sei sie wieder die Studentin aus dem ersten Semester, die er kennenlernte, als er bereits Examen machte. Sie war ohne Raf⁄nement und ohne Arg, sie hatte nichts von dem, was an Helena begehrenswert und abstoßend war. Ihm war damals, als reinige ihn die Liebe zu ihr von der Erfahrung des Benutzens und Benutzt-Werdens, die von der Beziehung mit Helena geblieben war. Sie heirate-
ten, als auch sie die Ausbildung abgeschlossen hatte und Lehrerin wurde. Die beiden Kinder kamen schnell, und seine Frau ging bald mit halbem Deputat wieder in die Schule. Sie schaffte alles mit leichter Hand: die Kinder, die Schule, die Wohnung in der Stadt und das Haus auf dem Land, gelegentlich ein Semester mit ihm und den Kindern in New York. Nein, sagte er sich, er musste sich nicht scheuen, über das Glück seiner Ehe und seiner Familie nachzudenken. Es stimmte. Auch die ersten Tage des gemeinsamen Sommers hatten gestimmt; die Enkelkinder beschäftigten sich miteinander, die Kinder und Schwiegerkinder genossen die Zeit für sich, und seine Frau arbeitete glücklich im Garten. Der vierzehnjährige David war in die dreizehnjährige Meike verliebt – er sah es, die anderen schienen es nicht zu sehen. Das Wetter war schön, Tag um Tag, Kaiserwetter, sagte seine Frau lächelnd, und das Gewitter am zweiten Abend war ein Kaisergewitter; er saß auf der Veranda und war überwältigt vom Schwarz der Wolken, den Blitzen und dem Donner und dem schließlich befreienden Regenguss. Selbst wenn er wieder nur die Zutaten für ein Zutaten-Glück versammelt hatte, selbst wenn das Glück dieses letzten gemeinsamen Sommers ein Unglück verbarg – was machte es? Er würde es nicht mehr erfahren. 4 Als Nacht war und sie im Bett lagen, fragte er seine Frau: »Warst du mit mir glücklich?« »Ich bin froh, dass wir hier sind. Wir könnten in Norwegen nicht glücklicher sein.«
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der Organisation, das dem sterbebereiten Mitglied den Cocktail bringt; er würde sein eigener Sterbeengel sein. Ohne jedes Aufheben würde er, wenn es so weit war, beim abendlichen Zusammensein im Wohnzimmer aufstehen, rausgehen, den Cocktail trinken, die Flasche auswaschen und wegräumen und sich im Wohnzimmer wieder dazusetzen. Er würde zuhören, einschlafen und sterben, man würde ihn schlafen lassen und am nächsten Morgen tot ⁄nden, und der Arzt würde Herzversagen feststellen. Ein schmerzloser und friedlicher Tod für ihn, ein schmerzloser und friedlicher Abschied für die anderen. Noch war es nicht so weit. Im Esszimmer war gedeckt. Er hatte zu Beginn des Sommers den Tisch ausgezogen und sich vorgestellt, am Kopf würden er und seine Frau sitzen, neben ihm die Tochter mit Mann, neben seiner Frau der Sohn mit Frau und am Ende die fünf Enkel und Enkelinnen. Aber die anderen gewannen dieser Ordnung nichts ab und setzten sich, wie es sich gerade ergab. Heute war nur noch der Platz zwischen seiner Schwiegertochter und ihrem sechsjährigen Sohn frei, Ferdinand, der sichtbar schmollend von seiner Mutter weggerückt war. »Was ist los?« Aber Ferdinand schüttelte wortlos den Kopf. Er liebte seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder. Er hatte sie gerne um sich, ihre Geschäftigkeit, ihr Reden und Spielen, sogar ihr Lärmen und Streiten. Am liebsten saß er in der Ecke des Sofas und hing seinen Gedanken nach, unter ihnen und zugleich für sich. Er arbeitete auch gerne in Bibliotheken und Cafés; er konnte sich gut konzentrieren, wenn um ihn herum mit Papier geraschelt, geredet
»Nein, ich meine, ob du mit mir glücklich warst.« Sie richtete sich auf und sah ihn an. »Die ganzen Jahre, die wir verheiratet waren?« »Ja.« Sie legte sich wieder zurück. »Ich bin schlecht damit zurechtgekommen, dass du so viel weg warst. Dass ich oft alleine war. Dass ich die Kinder alleine aufziehen musste. Als Dagmar mit fünfzehn ausgerissen ist und ein halbes Jahr wegblieb, warst du zwar da, hast dich aber in deine Verzweiflung verkrochen und mich alleingelassen. Als Helmut … Aber was rede ich? Du weißt selbst, wann es mir besser und wann schlechter ging. Ich weiß es doch auch über dich. Als die Kinder klein waren und ich wieder in der Schule angefangen habe, bist du zu kurz gekommen. Du hättest gerne gehabt, wenn ich mehr Anteil an deinem Beruf genommen hätte. Wenn ich gelesen hätte, was du geschrieben hast. Du hättest auch gerne öfter mit mir geschlafen.« Sie drehte sich auf die Seite und kehrte ihm den Rücken. »Ich hätte gerne mehr mit dir gekuschelt.« Nach einer Weile hörte er ihren ruhigen Atem. Hieß das, dass es mehr nicht zu sagen gab? Ihm tat die linke Hüfte weh. Der Schmerz war nicht stark, aber gleichmäßig und beständig und fühlte sich an, als wolle er sich einnisten. Oder hatte er sich schon eingenistet? Taten sich seine linke Hüfte und sein linkes Bein nicht seit Tagen, nein, seit Wochen beim Treppensteigen schwer? War da nicht schon lange eine Schwäche, die er nur mit zusätzlicher Kraft und mit stechendem Schmerz überwand? Er hatte sich nicht darum gekümmert. Wenn er die Treppe geschafft hatte, war die Schwäche vorbei. Aber darum konnte der stechende Schmerz beim Treppensteigen doch der Bote des Schmerzes gewesen sein, den er jetzt spürte und der ihm Angst machte. Hatte das Skelettszintigramm nicht Herde in der linken Hüfte gezeigt? Er erinnerte sich nicht mehr. Er wollte keiner der Kranken sein, die
alles über ihre Krankheit wissen, die sich im Internet und mit Büchern und in Gesprächen schlaumachen und ihre Ärzte in Verlegenheit bringen. Linke Hüfte, rechte Hüfte – er hatte nicht aufgepasst, als der Arzt ihm erklärte, welche Knochen schon befallen waren. Er hatte sich gesagt, er werde es schon merken. Auch er drehte sich auf die Seite. Tat die linke Hüfte noch weh? War es jetzt die rechte? Er hörte in sich hinein. Zugleich hörte er durch das offene Fenster den Wind in den Bäumen und das Bellen der Frösche am See. Er sah Sterne am Himmel und dachte, dass sie nicht golden sind und nicht prangen, sondern hart und kalt wie kleine, ferne Neonpunkte leuchten. Doch, die linke Hüfte tat weiter weh. Aber auch die rechte. Wenn er in
Als Nacht war und sie im Bett lagen, fragte er seine Frau: »Warst du mit mir glücklich?« seine Beine fühlte, war der Schmerz da, und ebenso wenn er seinen Rücken hinauf und in den Nacken und in die Arme fühlte. Wo immer er hinfühlte, wartete der Schmerz auf ihn und sagte ihm, er wohne jetzt hier. Er sei jetzt hier zu Hause. 5 Er schlief schlecht und stand früh auf. Auf Zehenspitzen ging er zur Tür, öffnete sie behutsam und schloss sie behutsam. Die Böden, die Treppen, die Türen, alles knarrte. Er machte in der Küche Tee und nahm die Tasse mit auf die Veranda. Es wurde hell. Die Vögel lärmten. Gelegentlich ging er seiner Frau beim Kochen oder Tischdecken oder Abwaschen zur Hand. Alleine hatte er noch keine Mahlzeit auf den Tisch gebracht. Früher ⁄el, wenn seine Frau verreisen musste, das Frühstück aus
und er ging zum Mittag- und Abendessen mit den Kindern ins Restaurant. Früher hatte er aber auch keine Zeit. Jetzt hatte er Zeit. Er fand in der Küche Dr. Oetkers Schulkochbuch und brachte es auf die Veranda. Mit Hilfe eines Kochbuchs musste sogar er, der Philosoph und Spezialist für analytische Philosophie, Pfannkuchen zum Frühstück backen können. Sogar er? Gerade er! »Was sich beschreiben lässt, das kann auch geschehen«, lehrt Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus. Aber es gab im Schulkochbuch keinen Pfannkuchen. Hatte der Pfannkuchen noch einen anderen Namen? Was sich nicht benennen lässt, lässt sich auch nicht ⁄nden. Was sich nicht ⁄nden lässt, lässt sich auch nicht backen. Er fand den Eierkuchen, las, was er zu tun hatte, und rechnete die Zutaten auf 11 Personen hoch. Dann machte er sich in der Küche an die Arbeit. Er musste lange suchen, bis er 688 Gramm Mehl, 11 Eier, einen reichlichen Liter Milch, einen reichlichen Drittelliter Mineralwasser, ein knappes Pfund Margarine, Zucker und Salz beisammenhatte. Er ärgerte sich, dass für Zucker und Salz keine Mengen angegeben waren. Wie sollte er Zucker, wie sollte er Salz an sich durch vier dividieren und mit elf multiplizieren? Er ärgerte sich auch, dass er keine Anweisung fand, wie das Eiweiß vom Eigelb zu trennen und steifzuschlagen sei. Er hätte die Pfannoder Eierkuchen gerne zart und locker gemacht. Aber er schaffte das Sieben, Verschlagen und Verrühren, ohne dass Klümpchen entstanden. Als er die Pfanne aus dem Schrank nahm, rutschte sie ihm aus der Hand und ⁄el scheppernd auf den steinernen Boden. Er hob sie auf und lauschte ins Haus. Nach wenigen Sekunden hörte er die Schritte seiner Frau auf der Treppe. Sie kam im Nachthemd in die Küche und sah sich um. Jetzt, dachte er. Er nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich sperrig an. Ich, dachte er, fühle mich vermutlich auch Diogenes Magazin
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»Er ist ein richtiger Pfannkuchen. Kriege ich einen Kuss?« »Einen Kuss?« Sie sah ihn erstaunt an. Wie lange ist es her, dachte er wieder, dass wir uns das letzte Mal geküsst haben? Langsam legte sie Gabel und Teller aus der Hand, kam zu ihm an den Herd, gab ihm einen Kuss auf die Backe und blieb neben ihm stehen, als wisse sie nicht, was sie jetzt tun solle. Dann stand Meike in der Tür und sah ihre Großeltern fragend an. »Was ist los?« »Er backt Pfannkuchen.« »Großvater backt Pfannkuchen?« Sie mochte es nicht glauben. Aber da waren die Zutaten, die Schüssel mit Teig, die Pfanne, der halbe Pfannkuchen auf dem Teller und der Großvater mit Schürze. Meike drehte sich um, rannte die Treppe hoch und klopfte an die Türen. »Großvater backt Pfannkuchen!« 6 An diesem Tag zog er sich nicht auf die Bank am See zurück. Er holte einen Sessel aus dem Bootshaus und
setzte sich an den Bootssteg. Er schlug ein Buch auf, las aber nicht. Er sah den Enkelkindern zu. Ja, David war in Meike verliebt. Wie er sie zu beeindrucken versuchte, wie er sich bei jeder Haltung und Bewegung um Lässigkeit bemühte, wie er sich vor dem Kopfsprung mit Überschlag vergewisserte, ob sie zusah, wie er mit den Büchern angab, die er gelesen, und mit den Filmen, die er gesehen hatte, wie er mit nihilistischer Gleichgültigkeit über seine Zukunft sprach! Merkte Meike es nicht, oder spielte sie mit David? Sie schien unbeeindruckt und unbefangen und schenkte David nicht mehr von ihrer Aufmerksamkeit und Fröhlichkeit als den anderen. Die Leiden der ersten Liebe! Er sah Davids Unsicherheit und fühlte wieder die Unsicherheit, die ihn vor mehr als fünfzig Jahren gequält hatte. Auch er wollte damals alles sein, und manchmal war ihm, als sei er es, und dann wieder, als sei er nichts. Auch er dachte damals, wenn Barbara sähe, wer er war und wie er sie liebte, würde sie ihn auch lieben, konnte aber weder
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sperrig an. Wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal in die Arme genommen haben? Er hielt sie fest, und sie ergab sich zwar nicht in die Umarmung, legte aber die Arme um ihn. »Was machst du in der Küche?« »Pfannkuchen – ich will gerade die Nullnummer backen. Die anderen backe ich, wenn alle am Frühstückstisch sitzen. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Sie sah auf den Tisch, auf dem noch Mehl, Eier und Margarine lagen und die Schüssel mit dem Teig stand. »Du hast das gemacht?« »Willst du die Nullnummer versuchen?« Er ließ seine Frau los, schaltete den Herd ein und setzte die Pfanne auf die Flamme, sah ins Kochbuch, erhitzte 150 Gramm Margarine, gab ein wenig Teig in die Pfanne, nahm den halbgebackenen Pfannkuchen heraus und legte ihn auf einen Teller, erhitzte mehr Margarine, gab den Pfannkuchen gewendet in die Pfanne und präsentierte ihn schließlich goldgelb seiner Frau. Sie aß. »Er schmeckt wie ein richtiger Pfannkuchen.«
zeigen, wer er war, noch sagen, dass er sie liebte. Auch er suchte damals in jeder kleinen Geste der Aufmerksamkeit und der Vertrautheit ein Versprechen und wusste doch, dass Barbara ihm nichts versprach. Auch er flüchtete damals in eine heroische Gleichgültigkeit, in der er nichts glaubte und nichts hoffte und nichts brauchte. Bis die Sehnsucht ihn wieder überwältigte. Ihn erfasste Mitleid mit seinem Enkel – und mit sich selbst. Die Leiden der ersten Liebe, die Schmerzen des Heranwachsens, die Enttäuschungen des erwachsenen Lebens – er hätte David gerne etwas Tröstendes oder Ermutigendes gesagt, wusste aber nicht, was. Konnte er ihm immerhin helfen? Er stand auf und setzte sich im Schneidersitz zu den beiden auf den Bootssteg. »Ehrlich, Großvater, ich hätte dir die Pfannkuchen nicht zugetraut.« »Ich habe Spaß am Kochen gekriegt. Helft ihr beiden Großen mir morgen? Ich will nicht zu ehrgeizig werden, aber Spaghetti Bolognese und Salat sollte ich mit eurer Hilfe schaffen.« »Zum Nachtisch Mousse au Chocolat?« »Wenn sie in Dr. Oetkers Schulkochbuch steht.« Dann saßen sie stumm beieinander. Er hatte ihr Gespräch unterbrochen und wusste nicht, wie er ein Gespräch zu dritt in Gang bringen sollte. »Dann gehe ich mal wieder. Morgen um elf? Zuerst einkaufen und dann kochen?« Meike lachte ihn an. »Cool, Großvater, aber wir sehen uns doch noch.« Dann saß er wieder auf dem Sessel. Matthias und Ferdinand hatten ein paar Meter vor dem Ufer eine flache Stelle im See gefunden, schleppten herbei, was sie an Steinen fanden, und bauten eine Insel. Er schaute nach der zwölfjährigen Schwester von David und Matthias aus. »Wo ist Ariane?« »Auf deiner Bank.« Er stand wieder auf und ging zu seiner Bank. Die linke Hüfte schmerzte. Ariane las, einen Fuß auf der Bank und das Buch auf dem Knie, hörte ihn kommen und sah auf. »Ist es okay, dass ich hier sitze?«
»Natürlich. Kann ich mich dazusetzen?« Sie nahm den Fuß von der Bank, schlug das Buch zu und rückte zur Seite. Sie sah, dass er den Titel las: Wenn der Postmann zweimal klingelt. »Es stand bei euch im Regal. Vielleicht ist es nichts für mich. Aber es ist spannend. Ich dachte, wir machen mehr zusammen. Aber David hat nur Augen für Meike und Meike nur Augen für David, auch wenn sie so tut, als sei es nicht so, und er es nicht merkt.« »Bist du sicher?« Sie sah ihn an, altklug und mitleidig, und nickte. Sie wird eine schöne Frau werden, dachte er und stellte sich
»Du bist das Auto, dem der Ruhestand den Motor abgestellt hat. Wer ist die abschüssige Straße?« vor, wie sie eines Tages die Brille abnehmen, das Haar lösen und die Lippen aufwerfen würde. »So ist das also mit David und Meike. Wollen wir was zusammen machen?« »Was?« »Wir können Kirchen und Schlösser ansehen oder einen Maler besuchen, den ich kenne, oder einen Kraftfahrzeugmechaniker, in dessen Werkstatt es aussieht wie vor fünfzig Jahren.« Sie dachte nach. Dann stand sie auf. »Gut, besuchen wir den Maler.« 7 Nach einer Woche wollte seine Frau wissen: »Was ist los? Wenn dieser Sommer stimmt, haben alle früheren nicht gestimmt, und wenn alle früheren gestimmt haben, stimmt dieser nicht. Du liest nichts mehr, und du schreibst nichts mehr. Du ziehst nur noch mit den Enkelkindern herum oder mit den Kindern, und gestern kommst du in den Garten und willst die Hecke schneiden. Wenn es eine Gelegenheit gibt, mich anzufassen,
fasst du mich an. Wirklich, es ist, als könntest du deine Hände nicht von mir lassen. Ich will nicht sagen, dass du mich nicht anfassen kannst. Du kannst …« Sie wurde rot und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls ist alles anders, und ich will wissen, warum.« Sie saßen auf der Veranda. Die Kinder und Schwiegerkinder verbrachten den Abend bei Freunden, und die Enkelkinder lagen im Bett. Er hatte eine Kerze angezündet, eine Flasche Wein aufgemacht und ihr und sich eingeschenkt. »Weintrinken bei Kerzenschein – auch das gab’s noch nie.« »Wird es nicht Zeit, dass ich damit anfange – damit und mit den Enkelkindern und den Kindern und der Hecke? Dass ich wieder weiß, wie gut du dich anfühlst?« Er legte den Arm um sie. Aber sie schüttelte ihn ab. »Nein, Thomas Wellmer. So geht das nicht. Ich bin nicht eine Maschine, die du abstellen und anstellen kannst. Ich hatte mir unsere Ehe anders vorgestellt, aber anders ging es anscheinend nicht, und so habe ich mich mit dem eingerichtet, was ging. Ich lasse mich nicht auf eine Laune ein, auf einen Sommer, der nach wenigen Wochen vorbei ist. Da schneide ich meine Hecke lieber selbst.« »Ich habe vor drei Jahren an der Universität aufgehört. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, bis ich die Freiheit des Ruhestands begriffen habe. An der Universität ist mit dem Ruhestand nicht so radikal Schluss wie in einer Behörde; man hat noch Doktoranden und macht noch ein Seminar und sitzt noch in einer Kommission und denkt, man müsste schreiben, was man immer schreiben wollte und wozu man nie Zeit hatte. Es ist, wie wenn du den Motor abstellst und im Leerlauf weiterrollst. Wenn die Straße dann noch ein bisschen abschüssig ist …« »Du bist das Auto, dem der Ruhestand den Motor abgestellt hat. Wer ist die abschüssige Straße?« »Alle, die mich behandelt haben, als würde der Motor noch laufen.« Diogenes Magazin
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»Ich muss dich also besonders behandeln. Nicht, als würde der Motor noch laufen, sondern als wäre er aus. Dann …« »Nein, du musst nichts tun. Nach drei Jahren rollt das Auto nicht mehr.« »… dann kümmerst du dich ab jetzt um die Enkelkinder und schneidest die Hecke?« Er lachte. »Und lasse die Hände nicht von dir.« Sie saßen Seite an Seite, und er spürte ihre Skepsis. Er spürte sie in ihrer Schulter, ihrem Arm, ihrer Hüfte, ihrem Oberschenkel. Wenn er noch mal den Arm um sie legen würde, würde sie ihn vielleicht nicht abschütteln – sie hatten miteinander geredet und einander zugehört. Aber sie würde darauf warten, dass er ihn wieder wegnähme. Oder würde sie nach einer Weile den Kopf an seine Schulter legen? Wie sie beim Pfannkuchenbacken die Arme um ihn gelegt hatte, nicht als Einverständnis, nicht als Versprechen, nur so? 8 Er warb um sie. Morgens brachte er ihr Tee ans Bett; wenn sie im Garten arbeitete, brachte er ihr Limonade; er schnitt die Hecke und mähte den Rasen; er machte es sich zur Regel, abends zu kochen, meistens unterstützt von Ariane; er war für die Enkelkinder da, wenn sie sich langweilten; er achtete darauf, dass der Vorrat an Apfelsaft, Mineralwasser und Milch nicht ausging. Jeden Tag lud er seine Frau zum Spaziergang ein, nur sie und er, und zuerst wollte sie rasch wieder nach Hause und an die Arbeit, aber dann ließ sie ihn die Wege ausdehnen und manchmal ihre Hand halten – bis sie ihre Hand brauchte, weil sie etwas aufheben oder pflücken und untersuchen wollte. Eines Abends fuhr er mit ihr in das Restaurant am anderen Ufer des Sees, das einen Stern hatte und wo man ihnen das Abendessen auf einer Wiese unter Obstbäumen servierte. Sie sahen auf das Wasser, das im Licht der Abendsonne wie geschmolzenes Metall glänzte, Blei 64
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mit einem Hauch von Bronze, glatt, bis zwei Schwäne mit klatschendem Flügelschlag landeten. Er legte seine Linke auf den Tisch. »Du weißt, dass Schwäne …« »Ich weiß.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Wenn wir zu Hause sind, möchte ich mit dir schlafen.« Sie nahm ihre Hand nicht weg. »Weißt du noch, wann wir das letzte Mal miteinander geschlafen haben?« »Vor deiner Operation?« »Nein, es war danach. Ich dachte, es ginge wieder. Du hast mir gesagt, dass ich so schön bin, wie ich davor war, und dass du die neue Brust so liebst, wie du die alte geliebt hast. Aber dann musste ich ins Bad und habe die rote Narbe gesehen und gemerkt, dass es nicht ging und dass alles nur Anstrengung war, ich habe mich angestrengt, und du hast dich angestrengt. Du hast verständnisvoll und rücksichtsvoll reagiert und gesagt, dass du mich nicht drängen willst. Dass ich ein Signal geben soll, wenn ich so weit bin. Aber als ich kein Signal gab, war’s dir auch recht, und du hast auch keines gegeben. Dann merkte ich, dass es vor der Operation
»Ich habe so viel Angst wie beim ersten Mal. Oder noch mehr. Ich weiß nicht, wie es wird.« nicht anders war und dass damals schon nichts passierte, wenn ich kein Signal gab. Ich mochte kein Signal mehr geben.« Er nickte. »Verlorene Jahre – ich kann dir nicht sagen, wie leid es mir um sie ist. Ich dachte damals, ich müsste es mir und den anderen beweisen und Rektor werden oder Staatssekretär oder Präsident der Vereinigung, und weil du keinen Anteil daran nahmst, habe ich mich von dir verraten gefühlt. Dabei hattest du recht. Wenn ich zurückschaue, haben die
Jahre kein Gewicht. Sie waren nur laut und schnell.« »Hattest du eine Geliebte?« »O nein. Ich habe außer der Arbeit nichts und niemanden an mich herankommen lassen. Anders hätte ich sie nicht geschafft.« Sie lachte leise. Weil sie sich an seine damalige Arbeitswut erinnerte? Weil sie erleichtert war, dass er damals keine Geliebte hatte? Er bat um die Rechnung. »Meinst du, wir können es noch?« »Ich habe so viel Angst wie beim ersten Mal. Oder noch mehr. Ich weiß nicht, wie es wird.« 9 Es wurde nichts. Mitten in der Umarmung kam der Schmerz. Er explodierte im Steißbein und schickte seine Wellen in den Rücken und in die Hüften und in die Oberschenkel. Er war schlimmer als der schlimmste Schmerz, den er bisher gehabt hatte. Er vernichtete sein Begehren, sein Fühlen, sein Denken. Er machte ihn zu seinem Geschöpf, das nicht über den Schmerz hinauskonnte, das sich nicht einmal danach sehnen konnte, dass er aufhören würde. Ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, stöhnte er auf. »Was ist?« Er rollte auf den Rücken und presste beide Hände gegen die Stirn. Was sollte er sagen? »Ich glaube, ich habe einen Ischias, wie ich noch keinen hatte.« Mühsam stand er auf. Im Bad nahm er vom Novalgin, das ihm der Arzt für Krisen gegeben hatte. Er stützte seine Arme auf das Waschbecken und sah in den Spiegel. Obwohl er sich fühlte, wie er sich noch nie gefühlt hatte, war sein Gesicht, wie es immer war. Das dunkelblonde Haar mit grauen Schläfen und Strähnen, die zwischen Grau und Grün schillernden Augen, das von tiefen Furchen über der Nase und von der Nase zum Mund gezeichnete Gesicht, die Härchen, die ihm aus der Nase wuchsen und die er morgen stutzen würde, der schmale Mund – es tat ihm gut, seine
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Schmerzen mit dem vertrauten Gesicht zu teilen und ihm mit trotzigem Mund zu versichern und sich mit trotzigem Mund versichern zu lassen, es stecke noch Leben in dem alten Hund. Als die Schmerzen schwächer wurden, ging er zurück ins Schlafzimmer. Seine Frau war eingeschlafen. Er setzte sich auf den Bettrand, vorsichtig, damit sie nicht aufwachte. Ihre Lider zitterten. Ob sie erst halb im Schlaf und halb noch im Tag war? Ob sie träumte? Was mochte sie träumen? Er kannte ihr Gesicht so gut. Das junge Gesicht, das darin wohnte, und das alte. Das kindliche, freudige, arglose und das müde, bittere. Wie hielten die zwei verschiedenen Gesichter es miteinander aus? Er blieb sitzen. Er wollte seinen Schmerz nicht provozieren. Sein Schmerz hatte ihm gezeigt, dass er bei ihm nicht nur zu Hause, sondern dass er der Herr im Haus war. Jetzt hatte er sich in ein hinteres Zimmer zurückgezogen, aber die Türen aufgelassen, um zur Stelle zu sein, sollte ihm nicht der gehörige Respekt erwiesen werden. Ihn rührten die Haare seiner Frau. Sie waren braun gefärbt und wuchsen grau und weiß nach – der Kampf gegen das Älterwerden, wieder und wieder gekämpft, verloren, aber nicht verloren gegeben. Würde seine Frau ihre Haare nicht färben, sähe sie mit ihrer geschwungenen Nase, ihren hohen Backenknochen, ihren Falten und ihren Augen wie eine weise alte Indianerin aus. Er hatte nie herausgefunden, ob ihre Augen manchmal unergründlich schauten, weil ihre Gefühle und Gedanken so tief oder weil
sie so leer waren. Er würde es nicht mehr heraus⁄nden. Sie entschuldigte sich am nächsten Morgen. »Es tut mir leid. Der Champagner, der Wein, das Essen, das Miteinander-Schlafen, mit dem Schluss war, als es schön wurde, dein Ischias – es war ein bisschen viel. Da bin ich einfach eingeschlafen.« »Nein, mir tut es leid. Der Arzt hat mir gesagt, dass ich mit Ischiasattacken rechnen und dann Tabletten neh-
men muss. Ich ahnte nicht, dass sie so heftig und so im falschen Augenblick kommen würden.« Er hatte Angst, sich auf die Seite zu legen, und streckte den Arm aus. Sie legte den Kopf auf seine Schulter. »Ich muss Frühstück machen.« »Nein, musst du nicht.«
»Muss ich doch.« Sie spielte nur. Sie wollte, was auch er wollte. Er bat seinen Schmerz, im hinteren Zimmer zu bleiben, für diesen Morgen, für diese Stunde. »Setzt du dich auf mich?« 10 Als sie hinunterkamen, waren die anderen mit dem Frühstück fast fertig. Ariane sah ihre Großeltern an, als wisse sie, warum sie spät dran waren. Die zwölfjährige Ariane? Aber er wurde rot, und seine Frau wurde es auch. Dann, als wolle sie der Clique zeigen, dass sie und er etwas miteinander hatten, gab sie ihm einen Kuss. Gegen Mittag holte er seinen alten Freund am Bahnhof ab. Der Zug fuhr ein und hielt, und weil der Wagen zu hoch für den Bahnsteig oder der Bahnsteig zu niedrig für den Wagen war, musste sein Freund einen kleinen Sprung machen. Er machte ihn mit resigniertem Lächeln. Als sei er darauf gefasst, zu stürzen und statt eines kurzen Besuchs bei einem alten Freund einen langen Aufenthalt in einem Provinzkrankenhaus vor sich zu haben. Resigniert, als sei das Spiel aus, bevor es beginnt, zugleich von heiterem Charme, als sei das zwar so, mache aber nichts – so war er immer schon. So hatte er studiert, ohne großen Aufwand und Ehrgeiz, aber freundlich gegen jedermann und bei jedermann beliebt, auch bei denen, die ihn prüften, und später bei denen, die ihn einstellten. Er wurde ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der seinen Erfolg seinem fachlichen Können und ebenso Diogenes Magazin
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seinem Umgang mit Mandanten, Gegnern und Richtern verdankte. Er charmierte sie. Er charmierte auch die Frauen und Kinder seiner Freunde; sie liebten ihn, obwohl auch unter seinen Freunden der eine und andere eine Frau geheiratet hatte, die den Mann für sich haben wollte, ohne alte Freunde. Sohn Helmut mochte den Freund besonders; als Kind war er manchmal mit dem Vater und ihm in Ferien gefahren, Männerferien. Im Winter liefen sie Ski, und wenn er nicht mehr konnte oder wollte, nahm ihn der Freund, der in Jeans und Mantel die Pisten hinunterfegte, zwischen die Beine. Für den kleinen Jungen war der Freund mit dem wehenden dunklen Mantel, der ihn sicher und schnell ins Tal brachte, ein Held wie Batman. Später beriet er ihn im Studium und im Beruf; ohne ihn hätte Helmut sich nicht entschieden, Rechtsanwalt zu werden. Er wäre gerne zum Bahnhof mitgekommen. Aber die Fahrten vom Bahnhof nach Hause und am nächsten Abend vom Haus zum Bahnhof waren für die beiden Freunde die einzigen Gelegenheiten, miteinander alleine zu sein. Auf der Fahrt redeten sie über den Ruhestand, die Familien, den Sommer. Dann fragte der Freund: »Was macht der Krebs?« »Lass uns oben«, er zeigte zu dem Berg, auf den die Straße führte, »halten und ein paar Schritte laufen.« Er hatte sich wieder und wieder gefragt, ob er dem Freund von seiner Absicht erzählen sollte. Sie hatten sonst keine Geheimnisse voreinander, und über den Krebs hatten sie umso leichter gesprochen, als beide das gleiche Schicksal teilten; bei beiden war vor Jahren Krebs diagnostiziert worden, beide Male ein verschiedener und verschieden verlaufender, aber beide Male mit Operation und Bestrahlung und Chemotherapie. Aber wie sollte der Freund mit dem Wissen um seine Absicht der Familie begegnen? Sie gingen über die Höhe. Zur Rechten begann der Wald, zur Linken hatten sie den Blick auf den See, die 66
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Berge und in der Ferne die Alpen. Es war warm, die weiche, satte Wärme des Sommers. »Es ist eine Frage der Zeit, bis die Knochen es nicht mehr machen. Bis sie bröseln und brechen und bis der Schmerz unerträglich wird. Manchmal kriege ich einen Vorgeschmack, aber noch geht’s. Was macht dein Krebs?« »Er hält still, schon seit vier Jahren. Letzten Monat stand die Untersuchung an, und ich bin erstmals einfach nicht gegangen.« Fatalistisch hob der Freund die Hände und ließ sie wieder sinken. »Was machst du, wenn der Schmerz unerträglich wird?« »Was würdest du machen?« Sie liefen eine ganze Weile, ohne dass der Freund antwortete. Dann lachte er. »Den Sommer genießen, so gut es geht. Was sonst?« 11 Nach dem Abendessen saß er in der Ecke des Sofas und sah den anderen zu. Sie spielten ein Spiel, bei dem höchstens acht Personen mitspielen durften. Er konnte sich, ohne aufzufallen, immer wieder anders hinsetzen und die Kissen mal hinter den Rücken, mal gegen die Hüfte, mal unter den Oberschenkel legen. Jede Veränderung brachte Erleichterung, bis der Schmerz sich in der neuen Haltung eingerichtet hatte wie in der alten. Er hatte Novalgin genommen, aber es half nicht mehr. Was jetzt? Sollte er in die Stadt fahren und den Arzt um Morphin bitten? Oder war der Zeitpunkt gekommen, die Flasche aus dem Weinkühlschrank zu holen, in dem sie hinter einer halben Flasche Champagner versteckt war, und den Cocktail zu trinken? Wenn er sich seinen letzten Abend vorgestellt hatte, hatte er ihn sich schmerzfrei vorgestellt. Jetzt merkte er, dass es nicht einfach war, den richtigen Abend zu ⁄nden. Je länger es mit ihm ging und je schlimmer es um ihn stand, desto seltener würden schmerzfreie Abende sein, desto willkommener, desto unverzichtbarer. Wie sollte
er einen solchen Abend an den Tod preisgeben? Andererseits wollte er nicht in Schmerzen sterben. Ob Morphin die Lösung war? Ob mit ihm die schmerzfreien Abende nicht mehr unverzichtbare Seltenheiten, sondern machbare Gelegenheiten sein würden? Türen und Fenster standen auf, und der laue Wind brachte Mücken vom See. Als er die Mücke auf dem linken Arm mit der rechten Hand treffen wollte, konnte er sie nicht heben. Die Hand gehorchte ihm nicht. Als er sich anders setzte, ging es wieder, und es ging auch, als er wieder die Haltung einnahm, in der ihm die Hand gerade nicht gehorcht hatte. Er probierte verschiedene Haltungen, und in jeder konnte er die Hand heben, so dass er sich schließlich fragte, ob er sich das Versagen nur eingebildet hatte. Aber er wusste es besser, und er wusste auch, dass wieder etwas geschehen war, hinter das es nicht mehr zurückging. Das Spiel war zu Ende, und der Freund erzählte Fälle aus seiner Praxis. Die Kinder hatten früher von seinen Fällen nicht genug kriegen können, und die Enkelkinder konnten es jetzt auch nicht. Es beschämte ihn. Was hatte er seinen Kindern zu erzählen gehabt? Was hatte er seinen Enkelkindern zu erzählen? Dass Kant ein guter Billardspieler war und sich mit Billardspielen Geld fürs Studium verdiente, dass Hegel mit seiner Frau das Familienleben von Martin Luther und Katharina von Bora imitierte, dass Schopenhauer seine Mutter und seine Schwester lausig behandelte und dass Wittgenstein sich um seine Schwester rührend kümmerte – er kannte ein paar Philosophenanekdoten und ein paar Anekdoten aus der Geschichte, die ihm sein Großvater erzählt hatte. Aus seiner eigenen Arbeit wusste er nichts Spannendes zu erzählen – was sagte das über ihn? Über seine Arbeit? Über die analytische Philosophie? War sie auch nur eine raf⁄nierte Vergeudung menschlicher Intelligenz? Dann ließ der Freund sich bitten und setzte sich ans Klavier. Er lächelte ihm zu und spielte die Chaconne aus
der Partita in d-Moll, die sie als Studenten von Menuhin gehört und lieben gelernt hatten. Eine Bearbeitung für Klavier – er hatte nicht gewusst, dass es sie gab und dass der Freund sie spielte. Hatte er sie für ihn geübt? Schenkte er sie ihm zum Abschied? Die Musik und das Geschenk des Freundes rührten ihn so, dass ihm die Tränen kamen und auch nicht aufhörten, als der Freund Jazz spielte – das, was die Kinder und Enkelkinder eigentlich hören wollten. Seine Frau sah es, setzte sich zu ihm und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich weine auch gleich. Der Tag hat so schön angefangen und hört so schön auf.« »Ja.« »Wollen wir aufstehen und hochgehen? Wenn die anderen merken, dass wir nicht mehr da sind, verstehen sie schon.« 12 Dann war Halbzeit. Er wusste, dass die zweite Hälfte des gemeinsamen Sommers schneller vergehen würde als die erste – und die erste war im Nu vergangen. Er dachte darüber nach, was er den Kindern noch sagen könne. Dagmar – dass sie sich nicht so viele Sorgen um die Kinder machen solle? Dass sie eine gute Biologin sei, ihre Gabe nicht vergeuden und wieder arbeiten solle? Dass sie ihren Mann verwöhne und dass das weder ihm noch ihr guttue? Helmut – ob ihn wirklich interessiere, welche Firma mit welcher fusioniert und welche Firma welche übernimmt? Ob ihn das viele Geld eigentlich interessiere, das er anhäuft? Ob er, das Vorbild des alten Freundes vor Augen, nicht ein anderer Rechtsanwalt habe werden wollen, als er jetzt ist? Nein, das ging nicht. Dagmar hatte nun einmal einen aufgeblasenen Dummkopf geheiratet, und er konnte nur hoffen, dass sie es nicht merken und sich von seinem Reichtum und seinen guten Manieren weiter blenden lassen würde. Helmut war auf den Geschmack des Geldes gekommen und
süchtig danach geworden, und seine Frau genoss die Früchte. Vielleicht hatten beide Kinder sich aus Unsicherheit auf ein Leben der Äußerlichkeit eingelassen, und vielleicht hatte er ihnen nicht genug Sicherheit gegeben. Jetzt konnte er sie ihnen auch nicht mehr geben. Er konnte ihnen sagen, dass er sie liebte. Was Eltern und Kinder in amerikanischen Filmen einander mit Leichtigkeit sagten, musste er auch sagen können. Was immer mit seinen Kindern nicht stimmte – in diesem Sommer waren sie anspruchslos, verträglich und liebevoll. An den Enkelkindern hätte er nicht eine solche Freude, wenn die Kinder es nicht recht machen würden. Nein, er konnte den Kindern nichts Wegweisendes sagen. Er konnte ihnen nur sagen, dass er sie liebte. Eines Tags waren die Schmerzen so stark, dass er den Zug in die Stadt nahm und den Arzt um Morphin bat. Der Arzt gab ihm das Betäubungsmittelrezept unter Zögern und mit allerlei Belehrungen über Dosierung und
Er wusste, die zweite Hälfte des Sommers würde schneller vergehen als die erste – und die erste war im Nu vergangen. Wirkung. Freundlicher als der Arzt war die Apothekerin, bei der er seit Jahrzehnten kaufte und die ihm mit traurigem Lächeln die Packung und ein Glas Wasser gab. »Es ist also so weit.« Er verpasste den Nachmittagszug und nahm den Abendzug. Er hatte das Auto am Bahnhof abgestellt, fragte sich, ob er fahren könne, war aber nicht anders belehrt worden und kam nach einer Fahrt über leere Straßen sicher an. Das Haus lag dunkel. Wenn alle schon schliefen, hatte er keine Eile. Er konnte sich auf die Bank am
See setzen. Er konnte genießen, dass heute Abend der Schmerz sich nicht nur in ein hinteres Zimmer zurückgezogen hatte, sondern verlässlich eingeschlossen war. Ja, Morphin war die Lösung. Mit ihm war ein schmerzfreier Abend tatsächlich nicht mehr eine unverzichtbare Seltenheit, sondern eine machbare Gelegenheit. Er fühlte sich leicht; sein Körper schmerzte nicht nur nicht, sondern pulsierte weich und fest, hielt ihn, trug ihn, hatte Flügel. Ohne sich zu rühren, konnte er nach den Lichtern am anderen Ufer des Sees und sogar nach den Sternen greifen. 13 Er hörte Schritte und erkannte den Gang seiner Frau. Er rückte auf die eine Seite der Bank, damit sie auf der anderen Seite Platz hätte. »Du hast das Auto gehört?« Sie setzte sich, ohne zu antworten. Als er den Arm um ihre Schultern legen wollte, beugte sie sich vor, so dass seine Geste ins Leere ging. Sie hielt die Flasche mit dem Cocktail hoch und fragte: »Ist das, was ich denke?« »Was denkst du?« »Spiel kein Spiel mit mir, Thomas Wellmer. Was ist es?« »Es ist ein besonders starkes Schmerzmittel, das gekühlt gelagert werden muss und nicht in die Hände der Enkelkinder geraten soll.« »Deshalb hast du es hinter der Champagnerflasche im Weinkühlschrank versteckt?« »Ja. Ich verstehe nicht, was du …« »Ich habe besonders starke Schmerzen. Seit ich die Flasche gefunden habe, weil ich für dich und mich ein Essen mit Champagner vorbereiten wollte, habe ich besonders starke Schmerzen. Also trinke ich die Flasche am besten aus.« Sie schraubte den Deckel ab und hob die Flasche zum Mund. »Mach das nicht.« Sie nickte. »Eines Abends, während wir zusammensitzen und es schön haben, willst du rausgehen, die FlaDiogenes Magazin
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sche austrinken, wieder reinkommen und einschlafen. Sagst du uns davor noch, dass du besonders müde bist und vielleicht einschlafen wirst und wir dich schlafen lassen sollen?« »Ich habe das nicht so genau geplant.« »Aber du wolltest es machen, ohne es mir zu sagen, ohne mich zu fragen, ohne mit mir zu reden. So genau hast du es schon geplant. Stimmt’s?« Er zuckte die Schultern. »Ich verstehe nicht, was du hast. Ich wollte gehen, wenn ich den Schmerz nicht mehr ertrage. Ich wollte so gehen, dass niemand ein Problem hat.« »Erinnerst du dich an unsere Hochzeit? Bis dass der Tod euch scheidet? Nicht bis du dich beim Tod einschmeichelst und mit ihm davonstiehlst. Und erinnerst du dich, dass ich mich nicht auf das Glück eines Sommers einlassen wollte, das nach wenigen Wochen vorbei ist? Hast du gedacht, dass ich die Wahrheit nicht heraus⁄nde? Oder dass du, wenn ich sie heraus⁄nde, tot bist? Dass ich dich dann nicht mehr zur Rede stellen kann? Du hast keine Geliebte gehabt, aber wie du mich jetzt betrogen hast, ist nicht besser, nein, es ist schlimmer.« »Ich dachte, es kommt nicht raus. Ich dachte auch, dass es ein schöner Abschied ist. Was hättest du…« »Ein schöner Abschied? Du gehst, und ich weiß nicht, dass du gehst? Das soll ein schöner Abschied sein? Es ist gar kein Abschied. Jedenfalls keiner, den ich von dir nehme. Und du nimmst auch nicht von mir Abschied, sondern von dir, und willst mich als Statistin dabeihaben.« »Ich verstehe noch immer nicht, warum du so empört …« Sie stand auf. »Ja, du verstehst nicht, was du machst. Ich werde es morgen früh den Kindern sagen und fahren. Mach hier, was du willst. Ich werde nicht als Statistin bleiben, und ich wäre erstaunt, wenn die Kinder blieben.« Sie stellte die Flasche auf die Bank und ging. Er schüttelte den Kopf. Etwas war schiefgelaufen. Er wusste nicht genau, 68
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was. Aber es bestand kein Zweifel, dass etwas nicht so gelaufen war, wie es hätte laufen sollen. Er würde am nächsten Morgen mit seiner Frau reden müssen. So empört hatte er sie lange nicht mehr erlebt. 14 Sie lag nicht im gemeinsamen Bett, als er sich hinlegte, und nicht, als er aufstand. Er machte mit den Kindern Frühstück und weckte die Enkelkinder. Als alle um den Tisch saßen, kam sie. Sie setzte sich nicht. »Ich fahre in die Stadt. Euer Vater will sich an einem der nächsten Abende im Kreis seiner Lieben umbringen. Ich habe es nur durch Zufall
»Ein schöner Abschied? Du gehst, und ich weiß nicht, dass du gehst? Das soll ein schöner Abschied sein?« herausgefunden; er wollte mir und euch nichts davon sagen, sondern einfach das Mittel trinken und einschlafen und sterben. Ich will damit nichts zu tun haben. Was er sich alleine ausgedacht hat, soll er auch alleine zu Ende bringen.« Dagmar sagte zu ihrem Mann: »Nimm die Kinder, und mach was mit ihnen. Nicht nur unsere Kinder, alle.« Sie sagte es so bestimmt, dass ihr Mann aufstand und ging, und die Enkelkinder gingen mit. Dann wandte sie sich an ihren Vater. »Du willst dich umbringen? Wie Mutter es beschrieben hat?« »Ich dachte, es müssten nicht alle wissen. Eigentlich müsste es niemand wissen. Der Schmerz wird schlimmer und schlimmer, und wenn er unerträglich wird, will ich mich verabschieden. Was ist daran falsch?« »Dass du uns nichts gesagt hast und nichts sagen wolltest. Oder wenn nicht uns Kindern, dann Mutter.
Wann der Schmerz unerträglich wird, hängt doch auch damit zusammen, was Mutter dir ertragen hilft. Ich dachte, auch wir …« Dagmar sah ihren Vater enttäuscht an. Helmut stand auf. »Lass sein, Dagmar. Was gerade abgeht, müssen die Eltern unter sich ausmachen. Ich jedenfalls werde mich nicht einmischen, und du hältst dich besser auch heraus.« »Aber sie machen es nicht unter sich aus. Mutter hat gesagt, sie will damit nichts zu tun haben.« Dagmar sah ihren Bruder verwirrt an. »Das ist auch eine Art, es mit ihm auszumachen.« Er wandte sich an seine Frau. »Komm, wir packen und fahren.« Sie gingen. Dagmar stand zögernd auf, sah ihren Vater und ihre Mutter fragend an, bekam keine Antworten und ging auch. Das Haus war erfüllt von der Geschäftigkeit des Schränke und Kommoden Leerräumens, Bücher und Spielsachen Zusammensuchens, Betten Abziehens, Packens. Die Eltern ermahnten ihre Kinder, dies noch zu holen und jenes nicht zu vergessen, und weil die Kinder spürten, dass die Welt aus den Fugen geraten war, waren sie folgsam. Seine Frau hatte schon in der Nacht gepackt. Sie stand noch eine Weile in der Küche und sah vor sich hin. Dann sah sie ihn an. »Ich fahre jetzt.« »Du musst nicht fahren.« »Doch, ich muss.« »Fährst du in die Stadt?« »Ich weiß nicht. Ich habe noch fast drei Wochen Ferien.« Sie ging, und er hörte, wie sie sich von den Kindern und Enkelkindern verabschiedete, die Haustür öffnete und schloss, das Auto anließ und losfuhr. Wenig später hatten die anderen fertiggepackt. Sie kamen in die Küche und verabschiedeten sich, die Kinder verlegen, die Enkelkinder verstört. Er hörte auch sie aus dem Haus gehen, Autotüren zuschlagen und losfahren. Dann war es still.
Bild: © Anna Keel
15 Er blieb sitzen und konnte nicht fassen, wie schnell sich das Haus geleert hatte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Was er mit dem Morgen anfangen sollte und mit dem Tag, was mit dem nächsten Tag und der nächsten Woche, ob er sich gleich umbringen sollte oder später. Schließlich stand er auf und räumte den Tisch ab, lud das schmutzige Geschirr und Besteck in die Spülmaschine, füllte das Spülmittel ein, stellte die Spülmaschine an, sammelte oben die Bettwäsche und die Handtücher ein und trug sie in den Keller. Anders als die Spülmaschine hatte er die Waschmaschine noch nie bedient, aber er fand auf dem Bord mit den Waschmitteln eine Gebrauchsanleitung und folgte den Anweisungen. In eine Ladung passte die Wäsche von zwei Betten; er würde vier oder fünf Ladungen brauchen. Er ging an den See und setzte sich auf die Bank. Mit den Geräuschen der spielenden und badenden Enkelkinder war sie ein Ort wie der Tisch in der Bibliothek oder im Café oder das Sofa im Wohnzimmer – er war bei den anderen und war doch für sich. Ohne die Geräusche war er nur einsam. Er
wollte darüber nachdenken, was er tun sollte, aber ihm ⁄el nichts ein. Dann wollte er über eines der philosophischen Probleme nachdenken, die er in den Ruhestand mitgenommen hatte, und ihm ⁄el nicht nur nichts zu einem Problem, ihm ⁄el nicht einmal ein Problem ein. Situationen der letzten Wochen kamen zu ihm: David und Meike im Boot, Matthias und Ferdinand beim Bau der Insel, Ariane mit dem Buch auf dem Knie, Ariane und er beim Maler, das Kochen mit den Kindern, das Schneiden der Hecke, der Tee und die Limonade für die Frau, die wachsende Nähe, der Morgen, an dem sie sich geliebt hatten. Er spürte einen Hauch von Sehnsucht, nur einen Hauch, weil er noch nicht wirklich erfasst hatte, dass alle gegangen waren. Er wusste, dass es so war, er hatte es mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen. Aber er hatte es noch nicht wirklich erfasst. Als der Schmerz sich meldete, war er fast froh. Wie man fast froh ist, wenn man sich verlassen an einem fremden Ort ⁄ndet und jemandem begegnet, den man nicht mag, mit dem einen aber eine gemeinsame Vergangenheit auf der Schule oder Universität oder im Betrieb oder Büro verbin-
det. Die Begegnung lenkt von der Einsamkeit ab. Außerdem brachte der Schmerz ihm in Erinnerung, warum er hier war: nicht um in der Familie aufzugehen, sondern um von ihr Abschied zu nehmen. Nun war der Abschied eben ein bisschen früher und ein bisschen anders gekommen. Ja, so war es. Oder doch nicht? Er stand auf und wollte die erste Ladung Wäsche zum Trocknen aufhängen und die nächste Ladung waschen. Noch bevor er das Haus erreichte, wusste er, dass der Abschied, der hinter ihm lag, nicht nur ein bisschen früher und ein bisschen anders gekommen war. Er hatte mit dem Abschied, der vor ihm gelegen hatte, nichts gemein. Der Abschied, der hinter einem liegt, ist passiert. Beim Abschied, der vor einem liegt, gibt es die Möglichkeit, dass etwas ihn verzögert, dass etwas ihn verhindert, dass ein Wunder geschieht. Er glaubte nicht an Wunder. Aber er merkte, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Er hatte sich vorgestellt, der Schmerz werde immer stärker, immer schwerer zu ertragen und schließlich unerträglich werden und die Entscheidung zum Abschied werde sich von selbst ergeben. Stattdessen war mit dem Schmerz auch das Schmerzmittel Diogenes Magazin
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Weile lang war er wirklich glücklich gewesen. Aber das Glück hatte nicht bleiben mögen. 16 Am selben Tag ⁄ng er an zu horchen. Er war im Garten oder am See und horchte, ob, was er gerade gehört hatte, das Auto seiner Frau war. Er war im ersten Stock, hörte im Erdgeschoss ein Geräusch und horchte auf
Schritte. Er war im Erdgeschoss, hörte ein Geräusch im ersten Stock und horchte auf Stimmen. In den nächsten Tagen war er sich manchmal sicher, er hätte seine Frau vorfahren oder die Treppe hochkommen oder Matthias zu ihm rennen oder Ariane nach ihm rufen gehört. Dann trat er vor die Tür oder an die Treppe oder drehte sich um, und niemand war da. An einem Tag ging er immer wieder vom Haus an den See, weil sich in seinem Kopf die Idee festgesetzt hatte, seine Frau werde mit
einem Boot kommen, sich auf die Bank setzen und darauf warten, dass er sich zu ihr setze. War er unten an der Bank, kam ihm die Idee absurd vor. Aber wenn er wieder im Haus war, dauerte es nicht lang, bis er meinte, den gedrosselten Motor eines anlegenden Boots zu hören. Als er nur mehr die Leere von Haus und Garten hörte, ließ er sich gehen. Das morgendliche Ritual des Duschens und Rasierens und Anziehens ging über seine Kräfte. Wenn er einkaufen fuhr, schlüpfte er mit dem Schlafanzug in eine Hose und zog eine Jacke über und scherte sich nicht um die Blicke der anderen. Im Lauf des Nachmittags ⁄ng er zu trinken an, und am frühen Abend war er betrunken oder, wenn Alkohol und Tabletten zusammenwirkten, beinahe bewusstlos. Nur dann war er ganz ohne Schmerzen. Sonst tat ihm immer etwas und oft der ganze Körper weh. Eines Abends stürzte er auf der Kellertreppe, war aber zu betrunken, um aufzustehen und hochzugehen. Er setzte sich auf die Stufe und lehnte sich an die Wand und schlief ein. Nachts wachte er auf und merkte, dass seine rechte Hand geschwollen war und weh tat. Es war nicht der Schmerz, den er kannte, sondern ein junger, frischer Schmerz, der bei jeder Bewegung der Hand stechend vom Gelenk bis in die Finger fuhr. Er sagte ihm, dass die Hand gebrochen war. Er sagte ihm auch, dass der richtige Augenblick gekommen war. Aber er holte nicht den Cocktail, sondern ging in die Küche und machte Kaffee. Er füllte ein Handtuch mit Eiswürfeln, setzte sich an den Tisch, kühlte die Hand und trank den Kaffee. Er würde nicht selbst fahren können.
Bild: © Anna Keel
stärker geworden. Die Entscheidung, den Cocktail zu trinken und den Abschied zu nehmen, ergab sich nicht von selbst. Er musste sie treffen, und weil er noch Zeit gehabt hatte, hatte er sich nicht eingestanden, wie schwer sie ihm ⁄el. Wenn er sich den Arm brechen würde oder das Bein – wäre es dann so weit? Er hatte manchmal gesehen, wie seine Frau Wäsche aufhängte. Sie wischte die Wäscheleine ab, die im Garten gespannt war, brachte den Wäschekorb aus dem Keller, schlug die Wäschestücke aus und klemmte sie mit Wäscheklammern fest, die sie aus einem Beutel nahm, den sie wie eine Schürze umgebunden hatte. So machte er es auch. Sich nach den Stücken bücken, sie ausschlagen, die Klammern aus dem Beutel nehmen, sich nach der Leine strecken und die Stücke festklemmen – bei jeder Bewegung sah er seine Frau vor sich, nein, fühlte er sie, wie sie dieselbe Bewegung machte. Ihn ergriff das Mitgefühl mit dem Körper seiner Frau, der die Mühen des Berufs, des Haushalts und der Kinder, die Schmerzen der Geburten und der Fehlgeburt, die Anfälligkeit für Blasenentzündungen und die Überwältigungen durch Migräne ausgehalten hatte, so stark, dass er zu weinen begann. Er wollte aufhören. Aber er konnte nicht. Er setzte sich auf die Stufen der Veranda und sah durch die Tränen, wie der Wind die Wäsche blähte, sinken ließ und wieder hochwehte. Nichts würde von dem letzten Sommer bleiben, den er so sorgfältig eingefädelt hatte. Wieder hatte er alle Zutaten beieinandergehabt, aber das Glück hatte nicht gestimmt. Es war anders als die anderen Male; eine
Er musste eine Taxe kommen lassen. Ihm war peinlich, wie er aussah und wie er roch, und er quälte sich unter die Dusche und in frische Wäsche und in einen Anzug. Er rief den Taxenbetrieb an, holte den alten Chef aus dem Bett, den er seit Jahren kannte und der selbst kommen wollte, setzte sich auf die Terrasse und wartete. Die Nachtluft war warm. Dann liefen die Dinge von selbst. Die Taxe brachte ihn zum Krankenhaus, der Arzt gab ihm eine Spritze und schickte ihn zum Röntgen, die Röntgenschwester machte die Aufnahmen und schickte ihn in die Wartehalle. Er war der einzige Patient, saß im weißen Licht der Neonröhren auf einem weißen Plastikstuhl und sah auf den leeren Parkplatz. Er wartete und schrieb in Gedanken einen Brief an seine Frau. Es dauerte eine Stunde, bis er gerufen wurde. Neben dem ersten Arzt stand ein zweiter. Er führte das Wort und erklärte ihm die Zahl und Lage der Knochen der Hand, welche zwei Knochen gebrochen seien, dass es weder etwas zu operieren noch etwas zu schienen gebe, dass ein fester Verband ausreiche und dass eigentlich alles wieder gut werden müsse. Er legte ihm den Verband an und forderte ihn auf, sich in drei Tagen wieder sehen zu lassen. Der Empfang werde ihm eine Taxe rufen. Der alte Chef, der ihn zum Krankenhaus gefahren hatte, fuhr ihn auch wieder nach Hause. Sie redeten über ihre Kinder. Es wurde hell, und als er ausstieg, lärmten die Vögel wie an dem Morgen, an dem er die Pfannkuchen gebacken hatte. Wie lange war das her? Drei Wochen? 17 Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an die Schreibmaschine. Auf ihr hatte er Briefe, Aufsätze und Bücher geschrieben, bis er eine Sekretärin bekam, der er diktieren konnte. Im Ruhestand hätte er sich an den Computer gewöhnen sollen. Aber lieber hatte er seine alte Sekretärin gebeten oder das Schreiben eingestellt.
Das Schreiben auf der Maschine war ungewohnt, und beim Schreiben ohne rechte Hand war er besonders ungeschickt. Er musste mit dem Zeige⁄nger Buchstaben um Buchstaben suchen. »Ich kann nicht ohne Dich. Nicht wegen der Wäsche; ich wasche, trockne und falte sie. Nicht wegen des Essens; ich kaufe es ein und bereite es zu. Ich putze im Haus und gieße den Garten. Ich kann ohne Dich nicht, weil ohne Dich alles nichts ist. Bei allem, was ich in meinem Leben gemacht habe, habe ich daraus gelebt, dass ich Dich hatte. Hätte ich Dich nicht gehabt, hätte ich nichts zustande gebracht. Seit ich Dich nicht habe, bin ich mehr und mehr und schließlich völlig verkommen. Zum Glück hatte ich einen Unfall und bin zu Sinnen gekommen. Es tut mir leid, dass ich Dir nicht alles über meine Lage gesagt habe. Dass ich alleine geplant habe, wie ich mit dem Leben Schluss mache. Dass ich alleine entscheiden wollte, wann ich das Leben nicht mehr aushalte. Du kennst die Kassette, die ich von Vater geerbt habe. Ich werde die Flasche in die Kassette schließen und die Kassette in den Kühlschrank stellen. Den Schlüssel ⁄ndest Du in diesem Brief; so kann ich nichts ohne Dich entscheiden. Wenn es nicht mehr geht, entscheiden wir gemeinsam, dass es nicht mehr geht. Ich liebe Dich.« Er schloss die Flasche in die Kassette, stellte die Kassette in den Kühlschrank, steckte den Schlüssel mit dem Brief in den Umschlag und adressierte ihn an die gemeinsame Wohnung in der Stadt. Er passte den Briefträger ab und gab ihm den Umschlag. Kaum war der Briefträger gegangen, kamen ihm Zweifel. Sein Leben, sein Tod in ihrer Hand? Was, wenn sie den Brief nicht bekam, nicht öffnete, nicht mochte? Er hätte gerne noch mal gelesen, was er geschrieben hatte, hatte aber keinen Durchschlag gemacht. Immerhin gab es eine fast fertige Fassung, die er wegen zu vieler Fehler weggeworfen hatte. Er musste sie im Papierkorb ⁄nden.
Als er vor seinem Schreibtisch stand, sah er in der offenen Schublade einen Schlüssel. Er nahm ihn heraus. Er hatte vergessen, dass es einen zweiten Schlüssel zur Kassette gab. Er lachte und steckte ihn ein. Er legte sich in seinem Arbeitszimmer aufs Sofa und schlief den Schlaf, den er in der Nacht nicht geschlafen hatte. Als ihn nach zwei Stunden der Schmerz in der Hand weckte, ging er an den See und setzte sich auf die Bank. Wenn sie nicht verreist war, würde sie den Brief morgen haben. Wenn sie verreist war, könnte es Tage dauern. Er stand auf, holte den Schlüssel aus der Tasche und warf ihn, so weit er mit der linken Hand konnte. Der Schlüssel blitzte im Licht der Sonne, blitzte auch noch, als er ins Wasser sank. Ein paar kleine Wellen kreisten um die Stelle. Dann war der See wieder glatt.
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Buchtipp Alle Bilder von Anna Keel aus dem Katalog:
192 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8321-7310-4 DuMont Kunstbuch
»Ihre Bilder haben eine solche Leichtigkeit, Fröhlichkeit und zugleich Kraft, dass ich ganz heiter bin, nachdem ich sie angeschaut habe«, so Bernhard Schlink über die Malerin und Zeichnerin Anna Keel, die dieses Jahr ihren 70. Geburtstag feierte. Von Anna Keel sind acht Kataloge erschienen, die letzten fünf im Kunstbuchverlag DuMont.
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Foto: © Thierry Valletoux © IMAV Editions / Goscinny-Sempé
Der Kinderbuchklassiker von René Goscinny und Jean-Jacques Sempé, der seit 50 Jahren unzählige Familien begleitet, ist auch als Film ein Riesenspaß und großer Erfolg: In Frankreich sahen über 5,5 Millionen begeisterte Zuschauer die Verfilmung von Regisseur Laurent Tirard mit den Schauspielern Kad Merad, Valérie Lemercier und François-Xavier Demaison in den Hauptrollen.
Interview
Ein Gespräch mit Anne Goscinny
Im kleinen Nick steckt viel von meinem Vater
Foto: © (Annie Assouline) HANNAH / Opale Photo, Paris
Wenn ihr Vater das sehen könnte: Sein kleiner Nick ist zum Leben erwacht! Anne Goscinny war engagiert am Entstehungsprozess des Films beteiligt und ist begeistert vom Resultat. Sie spricht von den zeitlosen Werten der Geschichte, berichtet von den Herausforderungen bei der Umsetzung und erzählt vom besonderen Bezug ihres Vaters zum kleinen Nick. Wie erklären Sie sich die anhaltende Begeisterung so vieler Menschen für den kleinen Nick? Da gibt es viele mögliche Erklärungen. Die Welt des kleinen Nick ist eine Welt, die sich selbst genügt; die Figuren darin leben autark, Fernsehen und Radio kommen kaum vor, und es gibt auch praktisch kein Telefon. Und die Beziehungen der Figuren untereinander sind sehr stabil und voller Vertrauen. Zum Beispiel ist nie von Scheidung die Rede, wenn die Eltern sich streiten, und am Ende gibt es einen Apfelkuchen, der die Versöhnung besiegelt. Das Kind, ob es nun Leser oder Zuschauer ist – oder eine der Figuren selber –, hat niemals Anlass,
sich wirklich zu fürchten. Ein weiterer Grund liegt in der Sprache und dem benutzten Vokabular. In Der kleine Nick ist die Sprache wie eine weitere, eigene Figur, sie spielt eine Hauptrolle. Das machte übrigens die Umsetzung fürs Kino auch so schwierig. Sie ist niemals vulgär und eher etwas altmodisch, zum Beispiel sagt heute kein Kind mehr »Prima!«. Aber letztlich zeigt das Interesse der Jungen und nicht mehr ganz so Jungen, dass Nicks Abenteuer mit den aktuellen sprachlichen Entwicklungen Schritt halten können. Die Worte lassen viel Platz für die Phantasie, und das tun auch Sempés präzise, minimalistische Zeichnun-
gen. Im Kino muss man aber alles ganz konkret bebildern. Hatten Sie Angst, dass man das Werk so gewissermaßen verraten könnte? Die Zeichnungen lassen der Phantasie der Leser in der Tat viel Freiraum. Wenn man sie genau anschaut und sein Augenmerk auf die Kinder richtet, wird man feststellen, dass man den kleinen Nick nicht von den anderen unterscheiden kann. Da wird es einem bewusst, dass man Nick und seine Kumpel auch als ein und dasselbe Kind lesen und wahrnehmen kann. Die einzigen Figuren, die deutlich unterscheidbar sind, sind Otto, weil er dick ist, und Adalbert, weil er eine Brille trägt. Die Herausforderung des Diogenes Magazin
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Filmes war also die, die Kinder unterscheidbar zu machen. Wie sollte man sie aus diesem poetischen Ungefähren herausholen und individuelle Charaktere aus ihnen machen? Ich fand das schwer vorstellbar. Dann lud mich Laurent Tirard zum ersten Treffen aller Kinderdarsteller ein. Als ich die Tür zum Studio irgendwo im 17. Arrondissement öffnete und da all diese kleinen Jungs in Kniestrümpfen und kurzärmeligen Hemden stehen sah, erschrak ich: Es war wirklich, als ob sie direkt den Büchern entstiegen wären! Und dieses Gefühl habe ich
auch heute noch. Allerdings bin ich dabei auch etwas traurig, weil ich es so schön gefunden hätte, wenn mein Vater all seine plötzlich real gewordenen Geschöpfe hätte sehen können. Ich finde den Jungen, der Nick spielt, einfach perfekt; er ist ein archetypischer Junge. Er würde einem auf der Straße gar nicht weiter auffallen. Und genau darin liegt sein Erfolg, denn gerade weil man sich nicht nach Nick umdrehen würde, kann man sich so mühelos mit ihm identifizieren. Waren Sie dabei, als bestimmte Szenen gedreht wurden? Und hatten Sie sich vor anderen eher gefürchtet? Ich hielt mich zurück, oft zum Dreh zu gehen. Meine Kinder bekamen beide eine kleine Gastrolle. Salomé, die sechs ist, ist bei Marie-Hedwigs Geburtstagsfeier zu sehen, und der achtjährige Simon in der Szene mit dem Schularzt. An dem Tag, als ich Simon zum Dreh begleitet habe, habe ich mit den Schauspielern gefrühstückt. Während der Mahlzeit starrte ich Kad Merad so lange an, bis er mich wohl für verrückt halten musste. Aber er war für mich die vollkommene Verkörperung von Nicks Vater; und weil ich finde, dass mein Vater in Der kleine Nick viel von seiner eigenen Kindheit verarbeitet hat, machte das Kad Merad sozusagen zu meinem Großvater! Er war einfach da, gutmütig, freundlich, lustig und fröhlich. Ich
erinnere mich daran, wie ich bei ihm nach Gesichtszügen meines Großvaters Stanislas Goscinny suchte, den ich nie kennengelernt habe, weil er schon 1942 gestorben war. Dass meine Kinder bei diesem Film, der sozusagen eines der Hauptwerke ihres Großvaters darstellt, mitmachen durften, wenn auch nur auf etwas verstohlene Art und Weise, hat mich tief bewegt. Waren Sie an der Drehbuchentwicklung beteiligt? Und wie! Ich war stark eingebunden. Meine Leidenschaft für die Figur und die Geschichten vom kleinen Nick haben meinen Einsatz dafür, dass diese Filmfassung die bestmögliche überhaupt wird, motiviert und eine aktive Mitarbeit notwendig gemacht. Ich hatte einfach nicht das Recht, dabei Sachen durchgehen zu lassen, die mir vielleicht als unpassend erschienen wären. Und ich hatte ja schließlich das enorme Glück, mit Laurent Tirard und Grégoire Vigneron zusammenzuarbeiten, die immer ein offenes Ohr hatten und zu Diskussionen bereit waren. Und auch mit dem später hinzugekommenen Alain Chabat zu arbeiten war ein großes Vergnügen. Was für ein Verhältnis haben Sie zu diesem Werk, mit dem Sie ja aufgewachsen sind? Was bedeutet es für Sie? Ich empfinde zu allen Arbeiten meines Vaters, ob Asterix oder Lucky
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GESELLSCHAFT, DISKURS, DISKO.
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MAN KANN NICHT FRÜH GENUG DAMIT ANFANGEN.
gezeigt, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem emotionalen Moment, als ich den Film zum ersten Mal in einem richtigen Kino sah. Zur Vorführung habe ich meine Kinder mitgenommen, und ich glaube, ich habe sie mindestens so sehr beobachtet wie die Filmbilder. – Der Film hält, was das Drehbuch versprochen hat, und entspricht dem Niveau der Buchvorlage. Was glauben Sie, hätte Ihr Vater von diesem Film gehalten? Mein Vater ist seit über dreißig Jahren tot und hält nichts mehr von irgendetwas, und ich denke auch nicht für ihn – ich denke für mich selbst. Nach seinem abrupten Verschwinden sagte
meine Mutter zu mir, es sei doch besser, neun Jahre mit so einem wunderbaren Vater gelebt zu haben als dreißig Jahre mit einem Mistkerl. Damals dachte ich, mir wäre es lieber gewesen, wenn er ein wenig mehr Mistkerl und dafür etwas weniger tot gewesen wäre. Heute sage ich mir, dass ich dafür die Gelegenheit habe, auch dreißig Jahre nach seinem Tod noch mit ihm zu lachen. Es reicht, Asterix, den Kleinen Nick oder Lucky Luke wieder zu lesen, um laut loszulachen oder zumindest zu schmunzeln. Manchmal lache ich mit Tränen in den Augen, ohne dass ich wirklich sagen könnte, ob es Lachtränen sind oder ob die Tränen schon vor dem Lachen kamen.
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Buchtipp Goscinny
Sempé
Der kleine
ist wieder da!
Diogenes
400 Seiten, Pappband ISBN 978-3-257-01121-0
Seine Abenteuer sind in 30 Sprachen übersetzt und in einer weltweiten Gesamtauflage von über zwölf Millionen Exemplaren erschienen: Damit dürfte der kleine Nick der mit Abstand bekannteste Grundschüler der Welt sein. Der pfiffigste ist er ohnehin – dafür haben seine beiden Schöpfer mit ihren brillanten Einfällen gesorgt.
Diogenes Hörbuch
Goscinny
Sempé
Der kleine
Gelesen von Rufus Beck »Goscinnys Witz hat kein Verfallsdatum.« Der Spiegel
ist wieder da!
»Selten lagen Nostalgie und Ironie so nah beieinander.« SonntagsZeitung »Die vergnüglichen Geschichten haben bis heute nichts von ihrem Charme verloren.« Brigitte
1 CD
© IMAV, Paris
Foto: © Wild Bunch Germany / Central Film Verleih GmbH
Luke, ob Isnogud der Großwesir oder Der kleine Nick, große Zuneigung, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Aber der kleine Nick hat einen Sonderstatus, und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal sind wir alle keine Gallier, Cowboys oder Großwesire; aber Kinder, das waren wir alle mal. Deswegen glaube ich, dass in der Figur des kleinen Nick viel von meinem Vater steckt. Er starb, als ich neun Jahre alt war, und er hatte deshalb nicht genügend Gelegenheit, mir viel von seiner Kindheit zu erzählen. Für mich ist Der kleine Nick der einzige Zugang zu seiner Kindheit. Wahrscheinlich ist diese Lesart der Texte der Grund dafür, dass ich mich ihnen so verbunden fühle. Außerdem wollte meine Mutter, dass auf dem Grabstein meines Vaters als Beruf »Schriftsteller« stehen sollte. Und mit Der kleine Nick hat mein Vater das ganze Ausmaß seines Talents unter Beweis gestellt. In Der kleine Nick vermischen sich die geheime Berufung meines Vaters und die Erinnerungen an seine Kindheit. Gefällt Ihnen die Art, wie die Welt des kleinen Nick in Filmbilder umgesetzt wurde? Ich finde, dass der gewählte Weg mit Szenenbildern »à la Tati« mit den satten Farben sehr gut zum zeitlosen Charakter der Geschichten passt. Der Text verrät natürlich schon seine Entstehungszeit, etwa weil es heute keine Tintenfässer und keine wilden Spielplätze mehr gibt. Die Werte, die er vermittelt, sind aber höchst aktuell, und sie werden wohl noch lange Zeit aktuell bleiben. Es wird sich nicht so schnell ändern, dass für einen kleinen Jungen die Eltern, die Schule und die Freunde wichtig sind. Und wenn man heute auf den Hof einer ganz normalen städtischen Schule – wie die meines Sohnes – gerät, kommt man sich vor, als ob man in einer der Geschichten vom kleinen Nick gelandet wäre. Haben Sie den Film Stück für Stück gesehen oder erst, als er fertig geschnitten war? Marc und Olivier haben mir immer wieder die aktuellen Tagesaufnahmen
1 CD, Spieldauer 76 Min. ISBN 978-3-257-80034-0
Diogenes Magazin
D 75
Interview
Hatten Spaß nicht nur beim Erfinden von Geschichten über den kleinen Nick: René Goscinny und Jean-Jacques Sempé, 1964
Ein Gespräch mit Jean-Jacques Sempé
Nick ist die Figur, die ich am häufigsten gezeichnet habe
Diogenes Magazin: Wie sind Sie seinerzeit auf die Figur des kleinen Nick gekommen, und wann haben Sie René Goscinny davon erzählt? Jean-Jacques Sempé: Die Wochenzeitschrift Le Moustique hatte mich gebeten, jede Woche eine neue Witzzeichnung anzufertigen. Und eines Tages meinten sie, ich solle dem kleinen Jungen, den ich mir ausgedacht hatte, doch einen Namen geben. Ich fuhr mit dem Bus zu einem Treffen mit dem Chefredakteur und sah unterwegs eine Reklame für den Weinhändler Nicolas. Der Chefredakteur war mit dem Namen einverstanden und bat mich, fortan wöchentlich nicht nur eine einzelne Zeichnung, sondern einen ganzen Comicstrip abzuliefern – und ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Zu der Zeit kannte ich René Goscinny schon – er war bei der 76
D Diogenes Magazin
Agentur, zu der ich die Zeichnungen brachte, angestellt – und fragte ihn, ob er mit mir zusammenarbeiten wolle. Als wir uns kennenlernten, waren René und ich ja noch ziemlich jung; ich war wohl ungefähr 22 und er 28 Jahre alt. Ist der kleine Nick so etwas wie ein roter Faden in Ihrer Laufbahn? Weil ich so früh damit angefangen habe, ist der kleine Nick die Figur, die ich am häufigsten gezeichnet habe. Ich habe wirklich keinen Überblick mehr, wie oft ich wieder auf ihn gestoßen bin. Wie verlief der Austausch zwischen Goscinny und Ihnen? Haben Sie die von ihm geschilderten Situationen illustriert, oder gab es auch den umgekehrten Fall, dass ihm die Idee für eine Geschichte durch Ihre Zeichnungen kam?
Das gab es vielleicht in einigen wenigen Fällen. Aber in der Regel hat René alles selbst gemacht. Ich habe auch mit anderen Autoren gearbeitet, aber die Zusammenarbeit mit ihm hat am längsten Bestand gehabt – drei Jahrzehnte lang. Wir standen uns sehr nahe, sicher auch, weil wir unsere ersten beruflichen Schritte gemeinsam gemacht haben. Was war Ihre Reaktion, als die Idee eines Films an Sie herangetragen wurde? Ich fand, dass man das Ganze von vornherein als echtes Kino anlegen sollte und nicht als Kino-Fassung der Zeichnungen – das wäre, glaube ich, unmöglich. Deswegen habe ich dem Regisseur und seinem Team auch völlige Freiheit gelassen. Es hat mir viel Spaß gemacht, die Welt meiner Zeichnungen aufs Kino übertragen zu sehen. Der Film beruht zwar auf den
Foto: © Droits réservés / La Nouvelle République du Centre-Ouest
Nur wenige Striche genügten ihm, um den frechsten und schlausten Bengel weit und breit zu erfinden: Jean-Jacques Sempé, der geniale zeichnerische Schöpfer des kleinen Nick, erzählt von der Geburtsstunde des berühmtesten Lausbuben der Welt, von der Zusammenarbeit mit René Goscinny und erklärt, dass Nostalgie einfach zum Leben gehört.
Illustration: © Jean-Jacques Sempé
René Goscinny, ein Porträt von Jean-Jacques Sempé aus dem Jahr 2007
Geschichten und den Zeichnungen, aber für mich ist er ein eigenständiges Kunstwerk, das sein eigenes Leben hat. Ich will da gar keine Parallelen ziehen. Ich habe mir den Film sehr gerne angeschaut, und es war, ganz nebenbei, das erste Mal, dass ich beim kleinen Nick einfach nur Zuschauer sein konnte. Wie fanden Sie den Darsteller des kleinen Nick? Bevor ich den fertigen Film sah, kannte ich von diesem kleinen Star nur Fotos, und er hat mich wirklich verblüfft. Er ist perfekt in der Rolle! Er hat dieselbe fröhliche Unruhe wie Nick, und er hat Charme. Für mich ist er eine sehr gelungene Besetzung. Was bedeutet Ihnen der Film? René und ich hätten niemals gedacht, was aus dem kleinen Nick bis heute werden würde. Wir haben gerade sein 50. Jubiläum gefeiert, und der Film ist wohl so etwas wie die schönste Kerze auf dem Geburtstagskuchen! Für mich persönlich ist damit auch ein wenig Nostalgie verbunden, weil ich die Jahre vermisse, in denen René und ich zusammengearbeitet haben.
Sind Sie ein Nostalgiker? Wenn viele Freunde und auch die Eltern nicht mehr da sind, wenn man sich an die Momente erinnert, die nie wiederkehren werden, wie kann man da nicht nostalgisch werden? Nostalgie gehört zum Leben einfach dazu. Wie erklären Sie sich, dass Nick auf der ganzen Welt bekannt ist? René Goscinny schrieb die Texte, ich machte die Zeichnungen. Mir wäre es niemals in den Sinn gekommen zu fragen, warum er diese oder jene Szene geschrieben hatte – und ihm auch nicht. Wir reagierten jeweils auf den anderen und dessen Persönlichkeit. Aber vor allem waren wir einfach gute Freunde. Und wir dachten eher über unsere Freundschaft nach als darüber, welche Wirkung unsere Arbeit haben könnte. Als wir die Geschichten entwickelt haben, waren wir noch sehr jung – aber man kann gleichzeitig jung und nostalgisch sein. Wer das Leben am meisten liebt, ist wohl am ehesten nostalgisch um jede schöne Minute, die vergangen ist. Ich mochte schon als junger Mann gerade die Dinge ganz besonders, die nicht mehr exis-
tierten oder nur eine ganz flüchtige Existenz hatten. Die Kinder von heute finden sich im kleinen Nick wieder, denn das kann man, auch ohne den Kontext zu kennen. Dass das funktioniert, erstaunt mich immer wieder! Welche Zukunft wartet noch auf den kleinen Nick? Ich weiß, dass die Leute ihn auch noch in sehr vielen Jahren verstehen werden. Der kleine Nick steht für einen Teil der Kindheit, der ewig ist. Sein Erfolg ist nichts Vorübergehendes, nichts Modisches. Eine Bekannte sagte mir einmal, dass sie nicht verstehe, warum der kleine Nick so erfolgreich sei; er wäre doch schon aus der Mode gewesen, als wir ihn erfanden … Aber wahrscheinlich liegt genau hier das Erfolgsgeheimnis. Welches Kind aus der Bande wären Sie am liebsten gewesen? René Goscinny und ich wären beide der kleine Nick gewesen! Jeder, dem man die Geschichten vorliest, identifiziert sich doch zuallererst mit ihm.
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Diogenes Magazin
D 77
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Arnon Grünberg Die FAZ überschlug sich fast: »Arnon Grünberg ist sehr wahrscheinlich ein Genie, ein literarischer Jahrhundertglücksfall für ein Land, dessen internationale Vorzeigeautoren inzwischen in die Jahre gekommen sind.« Das Land ist Holland, wo Grünberg 1971 in Amsterdam geboren wurde und alle seine Romane Bestseller sind. Sein neuer Roman ›Mitgenommen‹ spielt in Südamerika und ist magischer Irrealismus, wie ihn nur Grünberg schreiben kann.
Wie viele Bücher liest du pro Jahr? Ich hoffe, es sind mindestens hundert.
Small Talk
Zu welchem Titel sollte jemand einen Roman schreiben? Wüsste ich einen guten Titel, würde ich ihn selber benutzen. Der schönste Romantitel? Publikumsbeschimpfung. (Ich weiß, es ist kein Roman, aber der Titel ist wirklich sehr schön.) Kann man Romane auf E-Book-Readern lesen? Ich jedenfalls noch nicht.
W
Welches Buch würdest du auf einen fremden Planeten mitnehmen? Ich bleibe lieber zu Hause.
as hindert dich am Schlafen? Nur schlechtes Essen. Wann warst du am glücklichsten? Sommer 2001, Frühling 2009 und am 5. August 2009.
Wo schreibst du am besten? Im Hotel. Hast du Groupies? Ich hoffe, meinen Groupies einmal zu begegnen.
Welches Buch hast du zuletzt verschenkt? Goethes Faust. Ich hatte es doppelt. Welches Buch sollte man einer Frau schenken, in die man sich verliebt hat? Gelächter im Dunkel von Vladimir Nabokov.
Foto: © Roger Eberhard
Der schönste Liebesroman? Erste Liebe von Iwan Turgenjew. Welches Buch hast du zuletzt gelesen? Ein Sachbuch über Kriege von Martin van Creveld.
Taschenbuch oder Hardcover? Wenn es ein Hardcover gibt, kaufe ich das Hardcover, jemand sollte Autoren und Verleger unterstützen.
Arnon Grünberg Mitgenommen
Roman · Diogenes
752 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06762-0 OKTOBER 2010
Was war die schönste SMS, die du je bekommen hast? Eine SMS von einer alten Freundin, die mir mitteilte, sie sei jetzt Nackttänzerin in Barcelona. kam
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Diogenes Magazin
D 79
Serie
In den Wissenschaften des Menschen ist mehr Religion als Wissenschaft in seiner Religion.
Mach dein Scheitern durch den Ernst und die Beständigkeit deines Strebens tragisch, dann wird es sich vom Erfolg nicht unterscheiden. Beweise, dass es das unausweichliche Fatum der Sterblichen, eines Sterblichen, ist – wenn du das vermagst.
Der Dichter wird trotz seiner Fehler und trotz seiner Schönheiten Volkstümlichkeit erringen; er wird den Nagel auf den Kopf treffen, und die Form des Hammers werden wir nicht kennen. Er lädt uns ein zu seinem Herd und seinem Herzen, und das ist mehr als die Ehrenbürgerschaft einer Stadt. Mich kann das fröhliche Tun der Elemente nur anregen. Wer das Plätschern der Bäche hört, wird nie völlig an etwas verzweifeln. Der Wind dort drüben im Wald tönt wie ein unaufhörlicher Wasserfall, das Wasser klatscht und tost zwischen den Steinen. Die Art und Weise, in der ein Mensch über die Beziehungen der Geschlechter spricht, zeigt an, wie weit seine eigenen Beziehungen dieser Art heilig sind. Wer über diesen Gegendstand scherzen kann, den achten wir nicht. Wir erwecken Freundschaft in den Menschen, wenn wir Freundschaft mit den Göttern geschlossen haben. Wenn ich für menschliche Freundschaft zu kalt bin, dann baue ich darauf, dass ich es nicht so bald für die Einflüsse der Natur sein werde. Es scheint ein Gesetz zu sein, dass man nicht mit den Menschen und mit der Natur in tiefer Sympathie sein kann. Wir verweilen im Mannesalter, um die Träume unserer Kindheit zu erzählen, und sie sind halb vergessen, bevor wir die Fähigkeit erwerben, sie auszudrücken.
Denken mit
Henry David Thoreau Das längste Schweigen ist die treffendste und die am treffendsten gestellte Frage. Nachdrücklich schweigen. Die wichtigsten Fragen, deren Antworten uns tiefer berühren als irgendjemand sonst, werden nie auf andere Weise gestellt. Wie die vollkommenste Gesellschaft sich immer mehr der Einsamkeit annähert, so fällt die vortrefflichste Rede schließlich ins Schweigen. Schweigen ist für alle Menschen hörbar, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Wenn wir durch die Wälder gehen oder nach vertanen Wochen in unserem Zimmer sitzen, hören wir plötzlich, und ohne dass wir es uns erklären könnten, auf, uns dürr und dürftig zu fühlen. Hole das Beste aus den Dingen heraus, die du bereust. Ersticke nie deinen Kummer, sondern warte und pflege ihn, bis er seine eigene und selbständige Bedeutung hat. Tief bereuen heißt von neuem leben. Tust du das, so wirst du wieder in alle deine Rechte eingesetzt werden.
Im nächsten Magazin: Johann Wolfgang Goethe 80
D Diogenes Magazin
Trotz einem Gefühl der Unwürdigkeit, das mich nicht ohne Grund befällt, und obgleich ich mich selbst als so etwas wie einen Spitzbuben betrachte, ist mir der Geist des Universums im großen Ganzen auf unerklärliche Weise gewogen, und ich genieße vielleicht ein ungewöhnliches Maß an Glück. Und doch frage ich mich manchmal, ob nicht eine Abrechnung kommen wird.
Denken mit Henry David Thoreau Von Natur und Zivilisation, Einsamkeit und Freundschaft, Wissenschaft und Politik
Diogenes
Diogenes Taschenbuch detebe 23739, 144 Seiten Endlich wieder als Diogenes Taschenbuch erhältlich: H. D. Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (auch als Hörbuch, gelesen von der österreichischen Theaterlegende Helmut Qualtinger)
Diogenes Hörbuch Gelesen von Helmut Qualtinger »In diesem Essay stellt Thoreau Kernfragen der Demokratie.« Der Spiegel »Helmut Qualtinger ist vor allem ein genialer Sprecher.« Gert Ueding / Die Welt
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Qualtinger liest Thoreau Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat
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Große Menschen lernt man nicht so schnell kennen, nicht einmal in ihren Umrissen, sondern sie verändern sich wie die Berge am Horizont, wenn wir unseres Wegs ziehen.
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42. Jahrgang
Merkels Misere Einblicke in das schwarz-gelbe Regierungsbündnis
8/2010
Das Magazin für Geschichte
Gustav II. II. Adolf dolf
Der protes otestan tantis tische Held im Drei Dreißig ßigjährig jährigen Kr Krieg Nordlandreisen: Kaiser Wilhelm II. als Trendsetter
Frankreich: Todesurteil für einen Nationalhelden
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Foto: Š Vera Hartmann / 13 Photo AG
Preisverleihung
Martin Suter
Schon gehört? Martin Suter bekommt den Swift-Preis Martin Suter wurde für seine ›Business-Class‹-Kolumnen mit dem Swift-Preis für Wirtschaftssatire 2010 ausgezeichnet, verliehen von der Frankfurter Stiftung Marktwirtschaft. Anlässlich der Preisverleihung hat Suter eine Dankesrede in Form seiner bekannten Kolumne gehalten – und hat diesem nach Jonathan Swift benannten Satirepreis damit alle Ehre gemacht.
Illustration: © Tomi Ungerer
S
chon gehört? Suter bekommt den Swift-Preis.« Baumgartner lässt die Handvoll Erdnüsse, die er sich eben in den Mund schaufeln wollte, auf Kinnhöhe in der Schwebe. »Martin Suter?« Die Hand bleibt in Wartestellung. Kellerhals nickt sein vielsagendstes Nicken und füllt sich jetzt ebenfalls die hohle Hand mit Erdnüsschen. Baumgartner lässt seine auf den Tresen sinken und starrt sie fassungslos an. »Das ist doch der, der unsere Eliten der Marktwirtschaft seit Jahren durch den Kakao zieht.« Kellerhals pickt sich mit Daumen und Zeigefinger ein einziges Erdnüsschen aus der gehäuften Linken und steckt es in den Mund wie eine kulinarische Rarität. »Ebendieser«, bestätigt er triumphierend, als hätte er seit Jahren vor diesem Skandal gewarnt. Baumgartner kippt seine Ladung Erdnüsschen in den Mund und kaut
wütend. »Und wird der Swift-Preis«, mampft er, »nicht von der Stiftung Marktwirtschaft verliehen?« Kellerhals sucht sich sorgfältig ein weiteres Nüsschen aus. »Du hast es erfasst.«
Davon lebt die Satire: dass die, die gemeint sind, sich nicht angesprochen fühlen. Baumgartner schluckt runter und spült sich den Mund mit Gin Tonic. »Und weshalb, um Himmels willen, tun die so etwas? Masochismus?« Kellerhals winkt ab. »I wo. Die fühlen sich nicht angesprochen. Davon lebt die Satire: dass die, die gemeint sind, sich nicht angesprochen fühlen.«
Er feiert diese Erkenntnis mit einem Schlückchen Campari Soda. »Die Kolumne heißt Business Class. Wer sonst soll sich denn angesprochen fühlen, wenn nicht die Eliten der Marktwirtschaft?« Baumgartner greift sich den Silberlöffel, der aus hygienischen Gründen zu den Erdnüsschen serviert wird, und schippt die hohle Hand entschlossen wieder voll. »Ich habe da so eine Theorie.« Kellerhals macht es spannend, angelt sich ein weiteres Nüsschen und kaut es gründlich. Baumgartner wartet mit halboffenem Mund und einwurfbereiter Hand. »Dadurch, dass die die Satire belohnen, distanzieren sie sich von denen, auf die sie zielt.« Kellerhals wartet mit einem befriedigten Lächeln auf die Wirkung seiner Einschätzung. Baumgartner verschafft sich eine Denkpause, indem er sich die Backen mit Nüsschen füllt. Sein GesprächsDiogenes Magazin
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Buchtipps
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SCHWEIZER MONATSHEFTE 978
partner vertreibt sich die Wartezeit mit seinem Campari. Endlich folgt Baumgartners Antwort. Sie lautet: »Nicht sehr solidarisch.« »Das ist allerdings kein marktwirtschaftliches Kriterium.« Baumgartner verwindet die Maßregelung mit einem Schluck Gin Tonic. Dann erkundigt er sich: »Wie, ehem, wie hoch ist denn der Preis, ehem, dotiert?« Er ist aufs Äußerste gefasst. »Zehntausend.« »Ach so.«
Baumgartner sucht den Blick des Barmans und deutet auf sein leeres Glas. Kellerhals reagiert beleidigt. »Du darfst das nicht mit uns vergleichen. Der Mann ist Kulturschaffender.« Diesen Aspekt hatte Baumgartner für einen Moment aus den Augen verloren. »Stimmt. Für so einen könnte der Betrag ausreichen, als Anreiz missverstanden zu werden, noch motivierter über die Manager herzuziehen.« Kellerhals winkt ab. »Da kann ich dich beruhigen. Der Mann hat aufgehört, die Kolumne zu schreiben.« Der Barman bringt Baumgartner den frischen Drink, Kellerhals hält ihm sein nun ebenfalls leeres Glas hin. »Jetzt hab ich es«, ruft Baumgartner aus. »Die geben ihm den Preis gar nicht für die Kolumne!« »Wofür denn sonst?« Baumgartner lässt sich einen Schluck Zeit. »Die geben ihm den Preis dafür, dass er sie nicht mehr schreibt.«
Live gelesen von Martin Suter Diogenes Hörbuch
Diogenes Taschenbuch detebe 24031, 192 Seiten
1 CD, Spieldauer 56 Min. ISBN 978-3-257-80059-3
Die Managergehälter – wie kann es anders sein – sind ein unerschöpfliches Thema in diesen neuen und letzten Geschichten aus der Business Class. Und – die zweite erogene Zone der Manageridentität – der saftige alljährliche Bonus.
»Martin Suter liest seine Geschichten aus der Welt des Managements so charmant vor, dass es den Hörer aufrichtig amüsiert. Hier darf über den Chef laut gelacht werden. Das ist Niedertracht auf hohem Niveau.« Berliner Zeitung
www.schweizermonatshefte.ch
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D Diogenes Magazin
Illustration: © Tomi Ungerer
Geschichten aus der Welt des Managements
Vier Sprachen, ein Land – Über den Zusammenhalt der Schweiz
1 CD
Martin Suter Business Class
Dossier:
»Gerade das satirische Understatement verleiht Suters Geschichten ihre besondere, feingesponnene Komik.« Norddeutscher Rundfunk
Juli / August 2010 Fr. 17.50 / € 11.00
Diogenes
Embargo – Das Spiel mit der Drohung
Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur / seit 1921
und andere Geschichten aus der Business Class
»Höchst amüsant. Wie kleine ethnologische Erkundungen lesen sich Suters Kolumnen.« Neue Zürcher Zeitung
SCHWEIZER MONATSHEFTE 979
Martin Suter Das BonusGeheimnis
Dossier:
Live gelesen von Martin Suter
Owl’s Eye
Wenn der Liebste keine Bücher liebt
Illustration: © Jean-Jacques Sempé
D
ie Wege des Herzens sind unergründlich, aber Hand aufs Herz: Kann jemand, der Bücher liebt, einen Büchermuffel lieben? Ich bat Ingrid Noll um ihre Meinung, und sie antwortete per E-Mail in ihrer unverwechselbaren Art: »Wenn der Muffel auch sonst ein Idiot ist, wird es ein Desaster. Doch es wäre zu einseitig, wenn man Bücher nur über die Belletristik definiert. Viele Männer können mit fiktionaler Literatur wenig anfangen, lesen aber Zeitungen, Fach- und Sachbücher.« Doch einige Frauen von heute sind wie Männer von gestern. Als junger Buchhändler lernte ich jedenfalls eine Jura-Studentin kennen, die nur Gesetzestexte las und Romane nicht einmal mit der Pestzange angefasst hätte. Typisch Mann: Trotz ihrer schauerlichen Lektüregewohnheiten gefiel sie mir ausgesprochen gut. Es begann das übliche Spiel: Man traf sich auf einen Kaffee (sie trank Tee), dann abends auf ein Bier (sie trank Wein) und irgendwann zum Abendessen (sie aß nur einen Salat). Alles schien bestens und den gewohnten Gang zu gehen, bis ich sie eines Abends nach Hause begleitete – es aber nicht einmal bis vor ihre Haustüre schaffte. Denn auf dem Nachhauseweg kamen wir an einigen Buchhandlungen vorbei, die mir zum Verhängnis wurden. Es war die Zeit vor den Buchhandelsketten, vor Amazon, und so gab es in der Innenstadt noch etliche Buchläden. Bis heute ist diese Berufskrankheit geblieben: Ich kann an keiner Buchhandlung vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und die Schaufenster zu studieren. Als ich mir vor der dritten Buchhandlung minutenlang die ausgestellen Bücher betrachtete,
murrte meine Angebetete: »Ich muss dir etwas sagen.« Ein Satz, dem in Beziehungsangelegenheiten noch selten etwas Gutes gefolgt ist. Wie eine geübte Anwältin legte sie gefasst, aber nicht ohne Wärme dar, dass wir eindeutig nicht zusammenpassen würden, ich mit meinen Romanen, sie mit ihren Paragraphen. Außerdem verstehe sie meinen Humor nicht. Sie selbst hätte keinen, das wisse sie. Juristisch inkorrekt übernahm sie schließlich gleich selbst die Rolle der Richterin und den Urteilsspruch: Freispruch – für sie. Sie machte Schluss, bevor es angefangen hatte.
Ob man sich als Leser in einen Leser oder in einen Nichtleser verliebt, wird wohl ein Zufall sein, denn Hormone können nicht lesen – und gegen Liebe auf den ersten Blick hilft keine Brille. Aber was ist eigentlich schlimmer: am Morgen nach der ersten Nacht keine Bücher auf dem Nachttisch zu sehen oder die falschen? Wobei der Schrecken steigerungsfähig ist: Schlimmer als keine Bücher auf dem Nachttisch sind keine Bücher in der ganzen Wohnung. Schlimmer als ein Nichtleser ist ein Leser, der sich nie den Autor und Titel des Buches merken kann, das er gerade liest, geschweige denn den groben Umriss der Handlung.
Schlimmer als jemand, der keine Bücher liest, ist jemand, der vorspielt, er lese gern. Am allerschlimmsten kann in gewissen Momenten jemand sein, der die richtigen Bücher liest. Sofern die Person gerade im Bett ein Buch liest, wenn man daneben liegt und ausnahmsweise Lust hat, eben kein Buch zu lesen. Vielleicht ist die Kombination zweier Leser erotisch oder ehelich sowieso eine Perversion. 1966 organisierte der Diogenes Verlag einen Schaufensterwettbewerb mit der Quizfrage: »Warum heiraten Buchhändlerinnen keine Buchhändler?« Leider sind im Diogenes Archiv die Einsendungen zu dieser Umfrage verloren gegangen. Arthur Miller heiratete keine Buchhändlerin, sondern in zweiter Ehe Marilyn Monroe, die der Nachwelt nicht als Leseratte im Gedächtnis geblieben ist. Wenn sie las, dann zumeist Drehbücher. Die Verbindung Miller-Monroe hatte trotzdem glückliche literarische Folgen. Als Präsident des PEN-Clubs hatte sich Arthur Miller in den sechziger Jahren für den Schriftsteller Wole Soyinka eingesetzt, dem in Nigeria im Gefängnis die Hinrichtung drohte. Miller schrieb ein Gnadengesuch, das an den nigerianischen Machthaber General Gowon übermittelt wurde. Als man Gowon erzählte, Miller sei mit der Monroe verheiratet, verfügte er die sofortige Freilassung Soyinkas. Wenn es schon um »Grundsätzliches« geht, wie Marcel Reich-Ranicki sagen würde: Bücherliebhaber haben vielleicht kein erfüllteres Sexualleben als Nichtleser, aber einen Vorteil haben sie. Sie gehen nie allein ins Bett, sondern wenigstens mit einem Buch. Aber davon das nächste Mal mehr. Jan Sidney
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Im nächsten Magazin: Ist Lesen sexy? Diogenes Magazin
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Vorschaufenster Kino & TV
Ausstellungen
Goscinny&Sempé, Der kleine Nick. Seit 26.8.2010 im Kino (siehe S. 72). Auch als Trickserie, ZDF KI.KA, 12.10. – 6.11.2010, jeweils 19 Uhr. Im ZDF ab dem 31.10. um 7.05 Uhr. Martin Suter, Der letzte Weynfeldt Regie: Alain Gsponer, mit Marie Bäumer und Stefan Kurt. Am 12.9.2010 im SF 1, im Frühjahr 2011 im ZDF. Paulo Coelho, Veronika beschließt zu sterben. Regie: Emily Young, mit Sarah Michelle Gellar. Ab 30.9.2010 im Kino. Bernhard Schlinks Erzählung Der Andere aus seinem Erzählband Liebesfluchten kam am 1.7.2010 in die Kinos und war ein Kritikererfolg. Regie: Richard Eyre, mit Liam Neeson, Laura Linney und Antonio Banderas. Donna Leon, Lasset die Kinder zu mir kommen: Die 16. CommissarioBrunetti-Verfilmung mit Uwe Kockisch als Brunetti und mit Karl Fischer, Annett Renneberg, Michael Degen und Julia Jäger. Regie: Sigi Rothemund. Am 7.10.2010 um 20.15 Uhr im Ersten. Ingrid Noll, Ladylike mit Monika Bleibtreu, Gisela Schneeberger und Günther Maria Halmer. Regie: Vanessa Jopp. Geplante Ausstrahlung: November / Dezember 2010 im ZDF.
Ronald Searle. Ausstellung im Wilhelm Busch Museum Hannover, bis 30.1.2011. Buchtipp: Ronald Searle, Weil noch das Lämpchen glüht (detebe 20014) – übrigens das allererste Diogenes Buch, das 1952 erschien. Friedrich Dürrenmatt. Fotoausstellung L’esprit Dürrenmatt vom 25.9. 2010 bis 20.3.2011 im Centre Dürrenmatt Neuchâtel (www.cdn.ch). Buchtipp: Friedrich Dürrenmatt, Sein Leben in Bildern (erscheint bei Diogenes im Dezember 2010). James Cook und die Entdeckung der Südsee. Historisches Museum Bern (www.bhm.ch), vom 7.10.2010 bis 13.2.2011. Buchtipp: Bis ans Ende der Meere von Lukas Hartmann (detebe 24024). Auguste Rodin in der Orangerie Unteres Belvedere, Wien (www.belvedere.at), vom 1.10.2010 bis 9.1.2011. Buchtipp: Auguste Rodin, Die Kunst (detebe 21654). Pablo Picasso im Kunsthaus Zürich (www.kunsthaus.ch), vom 15.10.2010 bis 30.1.2011. Buchtipps: Picasso, Über Kunst (detebe 21674), und die Erinnerungen von Françoise Gilot, Leben mit Picasso (detebe 21584), sowie die Erinnerung von Fernande Olivier, Picasso und seine Freunde (detebe 21748).
Impressum Ehren-Herausgeber: Daniel Keel Geschäftsleitung: Katharina Erne, Ruth Geiger, Stefan Fritsch, Daniel Kampa, Winfried Stephan Chefredaktion: Daniel Kampa (kam@diogenes.ch) Mitarbeiterinnen dieser Ausgabe: Julia Stüssi (js), Nicole Griessmann (ng), Margaux de Weck (mdw), Martha Schoknecht (msc) Grafik-Design: Catherine Bourquin Fotograf: Bastian Schweitzer Scans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin, Tina Nart, Hürlimann Medien (Zürich) Webausgabe: Susanne Bühler (sb@diogenes.ch) Korrektorat: Franca Meier, Dominik Süess Bildredaktion: Regina Treier, Nicole Griessmann Freier Mitarbeiter: Jan Sidney (sid) Vertrieb: Renata Teicke (tei@diogenes.ch) Anzeigenleitung: Simone Wolf (wo@diogenes.ch) Zurzeit gilt Anzeigenliste Nr. 2, August 2009 Abo-Service: Christine Kownatzki (diogenesmagazin@diogenes.ch) Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die beigeheftete Abokarte. Abonnementspreise: € 10.– für drei Ausgaben in Deutschland und Österreich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder auf Anfrage. Herzlichen Dank an Monica Antunes, Miriam Block, Jürgen Carl, Aymar du Chatenet, Rolf Dobelli, Joey Goebel, Anne Goscinny, Arnon Grünberg, Charlotte Kerr Dürrenmatt, Donna Leon, Petros Markaris, Ingrid Noll, Spiridon Sarantopoulos, Hansjörg Schneider, Muriel Siegwart, Martin Suter und Wild Bunch / Central Film Verleih. Im Verlag Dank an Ursula Baumhauer, Kerstin Beaujean, Ruth Geiger, Anna von Planta und Christine Stemmermann. Beim Gewinnspiel sind Mitarbeiter/-innen des Diogenes Verlags von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über unverlangt eingesandte Manuskripte kann leider keine Korrespondenz geführt werden. Programmänderungen vorbehalten. Alle Angaben ohne Gewähr. Redaktionsschluss: 15.7.2010 / ISSN 1663-1641
Schreibtisch-Gewinnspiel aus dem Diogenes Magazin Nr. 3: Den Hauptpreis, die komplette Maigret-Edition in 75 Bänden im Wert von 675 Euro, hat Uwe Schönbach aus Hamburg gewonnen. Je einen Diogenes Büchergutschein in Höhe von 100 Euro haben gewonnen: Patrick Ederer, Nürnberg; Karl Klaubauf, Wien; Bernhard Echte, Wädenswil (CH). Herzlichen Glückwunsch! 86
D Diogenes Magazin
Illustration: © Chaval / Christian Dalman, Bordeaux
Gewonnen haben
Schreibtisch
Wer schreibt hier? Gewinnspiel
Fotos: © Daniel Kampa / Diogenes Verlag
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as ist tatsächlich ein Schreibtisch, auch wenn er eher nach einem Mal- und Zeichentisch aussieht, und (ja, wir geben es zu) von unserem gesuchten Multitalent tatsächlich auch zu zeichnerischen Zwecken genutzt wird. Der Diogenes Autor sprengt aber wirklich in jeder Hinsicht Grenzen: sei es die Anzahl seiner bisher veröffentlichten Bücher, die sich an Kinder, Erwachsene und Kunstliebhaber richten und von denen sich sein berühmestes sogar singen lässt; sei es die Größe und Menge der Ausstellungen, die ihm in unterschiedlichsten Ländern gewidmet werden; oder seien es diese etlichen Länder selbst, die er seine Heimat nennen darf und deren nicht nur kulturelle Grenzen er zu sprengen nicht müde wird. Und pünktlich zum Weihnachtsfest dürfen wir seinen neuesten Streich erwarten, natürlich lustig, böse und großartig.
Schicken Sie die Antwort bis zum 31.12.2010 per Post oder per E-Mail (gewinnspielmagazin@diogenes.ch) an: Diogenes Verlag, Gewinnspiel, Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, Schweiz Wir verlosen 5 × ein vom Autor signiertes Taschenbuch Das Parfum von Patrick Süskind. Als Hauptpreis zusammen mit einem € 200-Büchergutschein.
Patrick Süskin Da s Par d fum Die Ges ch eines Mör ichte ders Diogene s
Lösung Diogenes Magazin Nr.3: Martin Walker Diogenes Magazin
D 87
Mag ich – Mag ich nicht
Vorschau Das nächste Diogenes Magazin erscheint Ende Dezember. Im Mittelpunkt: Ian McEwan. Außerdem zum 50. Todestag von Krimi-Legende Dashiell Hammett eine frühe Kurzgeschichte zum ersten Mal auf Deutsch, Interviews mit Hartmut Lange, John Irving und Johann Friedrich von Allmen – der neuen literarischen Figur von Martin Suter. Als Themenschwerpunkt: Musik & Literatur. Ian McEwan über die Oper, Donna Leon über ihre HändelLeidenschaft, Philippe Djian über seine Arbeit als Songtexter und literarische Playlists.
D Nr. 6
Frühling 2011
Diogenes
Magazin
Ian McEwan im Gespräch Wenn Bücher klingen … Donna Leon, Philippe Djian, Tomi Ungerer, Jean-Jacques Sempé über ihre Leidenschaft für Musik
Zwei Freunde, ein Verlag Die beiden Diogenes Verleger sind 80 Jahre alt geworden
www.diogenes.ch 4 Euro / 7 Franken
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783257 850062
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Mag ich:
Mag ich nicht:
Dickens. Flaubert. Ringen. Erzählungen. Geschichte. Hardy. Bauernhöfe. Die Berge. Das Meer. Gegenständliche Malerei. Kleine Details im Schreiben. Porträts. Bleistifte und alle Anspitzer. Kaffee mit Milch am Morgen. Kochen. Schwitzen. Skilaufen. Filme von Bergman. Filme von Fellini. Kleine Dinnerparties. Oper. Tanz. Musik (sogar Rockmusik). Als Erster aufwachen. Tagsüber eine Frau lieben. Zimmerservice. Alte Freunde treffen. Die Freunde meiner Kinder (die meisten von ihnen). Gute Manieren. Vorsicht (wenn du dir genau darüber im Klaren bist, wo du stehst, dann macht es Spaß, die Vorsicht sausenzulassen). Freundlichkeit, besonders Pförtnern, Kellnern, Liftboys und Taxifahrern gegenüber. Familienaus¬üge (speziell, wenn Katastrophen drohen und die durch ›Heldentaten‹ verhindert werden). Früh aufstehen. Jede gute elektrische Schreibmaschine. Gewitter. Schneestürme. Freud (er war ein guter Schriftsteller). Besonders gern Lesen bei schlechtem Wetter am Ofen oder am Kamin. Schreiben. Briefe erhalten.
Balzac. Proust. Boxen. Philosophie. Politik. Den avantgardistischen Roman, den ›neuen‹ Roman usw. Menschenmassen. Moskitos. Badestrände. Abstrakte Malerei. Abstraktheit im Schreiben. Landschaftsmalerei ohne jegliche Lebewesen. Kugelschreiber. Kaffee in jeder Form zu jeder Zeit. Ein neues Restaurant ›ausprobieren‹. Frieren. Schlittschuhlaufen. Filme von Godard. Filme ohne ausgeprägte Charaktere und ohne Handlung. Große Parties (aus jedem Anlass). Musicals. Theater. Live-Konzerte, besonders Rockmusik-Konzerte, siehe Menschenmassen. Jemanden im Haus hören, der vor mir aufgewacht ist. Einzel- oder Doppelbetten, speziell in Hotels. Schlechte Hotels (aus jedem Grund). Wenn jemand mir sein Traumhaus zeigt, auch wenn es ein Freund ist. Erwachsene oder heranwachsende Kinder von alten Freunden, die ich von klein auf kenne; sie geben mir das Gefühl des Altseins. Leute, die meinen Kindern keine Aufmerksamkeit schenken, oder noch schlimmer: ihren eigenen keine Aufmerksamkeit schenken. Grobheit, es sei denn, sie wird durch die Grobheit eines anderen provoziert. Unvorsichtigkeit. Tyrannen, besonders Menschen, die die sogenannte Dienstleistungsklasse herumkommandieren. Alleine reisen, besonders Geschäftsreisen, auf denen man seine Zeit damit totschlägt, die Gesichter der Mitreisenden zu studieren. Spät aufstehen. Jede Schreibmaschine, die nicht funktioniert. Energieausfall. Wind. Alles, was mit Psychiatrie, Psychoanalyse, Therapie usw. zu tun hat. TV. Das Telefon, besonders das Besetztzeichen. Noch schlimmer ist jene Erfindung, die ein Telefongespräch unterbricht, damit man weiß, dass jemand einen selbst gerade anzurufen versucht.
Im nächsten Magazin: Tim Krohn 88
D Diogenes Magazin
Foto: © Jane Sobel Klonsky
John Irving
D
Serie
Diogenes
Jeder kennt die Frage: »Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?« Wir haben Petros Markaris gefragt. Und um es ein wenig spannender (und bequemer) zu machen, durfte er mehr als nur ein Buch auf die Insel mitnehmen. Der griechische Schriftsteller ist mit seinen Kriminalromanen um den Ermittler Kostas Charitos bekannt geworden. Gerade ist als Diogenes Taschenbuch sein Roman Die Kinderfrau erschienen, Kostas Charitos’ fünfter Fall.
Roman Stendhal, Die Kartause von Parma
Lieblingsessen (süß) Ekmek Kadayif
Erzählung Edgar Allan Poe, Der Untergang des Hauses Usher
Lieblingsgetränk (nichtalkoholisch) Kaffee
Sachbuch Mark Mazower, Salonica, City of Ghosts
Lieblingsgetränk (alkoholisch) Whisky, Wein und Raki
Lyrik Die Gedichte von Konstantinos Kavafis
Technisches Gerät iPod Kleidungsstück Jeans, Hemd und Pullover
Theaterstück Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame
Lebensretter Meine Tochter
Illustration: © Chaval; Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
Zeitung Süddeutsche Zeitung Zeitschrift Lettre International
Schauspieler Bruno Ganz
TV-Sender Um Gottes willen, keinen!
Schauspielerin Catherine Deneuve
Radiosender France Culture
Klassik Mozart, Sinfonie Nr. 38, die »Prager«
Film Luis Buñuel, Le charme discret de la bourgeoisie
Lieblingsessen (nichtsüß) Gefüllte Tomaten und Paprika
Im nächsten Magazin: Tatjana Hauptmann
Gesprächspartner Mo Grimeh, der ehemalige Geschäftsführer der Bank Lehman Brothers
Das Diogenes Magazin erscheint 3 x im Jahr als Abo (3 Ausgaben) für nur € 10.– (D /A) oder sFr 18.– (CH) (Weitere Länder auf Anfrage) So können Sie das Diogenes Magazin abonnieren: ❶ per Abo-Postkarte ❷ per E-Mail: diogenesmagazin@diogenes.ch ❸ per Fax +41 44 252 84 07
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Magazin, ab Nr. 6
Petros Markaris auf der einsamen Insel
Illustration: © Jean-Jacques Sempé
Magazin
Name Vorname Geburtsdatum Straße / Hausnummer Land / PLZ / Ort Telefonnummer / E-Mail ■ Ich zahle per Rechnung für 3 Hefte ■ € 10.– (D /A) oder ■ sFr 18.– (CH) – weitere Länder auf Anfrage ■ Rechnungsanschrift siehe oben ■ Abweichende Rechnungsanschrift: Name Vorname Straße / Hausnummer Land / PLZ / Ort Telefonnummer / E-Mail
Streitpartner Samis Gavriilidis, mein griechischer Verleger Joker-Artikel: Was würden Sie noch mitnehmen? Auf eine Insel? Eine Angel mit Zubehör, was sonst?
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Datum / Unterschrift
Diogenes
Magazin
Schonen Sie Ihre Augen! Lassen Sie andere lesen: Illustration: © Jean-Jacques Sempé
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Otto Sander und Ulrich Matthes lesen Anton ¢echov Heikko Deutschmann und Daniel Brühl lesen Martin Suter Hans Korte liest Bernhard Schlink Anna Thalbach liest F. Scott Fitzgerald Burghart Klaußner liest Ian McEwan Mario Adorf, Senta Berger und andere lesen Joseph Roth Helmut Qualtinger liest H.D. Thoreau Rufus Beck liest Der kleine Nick Roger Willemsen liest Die kleine Alice Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
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Gelesen von Otto Sander
Gelesen von Ulrich Matthes
Gelesen von
Gelesen von Daniel Brühl
Gelesen von Hans Korte
»Eine Liebesgeschichte und Satire rund ums Buch – brillant.« Focus
»Bernhard Schlink ist einer der erfolgreichsten und einer der vielseitigsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart.« Volker Hage / Der Spiegel
Gelesen von Anna Thalbach
»Wie kaum ein anderer hat Anton ◊echov auf den Pulsschlag des modernen Lebens gehorcht, sein literarisches Werk ist für das 20. Jahrhundert wegweisend geworden.« Neue Zürcher Zeitung
4 CD
Erzählung
Heikko Deutschmann
Anton Čechov Ein Duell
Kleiner Roman
»Eine ausgesprochen unterhaltsame, kurzweilige und letztlich auch moralische Geschichte.« ndr Kultur, Hamburg
6 CD
Martin Suter Der Koch
Roman
»Mit dem Plot von Lila, Lila ist Martin Suter ein raffiniertes Kunststück gelungen.« Neue Zürcher Zeitung
Martin Suter Lila, Lila
5 CD
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Diogenes Hörbuch
Gelesen von Mario Adorf
Gelesen von Helmut Qualtinger
Gelesen von Rufus Beck
8 CD
Bitte frankieren
Diogenes Verlag AG Diogenes Magazin Sprecherstrasse 8 8032 Zürich Schweiz
Diogenes Hörbuch
»Ian McEwan wagt das schwierige Kunststück, Wissenschaft und Politik mit deftiger Komödie zu verbinden. Und es gelingt ihm großartig.« Nick Cohen / The Guardian, London
Ian McEwan Solar Roman
»Joseph Roths letzte Lebensphase muss rauschhaft in jeder Hinsicht gewesen sein. Die Legende vom heiligen Trinker liest sich wie die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal.« Süddeutsche Zeitung
1 CD
»Ein glänzender, umwerfend komischer Kabarettist.« Alfred Polgar
Joseph Roth Die Legende vom heiligen Trinker Erzählung
»Das Pointenfeuerwerk des Spotts lässt die Gesellschaft in ihrer ganzen Lächerlichkeit erstrahlen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
1 CD
Das Helmut Qualtinger Hörbuch Von Kaiser Franz Joseph zu Herrn Karl Weltgeschichte in Pantoffeln
244 Hörbücher mit Hörprobe:
7 CD
Roman
Gelesen von Burghart Klaußner
Goscinny
Sempé
Der kleine
»Nick ist ein Freund, wie man ihn sich nur wünschen kann. Ein Freund fürs Leben. Alt werden? Stillhalten? Ohne uns.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
1 CD
Bernhard Schlink Sommerlügen
im Zirkus
»Der erste Roman, der das ›System Hollywood‹ erforschte und beschrieb. Inklusive einer schmetterlingszarten Liebesgeschichte von perfekter Schönheit.« Barbara Rett / Die Presse, Wien
4 CD
F. Scott Fitzgerald Die Liebe des letzten Tycoon Roman
Diogenes Hörbuch Gelesen von Roger Willemsen Eine der berühmtesten Kindergeschichten der Welt, vom Autor selbst für die Kleinsten der Kleinen neu erzählt: »Jetzt ist es mein Ehrgeiz, von Kindern gelesen zu werden, die zwischen null und fünf Jahre alt sind.« (Lewis Carroll)
1 CD
Lewis Carroll Die kleine Alice Diogenes
Illustration: © Tomi Ungerer
1 CD
Anton Čechov Die Dame mit dem Hündchen
© IMAV, Paris
»Die Virtuosität des einfachen Erzählens – darin liegt Sanders Meisterschaft, eine Meisterschaft der präzisen Beiläufigkeit und des vielsagenden Zwischenraums.« Die Welt, Berlin
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Herbst 2010
Diogenes
Magazin
Wir gratulieren Ingrid Noll zum 75. Geburtstag
Der letzte Sommer Eine neue Erzählung von Bernhard Schlink Mythisches Gestein: Rolf Dobelli und Donna Leon über den neuen und alten Gotthardtunnel Ein Leben wie ein Roman: Paulo Coelho
D Diogenes Magazin
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Paulo Coelho Rolf Dobelli Friedrich Dürrenmatt Joey Goebel John Irving Donna Leon Petros Markaris Ian McEwan Ingrid Noll Bernhard Schlink Hansjörg Schneider Jean-Jacques Sempé Martin Suter H.D. Thoreau
5
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