Theater der Autoren

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THEATER DER AUTOREN MAGAZIN 17 / 18

DEUTSCHES THEATER BERLIN


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„Der beste Weg, Autoren zu entdecken und zu fördern, ist sie aufzuführen!“ Diesem Grundsatz der Autorentheatertage, unserem alljähr­ lichen Fest der Gegenwartsdramatik, folgt der Spielplan des Deutschen Theaters das ganze Jahr: Mehr als ein Drittel der Stücke des Repertoires sind Gegenwartsstücke. Z ­ wölf Premieren der neuen Spielzeit 2017/18 basieren auf neuen Texten, dabei sind Ur- und Erstaufführungen, Stückentwick­lungen, Rechercheprojekte und Romandramatisierungen. In der dritten Ausgabe unseres Magazins stehen also ein weiteres Mal die Gegenwartsautoren im Mittelpunkt: Wir geben Einblicke in ihre Arbeit, Gedanken, Produktions­weisen und in bisher noch unbekannte biografische Details – durch Interviews, Portraits, Textauszüge… Zudem gibt es einen kollektiv geschriebenen Text über Recherchetheater, wir be­fragen drei Lektor_innen Berliner Theaterverlage zu ihrer A ­ rbeit und haben unsere Autor_innen gebeten, uns ihre Lieblingsbücher zu nennen – welche die Fotografin Katja Strempel fotogra­fiert hat. Wir freuen uns, dass der zwischen Berlin und London pen­delnde Künstler Tom Mason, der bereits das Foyer der ­Kammerspiele mit Zitaten unserer Autoren beschrieben hat, auch für diese Ausgabe handgeschriebene Zitate, Zeich­nungen und Collagen angefertigt hat. Nach der erfolgreichen Premiere von Elfriede Jelineks WUT in den Kammerspielen wird in der kommenden Spielzeit ihr neu­estes Stück Am Königsweg inszeniert werden, das sich mit Herrschaft und Kapitalis­mus auseinandersetzt: „Dass eine Zukunft stattfindet, und Sie sind drauf, Sie sind gut drauf, vor allem als weiße Rasse insgesamt doch recht gut, oder?“ Jelineks Diag­nose der Befind­lichkeit der westlichen Welt antwortet treffend auf das DT-Motto der Spielzeit 17/18: Welche Zukunft.


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Die Lieblingsbücher unserer Autor_innen, fotografiert von Katja Strempel: "

Ferdinand Schmalz, geboren 1985 in Graz, studierte Theaterwissenschaft und Philosophie in Wien, war Regieassistent am Schauspielhaus Wien und am Schauspielhaus Düsseldorf. 2013 erhielt er für sein Erstlingsstück am beispiel der butter, das in einer Inszenierung des Burgtheaters Wien zu den ATT 2015 eingeladen war, den Retzhofer Dramapreis. 2014 wurde er von Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt und erhielt das Dramatik Stipendium der Stadt Wien. Sein Stück dosenfleisch wurde im Rahmen der ATT 2015 als Koproduktion des DT mit dem Burgtheater Wien uraufgeführt. Sowohl der herzerlfresser (2015) als auch der thermale widerstand (2016) wurden in der Box des DT mit großem Erfolg inszeniert.



Albert Ostermaier, geboren 1967 in München, veröffentlichte 1988 den Gedichtband Verweigerung der Himmelsrichtung. Die Uraufführung seines ersten Theaterstücks Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie fand 1995 am Bayerischen Staatsschauspiel München statt. Er war Hausautor am Nationaltheater Mannheim, am Bayerischen Staatsschauspiel München und am Burgtheater Wien. Seine Stücke wurden u.a. von Andrea Breth, Matthias Hartmann und Martin Kušej inszeniert. 2008 ver­öffentlichte er den Roman Zephyr. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Ernst-Toller-Preis, den Kleist-Preis, den Bertolt-Brecht-Preis und den Welt-Literaturpreis. Albert Ostermaier ist ein regelmäßiger Gast bei den ATT: Tatar Titus zählte 1997 zu den Gewinnerstücken, Call me God vom Residenztheater München war 2013 eingeladen und 2017 ist er zu Gast mit Linke Läufer vom Staatstheater Nürnberg.


Inhalt 16 Eine merkwürdige Expedition von Wolfgang Höbel 21 Schreiben ist die beste Existenzform für mich Interview mit Thomas Melle

46 Stücke nüchtern, Prosa betrunken, Lyrik verkatert Fünf Fragen an Ferdinand Schmalz 52 Gespür für die Bühne Interview mit drei Berliner Lektorinnen

29 Theater als Innenraum Joshua Wicke über Roland Schimmelpfennig

57 Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht von Rosa von Praunheim

39 Eine liebende Stimme inmitten der Katastrophe Maxi Obexer über Sivan Ben Yishai

59 Versetzung Auszug aus Thomas Melles Stück

42 „Are you searching for a drama?“ von Ruth Feindel und Tobias Rausch

70 Autorentheatertage Übersicht

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Eine merkwürdige Expedition Wolfgang Höbel, der vor 20 Jahren als Juror bei den Autorentheatertagen den Autor Albert Ostermaier entdeckte, schreibt, warum die Autor­entheatertage für ihn das schönste Theaterfestival sind. Albert Ostermaier ist auch in diesem Jahr wieder eingeladen.

Weil im Theater die Uhrzeiger schneller voranrattern als in der Wirklichkeit, sind zwei Jahrzehnte dort keine besonders lange Zeit. Ich war noch ein vergleichsweise junger Kritiker, als ich im Jahr 1997 bei den Autorentheatertagen den Alleinjuror spielen durfte, am Staatstheater Hannover, wo Ulrich Khuon zwei Jahre zuvor dieses Festival erfunden hatte. 193 von Verlagen und Autoren eingereichte Stücke habe ich damals gelesen, drei davon habe ich ausgewählt, sie wurden in Werkstattinszenierungen vorgestellt – und das in einem erstaunlich intimen Rahmen. Denn das Fest der Autorentheatertage, das heute im stolzen Deutschen Theater in Berlin als heiteres, grandioses Spektakel für ein großes Publikum von Theaterbegeisterten gefeiert wird, war damals eine Workshop-Party für eine höchst übersichtliche Gemeinschaft. Zwei Dutzend aus allen Himmelsrichtungen angereiste Dramaturg­ innen und Dramaturgen, ein paar Regisseurinnen und Regisseure und die eingeladenen Autorinnen und Autoren diskutierten auf den Fluren und Hinterbühnen des Theaters in Hannover, als säßen sie eine knappe Woche lang zusammen in einem Klassenzimmer – und am Ende zeigte man sich und einem schmalen Publikum von Hannover­aner Theater­besuchern, was dieser kleinen Gemeinschaft so einge­fallen war. In meiner Erinnerung, die höchstens ein bisschen durch sentimen­tale Verklärung verzerrt ist, war da eine merkwürdige Expedition unterwegs. Man stritt über so wichtige Fragen wie die, warum man ein Festival für Theaterautorinnen und -autoren überhaupt brauche und ob die Regisseurinnen und Regisseure oder die Kritikerinnen und Kritiker schuld daran seien, dass begabte Autorinnen und Autoren lieber Prosa oder Fernsehdrehbücher schrieben als dramatische Texte. Man schwärmte von Elfriede-Jelinek-Aufführungen und RainaldGoetz-Interpretationen. Man lästerte über die merkwürdige Verwandlung

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von Botho Strauß, der mal ein toller Dramatiker war und damals lieber ein politischer Visionär sein wollte. Und man trank in den Pausen zwischen den Reden, Inszenierungen und Diskussionen nicht bloß gemeinsam Kaffee oder Bier, sondern man ging zwischendurch sogar zusammen im Maschsee schwimmen. Die Idee der Autorentheatertage, so wie ich sie damals begriffen habe, war es, die Gegenwartsdramatik zu beleben, indem man diejenigen Autorinnen und Autoren, die sich fürs Theater interessierten, näher in die konkrete Arbeit auf der Probebühne einband; indem man sie einlud, sich mit Dramaturginnen und Dramaturgen, mit Regisseur­innen und Regisseuren auszutauschen. Erst auf der Probe habe er das Theater als „gelobtes Land“ lieben gelernt, hat irgendwann später der Schriftsteller Albert Ostermaier geschrieben, den ich 1997 kennen gelernt habe, in jenem Jahr, als sein Stück Tatar Titus in Hannoverbei den Autorentheatertagen in einer hinreißenden Werkstattinszenierung des Regisseurs Hartmut Wickert gezeigt wurde. Auf der Probe, so Ostermaier, habe er mit Schauspielern und Regisseuren jene Momente erlebt, „die einen für all das entschädigen, was man als Autor mitunter an Wahnsinn, Verschwörungstheorien, Gruppenkoller und Hospital­ismus, überhaupt an Psychodramen mitmachen muss“. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Autorentheater­tage am Hamburger Thalia Theater und am Deutschen Theater in Berlin ein klug ausgeweitetes Festival geworden, das neben eigenen Aufführungen der von der Jury ausgewählten Texte auch Gastspiele präsentiert, in denen herausragende Gegenwartsstücke gezeigt werden. Das Festival konkurriert heute mit anderen Uraufführungs­ festivals und Schreibworkshops, die 1997 noch nicht erfunden waren. Was aber nicht verlorengegangen ist, trotz aller neuen Modalitäten, trotz wechselnder Jurorinnen und Juroren, trotz aller Theatermoden, die zum Beispiel dafür gesorgt haben, dass man heute sehr viel mehr Kino- oder Romanstoffe auf den großen Theaterbühnen zu sehen bekommt als noch vor 20 Jahren: der leidenschaftliche Wille, Menschen zusammenzubringen, die davon überzeugt sind, dass genuin für die Bühne geschriebene Texte der Kraftstoff sind, den ein lebendiges Gegenwartstheater braucht. Man staunt im Rückblick auf die seit 1995 in Hannover, Hamburg und in Berlin ausgerichteten Autorentheatertage, welche Autorinnen und Autoren zu den Ausgewählten gehörten, viele von ihnen wie Anja Hilling oder Steffen Kopetzky oder Ferdinand Schmalz finde ich bis heute toll. Man staunt über die illustren Regisseurinnen und Regisseure, die – selbst oft noch in den Anfangsjahren ihrer Karriere – mitgemacht haben, Jette Steckel zum Beispiel, Rafael Sanchez oder David Bösch. Und man ist verblüfft über die lange Liste von sehr unterschiedlichen Jurorinnen und Juroren, die sich den Spaß und die Mühe der Auswahl für die Autorentheatertage gemacht haben, von Simone Meier bis Sigrid Löffler, von Robin Detje über Gerhard Jörder und Michael Althen bis Till Briegleb. Man kann eher nicht behaupten,

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dass es sensationelle Fortschritte gegeben hat in der deutschsprach­ igen Gegenwartsdramatik seit Anbeginn der Autorentheatertage. Was sich aber ganz sicher verändert hat im Lauf der Jahre, ist die Haltung der Theater und der sie be­gleitenden Medienmenschen gegenüber den Autorinnen und Autoren, die fürs deutschsprachige Theater schreiben. Vor zwei Jahrzehnten herrschte ein oft schlecht gelauntes Gejammer über das Fehlen intere­ssanter, sich mit den großen Fragen der Gesellschaft und der Welt auseinandersetzenden Bühnentexte unter Theaterkünstlern, Dramaturgen und Kritikern. Durch die Autorentheatertage und andere, ihnen folgende Festivals haben alle Beteiligten gelernt, nicht dauernd bloß den Mangel zu beklagen, sondern sich stattdessen an den vorhandenen Ideen und Talenten zu freuen. Die komischsten und aufregendsten Momente während der Autorentheatertage waren für mich oft die, in denen ein Scheitern zu bestaunen war – wenn die Darstel­lerinnen und Darsteller sich improvisierend über Schwächen eines Textes hinwegretteten oder wenn Regisseurinnen oder Regisseure den mehr oder weniger offenen Widerspruch einlegten gegen einen von der Jury ausgewählten Text. Vermutlich ist die Erziehung der Jurorinnen und Juroren sowieso der schönste Nebeneffekt dieses Festivals. Viele der Journalistinnen und Journalisten, die sich an der Textauswahl zu schaffen machen durften, haben erst bei diesem Job einige der Feinheiten kapiert, die es in der realen Theaterarbeit zu beachten gilt. In einem Crashkurs von praxisnaher Herzens- und Geistesbildung hat der Juryjob ihnen ver­mittelt, dass zum Beispiel Texte, die auf dem Papier wundervoll gescheit und poetisch klingen, sich auf der Bühne oft grässlich hohl anhören. Mir jedenfalls ist es so ergangen. Seit meinen ersten Autoren­theatertagen vor zwei Jahrzehnten bin ich durch dieses Festival nicht unbedingt schlauer geworden, aber ich habe einen anderen, neu­gier­igeren Blick auf neue Stücke erlernt. Man könnte sagen: Ich habe meine schlechte Laune abgelegt. Der Schriftsteller Albert Ostermaier hat es so formuliert: „Am Theater darf sich jeder erfinden, solange er etwas findet.“ Wolfgang Höbel studierte Politik, Kommunikationswissenschaft und Neue Deutsche Literatur in München. Von 1985 an war er für die Süddeutsche Zeitung sowie das Magazin Tempo als Musik- und Theaterkritiker tätig, 1989 bis 1991 Kulturredakteur beim Magazin Der Spiegel, dann bis 1994 bei der Süddeutschen Zeitung und dem SZ-Magazin. Seit 1994 ist er erneut beim Spiegel und bis 2005 Leiter des Kulturressorts. Zurzeit arbeitet er als Redakteur im Spiegel-Kulturressort.

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Schreiben ist die beste Existenzform für mich Thomas Melle ist Autor, Übersetzer und Dramatiker. Mit seinen Romanen Sickster, 3000 EURO und zuletzt Die Welt im Rücken war er für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sein Stück Bilder von uns gastierte 2016 bei den Autorentheatertagen. Versetzung, ein Auftragswerk für das Deutsche Theater Berlin, wird in der Spielzeit 2017/2018 in den Kammer­spielen (Regie: Brit Bartkowiak) uraufgeführt. Mit Thomas Melle sprach Katharina Wenzel.

In Versetzung schreiben Sie über den Lehrer Ronald, der vor Jahren an einer ­bi­polaren Störung erkrankte, erfolgreich be­handelt wird und diese Erkrankung ­dennoch verschweigt. Warum hält er seine Krankheit geheim? Er verschweigt seine manisch-depressive Erkrankung, weil er aus Liebe zu seinem Beruf, aber auch aus Karrieregründen Verantwortung übernehmen will – und weil psychische Krankheiten mit einem so großen Tabu belegt sind, dass ihm bei Offen­legung seiner Disposition diese Verantwortung wohl entzogen würde. Ronald gerät so in einen Konflikt zwischen Eigeninteresse und Fremdverantwortung. Sagt er es, ist er wahrscheinlich seinen Beruf, sein ganzes Leben los, sagt er es nicht – wir werden sehen, was dann passiert. Es ist auf jeden Fall unmöglich, ein eindeutiges Urteil über ihn oder seine Situation zu fällen, es ist eigentlich unentscheidbar. Man kann weder der Gesellschaft noch dem Einzelnen allein die ganze Schuld geben, das sorgt in seiner Unauflösbarkeit für Spannung. Man versteht alle Positionen in dem Stück. Darin liegt auch eine Schicksalswucht, gleich einer griechischen Tragödie: Es gibt eine Art Erbe, für das der Protagonist gar nichts kann, doch schwebt es über ihm, und sein Schweigen wird mehr und

mehr schuldbeladen. Aber warum schweigt er? ­ Weil er nicht reden darf. Das Verdrängte kommt jedoch immer zum Vorschein, je später, desto wuchtiger.­Irgendwann wird der Druck zu groß, und die Tabuisierung macht ihn wieder krank, bricht­­­über ihn herein. Nach Ihrem Buch Die Welt im Rücken, in dem Sie Ihre eigene bipolare Störung themati­ sieren, schreiben Sie nun erneut über diese Krankheit, dieses Mal in Form eines Theaterstücks. In Die Welt im Rücken habe ich ja nicht nur eine individuelle Biografie in den Blick genommen, sondern das Exemplarische an dieser Biografie. Ich habe sozusagen nicht nur meine, sondern vor allem eine Krankheit beschrieben. Es war zugleich auch der Versuch – mit dem Wissen, dass es niemals hin­hauen kann – auf gewisse Weise geformt, ästhetisch durchkomponiert, aber dennoch „eins zu eins“ zu erzählen, wirklich zu berichten von diesen schwer beschreibbaren Dingen. Eigentlich dachte ich, dass ich mit Erscheinen des Buchs mit dem Thema durch bin. Dann fand ich es aber fast zwingend, mich dem Ganzen noch einmal von einer ganz anderen Seite zu nähern: „dramaturgisch“

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nämlich, quasi objektiv, mit dem Theater als Schaubühne, als moralische Anstalt, als Soziallabor, die Krankheit im Guckkasten, in dem man die Dinge verhandeln kann, qua Plot, qua Geschichte. Nicht Textflächen oder Thesenartiges oder anklägerische Monologe, sondern auf eine dramaturgische Ebene gehoben, zu einer Story, gar einer Parabel geformt. Und so hat Versetzung mit mir als Person gar nicht mehr viel zu tun. Das Soziale steht vielmehr im Mittelpunkt, die Machtstrukturen, das Beziehungsnetz. Während ich in Die Welt im Rücken möglichst genau von der eigenen Erfahrung erzählen wollte, werden bei Versetzung die Tabu­ isierung solcher Krankheiten und deren schreckliche Folgen in den Blick gerückt. Die Geschichte spielt in einer Schule, Ihre Hauptfigur soll zum Schulleiter befördert werden, wenn da nicht das Geheimnis um seine Krankheit wäre. Was hat Sie an diesem Kosmos Schule interessiert? Die Machtstrukturen en miniature. Bei der Hauptfigur Ronald hatte ich zuerst an einen Politiker gedacht, dann habe ich mich aber gefragt: Warum denn in so einer Größe oder Distanz denken, warum muss es denn ein abgehobener Politiker sein? Warum nicht ein Lehrer, dessen Fallhöhe ja eigentlich genauso hoch ist, der die Verantwortung noch viel stärker und konkreter spürt? In dem Umfeld, in dem er arbeitet und lebt, sind die Strukturen zwar übersichtlicher, aber dennoch findet genauso Politik statt, Interessenpolitik. Es geht um „unsere Kinder“, die Zukunft, es geht um soziale und mentale Hygiene, es birgt die ganze Ideologie einer Gesellschaft. Wie die Lehrer miteinander umgehen, die Hierarchien innerhalb der Schule und der Elternschaft – da gibt es viele Parallelen zum politischen System. Verlautbarungen oder Elternabende etwa haben Ähnlichkeiten mit Parteiversammlungen oder basisdemokratischen Zusammenkünften. Ich finde, dass das Problem, von dem ich erzähle, anhand dieses Berufsbilds nachvollziehbarer, fast sogar dringlicher wird. Sie sind als Dramatiker erfolgreich, Ihr jüngstes Buch ist ein Bestseller – macht Schreiben Sie glücklich?

Oft, ja. Schreiben ist die beste Existenzform für mich, bedeutet Selbstverlust und Selbstfindung zugleich. Manchmal ist es impulsiv und explosiv, manchmal ist es natürlich der große lange Marsch, ein Marathon, der schlaucht. Manchmal scheucht es mich auf, manchmal beruhigt es mich. Auf genau die vielfältige Weise, auf die andere im Leben lebendig sind, bin ich dort lebendig. Roman oder Theatertext – wie entscheiden Sie, welches Thema in welche Form passt? Mir ist meistens schnell klar, wie der Zugriff, wie die Form sein soll. Die Welt im Rücken wäre niemals ein Theaterstück geworden, obwohl es auch eine rhetorische Ich-Suada ist. Eine Idee hat immer schon eine Form, und bestimmte Ideen bringen einzelne Szenen, Bilder, Figuren und Textbruchstücke mit sich. Und die kommen oft ziemlich genau in einer entweder theatralischen oder romanhaften, erzähler­ ischen Anmutung mit so einer bestimmten Atmosphäre bei mir an. Und dann ist klar, in welcher Form ich das Thema bearbeite. Eigentlich sind erst die Ideen da, kleine Formen, die sich später zum Thema und zur übergeordneten Form zusammensetzen. Und wenn Sie sich für ein Theaterstück entschieden haben, dann… Dann denke ich sehr konkret auf den Raum, die Bühne und das zeitbasierte Erzählen des Theaters hin, auch konkret auf Figuren oder gar Schauspieler. Die Figuren können sich zwar während des Schreibens immer wieder auflösen, aber sie machen doch eine Entwicklung durch und bekommen eine eigene Identität, die vielleicht torpediert wird, die sich zerfetzt an anderer Stelle wiederfindet. Es ist aber nicht so, dass ich nach dem Prinzip des well-made plays, also mit einem strikten Storykonzept, schreibe. In Versetzung wird es zum Beispiel auch chorische und lyrische Elemente geben, weil ich beim Schreiben spürte: Die Welt muss noch einmal anders antworten auf dieses tragische Schicksal eines Einzelnen, das Stück muss sich mit einer großen Geste öffnen, fast selbst psychotisch werden und seine Hauptfigur schließlich unter sich zermalmen.

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Thomas Melle, 1975 geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaftund Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er ist Autor vielgespielter Theaterstücke und übersetzte u.a. William T. Vollmanns Roman Huren für Gloria. Sein Debütroman Sickster (2011) war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman 3000 Euro, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. 2015 erhielt Thomas Melle den Kunstpreis Berlin. 2016 war er mit seinem Stück Bilder von uns zu den ATT 2016 eingeladen. Die Uraufführung seines Romans Die Welt im Rücken ist als Vorglühen bei den ATT 2017 zu sehen. Das Auftragswerk Versetzung wird in den Kammerspielen des DT im Herbst 2017 uraufgeführt.

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Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen, arbeitet seit 1996 als freier Autor, seit 2000 schreibt er Theaterstücke für das Deutsche Theater Berlin, Deutsche Schauspielhaus Zürich, Schauspielhaus Bochum, Schauspielhaus Hamburg, Burgtheater Wien u.a. International schreibt er Aufträge für Kopenhagen, Stockholm, Toronto und Tokyo. Der verstorbene Regisseur Jürgen Gosch inszenierte zwischen 2001 und 2009 zehn seiner Stücke. 2010 erhielt er den Mülheimer Dramatikerpreis für sein Stück Der goldene Drache. Seine Stücke wurden regelmäßig zu den ATT einge­laden. 2016 wurde sein Romandebüt An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Am DT wurden seit 2009 Peggy Picket sieht das Gesicht Gottes, Der goldene Drache, Wintersonnenwende und Die vier Himmelsrichtungen inszeniert, 2018 hat Der Tag, als ich nicht ich mehr war in den Kammerspielen des DT Premiere.

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Theater als Innenraum Roland Schimmelpfennig zählt zu den meistgespielten Autor_innen der Gegenwartsdramatik. Seine Stücke werden inter­national aufgeführt. Letztes Jahr erschien sein erster Roman An einem klaren, eiskalten Januar­ morgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. An einem ebenfalls klaren, aber schon recht warmen Nachmittag im März hat Joshua Wicke ihn getroffen, um über Theater als Innenraum, die große weite Welt und sein neues Stück, Der Tag als ich nicht ich mehr war, zu sprechen, das nächste Spielzeit in den Kammerspielen des Deutschen Theaters von Anne Lenk uraufgeführt wird.

Was ist die Aufgabe eines Textes im Theater? Mit solchen Riesen­­fragen im Gepäck komme ich zum Gespräch mit Roland Schimmelpfennig und er beantwortet sie – er streift dabei durch die Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte und obwohl er sich selbst als eher vom „alten Fach“ beschreibt, hört diese Geschichte nicht irgendwann auf. So mäandert unser Gespräch zwischen Fellini, Brecht, Art Rock, Game of Thrones und Jean de La Fontaine. Nicht nur diskursive Wanderlust, sondern ganz reale scheint Schimmelpfennig auch anzutreiben, wenn er nicht gerade zum Gespräch in einem Café in Mitte verabredet ist. Zu Beginn dessen, was man wohl so „Karriere“ nennt, arbeitet er in Istanbul als Journalist – u.a. für die taz – bevor es ihn zum Regiestudium nach München zieht, wo er blitzschnell Teil der künstlerischen Leitung der Dieter Dornschen Kammerspiele wird. So zumindest die Legende. Danach: Hingeschmissen, um sich aufs Schreiben zu konzentrieren. So zu­mindest die Legende. Dann Dramaturg an der Schaubühne in Berlin. So zumindest die Legende, die man sich in den Sitzungsräumen und Kantinen der Stadtund Staatstheater erzählt. Und da kennt man ihn, denn Schimmelpfennig gilt als einer der meistgespielten Autor_innen der deutschen Gegenwartsdramatik. Aktuell pendelt der leibhaftige Schimmelpfennig zwischen Havanna und Berlin, während seine Texte um die Welt zirkulieren. „Der Text spricht von außen ins Theater hinein“, antwortet Schimmelpfennig auf die Eingangsfrage, „der kommt ja nicht aus dem Theater heraus“ und deshalb sei es auch „immer schwierig, wenn das Theater sich den Text zu eigen macht, ihn klein macht, anstatt erstmal

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zu hören, was da eigentlich von außen kommt.“ Diese Autonomie der Texte von Schimmelpfennig lässt sich lesen. Obwohl er die praktische Seite der Theaterherstellung kennt – oder wahrscheinlich gerade weil er sie kennt – , legen seine Texte dem theatralen Normalvollzug Steine in den Weg, stellen sich dem naturalisierten Sprechen quer, zeichnen sich zum Teil auch durch einen starken Formwillen aus. Seine Geschichten sind konstruiert. Die Perspek­t­iven, die diese Texte einnehmen, die szenischen Einladungen, die sie machen, scheinen fast filmisch, montiert, geschnitten, in Zeit und Ort beweglich. Statt aber die Gemachtheit des Geschriebenen im Text selbst zu reflektieren, driften Schimmelpfennigs Texte fast unmerklich weg vom „echten Leben“, wie das naturalistische Theater es sich vorstellt. „Verdichtung ist das Zauberwort“, sagt er dazu, „So wie in Dichtung. Und Verdichtung im kollektiven Prozess herzustellen, ist ziemlich schwer. Eigentlich ist der kollektive Prozess meist das Gegenteil. Es kann passieren, ist aber eher selten. Bei guten Rockbands kann man das manchmal sehen, dass es doch klappt.“ Überhaupt spielen für Schimmelpfennigs Schreiben popkulturelle Einflüsse eine größere Rolle als Sachen aus der „E Bindestrich Ecke“. Außerdem regen die Vibration der Turbinen eines flie­ genden Flugzeugs, das Schwanken einer Fähre in Istanbul den Schreibfluss an: „Die örtliche Veränderung hilft“, sagt er. In Havanna ein ­ Stück für Stockholm schreiben, das schließlich in Berlin auf Deutsch gezeigt wird, wie im Fall von Wintersonnenwende... seine Stücke entstehen in Zwischenräumen und Zwischenzeiten. Immer wieder verhandeln sie den Alltag im deutschen Normalverbrauchermilieu – ob in Prenzlauer Berg, auf einer Landstraße im Nirgendwo oder in den grauen Kleinvorstädten der Republik. Und doch habe Theater immer etwas zu tun mit Angst und einer bestimmten Sehnsucht nach Veränderung, die auch viele seiner Figuren umtreibt. Und so schmuggelt er leise Störungen in die kleinbürger­ lichen Wohnzimmer, die gut gepflegten Freelancer-Biografien oder die gerade gekauften Eigentumswohnungen. Meist verbirgt sich unter dieser realistischen Oberfläche noch etwas anderes, eine surreale, magische oder phantastische Latenz, die im Verlauf der Stücke nach oben dringt – oder vielleicht eher: sich im Sinne des magischen Rea­lismus mit der Oberfläche verwebt. „Klar ist, dass der Griff zum Phanta­stischen einen leuchtenden Rahmen um so etwas wie Realität zeichnet. Und erst dadurch wird das, was ein langweiliges Nichts ist, nämlich das Alltägliche, rausgerissen und in einen anderen Kontext

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gestellt. Das kann aber nur durch das Wunder passieren, was in diese Realität hineinbricht.“ Diese phantastischen Wunder spielen sich bei Schimmelpfennig zum Beispiel in der Zahnlücke eines nicht krankenversicherten Chinesen ab, der sich einen faulen Zahn mit einer Rohrzange ziehen lassen musste (Der goldene Drache). Oder sie treten in Gestalt eines Nazi-Opas aus Paraguay auf, der sich in eine Medienmacher-Familie zum Weihnachtsfest selbst einlädt (Wintersonnenwende). Erlösung versprechen diese Wunder nicht unbedingt, aber sie zeigen: So wie es ist, muss es nicht sein. Sie rufen vielleicht ein kleines bisschen Wanderlust wach, um eben jenem langweiligen Nichts kurz zu entkommen. Und auch sein neues Stück – mit dem fünffüßigen Titel Der Tag als ich nicht ich mehr war – handelt von einem solchen Wunder, das Erlösung sein könnte, aber auch Schrecken: Vom Identitätsver­lust einer kleinbürgerlichen Familie, die sich der Reihe nach verdoppelt. Von der Verselbstständigung eines Schatten-Ichs, das nie richtig gelebt wurde. Falls jemand auf die Suche gehen will: Es trinkt in der Hafenbar Schnaps mit der Roten Rita.




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Sivan Ben Yishai, geboren in Tel Aviv, studierte Theaterregie und Szenisches Schreiben in Tel Aviv und Jerusalem. Seit vier Jahren lebt die Autorin in Berlin. 2015 inszenierte sie zwei eigene Stücke im Rahmen des Future Forums der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum und beim ID Festival im Radialsystem V. Ihr Stück Never Ever Ever hatte im September 2014 an der Israelischen Bühne in Boston Premiere. YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB ist ein Gewinnerstück der ATT 2016 und wird in den Kammerspielen des DT von András Dömötör uraufgeführt.


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Rosa von Praunheim, geboren 1942 in Riga, Lettland ist ein deutscher Filmregisseur sowie Autor und gilt als wichtiger Vertreter des postmodernen deutschen Films. Er wird auch den Autoren- und Avantgardefilmern zugerechnet. Nachhaltig etabliert hat er sich mit Dokumentarfilmen. Er war vor allem mit seinem Dokumentarfilm von 1971 Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt der öffentliche Wegbereiter und einer der Mitbegründer der politischen Schwulen- und Lesbenbe­ wegung in der Bundesrepublik Deutschland. Anlässlich seines 75. Geburtstages inszeniert er in den Kammerspielen des DT eigenhändig sein Stück Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht.


Eine liebende Stimme inmitten der Katastrophe YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB von Sivan Ben Yishai ist eines der drei Stücke, die die dies­jährige Jury der Autorentheater­tage aus allen Einsendungen zur Uraufführung ausgewählt hat. Inszenieren wird es András Dömötör, die Premiere findet im Rahmen der Langen Nacht der Autor_innen statt. Den Blick des Textes angesichts von Gewalt, Sivan Ben Yishais Kunst der Genauigkeit und ihr Gespür für das Publikum beschreibt die Theaterautorin und Schrift­ stellerin Maxi Obexer.

„Was macht einen starken politischen Text aus?“ Dass er nicht politisch wird. Diese Antwort würde ich auf diesen bedingungslosen dramatischen Text von Sivan Ben Yishai geben. Ein Text, der sich durch und durch poetisch äußert, und der zugleich ein zutiefst scharfer Ausdruck eines politischen Zustands ist. Eines Zustands der völligen Zerstörtheit. Man könnte auch sagen: eines banalen nor­malen Zustands. Der Schauplatz könnte Gaza sein, ebenso gut Aleppo oder Homs oder Kabul. Doch nicht, weil Kriege austauschbar wären, sondern weil sich eine apokalyptische Klage in diesem Text erhebt, die alle Orte meint, in denen Leben ohne nennenswerte Gründe ausgerottet wurde. Mit den Realitäten im Text wurde die Autorin sozialisiert. Es ist die alltägliche politische, mili­ tärische und gesellschaftliche Präsenz der Gewalt in Israel. Es ist eine Essenz, die sich hier zeigt, entstanden aus einem beständig wachen Blick, einem unbestechlichen Auge und einem Geist, der auch in der alltäglichen Routine des Gewalttätigen, der Herabsetzung von Menschen und Tieren nicht stumpf wurde, sondern im Gegenteil, der immer noch schärfer wahrnahm. Sie hat jahrelang beobachtet,

hineingeschaut, hat sich jahrelang versichert, dass das, was hier abläuft, unmöglich ist, und unmöglich bleiben muss, selbst wenn es tausend­mal sanktioniert wird durch die hohe Politik. Die tägliche Gewalt, die von oberster Stelle, vom Militär, von der Politik, in der täglichen Überheb­lichkeit der israelischen Politiker gegenüber den Palästinensern sich manifestiert – diese alltägliche Brutalität in der Sprache, im Körper der Befehlshaber, im Körper aller. Die sich überträgt auf die einzelne unmittelbare Begegnung. Eine Gewalt, die keinen Anlass mehr braucht, die einfach da ist, die zur alltäglichen Sprache wird, zur gewohnten Grobheit. Welches literarische Geschick war mit diesem, von der Autorin vielfach durchdrungenen Stoff gefragt? Eine Art Magnetnadel reichte hier, denn alles, was der Text brauchte in seiner Ausarbeitung, war, dass er nicht vom Kurs abkam. Es war eine faszinierende Arbeit, mit Sivan daran zu arbeiten. An der größtmöglichen Genauigkeit zu arbeiten. Daran, dass der Text zu sich findet, bei sich ankommt. Und das hieß auch, dass sich keine allzu mächtige Stimme über die anderen erhebt und sich den Text unterwirft. Denn gerade dort, wo sich die Hölle in der destruktiven Überheblichkeit von Machthabern

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zeigt, muss ein Text genau darauf achten, dass er nicht selbst zur selbstgefälligen Diva wird. Es geht außerdem nicht nur um die einzelne Stimme, es ist ein Gesang, ein Klagelied von vielen, von einer einzelnen klagenden Stimme vorgetragen. Dem Text tief eingeschrieben ist ein genaues Wissen davon, was ein starker Theatertext braucht. Sivan hat ein äußerst feines Gespür für den Dia­log mit dem Publikum. Dieses Gespür geht weit über die Frage hinaus, ob das Publikum als Komplize oder als Ignorant adressiert werden sollte. Für Sivan, die diese Beziehung als Regisseurin tief erforschen konnte, ist es ein Ringen wie in einer Liebesbeziehung, der nie zu trauen ist, eine, die dich im nächsten Moment das Leben kosten kann. Eine Beziehung, die aber auch lebensnotwendig ist. In der alle Zumutungen erlaubt sind: Verrat, Misstrauen, aber auch Vertrauen und eben Liebe. Einen ganz besonders ungewöhnlichen – weil ungewohnten Ton wird der Zuschauer wahr­ nehmen. Wir sind gewohnt an Anklagen, sogar Beschimpfungen; das bürgerliche Publikum ist längst auf den Ablasshandel eingegangen und holt sich hinterher die Absolution dafür, dass es die Beleh­r­ung im Lauten, Aggressiven über sich ergehen lässt. Dieser Text besticht, weil in ihm eine klagende Stimme zu hören ist, die nicht wettert, nicht anklagt, nicht anschreit. Es ist eine Stimme, die fleht, und der eine Größe innewohnt, weil sie Milde walten lässt. Es bleibt eine liebende Stimme inmitten der Katastrophe. Angesichts der Schärfe der poli­tischen Analyse eine große Besonderheit dieses Textes. Maxi Obexer, Theaterautorin und Schriftstellerin, Leiterin des Workshops In Zukunft, in dem YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB von Sivan Ben Yishai entstanden ist. Gründerin des Neuen Instituts für Drama­tisches Schreiben (Nids). YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB wird gefördert von der

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„Are you searching for a drama?“ Die Lektorin und Dramaturgin Ruth Feindel und der Regisseur Tobias Rausch über die Freiheiten des Recherchetheaters, sich verändernde Konzepte von Autorschaft und die Frage nach dem Literarischen im Theater

„Are you searching for a drama? I don’t like theatre, I like movies.“ Mit diesem Satz empfängt ein griechischer Militärangehöriger das Theaterteam, sie halten ihm ihre „permission“ entgegen, sie sind berechtigt den EU-Hotspot Moria zu betreten. Und ja, sie suchen tatsächlich nach einem Drama – dem Drama, das sich auf der Insel Lesbos abspielt, wo seit Sommer 2015 sehr viele Menschen auf der Flucht das erste Mal europäischen Boden betreten haben. Der Soldat hält offenbar nichts von Theater, auch nichts von Recherchetheater. Er hat sicher gute Gründe für seine Skepsis gegenüber unerwarteten Besucher_innen, die viele Fragen haben und in das Lager vorgelassen werden möchten. Und natürlich sind diese Gründe keine ästhe­ tischen, auch wenn er Filme lieber mag als Theater. Dennoch könnte man, als dieses Zitat in dem Theaterabend Lesbos – Blackbox Europa aus dem Mund der Schauspielerin zu hören ist, an zwei Dinge denken, um die es in diesem Text gehen soll: um die spezifischen Möglichkeiten des Recherchetheaters und um die Skepsis, die dieser Theaterform immer wieder im Abgleich zum so genannten Literaturtheater entgegen gebracht wird. So, als hätte der Soldat am Eingang gesagt: „Are you searching for a drama? I don’t like re­search, I like real literature.“ Das Faszinierende am Recherchetheater als Produktionsform ist für Theatermacher_innen, dass man auf Themen, Sachverhalte, Ideen und

ihre Repräsentant_innen direkt zugreifen kann, sie unmittelbar in den Fokus rücken, zu seinem theatralen Forschungsfeld ernennen kann. Man kann zeitnah auf gegenwärtiges, politisches und gesellschaftliches Geschehen reagieren; man kann marginalisierte oder nicht vorkommende Perspektiven wählen; man kann Historisches mit Gegenwärtigem zusammen denken; man kann dokumentarisch arbeiten, fiktiona­lisiert oder in einer Mischform; man kann unterschiedliche, einander widersprüchliche Akteure mit einbeziehen. Frei in der Themenwahl und Formfindung Man ist also frei in der Themenwahl und der adäquaten Formfindung. Das bedeutet eine große künstler­ ische Freiheit. Diese bringt eine unendliche Viel­falt von Rechercheprojekten hervor, deren vielleicht einziger gemeinsamer Ausgangspunkt ist, dass sie alle nicht mit einem bereits weitgehend feststeh­ enden (literarischen) Text in den Probenprozess starten, sondern dass ihr Textmaterial erst während des künstlerischen Produktionsprozesses gener­­iert wird. Immer wieder kommt es im Abgleich mit dem Literaturtheater zu dem Vorwurf, dass bei Rechercheprojekten keine Texte mit bleibendem literarischen Wert entstehen würden, eher Gebrauchs­ texte, die sich darauf beschränken, als Spielvor­­lage für eine spezifische Aufführungs­situation zu funkt­ionieren.

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Vielleicht muss man an Recherchetheater andere Kriterien anlegen als an Literaturtheater, um seinen inhärenten Kunstcharakter bestimmen zu können. Radikaler könnte man fragen, ob das Konzept von „großer Kunst“ überhaupt noch der Maßstab zur Beurteilung von Texten sein kann. Ist die Vorstellung einer universellen und überzeitlichen Gültigkeit, die ein Künstler, eine Künstlerin mit ihrem Werk schaffen kann, weil Welt und Wirklichkeit sich darin exemplarisch verdichten, möglicherweise selbst in Auflösung begriffen? In den Natur- und Gesellschaftswissenschaften hat man sich schon lange davon verabschiedet, den oder die Wissenschaftler_in als geniales Subjekt zu begreifen, das einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit habe. Üblich sind Autor_innenteams, die ihre Forschungen distributiv und netzwerkartig vorantreiben und kollektiv publizieren. Auch die erfolgreichen Serien im Filmbereich entstehen längst in kollektiver Autorschaft. Im Recherchetheater wird der Rechercheprozess selbst Teil des künstlerischen Prozesses, an dem viele Menschen mitwirken und zu unterschiedlichen Graden auch zu Autor_innen werden. In der eingangs erwähnten Produktion Lesbos – Blackbox Europa, die seit Januar 2017 in der Box des DT zu sehen ist, wird die Autorschaft im Untertitel mit „Ein Projekt von Gernot Grünewald und Ensemble“ benannt. Der Regisseur Grünewald ist mit zwei seiner drei Schauspieler_innen und weiteren Koll­eg_innen seines Produktionsteams für eine Woche auf die Insel Lesbos gereist, um vor Ort über Film- und Tonaufnahmen sowie Begegnungen und Gespräche Material zu generieren. Man kann hier von einer immersiven Recherche sprechen. Ziel war es, eine Reiseerfahrung an einem politisch hoch problematischen Ort zu machen. Einen Erfahrungsraum unmittelbar zu öffnen und mit Zuschauer_ innen zu teilen. Diesem Vorhaben folgt dann auch die Dramaturgie des Theaterabends: Die Schau­ spieler_innen berichten aus ihrer eigenen Erfahrungsperspektive, machen sich aber auch die ander­er ­ zu eigen und treffen auf ihren Mitspieler Thalfakar Ali, der als aus dem Irak Geflüchteter Lesbos nicht als Rechercheort, sondern als Fluchtstation und Abschreckungsort erlebt hat. (Aufgrund seines laufenden Asylverfahrens war ihm die Mitreise untersagt.)

Bei einem auf Einmaligkeit angelegten Projekt wie diesem geht es um die Konstruktion eines Erfahrungsraumes, der in die Aufführung hinein verlängert wird, wobei er schließlich die Zuschauer_innen mit einschließt. Aber auch vorher finden bereits nicht nur Produktions-, sondern auch zahlreiche Rezeptionsereignisse bei denjenigen statt, die als Gesprächspartner_innen, befragte Expert_innen, Zeitzeug_innen neben dem Autor_innenkollektiv selbst Teil der Recherche werden. Das Recheche­ theater verschiebt demnach den Fokus vom reinen End­produkt hin auf ein erweitertes Verständnis dessen, was Kunst ist – dass nämlich der Prozess der Werkwerdung selbst künstlerischen Charakter hat, eventuell auch als solcher in der Aufführung ausgestellt wird und in jedem Fall aber Teil des Werks ist. In der Konsequenz würde das bedeuten, dass die eigentümliche künstlerische Qualität nicht allein von den Zuschauer_innen beurteilt werden kann; vielmehr müsste sich der Kreis um alle erweitern, die selbst involviert waren und Teil dieses erweiterten Erfahrungsraumes wurden. Blick auf die Ausweitung der Kunstzone Damit plädieren wir nicht für eine Selbstfeier der Theaterbeteiligten, sondern für einen Blick auf die Ausweitung der Kunstzone – auch auf Dynamiken, in denen künstlerische und soziale Prozesse in­ein­ander übergehen und sich im Idealfall fortschreiben, aus dem Theater hinaus ins reale Leben. In der Wechselstube, einem theatralen Begegnungsformat, das auf dem Vorplatz des DT im Frühjahr 2016 Berliner_innen aus aller Welt mit und ohne Flucht­erfahrung zusammen brachte, ging es um genau diese Reichweite von künstlerischen Prozessen: Es fanden sich arabisch-deutsche Sprachtandems zusammen, es wurden Fahrräder, Haarschnitte, gemeinsame Ausflüge, Jobs und neue Theaterprojekte vermittelt. Durch das Theatergeschehen wurden soziale Prozesse in Gang gesetzt, die sich in der Folge viral in anderen Räumen und Zusammen­ hängen fortsetzten. Die Zuschauer_innen wurden schon im Aufführungsgeschehen zu aktiven Teilhabern der Wechselstube, in dem sie jeweils für sechs Minuten von wechselnden Darsteller_innen zu einer Begegnung vis à vis eingeladen wurden. Handel,

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Tausch und Austausch waren im Entwicklungsprozess mit den Darsteller_innen der thematische Ausgangspunkt, von dem aus jede/ jeder eine individuelle Situation erarbeitet hat. Der Rechercheprozess bestand für das künstlerische Leitungs­team Feindel/ Oberhäußer der Wechselstube primär in der Komposition der Gruppe, die maximal heterogen in Alter, Fähigkeiten, Herkunft, Berufen, Handels­erfahrungen, kulturellen Prägungen sein sollte. Und im zweiten Schritt darin, in Zusammenarbeit mit den 45 Darsteller_innen 45 prägnante Austausch-Situationen zu erarbeiten, die bei deren indivi­duellen Kenntnissen und Interessen ansetzten. Die Autorschaft der jeweiligen Szene konnte da­bei sehr unterschiedlich verteilt sein zwischen den künstlerischen Leiter_innen und den Darsteller_innen, von einer durch die Person inspirierten Vorgabe bis hin zur völlig selbstständigen Entwicklung der Spieler_innen. Die Autorschaft demokratisierte und verselbstständigte sich zudem noch dadurch, dass die Darsteller_innen im Entwicklungsprozess immer wieder gegenseitig Proben­publikum waren, sich wechselseitig Feedback gaben und am Ende auch die Möglichkeit hatten, erarbeitete Szenen untereinander auszutauschen. Nachspielbarkeit Ein wesentliches Merkmal von Literatur auf der Bühne ist ihre Nachspielbarkeit. Bei Projekten wie der Wechselstube, 100 % von Rimini Proto­koll oder LEGOtopia von lunatiks entsteht zwar kein nachspielbarer Text, aber eine Formaterfindung, die bestimmte Prozesse initiiert und dafür potenziell eine reproduzierbare Form bereitstellt. Die Wechselstube kann andernorts mit anderen Darsteller_ innen neu inszeniert werden, das Format kann im Sinne des Open-Source-Prinzips zur Verfügung gestellt werden und auf Basis einer „How to make a Wechselstube“– Gebrauchsanweisung einer neuen Autorschaft überantwortet werden. Dass sich der richtige Kontext für eine Zweitaufführung findet, ist ähnlich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie bei einem gelungenen Stück der Gegenwartsdramatik und abhängig vom Zufall und von hartnäckiger PR-Arbeit. Ein Recherchetheaterstück, das ungewöhnlich oft nachgespielt

wurde, ist Das Himbeerreich des Autors, Dokumentarfilmers und Regisseurs Andres Veiel, das als Auftragswerk des DT und des Schauspiel Stuttgart 2013 urauf­geführt wurde. Veiel hatte für seinen Dokumentarfilm Black Box BRD zur gut versiegelten Welt der großen Finanzinstitute Zugang gefunden. Im Rückgriff auf diese Kontakte war es ihm möglich, über ein Jahr lang Gespräche mit ehemaligen und aktiven Banker_innen aus den Führungsetagen zu führen. Generiert wurden an die 1400 Seiten Interview­material, die für den Stücktext von ihm auf 40 Seiten verdichtet wurden. Die Fiktionalisierung des dokumentarischen Materials liegt hierbei in der Schaffung der sechs Protagonist_innen, die sich miteinander in einem fiktionalen Verhandlungsraum befinden. Die Anonymisierung und Fiktionalisierung der Personen und Institutionen hat die künstler­ische Umsetzung überhaupt erst ermöglicht – ein Weg, den ein Dokumentarfilm nicht hätte einschlagen können. Die Fiktionalisierung sucht hier nicht nach einer Literarisierung des Materials, sondern danach, die kodifizierte, hoch spezialisierte und eigen­ tümliche Sprechweise einer Berufsgruppe hörbar zu machen, deren Entscheidungen ungeheuer großen Einfluss auf das Wirtschaftssystem und damit auf das Leben aller haben. Es geht darum, das Sprechen selbst hörbar zu machen und jenseits der medialen Berichterstattung eine, wie Veiel selbst es formuliert, „Binnensicht der Akteure“ zu gewinnen. Rechercheprojekte geben ihren Künstler_innen keine leere Leinwand, auf der sie nach freier Schaffenskraft zu malen beginnen können. Sondern sie stellen eine Art Milchglasscheibe zur Verfügung, durch die man – verschwommen, oft nur in Form von Schatten oder Lichtreflexen – erkennt, dass es jenseits der Malfläche noch eine Wirklichkeit gibt, aus der die Formbildungsprozesse hervorgegangen sind. In Veiels Das Himbeerreich ist noch der Zungenschlag, der Schatten der realen Figuren heraus­zuspüren, und man meint sogar bestimmte Figuren aus seinem Film Black Box BRD wiederzu­ erkennen. Auf Recherche basierende, kunstvoll verdichtete Texte entfalten im besten Fall eine gewisse Trans­parenz. Die Wirklichkeit selbst hinterlässt ihre Spuren darin. Diese Spuren verschwinden aber

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umso stärker, je mehr die Formung überhand nimmt – und dadurch den Text seiner spezifischen Eigen­art beraubt. So könnte man sagen, das Produkt, der liter­ arisch geformte Text von Recherchetheater, fordert eine gewisse Enthaltsamkeit vor dem Primat der literarischen Gestaltung; er muss immer eine feine Grenze suchen und austarieren, nämlich diejenige zwischen künstlerischer Überformung und Nachhall des Wirklichen. Dabei wird bei Recherchetheatertexten immer auf zweierlei gleichzeitig verwiesen: zum einen auf das Reale, das dem Text zugrunde liegt; zum anderen aber auch auf die Entstehung unseres Bildes dieses Realen. Es sind die Vermittlungsprozesse von Wirklichkeit, die immer automatisch mit zum Thema werden – und so transparent werden lassen, dass die Realität nichts schlicht Gegebenes ist, sondern immer kon­struiert werden muss und dass diesem komplizierte, differenzierte Prozesse zugrunde liegen. Aktuell bereitet Andres Veiel zusammen mit der Journalistin Jutta Doberstein, dem DT und dem Humboldt Forum ein Projekt vor mit dem Arbeits­titel Welche Zukunft?!. Es wird um Zukunfts­ szenarien gehen, wie sie von großen Konzernen z. B. im Versicherungsbereich entwickelt werden, um Märkte zu erschließen. Es wird aber zugleich auch um die Zukunft als noch immer intakte indi­ viduelle Projektionsfläche gehen, um die Hoffnung auf Veränderung zum Besseren. Veiel und sein Team planen, die Recherchevorgänge offensiv in den Entstehungsprozess, aber auch in die spätere Aufführungspraxis mit einzubinden.

In vorab stattfindenden Workshops sollen Institute, Expert_innen, Interessierte und ein erstes Publikum gemeinsam Zukunfts-Wissen austauschen und neues gener­ieren. Es sollen Überlegungen angestellt werden, wie eine aktive Teilhabe vieler in das spätere Bühnenge­schehen integriert werden kann. Die Autorschaft wird damit demokratisiert und auf viele Akteure verteilt. Veiel scheint für dieses Projekt eine konsequente Weiterentwicklung der eigenen Recherche-Methoden als Teil des künstlerischen Prozesses zu verfolgen. Vielleicht wird ja großes Theater daraus. An einem Ort wie dem DT, wo großes Literaturtheater und ambi­ tioniertes Recherchetheater höchst undramatisch ko­ex­i­stieren können.

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Ruth Feindel ist Lektorin beim Suhrkamp Theater Verlag und freie Dramaturgin. Am DT hat sie zusammen mit Frank Oberhäußer 2016 die Wechsel­ stube realisiert und zusammen mit Tobias Rausch 2015 die ersten Berliner Recherche­ theatertage kuratiert. Tobias Rausch ist Regisseur und Autor. Seine auf Recherche und Interviews basierenden Stücke hat er an zahlreichen deutschen Theatern entwickelt; sie waren u.a. bei den Autorentheatertagen 2010 und 2011 eingeladen. Er lehrt Recherchetechniken u.a. an der Zürcher Hochschule der Künste, der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Bildende Kunst Braunschweig. Am DT wurden seine Recherchestücke Magic Fonds (2011), Oderbruch (2012) und Fluchtpunkt Berlin (2013) uraufgeführt.


Stücke nüchtern, Prosa betrunken, Lyrik verkatert. Ferdinand Schmalz, ein junger Autor aus Graz, dessen Stücke der herzerlfresser und der thermale widerstand in der Box aufge­führt wurden, schreibt gerade an einem Auftrags­werk für das Deutsche Theater. Fünf Fragen an den Autor.

Du schreibst… …wo? Mein Schreibprozess teilt sich in drei Phasen: In der ersten Phase sitze ich in der Germanistikbibliothek mit Blick auf das Brecht-Regal. In der zweiten Phase, in der ich gerne schon mal leise die Texte mitmurmle, gehe ich ins Kaffeehaus. In der dritten Phase, in der ich laut durchspreche bzw. -schreie, bin ich meist zuhause, da wundern sich nur mehr die Nachbarn.

…was? Grundsätzlich ist es ja so, dass die Texte einen finden und nicht umgekehrt. Dabei muss man als Autor nur eine gewisse Form der Bereitschaft oder Offenheit zeigen, damit sie sich durch einen hindurch schreiben lassen. …warum? Weil noch immer kein besseres Notationssystem für Sprache erfunden wurde als die Schrift.

…wie? Stücke nüchtern, Prosa betrunken, Lyrik verkatert. …wann? Das variiert, manchmal ist es wichtig gleich nach dem Aufstehen anzufangen. Manchmal fange ich erst nach Sonnenuntergang an zu schreiben. Wenn die Abgabefrist näher rückt. Aber meist rund um die Uhr.

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Armin Petras, geboren 1964 in Meschede, Sauerland, siedelte 1969 mit seinen Eltern in die DDR über, wo er von 1985 bis 1987 ein Regie­studium absolvierte. 1988 ging Petras nach West-Berlin. Inszenierungen und Engagements an zahlreichen Bühnen des Landes, von Bedeutung sind besonders die Uraufführungen seiner eigenen Stücke u.a. am Deutschen Theater Berlin, Thalia Theater Hamburg und Schauspiel Leipzig. 2006 – 2013 war Armin Petras Intendant des Maxim-Gorki-Theater. Seit 2013 ist er Schauspielintendant des Staatstheater Stuttgart. Er schreibt sowohl unter seinem Namen als auch unter dem Pseudonym Fritz Kater Theaterstücke und Adaptionen. Seit 2015 läuft sein Stück münchhausen in den Kammerspielen des DT, 2017 wird seine Fassung von Der Hauptmann von Köpenick nach Carl Zuckmayer im DT zu sehen sein. Für das Schauspiel Leipzig adaptierte er gemeinsam mit Ludwig Haugh den Roman Kruso von Lutz Seiler, diese Arbeit ist zu den ATT 2017 eingeladen. ­

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Dea Loher, geboren 1964 in Traunstein/Bayern, hat seit 1989 zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Playwrights Award des Londoner Royal Court Theatre für Olgas Raum; Goethepreis der Mülheimer Theatertage für Tätowierung; Wahl zur Nachswuchsdramatikerin der Jahre 1993 und 1994 in Theater heute; Fördergabe des Schiller Gedächtnispreises von Baden-Württemberg; Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis der Stadt Jena für Adam Geist; 1998 Gerrit-Engelke-Preis der Stadt Hannover für ihr Gesamtwerk; Mülheimer Dramatikerpreis für Adam Geist; 2006 Bertolt BrechtPreis; Mülheimer Dramatikerpreis für Das letzte Feuer und 2009 den Berliner Literatur-Preis der Stiftung Preußische Seehandlung. Ihr Stück Diebe wurde 2009 von Andreas Kriegenburg, mit dem sie eine jahrelange Arbeitsbeziehung verbindet, am DT uraufgeführt und zum Theatertreffen eingeladen. Dort waren zudem zu sehen: 2011 Unschuld in der Regie von Michael Thalheimer, 2012 die Uraufführung Am schwarzen See, inszeniert von Andreas Kriegenburg und 2013 Gaunerstück, eine Koproduktion mit dem Ro Theater Rotterdam, inszeniert von Alize Zandwijk.

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Gespür für die Bühne Theater sind auf eine gute Zusammen­arbeit mit den Verlagen angewiesen. Zeit, einmal die andere Seite zu befragen.

Drei Lektorinnen von Berliner Theaterverlagen im Gespräch: Nina Peters (Suhrkamp Theater Verlag), Anke See (Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb) und Sabine Westermaier (henschel SCHAUSPIEL)

Wie kommt ein Theaterverlag eigentlich zu seinen Autor_innen? Sabine Westermaier: Wir suchen alle an den gleichen Orten, und dort trifft man sich dann auch. Das wären zunächst der Kleist-Förderpreis, die Stückemärkte in Heidelberg, bei den Berliner Fest­spielen oder den Autorentheatertagen. Es gibt inzwischen aber auch viele kleinere Theater, die Autorenpreise ausschreiben, Chemnitz zum Beispiel, oder Essen. Anke See: Von dieser Vorauslese profitieren wir sehr,

weil der „Markt“ an sich kaum noch zu überschauen ist. Jedenfalls kann man als Verlag durch die Wett­ bewerbe auf der nächsten Stufe einsteigen. Nina Peters: Außerdem hat man die Ausbildungsstätten, die Literaturinstitute im Blick. Oder Dramaturg_ innen oder Regisseur_innen, zu denen wir eine gute Verbindung haben, sprechen eine Empfehlung aus. Aber auch unsere eigenen Autor_innen geben uns Hinweise, denen wir dann folgen. Beispiele? Peters: Thomas Köck hat im vergangenen Jahr

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Miroslava Svolikova empfohlen. Und die Begegnung mit Wolfram Höll kam 2012 tatsächlich durch den Heidelberger und den Berliner Stückemarkt zustande, Höll war bei beiden Wettbewerben einge­ laden. Auf diesem Weg landete ein besonderes, Schreibmaschinen geschriebenes Manuskript auf meinem Schreibtisch, von dessen Lektüre ich elek­trifiziert war. Das war sein Stück Und dann. So etwas Berührendes und gleichzeitig Radikales hatte ich noch nicht gelesen. Ich habe über das Literaturinstitut in Biel sofort Kontakt zu Wolfram Höll aufgenommen. Er hat sich Zeit gelassen für seine Entscheidung für den Verlag, wir haben uns intensiv ausgetauscht bevor eine schöne Zusam­ menarbeit begann. Die Partnerschaft zwischen Autor_in und Lektor_in ist also ausschlaggebend? Peters: Die persönliche Beziehung ist die Basis. Relevant ist aber, ob Autor_in wie Lektor_in eine Sprache über Texte entwickeln, die die Autor_innen weiterbringen. Das Vertrauensverhältnis muss stimmen. See: Ich würde es auch umgekehrt beschreiben: Bei der Entscheidung für eine_n Autor_in oder einen Verlag spielt zunächst die persönliche Ebene eine Rolle, die weit über den Text hinausgeht. Denn ob man es zusammen gut macht, kann man eigentlich erst dann sagen, wenn die erste Krise gemeinsam überstanden ist. Und die kommt bei der Dramatik verlässlich. Vertrauen ist etwas Substantielles, aber man muss es sich erarbeiten und sich Zeit dafür lassen. In dieser Hinsicht sind Wettbewerbe eher problematisch, weil die Preisträger_innen plötzlich so in der Öffentlichkeit stehen. Als Verlag muss man einen längeren Atem haben – und als Autor erst recht. Peters: Jüngere Autor_innen denken vielleicht, wenn sie erst einmal bei einem Verlag sind, wird alles gut. Aber es braucht tatsächlich einen langen Atem und zig Gespräche, um eine neue Autorin, einen Autor durchzusetzen, sodass sie nach der zweiten Uraufführung nicht wieder verschwinden. Dafür ist die Konkurrenz zu groß. Bei Suhrkamp nehmen wir deshalb nicht viele Gegenwartsautor_innen im Jahr auf, vielleicht zwei oder drei. Und wenn man jemanden engagiert hat und merkt, die Theater beißen einfach nicht an… Westermaier: Das ist der Punkt, an dem wir alle immer ganz müde werden (lacht), uns zusammensetzen

und über Vertrieb nachdenken. Letztendlich läuft auch hier viel über Kontakte. Wenn ich jemanden am Theater gut kenne und etwas vorschlage, wird das anders wahrgenommen. Peters: Wenn wir trotz persönlicher Gespräche unsere Begeisterung nicht teilen können? Dass keiner anbeißt, passiert nicht oft. Westermaier: Autor_innen durchzusetzen, an die man glaubt, darum geht es. In meinem Fall etwa um so eine starke Stimme wie Katja Brunner. Inzwischen ist sie ziemlich bekannt, sie hat die meisten An­fragen für Aufträge von allen unseren Autor_innen, aber nachgespielt werden ihre Stücke trotzdem kaum. Warum nicht? Altern Gegenwartsstoffe so schnell? Westermaier: Es ist die Lust am Neuen, der Wunsch, eine Uraufführung des Autors xy im Spielplan zu haben. Oft möchten die Theater auch, dass bestimmte Themen für sie bearbeitet werden. Stücke, die es schon gibt, sind dann erstmal hintendran, und das liegt nicht an ihrer fehlenden Welthaltigkeit oder kurzen Halbwertszeit. Peters: Ich habe den Eindruck, dass manche Häuser unbedingt deshalb eine Uraufführung haben wollen, damit die überregionale Presse zur Premiere kommt. Aber auch dort wird inzwischen gespart. Ich glaube, es ist ein Trugschluss, auf diese Weise mittelfristig Aufmerksamkeit bekommen zu wollen. Kann man vom Schreiben fürs Theater leben? Peters: Ein paar Autor_innen können das eine Zeit lang. Aber, wie Sabine Westermaier schon gesagt hat, nachgespielt wird wenig. Und ab einem ge­ wissen Alter stellt sich die Frage nach der Perspektive. See: Vom Schreiben für das Theater zu leben, halte ich bei jungen Autor_innen für fast ausgeschlos­sen. Die meisten bedienen noch ein, zwei andere Medien und Arbeitsgebiete, einige arbeiten außerdem als Regisseure. Und die paar Ausnahmen müssen im Jahr so viel abliefern, dass gerne der Stempel „Vielschreiber“ draufgedrückt wird. Was heißt es für Sie als Lektorinnen, dass der Stücktext immer nur einen Zwischenstand bedeutet, bevor dann eine Inszenierung als eigenes Medium dazu kommt? Peters: Auf dem Papier lassen sich im Lektorat Fragen zur Stimmigkeit von Figuren und Handlung, wenn es sie denn gibt, klären. Zum Rhythmus

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oder der Erzähldramaturgie. Auch bei postdrama­ tischen Texten, die vielstimmig sind und ohne figuren­zentriertes Sprechen auskommen und eher an Prosa denken lassen, muss ich als Leser_in ein Gespür dafür bekommen, dass ein Stück für die Bühne gedacht ist, einer Erzählökonomie folgt, bühnentaugliche Situationen und Bilder bereit­stellt, eine per­formative Sprache. Welche Rolle spielen dabei die Theater? See: Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob es um Auftragswerke geht, die oft zusammen mit den Theatern entstehen, oder um einen Text, den zuerst wir auf dem Tisch haben und dann an den Theatern unterbringen wollen. Außerdem hängt es von den Autor_innen ab, wie intensiv sie Produktionsprozesse am Theater begleiten wollen und können. Jedenfalls ist die textbezogene Zusammenarbeit zwischen Autor und Theater beim Auftrag tend­ enziell intensiver und dominanter. Natürlich denkt man da aus Verlagssicht hinterher manchmal, dass man in diesen oder jenen Prozess hätte stärker eingreifen müssen. Aber eigentlich gibt es zwischen den meisten Verleger_innen, Autor_innen und Theatern ein Grundvertrauen. Und man entwickelt in der Arbeit ein gutes Gespür für die besonderen Qualitäten, die jeder Beteiligte hier einbringen kann und die am Ende zusammen hoffentlich gutes Theater ergeben. Westermaier: Manche Autor_innen sagen, selbst bei der Uraufführung, hier ist mein Text, arbeitet damit; andere brauchen Rücksprache für jedes gestrichene Wort. See: Ich genieße es immer, mit einem Theater zusammenzuarbeiten, das die Autorin oder den Autor schon kennt. Dann sind die Basics geklärt. Alle Beteiligten wissen, wie intensiv der Austausch sein soll und wann ein_e Autor_in auch einmal Ruhe braucht. Und wenn es dann heißt, ich will jetzt mal bitte nichts hören, dann kommt von mir auch nichts. Einerseits vertreten Sie die Autor_innen gegenüber den Theatern, andererseits haben Sie selber Erfahrung als Dramaturginnen. Ist das in der Praxis hilfreich? Westermaier: An erster Stelle bin ich Verlagsfrau und verteidige den Text. Und wenn eine Autor_in eine bestimmte Vorstellung von der Umsetzung hat, dann versuche ich zu vermitteln.

Schmerz­haft ist es immer, wenn in einer solchen Auseinander­setzung die Kommunikation mit dem Theater aufhört. Das habe ich schon öfter erlebt, dass man dann unglücklich in der Premiere sitzt. Hat sich Ihr Verhältnis zum Begriff der Werktreue durch den Seitenwechsel verändert? Westermaier: Was die Uraufführung betrifft, auf alle Fälle. Aber ich habe auch am Theater viele Uraufführungen und Werkaufträge betreut. Deswegen war der Schritt für mich nicht so groß. See: Bei Werktreue geht es ja um Fragen des Urheberrechts, und die sind wie wir alle wissen gerade im Theater sehr komplex. Natürlich stecke ich mittlerweile viel tiefer in der Thematik und vertrete da grundsätzlich die Interessen des Autors. Aber in all den Jahren, die ich schon bei Kiepenheuer arbeite, haben wir uns auch in Problemfällen immer um eine für alle akzeptable Lösung bemüht. Das bleibt auch weiterhin unser Ziel. Es gibt ja durchaus Erfolgsgeschichten, wie zum Beispiel Ulrich Khuons langjährige Zusammenarbeit mit Dea Loher. Gibt es auch für Sie Beispiele solcher mit der Zeit gewachsenen Zusammenarbeit mit Autor_Innen? Westermaier: Für mich ist Felicia Zeller ein Beispiel. Ich bin Anfang der Nuller Jahre, noch als Dramaturgin, nach Hamburg in die Gaußstraße gefahren und habe sie dort für mich entdeckt. Anschließend schrieb sie zwei Stücke für uns am Theaterhaus Jena. Als ich später zum henschel-Verlag gewechselt bin, haben wir uns wieder getroffen. Kaspar Häuser Meer war schon geschrieben und es hat großen Spaß gemacht, wieder mit ihr zu arbeiten. Wir kennen uns jetzt fast 16 Jahre und sind durch die Arbeit an den Stücken und gemeinsame Reisen zu Aufführungen sehr verbunden. See: Ich habe so eine schöne Begegnung z.B. mit Dirk Laucke. Wie kennen uns jetzt rund 10 Jahre, mit vielen schönen Erlebnissen, aber auch mit gemeinsamen Rückschlägen, bei denen man merkte, dass etwas nicht so aufgegangen ist, wie wir uns das vorgestellt hatten. Dirk ist sehr offen für mein Feedback und meinen Rat, genauso wie ich für seine Gedanken und Erfahrungen. So intensiv mit jemandem zusammenarbeiten zu können, daran zu wachsen und sich auch zu verändern, habe ich mir für meinen Beruf immer erträumt.

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Der erste Autor, mit dem ich bei Suhrkamp eine Zusammenarbeit begann, war Konstantin Küspert. Er studierte damals noch an der Univer­si­tät der Künste, und man wusste noch nicht so richtig, wohin das führen wird. Ich habe bei Konstantin eine sprachliche Kraft und eine Lust an einer Formen­vielfalt entdeckt, die mich her­ausgefordert hat, und ein Denken in wissenschaft­lichen, gesellschaft­lichen Diskursen, das mich immer wieder bereichert. Heute ist er, meiner Meinung nach, einer der interessantesten jungen politischen Dramatiker. Wie oft passiert es, dass Sie der Meinung sind, ein Stück gehöre auf die große Bühne, was bei den Theatern aber nicht andocken kann? See: Da kommen wir an den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück. Der Drang zu Uraufführungen führt dazu, dass bei den Auftragsvergaben meist nicht die große Bühne gemeint ist, sondern die kleine oder kleinste Spielstätte, oft mit Vor­ gaben für eine maximale Anzahl an Spielern. Das Repertoire, das dadurch entsteht, lässt sich natürlich nicht einfach auf einer großen Bühne nachspielen. Und das hat Rückwirkungen auf viele Autor_innen. Vielleicht müssten alle Beteiligten noch andere Formen der Zusammenarbeit finden: dass die Theater ihre Aufträge nicht einfach erteilen, sondern dass Phasen der Annäherung möglich sind, in denen die Vorgaben und Wünsche neu beschrieben und entwickelt werden können. Peters: Hier am Deutschen Theater gibt es diese unterschiedlichen Phasen der Annäherung und das Interesse an einer kontinuierlichen Zusammen­arbeit mit zeitgenössischen Autoren. Das ist nicht selbstverständlich. Zur Gretchenfrage bezüglich der großen Bühne: In der Regel werden die Texte zeitgenössischer Autor_innen in kleine Spielstätten eingepfercht, egal, wie groß sie gedacht sind. Sie werden mit jungen Regisseur_innen zusammengebracht, wobei doch die neuen Texte gerade auch erfahrene Regisseur_innen brauchen. Unser Ziel ist es, dass starke Texte, und die gibt es in der deutschsprachigen zeitgenössischen Dramatik nicht nur bei Suhrkamp, vielfach inszeniert werden, und zwar auf der großen Bühne, wenn sie das Potential dazu haben, dass sie wandern und sich einem breiteren öffentlichen Diskurs stellen dürfen. Peters:

Wird das Schreiben wieder politischer? Westermaier: Der Reflex, das politische Geschehen abbilden zu wollen, ist oft sehr schnell und ober­ flächlich. Wir haben im Moment viele Flucht- und Migrationsgeschichten auf dem Tisch, bei denen ich den Eindruck habe, die Autor_innen hatten keine Zeit, in die Tiefe zu gehen. Mich interessiert es mehr, wenn man etwa noch einen Bogen zur Antike schlägt wie das Darja Stocker, Soeren Voima oder auch Volker Braun in ihren Stücken machen. Aber auch bei den Theatern habe ich oft das Gefühl, dass man möglichst schnell auf politische Geschehnisse glaubt reagieren zu müssen. Uns haben während der großen Flüchtlingskrise 2015 viele Dramaturgien angerufen, und ich dachte jedes Mal: „Wenn ihr jetzt das Stück der Stunde wollt, müsst ihr schon einen Auftrag vergeben, aber bis das fertig ist, ist vielleicht schon das nächste Thema virulent.“ Peters: Mich wundert bei der Debatte um politische Theaterliteratur, dass sie oft beim Inhalt endet und bei der Frage, welche Geschichte erzählt wird. Aber mich interessiert schon, wie diese Geschichte erzählt wird, wie Geschichten heute überhaupt erzählt werden können. Dass die Form, die Ästhetik, ein politischer Stachel sein kann, wird bisweilen nicht gesehen. Fragen von Sonja Anders und Juliane Koepp

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Nina Peters, Studium der Neueren deutschen Liter­a­tur und Thea­­terwissenschaft in Berlin und London. 2003 – 2007 Redakteurin der Theaterzeit­schrift Theater der Zeit, ab 2005 als verantwortliche Redakteurin. Seit 2011 Lektorin im Suhrkamp Theater Verlag. Anke-Elisabeth See, nach Regieassistenzen im DEFA–Studio für Spielfilme ab 1985 Studium der Theaterwissenschaft in Leipzig. 1989 – 1999 Dramaturgin am Maxim Gorki Theater und am Hans Otto Theater Potsdam. Seit 1999 Dramatur­gin beim Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb. Vorstandsmitglied vom Verband Deutscher Bühnenund Medienverlage. Sabine Westermaier, nach einem Studium der Neueren deutschen Literatur, Theater- und Medienwissenschaft leitet sie von 2000 – 2004 mit Rainald Grebe und Claudia Bauer das Theaterhaus Jena. 2005 – 2009 arbeitet sie als Dramaturgin am Staatsschauspiel Stuttgart. Seit 2009 Lektorin bei henschel SCHAUSPIEL.


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Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht Anlässlich seines 75. Geburtstages hat Rosa von Praunheim ein Theaterstück geschrieben. Er wird es in der kommenden Spielzeit selbst inszenieren. Wie es zu dem autobiografischen Stück kam, ob Katholiken sonntags schön aussehen und warum Rosa von Praunheim beim Sex neben sich steht, beschreibt er in seinem Essay. Der Titel meines neuen Theaterstückes hat auto­ biografische Ursachen. Erst im Jahre 2000 habe ­­­­­­­­­ich von meiner 94 Jahre alten Mutter erfahren: „Du bist nicht mein Sohn“. Nach dem Tod meiner Mutter fand ich heraus, dass ich im Krieg im Gefängnis von Riga geboren wurde und dass meine leibliche Mutter noch nach dem Krieg in der Psychatrie in Berlin ermordet wurde, von den selben Ärzten, die während der Nazis Euthanasie ausübten. Ich wuchs am Stadtrand von Berlin auf und galt als dummes Kind. In der Schule bin ich dreimal sitzengeblieben und nur die Kunst half mir zu überleben. Ich malte und schrieb schon früh absurde Gedichte, Geschichten und kleine Theaterstücke und Hörspiele. Mein erstes Buch hieß Männer Rauschgift und der Tod und passte nicht in die politische 68-ger Zeit. Mit 17 begann ich intensiv Tagebuch zu führen. Vor einigen Jahren kam mein Buch Rosas Rache heraus, in dem ich Auszüge aus 50 Jahren Tagebüchern veröffentlichte. Seit einiger Zeit beginne ich den Morgen, indem ich ein Gedicht schreibe, dann ein handschriftliches Tagebuch und manchmal ein ausführlicheres auf dem Computer, wo ich auch auf mein Sex­­​leben ­eingehe, auf meine Fressucht, meine Ängste vor Krankheiten und über meine Glücksgefühle immer wieder kreativ sein zu dürfen, Filmideen ­­zu ent­wickeln, Bücher zu planen und Bilder zu malen ­ mit Sternen, Schwänzen und Blumen. Das Inte­ ressante an meinem Beruf ist, dass ich immer mit der Kamera neben mir stehe, also beim Sex sehe ich mich von außen und Konflikte in meinem

Leben sehe ich als Film oder Theaterstück. Nun habe ich das große Glück, dass das DT mein neues Theaterstück angenommen hat. Das würde sicher kein anderes Theater tun, denn meine Stücke sind seltsam. ­ Ulrich Khuon hatte gleich die Idee, mir als Haupt­ darsteller Božidar Kocevski zu schenken. Ein Glücksfall, ein großartiger Komödiant. Er überzeugte mich, seinen Freund, den Musiker Heiner Bomhard an seine Seite zu stellen. Heiner macht die Musik zu den vielen Liedern in meinem autobiografischen Stück. Ich freue mich auf die Uraufführung am 21. Januar 2018. Begeistert war ich von der Bühne der Kammerspiele, die 20 Meter in die Höhe ragt, wo ich bei Missfallen am Schluss leicht Selbstmord machen kann, um damit dem Stück einige Aufmerksamkeit zu verschaffen. In diesem Sinne wünsche ich allen einen schönen Lebensabend, denn jeder Tag kann der letzte sein, drum genießt ihn. Mit einem kleinen Gedicht möchte ich abschließen: Katholiken haben das Glück Dass sie am Sonntag schön aussehen Buddhisten haben das Pech Dass sie lebendig verbrannt werden Und Holländer den Vorteil Dass sie als Tulpen wiedergeboren werden

Gruß Rosa

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... MOLLENHAUER und RONALD schütteln einander die Hände. MOLLENHAUER

Auf den produktiven Dissens also. Ich habe mich bereits mit Ihrer Frau in dieser Disziplin geübt. RONALD

Gab es Streit? MOLLENHAUER

So würde ich das nicht nennen wollen. Wir hatten lediglich einen Disput über „geistige Gesundheit“. RONALD

Und was war da der Streitpunkt? MOLLENHAUER

Sie scheint sich Sorgen zu machen, Ihre Frau. RONALD

Und das beredet sie dann mit Ihnen. MOLLENHAUER

Offensichtlich. RONALD

Aha.

MOLLENHAUER

Was erzählen Sie eigentlich über meinen Sohn herum? RONALD

Nichts. Was soll ich denn erzählen? MOLLENHAUER

Ihre Frau spielte da auf etwas an.

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RONALD

Worauf? MOLLENHAUER

Das frage ich Sie. RONALD

Ich erzähle nichts herum, ich rede mit ihm. Gerade gestern habe ich mit Ihrem Sohn ein offenes Gespräch geführt. MOLLENHAUER

Ach. Und worüber? RONALD

Ihr Sohn scheint sich ein wenig abzukapseln von der Schulgemeinschaft. Solche Meldungen höre ich jedenfalls vermehrt. Da wollte ich ihn einladen, mir zu erzählen, was da vor sich geht. MOLLENHAUER

Und was geht da vor sich? RONALD

Ich würde sagen, er nimmt die Realität des Netzes ernster als die, die ihn in Wahrheit umgibt. MOLLENHAUER

Wie kommen Sie auf so was? RONALD

Durch das, was er sagt. MOLLENHAUER

Ein Hohn, wie du hektisch scheißt, was du knallst. RONALD

Bitte?


MOLLENHAUER

Sie haben mich verstanden. RONALD

Nein.

MOLLENHAUER

Mein Sohn ist ein kritischer Geist, das ist alles! RONALD

Sicher, deshalb fordere und fördere ich ihn auch besonders. MOLLENHAUER

Wir sind eine kritische Familie, die sich vom Mainstream nicht alles sagen lässt. Und hüten Sie sich, ihn in der Impffrage beeinflussen zu wollen. Die Impffrage steht exemplarisch. RONALD

Das Impfen ist keine Pflicht, Herr Mollenhauer, es ist eine Empfehlung. Es dient der Vorbeugung. MOLLENHAUER

Ihre Argumente waren auch schon mal gedrechselter. RONALD

Bitte?

MOLLENHAUER

Ihre Argumente waren auch schon mal gedrechselter. RONALD

Vielleicht. MOLLENHAUER

Das Impfen ist die Pest. Sie lösen dadurch kommende Seuchen aus. Das wissen Sie nur nicht.

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RONALD

Wir müssen mit dem arbeiten, was wir wissen. MOLLENHAUER

Sie wissen mehr, als Sie zugeben. Irgendwas führen Sie im Schilde. Hören Sie auf, meinen Sohn zu indoktri­ nieren. Ich warne Sie. Sie bestimmen nicht, was Realität ist und was nicht. RONALD

Sie sind doch nur ein Spinner. MOLLENHAUER

Was?

RONALD

Ich hab doch keinen Schimmer. Von Ihrem Sohn. MOLLENHAUER

Sie haben etwas anderes gesagt. Ich hab’s genau gehört. Etwas stimmt mit Ihnen nicht, Rupp. Ich rieche das, wie damals bei meinem Erzieher Herrn Swoboda. Der redete auch so, so schillernd, nicht ganz hier und nicht ganz da. Und wenn Sie so weitermachen, recherchiere ich mal los. Es gibt da ein paar hochpotente Facebook-Tools, die Vergangenheit betreffend. Nur, weil Sie jetzt Direktor werden, sind Sie lange nicht sakrosankt. Im Gegenteil, Rupp, ganz im Gegen­ teil. Schönen Tag noch. MOLLENHAUER ab. RONALD atmet durch. ...


Versetzung von Thomas Melle (Ein StĂźckauszug)


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Autorentheatertage 14. – 24. Juni 2017 DIE LANGE NACHT DER AUTORINNEN DREI URAUFFÜHRUNGEN

DIE GASTSPIELE

23./24.6. Deutsches Theater in Kooperation mit der UdK Berlin YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB von Sivan Ben Yishai

8.6. ATT VORGLÜHEN Burgtheater Wien DIE WELT IM RÜCKEN nach Thomas Melle

23./24.6. Koproduktion Schauspielhaus Zürich und Deutsches Theater WELCHES JAHR HABEN WIR GERADE? von Afsane Ehsandar 23./24.6. Koproduktion Burgtheater Wien und Deutsches Theater KARTONAGE von Yade Yasemin Önder

14./15.6. Münchner Kammerspiele POINT OF NO RETURN von Yael Ronen & Ensemble 14.6. Theater Rampe & backsteinhaus produktion, Stuttgart PARADIES FLUTEN (VERIRRTE SINFONIE) von Thomas Köck 14./16.6. Nationaltheater Weimar MELKEN / DER HALS DER GIRAFFE von Jörn Klare / Judith Schalansky 15.6. Schauspiel Köln, NachSpielPreis Heidelberger Stückemarkt 2016 FURCHT UND EKEL. DAS PRIVATLEBEN GLÜCKLICHER LEUTE von Dirk Laucke 16.6. Staatstheater Nürnberg LINKE LÄUFER (ERSTER SEIN) von Albert Ostermaier

MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG

MEDIENPARTNER

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17./18.6. Burgtheater Wien EIN EUROPÄISCHES ABENDMAHL von Nino Haratischwili, Elfriede Jelinek, Terézia Mora, Sofi Oksanen 17./18.6. Burgtheater Wien DIE HOCKENDEN von Miroslava Svolikova 18./19.6. KonzertTheaterBern MONDKREISLÄUFER von Jürg Halter 21.6. Schauspiel Leipzig KRUSO nach dem Roman von Lutz Seiler von Armin Petras und Ludwig Haugk 21.6. Schauspielhaus Wien DIESE MAUER FASST SICH SELBST ZUSAMMEN UND DER STERN HAT GESPROCHEN, DER STERN HAT AUCH WAS GESAGT von Miroslava Svolikova


Impressum: Herausgeber: Deutsches Theater Berlin, Schumannstraße 13a, ­10117 Berlin, Intendant: Ulrich Khuon, Geschäftsführender Direktor: Klaus Steppat, Redaktion: Sonja Anders, Juliane Koepp Gestaltung: Julia Kuon, Sabine Meyer, Fotos: Katja Strempel, Foto Seite 52: Arno Declair Illustrationen, Artwork / Handwriting: Tom Mason, tommason.eu Druck: ELBE Druckerei Wittenberg GmbH Auflage: 5.000

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Öl von Lukas Bärfuss Verminte Zone von Pamela Dürr rose oder liebe ist nicht genug von Fritz Kater

JFK von René Pollesch Diebe von Dea Loher Taking Care of Baby von Dennis Kelly Beaten von Ailís

Ní Ríain DNA von Dennis Kelly Das letzte Feuer von Dea Loher Für alle reicht es nicht von Dirk Laucke

Schwarzes Tier Traurigkeit von Anja Hilling Hikikomori von Holger Schober Bakunin auf dem Rücksitz

von Dirk Laucke Kein Schiff wird kommen von Nis-Momme Stockmann Warteraum Zukunft von

Oliver Kluck Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes von Roland Schimmelpfennig Nur Nachts von Sibylle Berg hamlet ist tot. keine schwerkraft von Ewald Palmetshofer Der Heiler von Oliver

Bukowski Türkisch Gold von Tina Müller Die Ängstlichen und die Brutalen von Nis-Momme Stockmann Über Leben von Judith Herzberg Tape von Stephen Belber Die vier Himmelsrichtungen von Roland

Schimmelpfennig Winterreise von Elfriede Jelinek Blinde Punkte Sterne von Matilda Onur Unschuld

von Dea Loher Du bist dabei! von Holger Schober Das Ding von Philipp Löhle Jochen Schanotta von Georg Seidel Die Kommune von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov Der Goldene Drache von Roland Schimmelpfennig er nicht als er von Elfriede Jelinek Verbrennungen von Wajdi Mouawad Muttersprache Mameloschn von Sasha Marianna Salzmann Demokratie von Michael Frayn Ihre

Version des Spiels von Yasmina Reza Am Schwarzen See von Dea Loher Tilla von Christoph Hein Habe ich dir eigentlich schon erzählt... von Sibylle Berg Carmen Kittel von Georg Seidel Das Himbeerreich

von Andres Veiel Ich denke an Yu von Carole Fréchette Burn Baby Burn von Carine Lacroix In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge Wastwater von Simon Stephens Hieron. Vollkommene

Welt von Mario Salazar Yellow Line von Charlotte Roos und Juli Zeh Brandung von Maria Milisavljevic

Leerlauf von Rik van den Bos Gift von Lot Vekemans In der Republik des Glücks von Martin Crimp Aus der Zeit fallen von David Grossman Alltag & Ekstase von Rebekka Kricheldorf Schutt von Dennis Kelly

Dieses Kind von Joël Pommerat Der Freund krank von Nis-Momme Stockmann Ismene, Schwester von

von Lot Vekemans Tag der weißen Blume von Farid Nagim Und auch so bitterkalt von Lara Schützsack Monster von David Greig Land der ersten Dinge / Bludičky von Nino Haratischwili Die lächerliche

Finsternis von Wolfram Lotz Constellations von Nick Payne Gaunerstück von Dea Loher Unerträglich

lange Umarmung von Iwan Wyrypajew Immer noch Sturm von Peter Handke Jede Stadt braucht ihren

Helden von Philipp Löhle Archiv der Erschöpfung von Sascha Hargesheimer Szenen der Freiheit von Jan

Friedrich münchhausen von Armin Petras Wintersonnenwende von Roland Schimmelpfennig Drei Hunde Nacht von Ofira Henig und Ensemble Back to Black von Auftrag : Lorey Terror von Ferdinand von

Schirach der herzerlfresser von Ferdinand Schmalz Nora von Armin Petras nach Henrik Ibsen Wodka-Käfer

von Anne Jelena Schulte Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoß­stangen zu ernähren nach Antonia Baum 2 Uhr 14 von David Paquet Unterwerfung nach

Michel Houellebecq Gespräch wegen der Kürbisse von Jakob Nolte BUCH.Berlin (5 ingredientes de

la vida) von Fritz Kater der thermale widerstand von Ferdinand Schmalz Walls – Iphigenia in Exile von

Mario Salazar und Ensemble Kuffar. Die Gottesleugner von Nuran David Calis Das Fest von Thomas

Vinterberg und Mogens Rukov 10 Gebote von Maxim Drüner (K.I.Z)/Juri Sternburg, Sherko Fatah, Nino

Haratischwili, Navid Kermani, Bernadette Knoller/Anja Läufer/Claudia Trost, Dea Loher, Clemens Meyer,

Rocko Schamoni, Jochen Schmidt, Jan Soldat, Mark Terkessidis, Felicia Zeller Lesbos – Blackbox Europa

von Gernot Grünewald und Ensemble WUT von Elfriede Jelinek Auerhaus von Bov Bjerg YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB von Sivan Ben Yishai

Theater der Autoren 2009 – 2017


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