KUNST ALS WAFFE
Mit einem Länderschwerpunkt Ukraine geht das internationale Festival RADAR OST am Deutschen Theater Berlin dieses Jahr in die fünfte Runde.
Ein Jahr nach dem 24. Februar 2022 liegt der künstlerische Fokus auf dem Krieg mitten in Europa. Eingeladen sind vom 8. bis 12. März 2023 eine Uraufführung sowie fünf Gastspiele und Kooperationen aus der Ukraine, Belarus, Georgien und Slowenien.
Infolge des Krieges gingen viele ukrainische Künstler:innen ins Ausland. Sie haben ihre Heimat nicht nur auf der Suche nach Sicherheit verlassen, sondern auch um die Ukraine und die ukrainische Kultur von Westeuropa aus zu unterstützen. Darunter auch Tamara Trunova und Vlad Troitskyi, zwei prominente Vertreter:innen des ukrainischen Theaters, die aktuell in Paris und Berlin leben.
Mit der Uraufführung von Ha*l*t und der Berlin-Premiere von Danse Macabre bilden ihre Produktionen neben Human? von den Theatermacher:innen mariia&madgdalyna den Länderschwerpunkt Ukraine des Festivals am Deutschen Theater. Über die Frage: „Was ist die Aufgabe von Theater im Krieg?” hat die Journalistin Anastasia Magazova mit ihnen gesprochen.
DIE WELT IST KLEIN GEWORDEN, DAS THEATER GROSS
Tamara Trunova, seit dem russischen Großangriff arbeitet das Left Bank Theatre in Kyjiw unter anderen Bedingungen. Die Schauspieler:innen sind an verschiedenen Orten – einige in der Armee, andere im Ausland, wie Sie selbst. Wie verändert der Krieg das ukrainische Theater und seine Künstler:innen?
TT: Für mich hat das Theater jetzt eine neue Form der Verantwortung bekommen. Die Welt um uns herum ist klein geworden und das Theater ist groß geworden. Das Left Bank Theatre ist sehr aktiv. Jetzt im Februar haben wir 24 Veranstaltungen durchgeführt. Wir zeigen nicht nur das aktuelle Repertoire, sondern übersetzen auch Stücke ins Ukrainische und haben eine Premiere herausgebracht. Ich lebe mit meinem Kind außerhalb der Ukraine, aber erfülle immer noch meine Aufgaben an meinem Heimattheater. Mehr als zehn Mitarbeiter:innen unseres Theaters verteidigen die Ukraine mit der Waffe. Sie halten die Frontlinie, wir halten das Theater.
Vlad Troitskyi, zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine entstanden mehrere kulturelle Initiativen, darunter „Art Front”. Was ist das Ziel dieser Initiative?
VT: Hauptaufgabe der „Art Front” ist es, kulturelle Veranstaltungen mit Bezug zur Ukraine zu organisieren. Inzwischen sind es mehr als
200 auf der ganzen Welt, von Europa über die USA bis nach Südamerika. Neben Konzerten und Theateraufführungen kommunizieren wir mit unserem Publikum und den Journalist:innen intensiv über die Ereignisse in der Ukraine. Es ist sehr wichtig für uns zu zeigen und zu erzählen, was wirklich in der Ukraine passiert. Die Nachrichten langweilen die Menschen allmählich, also bleibt die Kultur als eine der wenigen Möglichkeiten der direkten Kommunikation mit der Öffentlichkeit und der Politik. Indem wir eine emotionale kulturelle Komponente hinzufügen und die Kunst als Waffe einsetzen, vermitteln wir unsere Botschaft und Position.
Wie schwierig ist es für Sie beide jetzt, wo Sie im Exil leben, Theater zu machen?
TT: Jetzt ist alles für alle schwierig. Mein Kind und ich sind in Sicherheit, aber meine Familie, die Menschen, die ich liebe, mein Land, sind nicht hier. Es fällt mir schwer, mir selbst die Erlaubnis zu geben, Theater zu machen und überzeugende Argumente für mich zu finden, dass es notwendig ist. Deshalb bin ich allen dankbar, die der Ukraine auf die eine oder andere Weise helfen. Und denen, die mir die Möglichkeit geben, mich durch meinen Beruf neu zu erfinden. Das hält mich in Bewegung.
VT: In diesem Jahr sind mein Team und ich ständig unterwegs, da bleibt gar keine Zeit
zum Abschalten. Auf der einen Seite gibt es die Prosa des Lebens – irgendwie arrangiert man sein Leben – auf der anderen Seite träumt jede:r davon, nach Hause zu kommen. Wir planen jetzt fünf Konzerte in der Ukraine. Das ist der Weg, den wir gewählt haben. Dies ist auch eine Front, die natürlich nicht mit der realen zu vergleichen ist, wo jeden Tag Städte bombardiert werden, aber das ist jetzt unsere Mission.
TT: Jetzt haben wir als Theater eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Ich hoffe, dass die Zeit, die wir jetzt erleben, eine Zeit der Stärkung und Verstetigung unserer Verbindungen mit den internationalen Partner:innen sein wird. Bewusste Verbindungen, die von der Ebene der humanitären Hilfe auf die künstlerische Ebene wechseln – zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe. Zweifellos erfordert dies auch die Beteiligung des Staates.
Vlad, Sie sagten, dass Sie Kultur als Waffe einsetzen. Kann Kultur eine Waffe sein?
VT: Das war schon immer der Fall. Nur leider haben wir in der Ukraine nicht immer verstanden, wie wichtig die Kultur als „Soft Power” ist, um das Bild einer modernen Ukraine zu prägen. Deshalb ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, diese Lücke jetzt zu füllen. Auch wenn leider nicht viele ukrainische Projekte nach dem ersten Hype auf der internationalen
Bühne bleiben, gibt es eine Sprache, die das westliche Publikum erreichen kann. Es ist die Sprache der Kultur.
Inwieweit stimmen Sie mit der These überein, dass derzeit auch ein Kulturkrieg im Gange ist?
VT: Natürlich ist das so. Im Sommer sagte Mikhail Piotrowski, der Direktor der Eremitage in St. Petersburg, ganz offen, alle Ausstellungen, alle Konzerte und Aufführungen, die Russland vor der großen Invasion in der Ukraine organisiert hat, seien die Essenz der „Sonderoperation” Putins. Er nannte sich selbst einen Militaristen und einen Imperialisten. Und jetzt findet ein konformistisches Spiel statt: Der Mythos des „guten“ Russen und der „großen russischen Kultur“ wird in der europäischen und allgemein in der westlichen Gesellschaft sehr ernsthaft kultiviert. Und man muss ihn genauso ernsthaft bekämpfen, denn es ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Unsere Position ist Nulltoleranz gegenüber dem Bösen. Hier sind keine Kompromisse und kein Konformismus erlaubt.
Spüren Sie eine kulturelle Korruption durch Russland im Ausland?
VT: Natürlich existiert sie. Menschen, die an der Organisation von Ausstellungen, Konzerten, Aufführungen und Tourneen russischer Projekte beteiligt waren, sind bewusst oder unbewusst Agenten eines solchen Einflusses. Es ist jedoch wichtig, dass wir in erster Linie über uns selbst sprechen und klarstellen, dass die Ukraine ein Held und kein Opfer ist. Was jetzt geschieht, ist erschreckend, es ist sehr tragisch. Aber es gibt Liebe, es gibt Kreativität in uns und in unserer Gesellschaft, in unserer Kultur. Wenn sich also die Frage stellt, was Freiheit in der modernen Welt bedeutet, ist die Antwort einfach – es ist die Freiheit, für die unsere Männer und Frauen jetzt an der Front und die Zivilist:innen in den Städten sterben. Dies sind keine abstrakten Konzepte mehr. Wir sagen, dass die westliche Welt eine Welt der Freiheit und der Demokratie ist, aber wir vergessen oft, dass die Freiheit verteidigt werden muss, dass Freiheit eine Verantwortung ist, dass Freiheit immer ein Risiko darstellt. Und für all das müssen wir gemeinsam kämpfen.
In Europa ist oft von Versöhnung durch Kunst die Rede. Was halten Sie von diesen Versuchen?
VT: Meiner Meinung nach ist jeder Dialog im Moment unangemessen. Das ist so, als würde man die Eltern eines vergewaltigten Mädchens und die Eltern eines Vergewaltigers an einen Tisch setzen und sie bitten, über Freiheit zu sprechen. Der Krieg wird enden, der Prozess wird in Den Haag stattfinden. Wenn es Reue gibt, dann können wir versuchen, einen Dialog zu beginnen. Heute gibt es dafür keinen Platz.
(Fortsetzung auf Seite II)
Tamara Trunova, Ihr Stück, das Sie für das RADAR OST-Festival vorbereiten, heißt Ha*l*t und wurde aus dem Stück Hamlet entwickelt, an dem Sie bis zum 24. Februar 2022 gearbeitet haben. Was kann das Publikum bei der Uraufführung am 8. März am Deutschen Theater erwarten?
TT: In dem Projekt geht es um Verluste, über die man heute nicht gern spricht, um immaterielle Verluste: Pläne, die wir in unseren Köpfen hatten, unerfüllte Konzepte, nicht umgesetzte Strategien. All dies muss thematisiert werden und die entsprechende Diskussionsplattform erhalten wir durch Festivals wie RADAR OST. Wir versuchen, die Reaktionen unserer kreativen Organismen auf die neue Situation zu reflektieren.
Wir begannen mit den Proben für Hamlet in Kyjiw und die Großinvasion unterbrach unseren Prozess. Ha*l*t ist Hamlet ohne „me“, also ohne „mich“. Wenn Sie „me” aus Hamlet herausnehmen, wird daraus Ha*l*t. Die Aktion findet in diesem surrealen Korridor einer neuen Existenz statt, in dem wir versuchen, einen Text und uns selbst zu finden. Es wird eine subjektive theatrale Aussage über uns –eine Schauspielgruppe und eine ukrainische Regisseurin – sein und definitiv kein Versuch, zu gefallen oder Erwartungen zu erfüllen. Es ist wichtig, welche Art von Raum wir schaffen, was wir in diesem Raum erschaffen, wo wir gehört werden und welche Antworten wir erhalten. Die Aufgabe des Publikums ist es, diesen Raum mit eigenen Gedanken, eigenen Ängsten und ihrer eigenen Neugier zu füllen. Ich freue mich auf die Qualität dieser Interaktion.
Vlad Troitskyi, Sie sprachen vorhin von der kulturellen Korruption Russlands im Ausland. Wo liegt für Sie die Grenze zwischen Kunst und Propaganda? Wie vermeiden Sie es, diese Grenzen zu überschreiten?
VT: Ich denke, Propaganda findet statt, wenn Begriffe ausgetauscht werden, wenn destruktive Narrative gebildet werden, wie die russische Welt das tut. Unsere Stärke hingegen liegt in der Wahrheit. In der Politik hat Selenskyj damit begonnen, die Wahrheit direkt auszusprechen und diplomatische Doppelzüngigkeit vermieden. Für das westliche politische Establishment war das ein Schock, aber es funktioniert. Das Gleiche gilt für das Theater. Man spielt nicht, man zeigt das wahre Leben. Du erzählst deine Geschichte, du musst nicht schauspielern. Und so spürst du dein Recht, echten Schmerz und echte Liebe.
Wie wird sich das ukrainische Theater nach dem Krieg verändern?
TT: Man kann nicht sagen, dass die Ukraine ein Theaterland ist. Leider ist das Theater hier keine Institution. Dafür gibt es mehrere Gründe, aber der wichtigste ist, dass das Theater nicht als einflussreicher Akteur auf dem Gebiet der Sinngebung anerkannt ist. Die Marginalisierung des Theaters ist das Ergebnis mangelnder staatlicher Verantwortung, mangelnder Transparenz und einer geistigen Korruption der Theaterschaffenden selbst. Ich hoffe, dass ich im Frühjahr nach Hause zurückkehren kann. Ich hoffe, dass ich weiterhin Theater machen werde. Heute arbeite ich einfach weiter und danke allen, die uns beschützen und allen, die uns helfen. Slawa Ukrajini!
Die Ukrainierin TAMARA TRUNOVA arbeitet seit 2011 als Regisseurin am Left Bank Theatre in Kyjiw, dessen künstlerische Leiterin sie seit 2019 ist. Das 1979 auf der linken Seite der Dnipro gegründete staatliche Theater konzentriert sich auf Gegenwartsdramatik, starke Regiehandschriften, gesellschaftlich relevante Themen und versteht sich als Zentrum der kulturellen Diplomatie. Tamara Trunova ist mit mehr als 30 Produktionen in der Ukraine und im Ausland eine der bedeutendsten Vertreterinnen der neuen Generation ukrainischer Theater-und Opernregisseur:innen. Sie wurde mit zahlreichen Theaterpreisen ausgezeichnet, darunter der TarasSchewtschenko-Preis, die höchste Auszeichnung der Ukraine für Kunst und Kultur. Im Deutschen Theater wurde bei RADAR OST 2020 ihre Inszenierung Bad Roads erstmalig in Deutschland gezeigt. Im Rahmen des Ukrainischen Theatermonats in Europa, der durch die „Ukrainian Artistik Task Force“ ins Leben gerufen wurde, war die Inszenierung in Polen, Lettland, Litauen, der Schweiz und Tschechien auf vielen Festivals zu sehen sowie beim „Radikal jung“ Festival in München. Ihre HamletÜberarbeitung Ha*l*t kommt als Kooperation des Left Bank Theatre mit dem Deutschen Theater Berlin zum Festivalauftakt von RADAR OST am 8. März zur Uraufführung.
VLAD TROITSKYI ist ein ukrainischer Theaterschauspieler, Regisseur und Dramatiker, Gründer und Präsident des internationalen multidisziplinären Festivals GogolFest in der Ukraine. Er schuf das erste unabhängige Zentrum für moderne Kunst in der Ukraine, DAKH, ist künstlerischer Leiter der Gruppe Dakha Brakha, des Freak-Kabaretts Dakh Daughters, des Puppenkabaretts
ЦЕШО und des Projekts NOVAOPERA. Seit dem Euromaidan vor neun Jahren hat sich die ukrainische Musik- und Performancegruppe Dakh Daughters aus Kyjiw mit ihren virtuosen CrossGenre-Kompositionen zwischen Ethno, Punk, Cabaret und Vaudeville weltweit einen Namen gemacht. Beim RADAR OST-Festival präsentieren sie das im französischen Exil entstandene Stück Danse Macabre.
ANASTASIA MAGAZOVA ist eine ukrainische Journalistin und Buchautorin, die seit 2019 in Berlin lebt. Seit 2013 schrieb sie unzählige Reportagen über die Ukraine, u. a. für die taz. Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, reiste sie sofort von Berlin nach Kyjiw. Seitdem veröffentlicht die taz regelmäßig ihre Berichte aus den Frontstädten im Süden, Osten und Norden des Landes.