— 19 — essay
Und genau dieser Moment könnte der Einbruch der Schönheit sein Robin Detje über Gegenwartsdramatik
Über Gegenwartsdramatik soll ich schreiben, und das ist ja schon mal sehr schwierig – Gegenwart. Ich sitze in einem Dorf in Umbrien, in einem dreißig Jahre alten Haus im Tal mit Blick auf den Turm der mittelalterlichen Kirche auf dem Hügel. Vergangenheit und Gegenwart, da tut sich sofort eine ziemliche Schere auf. Und ich bin jetzt auf Twitter. Ich sitze im umbrischen Tal und twittere die Veröffentlichung des CIA-Folterberichts live auf dem Smartphone mit. Wobei die Mitteilung „Ich bin jetzt auf Twitter“ zwei
— 20 — Robin Detje
Reaktionen zeitigt, die mich beide aus mei- wird, wie er dessen Macht spiegelt und stärkt. ner unmittelbaren Gegenwart rauskanten wol- Diese Vergangenheit ist nicht lange her. Noch len. Die eine: Du hast Twitter entdeckt? Jetzt? vor dreißig, vierzig Jahren gab es bei uns eine Ende 2014? Das ist ja unfassbar opahaft, zum Generation, die sich unter anderem auch über Schießen, ich schmeiß mich weg. Die andere: gemeinsame, in solchen Hierarchien entstanTwitter? Was ist das? Muss das sein? Verblödung dene Theatererfahrungen definiert hat. der Jugend, Ende des Abendlandes, endgültiger Und heute? „Im Theater kann man zur Zeit Kulturverfall, etc. pp. Theaterstilen und Repräsentationsformen sozuDa tut sich sofort eine ziemliche Schere auf, sagen auf offener Bühne beim Vermodern zuseviel weiter gespannt als die zwischen dem Haus hen“, sagte kürzlich die Nachtkritikerin Esther vom Ende des vergangenen Jahrhunderts und Slevogt in einem sehr klugen Vortrag. Wobei mir der mittelalterlichen Kirche, die ja wenigstens „Vermodern“ noch zu romantisch klingt. Ich sehe beide aus Stein sind. Auf welche Gegenwart wol- sie eher sich selber in Aktenordner ablegen. len wir uns einigen? Oder anders gefragt: Wer ist Denn die Verordnung der Obrigkeit über den die Zielgruppe für unser Produkt, die Gegen- bürokratischen Akt des Theatervollzugs ist ja wartsdramatik? (Für ein Produkt, noch gültig. Obwohl uns so undas viele Zwecke verfolgt – neWenn nichts mehr gefähr alles abhanden gekomgeht, geht ben dem der Aufklärung und Ermen ist, was den Wasserkessel eigentlich alles. leuchtung des Publikums zum Theater einmal zum Pfeifen gebracht hat – der Blick nach Beispiel auch den, das Überleben der Institution Theater zu sichern. Das ist oben, die Selbstverständlichkeit des Zusammenganz schön viel Auftrag.) kommens als Gemeinde, die Bereitschaft, uns Vergangenheitsdramatik war so: Sprachlich Identität stiften zu lassen von kirchenartigen Inauf Erhabenheit gebürsteter Text wird eingefüllt stitutionen. Und nun macht mal, ihr Gegenwartsin eine kirchenartige Struktur und Menschen zur dramatiker! Holt das Stöckchen! Neulich: Autorentheatertage, Deutsches Darbringung auf einem Bühnenaltar eingebläut, vor dem sich zur kollektiven Erbauung ganz Theater Berlin. Es kam zum Vortrag eines Theaselbstverständlich eine Gemeinde versammelt. tertextes, der auf poetische Weise eine SehnDer Blick ist nach oben gerichtet, durch die Kör- sucht nach der geschlossenen Form artikulierte. per der Schauspieler auf deren Gott, den Regis- Eine studierte Gegenwartsdramaturgin beugte seur (immer männlich!), durch ihn hindurch auf sich zu mir: „Das macht man heute nicht mehr so. den Textgott, mit dem er ringt; halb über, halb Heute macht man Textflächen.“ Akademischer neben allen thront Gottvater, der Intendant, der Betrieb lehrt das autoritäre Durchsetzen von von seinem Fürstenmäzen in dem Maße belohnt Gegenwartsmoden? Fröstel! Vielleicht er-
— 21 — essay
klärt der normative Furor mir mein Gähnen vor mancher Textfläche: Das macht man heute so. Kein geniekultmäßiges „Ich musste das schreiben!“ oder „Es hat sich aus mir herausgeschrieben!“, sondern: Das macht man heute so, gemäß postdramatischer Textflächendirektive vom 3. März 1998 nebst beiliegenden Durchführungsbestimmungen. Dabei hat die offene Form längst ihre eigene Geschlossenheit produziert. Die Postdramatik schnarcht nächteweise auch schon ganz schön laut und ein schlechtes „Projekt“ ist nicht besser als ein schlechtes Stück. (Wobei die Diskursprojekte der freien Szene, zu denen sich Künstler und Publikum egalitär versammeln, um ganz ohne Schwellenangst tagesaktuelle Themen durchzunehmen, auf rührende Weise an die staatliche Fürsorge erinnern, die uns im Neoliberalismus abhanden gekommen ist: Diskurs-Schluckimpfung auf dem Gesundheitsamt, Geruch nach Bohnerwachs. Wiedergänger. Aber das wissen sie nicht, die Projekte, sie sind sich selbst im Grunde fremd.) Wenn nichts mehr geht, geht eigentlich alles. Fallhöhe ist da, wo es misslingen muss, wo das „richtig Machen“ nicht funktioniert, weil die rettende Verunsicherung zu groß ist. Theatergenuss ist da, wo man sehen kann, wie es auf kunstschöne Weise nicht gut gehen kann. Auf dem Theater würde ich deshalb heute vielleicht gerne Gegenwartsschauspieler sehen, Textflächenbewohner, die geschlossene Form probieren, Shakespeare, Kleist, Noël Coward in tiefem Kirchgängerernst, und es auf schöne Weise nicht können. Oder Vergangenheitsschauspieler, die mit
ihrer gesammelten Geschlossenheitssehnsucht aus dem inneren Theatermuseum ins Offene kommen, auf die Textfläche, und zum ersten Mal twittern. Der Mittelweg bringt den Theatertod. Die Parole: Das muss jetzt einfach weiter durchgezogen werden, als gäb‘s kein Heute. Die Anbiederung in den mittelguten Texten: Guckt mal, ich kann sogar Jugendsprache! Guckt mal, ich kann auch Internet, bei mir gibt es die Themen von heute! Die Ästhetik der Schwäche. Die Angst vor dem Kürzungsmesser der Kulturpolitik, der Rechtfertigungsquotendruck. Generell das Geduckte, die hässliche Ratlosigkeit. Statt der schönen Ratlosigkeit, dem Stolz darauf, dem Genuss an der Verwirrung. Bis dieser Genuss spürbar wird, wäre „Die Dramatik sitzt schweigend auf der Bühne und wartet auf die Gegenwart“ vielleicht nicht das schlechteste Stück. Oder: „Das Theater geht auf Textflächen eislaufen.“ Wobei man auch einbrechen kann. Und genau dieser Moment könnte der Einbruch der Schönheit sein. Der Autor auf Twitter: @robindetje Robin Detje, Jahrgang 1964, war Feuilletonist und Kritiker unter anderem bei der ZEIT und der Süddeutschen Zeitung. Als Übersetzer erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse. Er ist Teil der Berliner Performancegruppe bösediva. http://www.boesediva.de