Interview mit nora schlocker

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Sie geht mitten durch uns durch, die Grenze. Ein Gespräch mit der Regisseurin Nora Schlocker

Virginia Woolf sagt, die ALICE-Bücher seien keine Bücher für Kinder, sondern die einzigen, in denen wir zu Kindern werden. Wen spricht die Inszenierung wie an? Nora Schlocker

Ich hoffe, jeden, der sie sieht, auf

andere Weise. Die Welt da draußen ist ja auch nicht sortiert in eine Welt für Kinder und eine für Erwachsene. Carroll haderte sein ganzes Leben mit dieser Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, weil er sich in diesem Dualismus nicht einzusortieren wusste. Die Inszenierung ist ein Abend über Identität und im besten Fall findet die Identifikation zwischen den Zuschauern und Spielern so intensiv statt, dass man mit ihnen fühlt, abgestoßen wird, den Spiegel vorgehalten bekommt, sich wundert, ihnen nah ist. Egal, wie alt man ist.

Bei ALICE gab es über 150 interessierte Kinder und Jugendliche. Mit welchen Kriterien stellt man da ein Ensemble zusammen? Offen hinschauen und, wie sonst auch, sich in Spieler ‚verlieben‘. Und wichtig war uns eine möglichst heterogene Gruppe mit unterschiedlichen, starken Persönlichkeiten und eine große Altersspanne. Ich habe zu Beginn alle Interessenten gebeten mir einen Brief zu der Frage „Wer bist du?“ zu schreiben, um sie kennen zu lernen. Lewis Carroll hat viele Brieffreundschaften gepflegt mit Kindern, sie sind veröffentlicht unter dem Titel Briefe an kleine Mädchen. Die Briefe an und von der realen Alice (Alice Pleasance Liddell), seinem „einzigen Liebling“, sind leider alle verschollen. Diese Leerstelle haben wir nun auf unsere Art gefüllt.

Wie unterscheidet sich diese Arbeit von der Arbeit mit professionellen Schauspielern? Ich merke gerade, dass mich dieses Betonen, wir behandeln das als eine ‚normale’ Produktion, total nervt. Eben das war kein Thema. Ich war ab der ersten Probe vollkommen fasziniert von der Ernsthaftigkeit und Intuition, mit der die Spieler arbeiten. Das hat eine unglaubliche Kraft und Schönheit. Es ist eine besondere Erfahrung, weil es mir das Inszenieren an sich zurückspiegelt und sich ganz elementare Fragen stellen: Wie viel gibt man vor? Wie stark geht man von den Persönlichkeiten des Spielers aus? Was setzt Kreativität frei?

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