Radar Ost

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RADAR OST


Das Deutsche Theater, in dessen DNA die Euphorie und die Missverständnisse der Nachwendejahre noch heute ablesbar sind, beschäftigt sich in der kommenden Spielzeit – 30 Jahre nach 1989 – mit den deutschen Vergangenheiten. Gleichzeitig richtet sich der Blick weiterhin verstärkt nach Osten: Bereits in den vergangenen Jahren haben wir mit Theater_macherinnen aus östlichen Nachbarländern zusammengearbeitet. „Nachbar“ und „Osten“ war großzügig gefasst: russische, tschechische, ungarische, bulgarische, ukrainische, georgische, litauische, polnische und andere, internationale Künstler_innen waren am DT zu Gast. Auch bei den Gegenbesuchen, etwa am Gogol Center in Moskau, bei den trinationalen Theaterprojekten des Jungen DT und den Radar Ost-Festivals fanden Begegnungen statt, die unseren Blick auf die Verbindungs- und die Bruchlinien zwischen Ost und West verändert haben. In den kommenden Spielzeiten arbeiten wir mit Theatermacher_innen zusammen, die Freiheitsversprechen und Vakuum, die beide auf den politischen Umbruch der Jahre 1989/90 folgten, aus anderer Perspektive erlebt haben: Timofey Kuljabin kommt aus Nowosibirsk, Ewelina Marciniak aus unserem Nachbarland Polen und Data Tavadze – Jahrgang 1989 und selbst ein Kind der Revolution – aus Tiflis zu uns. Auch der russische Regisseur Kirill Serebrennikow, der von August 2017 bis April 2019 unter Hausarrest stand, wird unserer Dauereinladung nun endlich folgen können. Dieses Magazin stellt Länder, Orte, Projekte und Menschen vor, auf die wir neugierig sind: Kolleg_innen, die einen eigenen und anderen Blick mitbringen auf Stoffe und Themen, auf die großen gesellschaftlichen Umbrüche und auf uns. Die Bildstrecke im Heft stammt von der in der Ukraine geborenen Fotografin Mila Teshaieva, die seit 2004 fotografisch zu den Übergangsprozessen in postsowjetischen Gesellschaften forscht.



5 Fragen 5 Antworten

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Russland Wer sind Ihre Held_innen? Meine Freunde und meine Feinde. Wie sieht Ihre Heimat in 30 Jahren aus? Unverändert. Womit möchten Sie sich nicht mehr beschäftigen? Die Liste ist inzwischen zu lang. Was kann Theater, was nur Theater kann?

Regisseur und Theaterleiter MOSKAU / RUSSLAND

Kirill Serebrennikov

Denkweisen durch einen einzigen Abend verändern.

KIRILL SEREBRENNIKOV

ist Theater-, Opern-, Ballett-, Filmund Fernsehregisseur und stammt aus Rostow am Don. Seit 2012 leitet er das Gogol-Center in Moskau. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Moskauer TschechowKünstlertheater, an dem er den Studiengang Schauspiel und Regie der hauseigenen Theaterschule leitete. Mit seinen Studenten gründete er das „Siebte Studio“ und 2011 in Moskau ein experimentelles Werkstatt-Projekt „Plattform“. Zu seinen Auszeichnungen zählen u.a. der russische Theaterpreis Goldene Maske (2012). Sein Film „Ismena“ („Untreue“) wurde 2012 für den Goldenen Löwen (Filmfestival Venedig) nominiert, „Der die Zeichen liest“ war in Cannes zu sehen und kam auch in die deutschen Kinos. 2019 wurde er erneut mit einer Goldenen Maske ausgezeichnet, das Gogol Center erhielt zugleich einen Spezialpreis der Jury. Serebrennikov stand wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder in dem wohl umstrittensten Künstlerprozess des postsowjetischen Russlands vor Gericht und befand sich 20 Monate in Hausarrest.

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Data Tavadze

von Data Tavdze

Sich erinnern, um zu vergessen

9. April 1989. Seit Monaten drängen sich auf der Rustaveli Avenue in ­Tiflis friedliche Demonstranten. In Sichtweite der Regierungsgebäude fordern sie die Unabhängigkeit Georgiens. Dass die Sowjetunion bald auseinanderfallen wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand. In der Nacht zum 9. April werden die Demonstranten von sowjetischen Streitkräften angegriffen: mit Panzern, geschärften Spaten und Giftgas. 21 Menschen sterben in dieser Nacht, die Mehrzahl von ihnen Frauen.

DATA TAVADZE

Data Tavadze, geboren 1989 in Tiflis, ist einer der herausragenden jungen Autoren, Stückentwickler und Regisseure Georgiens. Er ist gelernter Schauspieler, Mitbegründer mehrerer Theaterfestivals und leitet seit 2008 das Royal Distric Theatre in Tiflis. Seine Inszenierung „Die Troerinnen / Women of Troyˮ wurde 2016 beim Festival Fast Forward in Braunschweig mit dem Preis der internationalen Jury ausgezeichnet und war auch am Deutschen Theater zu sehen. „Prometheus / 25 Years of Independenceˮ eröffnete im Juni 2018 das Festival Radar Ost am Deutschen Theater Berlin und im Oktober 2018 die Präsentation georgischer Theaterkünstler anlässlich der Frankfurter Buchmesse. In der Spielzeit 2019/20 inszeniert Data Tavadze „Jedermann (stirbt)ˮ von Ferdinand Schmalz in den Kammerspielen des Deutschen Theaters.

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In diesem Jahr bin ich zur Welt gekommen, im September, in einem Land, das zu diesem Zeitpunkt noch Teil der UdSSR ist. So steht es in meiner Geburtsurkunde: geboren in der GSSR, der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Zwei Jahre nach den Ereignissen vom April 1989 erklärt Georgien­ seine Unabhängigkeit. Was folgt, ist ein Albtraum: öko­ nomische Krisen, ethnische Konflikte und Bürgerkrieg. Das Gefühl, in einem Land geboren und in einem anderen aufgewachsen zu sein, überkommt mich erst viel später. Aber die Geschichten meiner frühesten Kinderjahre leben weiter für Generationen und verwandeln sich, vermischt mit Gutenachtgeschichten, in einen Mythos, der das Weltbild meiner Generation beeinflusst. Wir sind die Kinder, die nicht vergessen können, was sie nicht gesehen haben. In den frühen 90er Jahren gründen verschiedene Gruppen junger Theatermacher in verlassenen Gebäuden und Kellern neue, unabhängige Theater: Kultur als Gegenmittel gegen die fortdauernde, fast vollständige Verwüstung des Landes. Eine dieser Gruppen nennt sich selbstironisch das „Royal District Theatre“. Schon bald zählt es – als Ort für politisches, zeitgenössisches „Physical Theatre“ – zu den wichtigsten Bühnen von Tiflis. Nach schweren Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit steht der politisch unbequeme Ort zehn Jahre später kurz vor dem Aus. Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2008, beginnt meine Geschichte am Royal District. Gemeinsam mit einer Gruppe befreundeter Spieler_innen – wir kannten uns alle von der Schauspielschule – begann ich dort zu arbeiten. In demselben Jahr wurde Georgien in den sogenannten Fünftagekrieg mit Russland verwickelt, der für die Entwicklung des Landes einen erneuten Rückschlag bedeutete und der die Themen, mit denen wir uns am Royal District – und nicht nur dort – auseinandersetzten, stark beeinflusste. Mein Stück „Kriegsmutter“, das 2015 am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau uraufgeführt wurde, ist ein Spiegel dieser Kriegserfahrungen. Meine Familie und ich hatten die russischen Panzer von unserem Ferienhaus aus beobachtet; gleichzeitig versuchten wir, die Bilder der rollenden Panzer vor meiner fünfjährigen Schwester zu verbergen. Erst im Jahr 2013 begann ich damit, auch diese Art von Kriegs­erfahrungen in einer Aufführung zu verarbeiten, im dokumentarischen Theaterstück „Die Troerinnen / Women of Troy“.



Data Tavadze

Als wir damit begannen, an dieser Produktion zu arbeiten, gab es nur zwei Dinge, die für uns feststanden: Wir kannten den Titel und wollten auf alle geographischen Bezeichnungen verzichten. Viel mehr wussten wir nicht, und so begannen wir, Fragen zu stellen – zunächst uns, dann den Passanten auf der Straße und schließlich Frauen, die ­vor dem Krieg geflüchtet waren. Immer brutalere Bilder entstanden vor unserem inneren Auge, und wir stellten fest wie brennend und dringlich das Thema nach wie vor ist. Wie war es möglich, diese Geschichten zu erzählen, was sollten wir auswählen? Wie konnten wir entscheiden, welche Geschichten wichtig waren? In unseren „Troerinnen“ ist Euripides‘ Tragödientext durchzogen von Interviews mit Frauen aus dem Kaukasus. Frauen, die zwei Kriege erlebt hatten. Zusammen mit dem Ensemble versuchten wir, eine Sprache für die traumatischen Erfahrungen zu finden, die Georgien von den 1990ern bis ins Jahr 2008 heimgesucht hatten. Anstatt sie zu Opfern zu machen, wie es der damalige Mainstream tat, verschoben wir die Perspektive und gaben den Frauen eine Stimme, deren Heroismus im Krieg darin bestanden hatte, überlebt und andere gerettet zu haben. Seit der Premiere 2013 haben wir die „Troerinnen“ etwa 150mal gespielt, mit Gastspielen in Schweden, Belgien, Frankreich, Rumänien, Polen, Weißrussland, Aserbaidschan und am Deutschen Theater. 2016 beging Georgien den 25. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Vieles hatte sich in diesen Jahren verändert; es herrschte Feierstimmung. Wir aber begannen uns Gedanken darüber zu machen, wie unabhängig die Bürger dieses un­ abhängigen Landes wirklich waren. Das war die Frage, die wir unseren Schauspieler_innen stellten – viele davon waren 25 Jahre alt, genauso alt wie die Unabhängigkeit ihres Landes. Wir wollten über ihre Erfahrungen sprechen, darüber, wie sie aufgewachsen und erwachsen geworden waren, gleichzeitig mit ihrem Land. Wir entschieden uns, die Biographien einzelner Personen zu erzählen, als Sinnbild der Geschichte des ganzen Landes. Wir wollten herausfinden, wem unser Körper gehört, wie die Gesellschaft und das Publikum unsere Körper beeinflussen, und ob es möglich ist, so etwas wie vollkommene Unabhängigkeit zu erreichen. Gleichzeitig entdeckten wir, dass unsere Generation nicht viele Erinnerungen an die ersten Jahre der Unabhängigkeit hatte. Das Resultat war eine ungewöhnliche Textform, eine Liste aus Tatsachen, an die wir uns erinnerten, aus Fakten, die wir zu vergessen versuchten oder an die wir uns nicht erinnern konnten.

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Auch der „Gefesselte Prometheus“ von Aischylos war keine zufällige Wahl. Diese mythologische Figur, gekettet an einen Felsen im Kaukasus, ist eng mit der georgischen Sagenwelt verbunden, die einen ähnlichen Helden namens Amirani kennt. Beide unterscheiden sich darin, dass Prometheus sämtliche Chancen verstreichen lässt, sich zu befreien. Trotz vieler Gelegenheiten entscheidet er sich dafür, gefesselt zu bleiben. Er entzieht sich der Freiheit. „Prometheus /  25 Years of Independence“ entpuppte sich als die umstrittenste, am meisten diskutierte Arbeit des Royal District Theatre. Sie wird immer noch gespielt. Worüber soll man nun sprechen, mit Blick auf dieses Vierteljahrhundert, mit Blick auf ein Land, das immer noch um den Erhalt seiner teuer bezahlten Unabhängigkeit kämpft? Während des Hitzesommers 2016 diskutierte ich darüber mit den Schauspielerinnen und Schauspielern. Wie redet man über die Unabhängigkeit? Was ist Unabhängigkeit? Was hat Georgien nach fast drei Jahrzehnten der Unabhängigkeit gelernt? Gab es genug Zeit, um über die sowjetische Vergangenheit nachzudenken, während einen die Gegenwart immer noch mit erschreckenden Bildern herausfordert? Diese Gegenwart zeigt eine nach wie vor bedrohte, nach wie vor fragile Unabhängigkeit, ein Land mit „fließenden“ Grenzen, das schleichend besetzt wird, ein Land, in dem Menschen noch immer entführt, gefoltert und getötet werden, ein Land, das sich so rasant verändert, dass keine Zeit zur Reflexion bleibt, keine Zeit, über die Vergangenheit nachzudenken, in einer Welt, in der die Gegenwart Überleben heißt. „Sich erinnern, um zu vergessen“ ist eine immer wiederkehrende Zeile in der Inszenierung „Prometheus“. Vielleicht ist das eine der Funktionen des Theaters: sich von außen zu betrachten, um den eigenen Erinnerungen und Ängsten zu begegnen und sich von ihnen zu befreien. Derzeit erfindet sich das Royal District Theatre in gewisser Art und Weise neu: Durch die Arbeit mit aufstrebenden Regisseur_innen, Schauspieler_innen und Autor_innen möchten wir jungen Menschen eine Plattform bieten. Darüber hinaus veröffentlichen wir neue Stücke und veranstalten Festivals für zeitgenössische georgische und internationale Dramatik. Stets berücksichtigt unser Spielplan das politische Klima im Land – mit dem Ziel, Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, um für die Zukunft gewappnet zu sein.



5 Fragen 5 Antworten

In unserem Theater gibt es ein großes Fenster. Wenn wir ­proben, schauen wir immer raus und sehen Himmel, Bäume, Menschen, Flugzeuge. Reines und schönes Leben. Wer sind Ihre Held_innen?

Die „Himmlischen Hundertˮ [die 2014 während der Proteste auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew beim sogenannten Euromaidan ums Leben kamen.]* Wassyl Semenowytsch Stus [ukrainischer Dichter, Publizist und sowjetischer Dissident. Er war einer der engagiertesten Vertreter einer ukrainischen kulturellen Autonomie in den 1960er Jahren und wurde dafür zu insgesamt 23 Jahren in Straflagern und Verbannung verurteilt.]* Iwan Masepa [umstrittener Kosakenführer, der sich im 17. Jahrhundert gegen die Russen verbündete. Unter seinen Landsleuten galt er als Vorkämpfer der Freiheit, in Russland als Landesverräter.]* Executed Renaissance [Der Begriff (ukrainisch: Розстріляне відродження) wird verwendet, um die Generation ukrainischer Schriftsteller und Künstler aus den 1920er und frühen 1930er Jahren zu beschreiben, die in der ukrainischen sozialistischen Sowjetrepublik aufgetreten sind und von Stalins totalitärem Regime hingerichtet oder unterdrückt wurden.]* Sergei Iossifowitsch Paradschanow [Sowjetischer Filmregisseur armenischer Herkunft. Der „Kinorebellˮ war einer der originellsten und populärsten Regisseure des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeit spiegelt die ethnische Vielfalt des Kaukasus wider.]* Wie sieht Ihre Heimat in 30 Jahren aus? Wir hoffen, dass es ein starkes, glückliches Land sein wird, in dem die Gesellschaft in eine Richtung blickt. Womit möchten Sie sich nicht mehr beschäftigen? Hass, Aggression, Gleichgültigkeit. Was kann Theater, was nur Theater kann? TSE SHO

Ensemble KIEW / UKRAINE

TseSho

Kateryna Petrashova, Marusia Ionova, Marichka Shtyrbulova, Nadiia Golubtsova, Igor Mytalnykov

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen?

ist eine einzigartige, hybride zeitgenössische Stimme aus der Ukraine, die Theater, Puppentheater, LiveMusik, Poesie und Videokunst kombiniert. So entsteht ein neues Genre: Social Rave. Bei der Inszenierung, die bei Radar Ost zu sehen ist, handelt es sich um eine Kooperation von TeatrPralnia und dem Dakh-Theater („Theater auf dem Dachˮ), dem ältesten und einzigen unabhängigen nichtkommerziellen Theater der ­Ukraine. 1994 als Zentrum für zeitgenössische Kunst von Vlad Troitskyi in einem Ladenlokal am Rand der Kiewer Innenstadt gegründet, entwickelte es sich schnell zu einem lebendigen und überregional erfolgreichen künstlerischen Laboratorium.

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Theater bietet die Möglichkeit, ein fokussiertes Leben zu führen.

* Anm. d. Red.



Fragen: Claus Caesar

Der Regisseur Timofey Kuljabin über seine Erfahrungen an deutschen Theatern, Versuche mit der Tradition zu kommunizieren und das Konzept einer festen Truppe

Technologie ist die neue Psychologie

Timofey Kuljabin

Als Regisseur, der international gefragt ist und inszeniert: Was sind für Dich die größten Unterschiede zwischen einer Inszenierung in Deutschland bzw. Westeuropa und Russland bzw. Nowosibirsk? Wesentliche Unterschiede sehe ich nicht, aber der Zusammenhang, in dem man arbeitet, ist jeweils ein anderer. In Russland wird die Wahrnehmung des Theaters durch viele traditionelle Elemente beeinflusst. Bestimmte Themen oder Blickwinkel, die in Deutschland seit langem durchgesetzt sind, werden dort noch als schockierend wahrgenommen. Außerdem ist das deutsche Theater, was seine Inhalte angeht, nach meinem Eindruck sehr auf das Soziale fokussiert. Wenn man in Deutschland inszeniert, muss man aus jeder Geschichte einen sozialen Bezugspunkt, eine soziale Brisanz herausholen, um wahrgenommen zu werden. In Russland ist das nicht so eindeutig. Man interessiert sich dort durchaus für Geschichten und Verhältnisse, die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen herausgelöst sind und für sich stehen.

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Ein wesentlicher Unterschied scheint mir der Umgang mit Zeit zu sein, nicht zuletzt, was Planungs- und Probenzeiträume angeht. Das stimmt, obwohl der Unterschied längst nicht so gravierend ist. Aber Planung und Organisation sind in Deutschland ohnehin viel gründlicher, die Vorgänge haben mehr Vorlauf, Verträge werden früher unterschrieben. Vieles wird vorab festgelegt, auch viel detaillierter. Bei den Proben ist es mittlerweile auch in Russland üblich, dass Standardzeiten von ca. acht Wochen eingeplant werden. Wenn ich als Regisseur dort allerdings mehr Zeit brauche und das auch begründe, kann ich im Prinzip damit rechnen, dass man mir entgegenkommt. Wie kommst Du zu Stoffen bzw. Stücken, die Du inszenierst? Zunächst stelle ich mir praktische Fragen: Was ist das für ein Theater, welches Publikum hat es, in welchem lokalen und nationalen Zusammenhang arbeiten wir, was sind die besonderen Qualitäten der Schauspieler – das ist für mich immer wichtig – und welchen technischen und finanziellen Aufwand kann sich dieses konkrete Theater leisten. Dann gibt es meine persönliche innere Dramaturgie. Mir ist es immer wichtig, etwas zu versuchen, das ich noch nicht gemacht habe. Bald werde ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Komödie inszenieren, und ich bin gerade sehr gespannt, wie das gehen soll. Du sprichst über „Deine“ Schauspieler, wenn Du über das Theater Rote Fackel redest: Gibt es dort das Konzept einer festen Truppe, die immer wieder mit Dir zusammenkommt? Was zeichnet sie aus? Wie ist sie entstanden? Eine feste Truppe ist in Russland nach wie vor die Regel. In diesem Sinne ist Rote Fackel ein typisches russisches Theater. Da ich hier schon seit zehn Jahren arbeite und seit vier Jahren auch Chefregisseur bin, bin ich für die Truppe zuständig. Die jungen Schauspieler, die in den letzten Jahren gekommen sind, sind teilweise meine ehemaligen Studenten. Wir kennen uns einfach sehr gut. Und ich bin auch dafür zuständig, dass sie sich im Theater professionell weiterentwickeln. Jede gemeinsame Arbeit muss nicht nur für mich, sondern auch für sie eine Herausforderung sein. So kann ich aber nur in diesem Theater arbeiten. Wenn ich als Gast irgendwo inszeniere, bin ich für die Schauspieler nicht zuständig, ich nehme sie so, wie sie sind und sehe zu, dass ihre Qualitäten und das, was ich vorhabe, gut zusammenkommen. Wenn Gastregisseure bei uns inszenieren, machen sie das genauso, das liegt in der Natur der Sache.



Timofey Kuljabin

Bei den Inszenierungen, die ich bisher von Dir gesehen habe, gab es jedes Mal einen besonderen Zugriff, der oft zunächst technisch motiviert zu sein schien (die Gebärdensprache bei „Drei Schwesternˮ, die HandyKommunikation bei „Noraˮ): Ist das in Deinen Arbeiten immer der Fall? Woher kommen diese Zugriffe, wie sind sie begründet? Ich mag den Begriff „Experiment“ nicht, aber ich bin immer im Dialog nicht nur mit dem Stück, sondern auch mit seiner Inszenierungstradition. Der Zugriff, den Du meinst, ist in der Regel ein Versuch, mit der Tradition zu kommunizieren. Ich sehe das nicht als eine technische Herausforderung, sondern ich betrachte die konkreten Umstände des Stücks und suche nach einer Entsprechung hier und jetzt. Das ist kein bloßes Aktualisieren der Personen und Vorgänge, sonst wäre das nur formal. Wenn ich zum Beispiel „Kinder der Sonne“ inszeniere [im Herbst 2018, Nowosibirsk, Anm. d. Red.], muss ich mich fragen, wo ich diese Menschen heute finde und wie ihre Beziehungen nun aussehen. Dadurch verändert sich der Handlungsverlauf, vor allem deshalb, weil Zeit für die Menschen heute ganz anders abläuft. Auf diese Weise stellt sich eine neue Zeitstruktur her: nicht mehr linear, sondern zerrissen, katastrophal. Diese Zeitdarstellung liegt der Aufführung zugrunde. Das mag wie ein technischer Zugriff aussehen, ist aber einfach eine heutige Umsetzung des Textes. Genauso verhält es sich bei der Züricher „Nora“. Wenn ich ein Stück inszeniere, das auf einer umfassenden Kommunikationsstörung basiert, kann ich heute nicht zwei Schauspieler auf die Bühne stellen, die im Wohnzimmer endlose Dialoge führen. Das wäre künstlich und letzten Endes gelogen. Ich habe das für mich selbst so formuliert: Technologie ist die neue Psychologie. Aus der Ferne sieht die politische Situation für Theater in Russland eher kompliziert aus: Wie würdest Du Deine Arbeitssituation beschreiben? Wie den Stellenwert des Theaters als solchen? Wir leben in einer Situation, in der keine einheitliche, konsequente Politik existiert. Zu viele unterschiedliche Kräfte und Interessen sind im Spiel. Man kann nicht sagen, dass etwas definitiv unmöglich, unerwünscht oder verboten ist, aber alles kann es plötzlich werden. Ich hatte eine schlimme Erfahrung mit „Tannhäuser“ in Nowosibirsk, die Absetzung der Produktion ist für mich nach wie vor ein schmerzhafter Verlust. Ich kann aber nicht sagen, dass meine Arbeit seitdem in irgendeiner Weise von außen behindert oder beeinflusst wurde. Aber alle sehen,

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dass der Fall „Tannhäuser“, der Fall von Kirill Serebrennikov oder von dem Moskauer Teatr.doc sich ganz unterschiedlich entwickeln und von unterschiedlichen Stellen initiiert und beeinflusst werden. Ihnen gemeinsam ist nur, dass Theater (und die Kunst insgesamt) zum Kampfplatz von sehr unterschiedlichen Interessen geworden ist. Warum ist das so? Das lässt sich schwer beurteilen, wenn man kein Politikwissenschaftler oder Soziologe ist. Ich kann nur sagen, dass Theater in Russland zurzeit eine große Popularität genießt, eine große Anziehungskraft. Es ist sehr lebendig, und ich finde seine Entwicklung enorm interessant und wichtig. Wir sind über den Punkt hinaus, an dem wir ganz schnell Erfahrungslücken schließen mussten. Jetzt geht es um etwas Anderes, um das Weiterkommen. Am Deutschen Theater ist zeitgenössische Dramatik eine der zentralen Interessen des Hauses: Wie ist, aus Deiner Perspektive, die Lage der jungen russischen Dramatik? Gibt es thematische Schwerpunkte? Werden die Stücke viel gespielt? Da bin ich überfragt, ich bin kein Fachmann für zeitgenössische Dramatik. Mein Interessenschwerpunkt liegt heute woanders. Aber ich weiß, dass sich die sogenannte „Neue Dramatik“ in Russland in den letzten Jahren sehr schnell entwickelt hat. Es gibt einige Festivals, wovon das Festival „Liubimovka“ das grösste und interessanteste ist. Diese Stücke werden auch gerne inszeniert. Was sind für Dich die größten Defizite in der Art und Weise, wie Russland in Deutschland bzw. Europa wahrgenommen wird? Was wird unter-, was wird überschätzt, Deiner Meinung nach und aus Deiner Erfahrung heraus? Ich bin viel unterwegs und bemerke, dass in Deutschland, Spanien oder Frankreich sehr unterschiedliche Russlandbilder existieren, manchmal auch von Ort zu Ort. Berlin etwa stellt sich einen Russen anders vor als München. Aber Berlin und München denken auch über Europa unterschiedlich oder über Frankreich. Für mich gibt es keine Durchschnittseuropäer, auch keinen Durchschnittsdeutschen. Russland ist heute genauso kompliziert, ich weiß nicht, wie es von außen aussieht. Es gibt viele Menschen in Russland, die sich in Europa, in den USA oder in China nicht fremd fühlen, die international arbeiten und sich als Teil der Welt begreifen. Und es gibt viele Menschen, die abgeschlossen und isoliert leben. Ich weiß nicht, wie man sie alle in einem Russlandbild vereinen sollte – sie verstehen sich untereinander auch kaum.

TIMOFEY KULJABIN

absolvierte 2007 die Russische Akademie für Theaterkunst. Seit 2007 ist er als Regisseur im „Krasnyi Fackel“ („Rote Fackel“) Theater Nowosibirsk tätig. Produktionen: „Die Pikdame“ nach Puschkin, „High Wire Act“ nach Antonow, „Macbeth“ nach Shakespeare, „Masquerade“ nach Lermontow, „Hedda Gabler“ nach Ibsen, „Ohne Worte, Onegin“ nach Puschkin, „KILL“ nach Schiller. „Macbeth“ (2008) und „KILL“ (2013) wurden für den Nationaltheaterpreis Goldene Maske nominiert. „Onegin“ erhielt 2014 zwei Goldene Masken. Kuljabin arbeitete mit Theatern in Riga, Jaroslawl, St. Petersburg und Moskau zusammen. 2009 debütierte Kuljabin als Opernregisseur mit Borodins „Prinz Igor“ im Akademischen Opernund Balletttheater Nowosibirsk, wo er 2014 auch „Tannhäuser“ von Wagner inszenierte. Seit Januar 2015 ist er künstlerischer Leiter des „Krasnyi Fackel“ Theater Nowosibirsk. Der Verband der Theaterkritiker hat Timofej Kuljabins „Die drei Schwestern“ als Produktion des Jahres 2015 ausgezeichnet. Im März 2020 inszeniert er am Deutschen Theater August Strindbergs „Fräulein Julie“.



5 Fragen 5 Antworten

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Ich sehe eine charmante kleine Stadt der Brücken, die einen großen Fluss überspannen – in einer Welt zerrissen von Geschichte und Ideologie. Wer sind Ihre Held_innen? Menschen, die Mehrdeutigkeiten akzeptieren und nicht auf­ geben, egal wie ihre Chancen stehen. Wie sieht Ihre Heimat in 30 Jahren aus? Ich hoffe auf eine charmante kleine Stadt der Brücken, die einen großen Fluss überspannen – in einer Welt des Zusammenhalts und der Verantwortung. Womit möchten Sie sich nicht mehr beschäftigen? Ich habe genug von Furcht, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Was kann Theater, was nur Theater kann?

Regisseur BUDAPEST / UNGARN

Ádám Császi

Theater verändert dich, indem es dich zusammen mit einem Dilemma in denselben Raum steckt und dich aus unmittelbarer Nähe physisch darauf reagieren lässt, mit dem Bauch.

ADAM CSÁSZI

wurde 1978 in Ungarn geboren und arbeitet als Regisseur und Autor für Theater und Film. Er absolvierte die Budapester Universität für Theater- und Filmkunst. Bekannt wurde er mit seinem Debüt-Film „Sturmland“ 2014, der nicht nur auf der Berlinale für diverse Auszeichnungen nominiert wurde. Neben seinen Filmprojekten arbeitet er an verschiedenen Bühnen in Budapest. Császi engagiert sich auch an einem der renommiertesten ungarischen Theaterpädagogikprojekte mit jungen marginalisierten Roma. In diesem Kontext entstand die Inszenierung „Gypsy Hungarian“, die beim Festival Radar Ost zu sehen war.

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Gogol Center

Das Gogol Center (ehemals Gogol-Theater) hat zwei Geschichten, eine kurze und eine lange. Die lange ist jedoch schnell erzählt: Es wurde im Jahre 1925 gegründet – eine frühsowjetische Gewerkschaftsgründung – als ein Theater für die Arbeiter der Eisenbahnbetriebe. Der heutige Standort, eine ehemalige Werkhalle der Eisenbahn, wurde im Jahr 1943 bezogen. Und gerade dieser Standort ist seitdem für jeden Theaterleiter zum Verhängnis geworden:

von Olga Fedianina

Ein Portrait des Gogol Center, Moskau

DAS HAUS

OLGA FEDIANINA

ist eine Theaterkritikerin, Übersetzerin und Dramaturgin aus Moskau, sie schreibt regelmäßig über die neusten Tendenzen im russischen Theater, unter anderem über das Gogol Center.

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Im dunklen Gewirr der Bahnhofsgassen war ein Theater etwas vollkommen Deplatziertes, man dachte hier nicht an Kunstgenuss, sondern nur ans schnelle Weg- und Weiterkommen. Das Theater stand auf einem unsichtbaren Abstellgleis, selbst in den späten 1970ern, als in Moskau keine Theaterkarte zu ergattern war, waren die Gogol-Karten wenig gefragt. In den 1990ern kamen zwar einzelne interessante Regisseure und Produktionen ans Haus. Es half aber nichts, das GogolTheater blieb „ein Theater, wo man nicht hingeht“. Das änderte sich im August 2012 schlagartig: Die Stadtverwaltung, damals sehr reformorientiert, besetzte die künst­ lerische Leitung neu. Kirill Serebrennikov, ein erfolgreicher, ambitionierter und produktiver Regisseur kam und brachte sein eigenes Team mit. Das waren Schauspieler_innen, Produzent_innen und Kurator_innen, mit denen er zuvor das Projekt „Plattform“, ein staatlich finanziertes, interdisziplinäres Zentrum für zeitgenössische Kunst, aufgebaut hatte. Der Einzug des neuen Teams verlief nicht friedlich. Alteingesessene Schauspieler fürchteten um ihre unbefristeten Verträge, sie wollten keine Unruhe und vor allem keine, wie man in Russland sagt, „Klassikerschändung“. Serebrennikov hatte sich bereits einen Ruf für witzige und freche Interpretationen klassischer Stoffe erworben. Man kämpfte, schrieb Briefe ans Kulturministerium, organisierte Protestkundgebungen. Aber langsam nahm das Theater seinen Betrieb auf, ein Teil des alten Ensembles ging, manche blieben – und haben es nicht bereut. Bereits in der ersten Spielzeit stellte sich heraus: Das neue Gogol-Theater, bzw. das Gogol Center, wie es fortan hieß, wird eine Erfolgsgeschichte. Kirill Serebrennikov hatte das Theatersystem in Europa gut studiert und baute zügig etwas auf, was sich am ehesten an der frühen Volksbühne von Frank Castorf orientierte: Ein lebendiges Haus, wo man hingeht, ohne vorher ins Programm zu schauen, weil man weiß, dass hier immer etwas Spannendes geboten wird: wenn nicht ein Schauspiel auf der Hauptbühne, dann eine Lesung im kleinen Saal oder ein Konzert im Foyer und in jedem Fall gibt’s ein Glas Wein im Café. Das Gogol Center wurde fast zu einem Rund-um-die-UhrBetrieb, wo man sich auch tagsüber gerne mit Freunden verabreden und dabei noch viele Bekannte und Halbbekannte begrüßen konnte. Dieses Angebot lockte zunächst das Lieblingspublikum von Serebrennikov an, die Jugend. Gerade für sie war ausschlaggebend, dass das neue alte Haus nicht nur zeitgemäße Ästhetik, sondern auch zeitgemäße


Gogol Center

Atmosphäre versprach. Das neue Gogol Center war jedoch nicht als Freizeiteinrichtung gedacht, sondern als experimentierfreudige Hauptstadtbühne. Dass dieses Konzept aufging, dafür sorgte der Theaterleiter von Beginn an.

DER THEATERLEITER Kirill Serebrennikov als Intendant war – und bleibt – für viele überraschend. 2012 galt der Theatermann als erfolgreich, produktiv, charismatisch und sehr ambitioniert. Dass er einen begründeten Anspruch auf ein eigenes Haus hatte, war offensichtlich. Die Gogol-Bühne erschien vielen jedoch als ein beleidigend unattraktives Angebot, eine Art Be­amtenZynismus: „Mal sehen, was du dort hinkriegst, wo alle scheiternˮ. Dass Kirill nicht scheiterte, war erstaunlich genug, noch erstaunlicher war das Wie. Die logische Erwartung war, dass ein Regietalent wie er, von Schülern und Mitstreitern umgeben, die Entwicklung des Hauses an seine eigene Erfolgsgeschichte knüpfen und das neue Gogol zu einem „Serebrennikov-­Theater“ machen würde. Doch nichts desgleichen passierte. Bereits in der ersten Spielzeit profilierte sich Kirill vor allem als Intendant, Förderer und Entdecker. Er lud gleich mehrere viel versprechende junge Regisseure ein, die mit ersten Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hatten, ohne dass ihnen bisher der große Durchbruch gelungen war. Seine eigenen Arbeiten stellte der Chef demonstrativ in eine Reihe mit ihren Inszenierungen. Das neue Repertoire plante er gleich in Reihen – die Erfolgsserie der ersten Spielzeit bildeten drei Inszenierungen nach berühmten Drehbüchern („Rocco und seine Brüder“, Regie: Alexej Misgirev; „Idioten“, Regie: Kirill Serebrennikov; „Angst essen Seele auf“, Regie: Vlad Nastavschev). Später kam noch die Serie „Der Stern“ hinzu: Fünf metaphorische Lebensgeschichten der russischen Dichter Pasternak, Mandelstam, Kusmin, Akhmatova und Majakovskij. Eine weitere Reihe, russische Klassiker aus heutiger Sicht neu interpretiert, bildet seit sechs Jahren das Rückgrat des Repertoires, darunter: Bunin, Puschkin, Nekrasov, Gontscharov und selbstverständlich der Hausheilige Nikolai Gogol. Noch eine wichtige Linie kann man als „Entdeckungen“ beschreiben. Das sind die Autoren, die dem breiten Publikum in Russland wenig bekannt sind. Hier sind „MüllerMaschine“ und „Kafka“ von Serebrennikov beispielhaft. Bei der Auswahl der Gastregisseure und bei den eigenen Produktionen hielt sich der Chefregisseur immer an eine Grundregel. Das moderne Theater wird im Gogol Center als etwas Spannendes vermittelt: bunt, frech und offen. Von vielen Kollegen unterscheidet sich Serebrennikov durch seine Abneigung gegen jegliches Kunstsektierertum, gegen alles, was die Welt in wir und nicht wir teilt, gegen alle Versuche, sich hinter dem Nicht-Zugänglichen zu verstecken. In seinem Theater herrschen der Rhythmus und die Sprache der Straße, es ist im Hier und Jetzt beheimatet und im weitesten Sinne inklusiv: immer weitere Zusammenhänge müssen erschlossen und angeschlossen werden. Seine eigenen Arbeiten leben von dieser einladenden, niemanden ausschließenden Energie. Kirill kann experimentelle Videotechnik, Pop-Art-inspirierte Kostüme, installationsartige Bühnenbilder, klassischen Gesang und traditionell ausgebildete ältere Schauspieler zusammenbringen. Und alle fühlen sich wohl. Diese Fähigkeit des Chefs macht aus dem Gogol Center nicht einfach einen gut besuchten Ort, sondern einen Ort, der

von allen gerne besucht wird. Hier treffen sich im Foyer Studenten, Beamte, Geschäftsleute, Menschen aus der Unterhaltungsbranche und Intellektuelle – kurz, „ganz Moskau“. Und eben dieses Zusammenkommen im Foyer beweist etwas, was simpel oder naiv klingen mag, aber in Russland (und nicht nur dort) nicht selbstverständlich ist: zeitgenössische Kunst ist kein Biosphärenreservat, sondern Mainstream. Durch diese breite Basis wurde Serebrennikovs Theater nicht nur sehr populär, sondern auch sehr stabil. Andernfalls hätte das Gogol Center die Ereignisse der letzten zwei Jahre nicht überstanden.

DAS TEAM

Seit Mai 2017 läuft nun das seltsame Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, das in den russischen Medien schlicht „das Theaterverfahren“ genannt wird. Selbst eine kurze Schilderung der Hintergründe würde den Rahmen dieses Textes sprengen, aber so viel muss zum Verständnis gesagt werden. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte Kirill Serebrennikov staatliche Gelder für das Projekt „Plattform“ veruntreut zu haben. Selbst denjenigen, die Kirill mit großer Missgunst gegenüberstehen, fällt es mittlerweile schwer, diese Beschuldigungen ernst zu nehmen. Serebrennikov stand trotzdem 20 Monate lang unter Hausarrest und ist, unter Auflagen, freigelassen worden – an dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe. Während dieser gut anderthalb Jahre durfte er weder das Theater betreten noch telefonieren noch das Internet benutzen. Das Gogol Center stand ohne seinen künstlerischen Kopf und ohne jede Gewissheit da, wann man diesen im Probenraum wiedersehen würde. Es sah so aus, als ob es für das Ensemble und das Leitungsteam nur zwei Möglichkeiten gäbe: Einen neuen Leiter zu akzeptieren oder im Chaos zu versinken… Das Gogol Center aber arbeitete 20 Monate lang so, als ob kein Ausnahmezustand bestünde, beziehungsweise, als ob der Ausnahmezustand die natürlichste Sache der Welt wäre. Keine einzige Premiere wurde abgesagt oder verschoben, Gastregisseure wurden verpflichtet, Gastspiele fanden wie verabredet statt. All das wäre bei einer traditionellen, konservativen Bühne vorstellbar, wo alle Abläufe längst Routine sind. Bei dem alten Gogol-Theater eben. Aber nicht bei diesem jungen, fragilen, chaotischen Gogol Center. Mehr noch, auch keine der geplanten Premieren des abwesenden Serebrennikov wurden abgesagt. Das Team des Gogol, dessen Kern Serebrennikovs Assistentin Anna Schalaschowa, Regisseur und Choreograf Jewgenij Kulagin und Videodesigner Ilia Schagalov bilden, baute eine beispiellose Kooperation mit dem Anwalt auf, der für den reibungslosen Informationsaustausch zwischen der Wohnung des Regisseurs und dem Theater zuständig war. Regieanweisungen, Skizzen, Probenaufzeichnungen wurden auf Datensticks hin und her gereicht. Als Ergebnis dieser erstaunlichen „Fernregie“ sind zwei Aufführungen im Gogol Center entstanden („Kleine Tragödien“ nach Puschkin und „Barocco“) – dazu noch drei Opernpremieren im Ausland (Stuttgart, Zürich und Hamburg) und eine Filmpremiere („Leto“). Man könnte sagen, das Gogol Center habe all das für seinen Chef und Meister getan, als eine Geste der Solidarität. Das stimmt, natürlich. Aber dies ist auch eine Geschichte der Selbstbehauptung und der erlangten Souveränität, ein Zeichen der künstlerischen und menschlichen Reife. Die eben auch zu einem echten Theater gehört.

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Ewelina Marciniak

Ein Portrait der Regisseurin Ewelina Marciniak. Von Michał Centkowski

Die Grenzen des Spiels überschreiten

Im Finale der „Liebhaberinnen“ nach Elfriede Jelinek gibt es die folgende Szene: Paula, eine der Haupt­figuren des düsteren Dramas über die des­ truktive Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen, gespielt von Katarzyna Dałek, schlägt einem Zuschauer vor, sich die Kopfhörer mit ihm zu teilen, um für einen Augenblick gemeinsam Musik zu hören. Einfach so, ganz normal, ohne ein Ziel, unvoreingenommen und frei von Erwartungen.

Diese kurze, intime Szene macht wichtige Themen von ­Ewelina Marciniaks Theaterarbeit sichtbar, wie sie auch in späteren Inszenierungen wiederkehren: die schlichte Geste, die sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit verweigert, die auf Lügen und gegenseitiger Verdinglichung gründet, die Suche nach echter Nähe und die Aufgabe des traditionellen Verhältnisses zwischen Zuschauer und Schauspieler zugunsten eines authentischen Mitwirkens. Doch Marciniaks Blitzkarriere begann früher: mit dem von Witold Gombrowicz inspirierten Stück „Zbrodnia“ („Das Verbrechen“) nach einem Text von Michał Buszewicz, aufgeführt im provinziellen Teatr Polski im polnischen Bielsko-Biała, wo Marciniak zwei Jahre zuvor mit ihrem Diplomstück „Nowe Wyzwolenie“ („Die neue Befreiung“) nach Stanisław Witkiewicz debütiert hatte. Die in einer modernen Sprache erzählte, mit popkulturellen Klischees spielende Tragifarce, die von einem Detektiv handelt, der das Verschwinden des Hausherrn aufzuklären versucht, begeisterte Kritik und Publikum gleichermaßen und wurde auf den wichtigsten polnischen Theaterfestivals mehrfach ausgezeichnet. Entscheidend für den Erfolg dieses traumähnlichen Pastiches eines Krimi Noir war das suggestive Spiel der Schauspieler. Die junge Regisseurin schuf Raum für Improvisation und konstruierte gleichzeitig mit meisterlicher Präzision die Dramaturgie eines Kammerspiels. Dieser Erfolg ebnete der aus Kudowa-Zdrój stammenden Absolventin mehrerer Fakultäten – einschließlich des renommierten Regie-Studiengangs an der Staatlichen Theaterhochschule Krakau – den Weg an die großen polnischen Bühnen. Marciniak nutzte ihre Chance: Sie überraschte, begeisterte und provozierte das Publikum mit weiteren aufsehenerregenden Inszenierungen. In ihrer künstlerischen Laufbahn spielte das Werk der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek eine wichtige Rolle. „Ich bin begeistert von ihrer radikalen, sprachlich bestechenden Gesellschaftsdiagnose. Sie hat mich angefixt, und ich hoffe, dass dies der Beginn einer Freundschaft sein wird, denn ich werde ganz bestimmt wieder zu Jelinek zurückkehrenˮ, gab Marciniak in einem Interview zu Protokoll. „In diesem Stück wollte ich verschiedene Gebiete der Körperlichkeit erforschen, mit den Schauspielern am Körper arbeitenˮ, womit die Regisseurin – deren Aussage sich auf die Inszenierung der „Liebhaberinnen“ am Danziger Teatr Wybrzeże bezog – einen weiteren wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Schwerpunkt ihres Schaffens nannte.

KULTUR ALS LEIDENSQUELLE

MICHAŁ CENTKOWSKI

ist Journalist, Kurator und Theaterkritiker für „Newsweekˮ. Er verfolgt die Karriere von Ewelina Marciniak von Beginn an und hat ein ausführliches Portrait über sie in der Zeitschrift „Notatnik Teatralnyˮ veröffentlicht.

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In der Bydgoszczer Inszenierung des „Geizigen“ (2014), von Michał Buszewicz eigens für die Aufführung umgeschrieben, lädt Marciniak die Zuschauer in die erzählte Welt ein, mit einer großen Handels-Metapher ein: Jugend, Schönheit, Emotionen, Werte – in dieser Welt kann, ja muss alles zur Ware werden. Die attraktivste Ware ist jedoch der Körper, der kulturell konditionierte, von der (Pop)Kultur fetischisierte Frauenkörper. In der konkreten Erzählung geht es um Marianes idealen, einer Schaufensterpuppe ähnelndem Körper (gespielt von der brillanten Joanna Drozda). Sie soll den wesentlich älteren, sehr wohlhabenden Harpagon heiraten. Doch in derselben Wirklichkeit, die auf der gegenseitigen Verdinglichung gründet, in der alles zum Verkauf steht und zwischenmenschliche Beziehungen durch Konventionen geregelt


Ewelina Marciniak werden, ist der Körper, wie Marciniak zeigt, die vielleicht letzte Chance, etwas Reales zu erfahren. „Mein Körper wollte mir seine Geheimnisse partout nicht verraten. Bleibt die Frage: wie tief muss man in sich eindringen?“, fragt sich die von Małgorzata Gorol gespielte junge Pianistin in dem von Jelineks Werk inspirierten Schauspiel „Der Tod und das Mädchen“ am Teatr Polski in Breslau, das Marciniak die wichtigsten nationalen Theaterpreise, unter anderem den Paszport der Wochenzeitschrift Polityka, bescherte. Der nackte, seiner kulturellen Prothesen und Schutzschichten beraubte Körper, der oft mit Grenzsituationen konfrontiert wird, symbolischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt ist, der zwischen sozialen Normen und Urinstinkten hin- und hergerissen wird, der Physiologie unterworfen ist, eben dieser Körper ist ein Medium, mit dessen Hilfe wir nicht nur auf unbewusste Art die uns umgebende Welt strukturieren, sondern auch zu dem Archetypischen, Ursprünglichen, Verdrängten gelangen, zu dem, was noch nicht mit kulturellen Sanktionen belegt wurde. Und genau das scheint Marciniak am meisten zu interessieren. Von daher verwundert es nicht, dass der Körper des Schauspielers bei ihr im Mittelpunkt steht. In „Der Tod und das Mädchen“ ist für die Arbeit mit diesem Körper die hervorragende Choreografin Dominika Knapik verantwortlich, mit der Marciniak schon mehrfach zusammengearbeitet hat – unter anderem bei den „Liebhaberinnen“ in Danzig, bei der preisgekrönten Inszenierung von Szczepan Twardochs Roman „Morfina“ („Morphin“), nach einer Adaption von Jarosław Murawski, sowie beim monumentalen Schauspiel „Leni Riefenstahl“ im Teatr Śląski in Kattowitz. Auch die Geschichte stellt Marciniak im Theater als einen Prozess der Emanzipation und der Befreiung des Körpers dar, vor allem des weiblichen Körpers. In der äußerst ästhetischen Inszenierung von Olga Tokarczuks Roman „Księgi Jakubowe“ („Die Jakobsbücherˮ) untersucht sie das historische Phänomen der vom charismatischen Jakob Frank angeführten, quasi-religiösen Gruppe jüdischer Sektierer, die die Ankunft eines weiblichen Messias erwartet. Kern der faszinierenden, für die damaligen Verhältnisse revolutionären Idee ist die Verheißung einer ökonomischen, gesellschaftlichen und sexuellen Befreiung. Das subversive Potential der Bewegung wird jedoch nicht verwirklicht. Die in der sinnlichen Eröffnungsszene des zweiten Teils nackt tanzende Gemeinschaft der Frankisten scheint letztlich die gleichen patriarchalen Muster von Gewalt zu reproduzieren. Denn die Herrschaft Jakob Franks über seine Anhänger stützt sich auf Manipulation und Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper. Der weibliche Körper im Dienst der Politik ist auch ein wichtiges Motiv in Marciniaks „Bartholomäusnacht“ nach einem Text von Jan Czapliński und Michael Billenkamp. Zur zentralen Figur macht Marciniak in der Freiburger Inszenierung die Katholikin Margarete von Valois – gespielt von der herausragenden Rosa Thormeyer. Ihr Körper, anfangs von den Brüdern Karl und Heinrich ausgenutzt und missbraucht, soll schließlich zum Garanten für den von Katharina von Medici geplanten Frieden zwischen Katholiken und Hugenotten werden. Aus dieser Perspektive betrachtet lässt sich Marciniaks Theater als radikal-politisches Theater bezeichnen – und zwar in einem wesentlich tieferen und universelleren Sinn als das der Fall ist bei vielen bekannten Akteuren des politischen Theaters von heute, die immer noch vorrangig mit dem

romantischen, die kollektive Vorstellungswelt der Polen prägenden Paradigma beziehungsweise mit einer oberflächlichen Abrechnung der Glanz- und Schattenseiten der Systemtransformation von 1989 beschäftigt sind. Aber es gibt noch etwas, was Marciniak besonders interessiert – und zwar das Theater selbst, dessen Möglichkeiten und Grenzen.

DER ZERBROCHENE SPIEGEL

Und wenn wir für unser Glück eine originell verarbeitete und effektvoll in Szene gesetzte Lebensgeschichte brauchen? Vielleicht interessieren wir uns weniger für die Welt als vielmehr für die Erzählung über sie? Es fällt schwer, diese Frage, die Jacek Labijak – in der Inszenierung von Michel Houellebecqs „Karte und Gebiet“ verkörpert er den Galeristen Franz Teller – dem Danziger Publikum stellt, nicht als hintersinniges Bekenntnis an die Kraft und die Macht des Theaters zu interpretieren. Marciniak hat jedoch zum Theater, und damit auch zu ihrer künstlerischen Message, ein weit komplizierteres Verhältnis, das sich nicht zuletzt durch eine gehörige Portion Selbstironie auszeichnet. In „Der Tod und das Mädchen“ gibt der von Piotr Nerlewski gespielte Kritiker eine weniger romantische Definition von Theater: Kunst ist eine Art Sickergrube, in der die existentiellen Abfälle entsorgt werden. Und wenn all dieser existentielle Schmutz hier versenkt wird, in der Grube, dann muss das später nicht mehr eigenhändig gesäubert werden. Doch unabhängig von der Theaterdefinition testet Marciniak immer wieder die Wirkungsmöglichkeiten des Mediums „Theater“, sprengt den starren Rahmen des traditionellen Verhältnisses zwischen Schauspieler und Zuschauer. Am weitesten ging sie mit ihren formalen Experimenten in dem Schauspiel „Bzik. Ostatnia minuta“ nach einem Text von Jan Czapliński – inspiriert von Witkiewiczs Drama und der berühmten Inszenierung von Grzegorz Jarzyna. Der erste Teil des im Stettiner Teatr Współczesny aufgeführten Stücks spielt sich fast vollständig im Zuschauerraum ab, eine Serie von Interaktionen, die dem Zuschauer seine Beteiligung am westlichen Kolonialerbe sowie an dessen modernen Spielarten bewusst machen soll. Inwieweit das funktioniert, sei dahingestellt. Kann das Theater die Welt verändern? Auf jeden Fall kann es, wie Marciniak beweist, Utopien formulieren. Marciniaks Theater lebt vom Paradox. Die Ästhetik der Bühnenbilder steht im Kontrast zur Hässlichkeit, Grausamkeit und dem Zerfall der Welt. Eine Welt, die auf Lüge, Habgier und gegenseitiger Verdinglichung basiert. Die sinnliche Theatralisierung wird stets begleitet von einer mutigen, häufig kritischen Geste gegenüber dem Text und, als Teil der inszenatorischen Strategie, der Bereitschaft, die Grenzen des Spiels zu überschreiten. Und den Zweifeln an der Macht des Theaters setzt sie das beharrliche Suchen nach der Wahrheit über den Menschen entgegen.

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5 Fragen 5 Antworten

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Ich sehe ein fünfstöckiges Haus, eine typische Chruschtschowka [sowjetischer Plattenbau der 1960er/70er Jahre, Anm. d. Red.]. Ich wohne in einem ähnlichen Gebäude. Nur unser Haus soll in wenigen Jahren abgerissen werden. In Moskau nennt sich das „Renovierungˮ. Ein paar Meter von meinem Haus entfernt wurde ein mehrstöckiges Haus im Manhattan-Stil errichtet. Ich sah dort einen berühmten russischen Schriftsteller, einen Anhänger Putins. Sehr schön für ihn. In Russland gilt: Je mehr du Putin liebst, desto größer ist deine Chance, ein Apartment wie in Manhattan zu kaufen. Wer sind Ihre Held_innen? Ich habe bereits Inszenierungen über meine beiden Helden ­gemacht. Im Theater Praktika das Stück „Beethovenˮ und im Gogol Center „Kafkaˮ in der Regie von Kirill Serebrennikov. Diese beiden Personen verkörpern für mich zwei entgegengesetzte Positionen. Beethoven sagt: „Du musst kämpfen und siegen.ˮ Kafka sagt: „Du musst kämpfen und verlierenˮ. Ich akzeptiere beide Lebensansichten. Wie sieht Ihre Heimat in 30 Jahren aus? In Russland verläuft die Zeit heute in die entgegengesetzte Richtung. Daher wird es in dreißig Jahren vor dreißig Jahren sein. Es wird die Zeit des Endes der Sowjetunion sein.

Dramaturg, Gogol Center MOSKAU / RUSSLAND

Valery Percheikin

Womit möchten Sie sich nicht mehr beschäftigen? Firmenveranstaltungen. Ich werde regelmäßig gebeten, einen Text für die Abendveranstaltung einer bekannten Marke zu schreiben. Es läuft dann immer so ab: Der Geschäftsführer philosophiert und bittet darum, ein Stück daraus zu machen. Dieses Stück funktioniert nicht. Nie. Was kann Theater, was nur Theater kann? Theater kann nicht wie ein Film angehalten werden. Vielleicht gibt es deshalb keine Werbeunterbrechung im Theater. Stellen Sie sich vor, Sie schauen sich eine Vorstellung an, plötzlich wird sie unterbrochen und die Künstler fangen an, Waschpulver anzupreisen. Das wäre sehr lustig. Muss man unbedingt mal ausprobieren!

VALERY PERCHEIKIN

wurde 1984 in Taschkent, Usbekistan, geboren. Er studierte kreatives Schreiben am Gorky Literary Institute in Moskau. Derzeit arbeitet er als Schriftsteller und Dramaturg am Gogol Center in Moskau und schreibt regelmäßig für das russische LGBT-Magazin „Kvir“. Als Produktionsdramaturg betreute er die Inszenierung „Kafka“ von Kirill Serebrennikov, die auch als Gastspiel am Deutschen Theater zu sehen war.

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Eine kleine Utopie

Ein Bericht von Sascha Krieger über die trinationalen Projekte des Jungen DT

Eine kleine Utopie

SASCHA KRIEGER

ist Theater-Blogger (stagescreen. wordpress.com) und nach eigener Aussage „im Hauptberuf Theaterzuschauer“. Er hat fast alle Inszenierungen des Jungen DT seit der Spielzeit 2009/10 gesehen, u.a. die trinationalen Projekte „Jugend. Erinnerung“ und „Hier.Stehe.Ich“ und darüber berichtet.

Im Juli 2015 versammelten sich jeweils sechs Jugendliche aus Deutschland, Polen und Russland im polnischen Krakau, um ein ungewöhnliches Projekt in Angriff zu nehmen: Gemeinsam wollten sie sich – 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – mit der Erinnerungskultur in ihren Ländern beschäftigen. Dazu reisten sie im Herbst auch nach Wolgograd und schließlich nach Berlin, sprachen mit Zeitzeugen und erarbeiteten gemeinsam ein Theaterstück, das am Volkstrauertag 2015 am Deutschen Theater in Berlin Premiere hatte. Entstanden war die Idee aber nicht etwa hier, sondern in der Evangelischen Kirche, genauer: im Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf. Dessen Superintendent Johannes Krug wollte wissen, wie sich Erinnerungskultur in die heutige Zeit und vor allem in eine junge Generation tragen ließe, die mit den üblichen Ritualen des Erinnerns wenig bis nichts anfangen kann. Der 70. Jahrestag des Kriegsendes erschien ihm als idealer Zeitpunkt für einen solchen Versuch. „Sein Wunsch war, dass junge Menschen neue Erinnerungsrituale entwickeln“, erinnert sich Birgit Lengers, Leiterin des Jungen DT. An sie trat Krug mit seiner Idee heran, weil er sich von Beginn an einen künstlerischen Rahmen für dieses Projekt wünschte. Lengers war sofort begeistert. Sie interessierte dabei vor allem die Frage, „wie man eine heutige jugendliche Perspektive nutzen kann, um eine Vergangenheit zu aktualisieren.“ Eine Perspektive, die in diesem „Jugend.Erinnerungˮ genannten Projekt eine zentrale Rolle spielen sollte. Im Stück gab es eine Szene, in der die heutigen Jugendlichen Tagebucheinträge ihrer damaligen Altersgenoss_innen vorlasen, persönliche Texte von Rutka aus dem polnischen Bedzin, Daria aus dem damaligen Leningrad und Liselotte aus dem damaligen Westberlin. Dabei verschmolzen zwei Sichtweisen miteinander: die der Heutigen, an denen es sein wird, Zukunft zu gestalten, und die ihrer Vorgänger_innen, die der ihren beraubt wurden. Jugendliche im gleichen Alter, im gleichen Moment des Sich-Zurechtfindens in der Welt und im Leben – und doch hineingeworfen in ganz unterschiedliche Wirklichkeiten. Die Annäherung heutiger Jugendlicher an die, die vor ihnen kamen, war nur einer der Brückenschläge, die Krug, Lengers und der Regisseurin Uta Plate vorschwebten: Brücken in die Vergangenheit, aber auch ganz gegenwärtige über Grenzen, Kulturen und insbesondere Vorurteile hinweg. Sich der jeweils anderen Perspektive auszusetzen, war für das Projekt entscheidend. Auch vor Ort: Jede_r war mal Gastgeber_in und mal Gast, musste heraus aus der eigenen Komfortzone, vor Ort lernen, was den Mitstreiter_innen wichtig war, ihre Lieblingsorte besuchen, einen Blick in ihre Leben werfen und auf diese Weise auch das eigene hinterfragen. Zumal man einander nicht entkam: Bei den jeweiligen Besuchen achteten die Organisatorinnen beispielsweise auf national gemischte Zimmer. „Das wirkt wie ein Katalysator des Kennenlernens“, sagt Lengers. Ein Schlüsselerlebnis war der Besuch im früheren Stalingrad. Der Stolz, mit dem die russischen

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Eine kleine Utopie

Jugendlichen dieser ‚Stadt der Helden‘ den anderen das monumentale Kriegerdenkmal auf dem Mamajew-Hügel zeigten, habe nachhaltige Wirkung auf alle gehabt und das gegenseitige Verständnis auf eine neue Ebene gehoben. Zu Beginn, so erinnert sich Lengers, waren die drei Gruppen sehr unterschiedlich: die Deutschen voller Selbstbewusstsein, kosmopolitisch und offen, die jungen Russ_innen weniger welterfahren und vorsichtiger, die polnischen Jugendlichen wiederum politisch und geschichtlich sehr gebildet. Und auch die Sichtweisen auf die Ereignisse, die verhandelt wurden, sorgten für Gräben, die es zu überwinden galt, etwa die vollkommen unterschiedlichen Einschätzungen der Rolle der – je nach Perspektive – sowjetischen „Befreier“ oder „Besetzer“. Uta Plate leitete eine Übung in Krakau an, bei der die Gruppen den jeweiligen Geschichtsunterricht ihres Landes nachspielen sollten – was schnell eskalierte. „Da haben sich diametral entgegengesetzte Narrative gezeigt, die zum Konflikt führten“, so Lengers. Für sie und für Plate ein Beispiel der „Ambiguitätstoleranz“, die solche Projekte trainieren können. Die schmerzhafte Thematisierung der Widersprüche zu erleben und dass man trotzdem, trotz unterschiedlicher Ansichten respektvoll, ja freundschaftlich miteinander umgeht, hatte kathartische Wirkung: „Das Erlebnis hat etwas elementar verändert“, weiß Lengers. Auch deshalb entschied man sich weiterzumachen: Das nächste Projekt trug den Titel „Hier.Stehe.Ich.ˮ Mit Jugendlichen aus Warschau, Berlin und St. Petersburg setzte es sich im Luther-Jahr 2017 mit individuellem Widerstand und der persönlichen Haltung in offenen wie geschlossenen Gesellschaften auseinander. Auch diesmal stand die Frage im Mittelpunkt, wie die Vergangenheit in die Gegenwart wirken kann, um Zukunft zu verändern. In diesem Fall aus den persönlichen Geschichten jener, die in unterschiedlicher Weise widerstanden und widerstehen. In jedem Land traf sich die Gruppe mit ehemaligen Dissident_innen wie gegenwärtigen Widerständler_innen und portraitierte sie auf der Bühne: in Polen Ludwika und Henryk Wujec von Solidarność, in Deutschland Bernd Albani vom Neuen Forum, in Russland die mittlerweile verstorbene Elena Gremina vom teatr.doc. Und auch hier zeigte sich eine große Differenz in den Erfahrungen. Es wurde sehr deutlich, dass Haltung zu bewahren in den drei Ländern nicht das Gleiche bedeutet und kostet. Dass es junge Menschen aus Deutschland, Polen und Russland sind, die sich in diesen Projekten begegnen, ist kein Zufall. Die Berührungspunkte und Konfliktlinien gemeinsamer Geschichte sind ebenso evident wie die räumliche Nähe. Und gerade in Berlin geht der Blick immer ein wenig stärker gen Osten – zu einem Verhältnis, das so schwierig ist wie komplex. Auch beim zweiten Projekt gab es so etwas wie eine Schlüsselszene: Im Stück wird eine Diskussion zwischen verschiedenen Generationen einer russischen Familie dargestellt, die auf einem Erlebnis in St. Petersburg beruht und in der der Jüngste, Mischa, eine „genetische Angst“ diagnostiziert, die sich in autoritären Gesellschaften vererbe. Eine Erkenntnis, die vielleicht helfen kann, diese Angst zu überwinden. Entstanden ist sie durch die Begegnung: mit anderen Perspektiven, Erfahrungen

und Hintergründen. „Es interessiert mich immer sehr, wie das Private das Politische spiegelt“, so Lengers. Und insbesondere, ergänzt Plate: „wie bestimmen Narrative, familiär bis national, das aufwachsende Individuum? Wie sehr wird die politische Identität durch die vergangenen Erlebnisse innerhalb der Familie bestimmt?ˮ Auch wenn in diesen Projekten der Weg das Ziel und das künstlerische Ergebnis nachgeordnet ist, spielt dieses doch keine unwichtige Rolle. Denn der theatrale Prozess kann, so weiß Birgit Lengers, einen wichtigen Beitrag leisten, das Erfahrene zu ordnen: „Man lernt wahnsinnig viel, wenn man das Erlebte formuliert und für andere künstlerisch aufbereitet.“ Auch aus diesem Grund war das Medium Theater von Beginn an ein zentraler Bestandteil der Projekte. „Theater ist eine soziale und kommunikative Kunstform, welche die Chance hat, Heterogenes und Widersprüchliches zu thematisieren“, sagt Lengers: „Rede und Gegenrede, das Ertragen von Konflikten und dass dabei jeder Recht hat und gleichzeitig Unrecht – das macht Theater aus. Und deshalb ist es die absolut passende Kunstform für diese Projekte.“ Dass dabei Kirche und Theater zusammentreffen, liegt nicht nur in der Person des Initiatoren Johannes Krug begründet. Beides sind Lengers zufolge „Orte, an denen man zusammenkommen und sich mit Themen, die über einen selbst hinausweisen, auseinandersetzen kann. Solche Räume zu finden, ist sehr kostbar.“ Ein weiterer Begegnungspunkt: Rituale spielen in Kirche wie Theater eine wesentliche Rolle, die Wiederholung gleicher Abläufe ermöglicht die Vergegenwärtigung der Themen und Fragen, mit denen man sich auseinandersetzt. Im ersten Projekt ging es explizit um ritualisierte Formen von Erinnerung – die Begegnung von Theater und Kirche bot dafür den idealen Raum. Ein Raum, der noch nicht erschöpft scheint. Auch in diesem Sommer werden sich erneut 18 Jugendliche auf den Weg machen, diesmal aus Berlin, Moskau und Warschau. Unter dem Titel „30.nach.89 – Talking About Your Generationˮ widmet sich das Projekt, wieder in der Regie von Uta Plate, pünktlich zum 30-Jährigen Jubiläum dem Jahr 1989. Einem Schicksalsjahr für alle drei Länder: mit „friedlicher Revolution“ und Mauerfall in der DDR, dem Sturz des kommunistischen Systems in Polen und den ersten freien Wahlen in der Sowjetunion. Die Jugendlichen werden mit der Generation ihrer Eltern in den Dialog treten, sich mit den Umbrüchen befassen, die diese erlebt hat, als sie so alt war wie ihre Kinder jetzt. Brüche, die auch deren Leben bis heute nachhaltig beeinflussen. Auch sie werden auf neue, zum Teil widersprüchliche Perspektiven treffen, auf junge Menschen, die mit dem europäischen Schicksalsjahr 1989 ganz anderes verbinden als sie selbst, die das Jahr als Aufbruch oder als Katastrophe betrachten – oder auch als beides. Sind aller guten Dinge drei und das diesjährige Projekt das letzte? „Wir machen unbedingt weiter“, sagt Birgit Lengers. „Zu erleben, dass ein Projekt es wirklich schafft, junge Menschen mit so verschiedenen Hintergründen zu einem Ensemble zu machen, ist eine wertvolle Erfahrung. Das gibt Hoffnung, dass Differenz und Diversität als Chance erlebt werden. Und das ist eine kleine Utopie.“

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5 Fragen 5 Antworten

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Wenn ich aus meinem Fenster blicke, sehe ich Leute, die hei­ raten. Deshalb sehe ich sehr oft glückliche Menschen. Ich ­würde aber auch gerne glückliche Menschen auf den gewöhn­ lichen Straßen meiner Stadt sehen. Wer sind Ihre Held_innen? Zunächst einmal ist dies eine Person, die wissen will, was in ihrer Umgebung vorgeht. Es ist eine Person, die sich permanent selbst in Frage stellt. In unserer Gesellschaft leben wir alle mit unserer Wahrheit, und es ist sehr wichtig, dass das, was für mich wahr ist, nicht in Konflikt gerät mit dem, was für eine andere Person wahr ist, sondern dass sich unsere Beziehung ergänzt. Wie sieht Ihre Heimat in 30 Jahren aus? Ich träume nicht davon, was morgen passieren wird, und es geht für mich nicht darum, dass mein Land besser lebt. Ich möchte, dass die Menschen jetzt ein gutes Leben führen, nicht besser, sondern einfach ein gutes Leben haben. Ich möchte, dass wir alle eine Art Gleichgewicht finden, eine innere Ruhe und Familienglück.

Regisseur MINSK / WEISSSRUSSLAND

Dmitry Bogoslawsky

Womit möchten Sie sich nicht mehr beschäftigen? Gleichgültigkeit. Ich denke, dass die gleichgültigen Menschen die gefährlichsten auf dieser Welt sind. Was kann Theater, was nur Theater kann? Theater kann eine Person nicht dazu zwingen, etwas zu tun, aber Theater kann einer Person den Impuls geben, zu handeln. Theater gibt keine Antworten auf Fragen, sondern stellt sie dem Publikum. Theater ist eine gemeinsame Arbeit des Künstlerteams und des Publikums. Lasst uns zusammenarbeiten!

DIMITRY BOGOSLAWSKY

schloss sein Studium an der Belarusian State Academy of Arts 2010 ab. Er ist Schauspieler, Dramatiker und Regisseur. Seit 2008 arbeitet er als Künstler am Belarus State Youth Theatre in Minsk, Weißrussland, wo er die Aufführungen „Sasha, take out the garbageˮ von Natalia Vorozhbit, „DreamWorksˮ von Iwan Vyrypayev und „Der Mann aus Podolskˮ von Dmitry Danilov inszenierte. Letztere wurde auf dem Festival Radar Ost gezeigt.

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Reiseimpressionen

17mal bin ich von Mitte August bis Anfang März in Richtung Osten aufgebrochen, war in Ungarn, Bosnien, Russland, Polen, der Ukraine, Tschechien, Serbien, Weißrussland, der Slowakei und Litauen, um Inszenierungen für das Festival Radar Ost zu sichten. Auf diesen Reisen habe ich ein paar Eindrücke notiert, die so oder ähnlich passiert sind. Hier fünf Miniaturen, aufgezeichnet in den Städten, aus denen die Gastspiele kommen, die vom 24. bis 26. Mai 2019 im Deutschen Theater Berlin zu sehen sind.

II MINSK, WEISSRUSSLAND 26/02/2019

Er wirft den Müll und meine Reisetasche auf den Rücksitz, lacht und flucht über die Kritiker, die gar nichts kapieren, nie. Über die Jungs in seinem Ensemble, die ihn in den Wahnsinn treiben mit dem Scheiß, den sie bauen, ständig. Er zündet sich eine Zigarette an, entscheidet, dass ich nicht rauche, viel zu gesund sähe ich aus. Er grinst und flucht weiter über die Anti-Soros-Plakate, die Schulleitung, die ihn kurz vor seinem Abschluss rausgeschmissen hat und den Rassisten, der einen Spruch gemacht hat über den farbigen Sohn seiner Freundin. Seine Freundin sei eine Superheldin. Er hätte den Typen umgehauen, aber seine Freundin sei viel klüger. Von den Ungarn sei allerdings nichts zu erwarten. Er wirft die Zigarette aus dem Fenster, alles Dulder, schon im Kommunismus hätte sich der Widerstand auf das Klauen von betriebseigenem Klopapier beschränkt. Er lacht und bremst, hängt sich aus dem Fenster, begrüßt schreiend Bekannte. Dies ist sein Viertel, strahlt er, hier ist er aufgewachsen. Er erzählt von der Drogensüchtigen, der beim Ladendiebstahl geraten wird, das Zeug doch besser dazulassen. Hier passt man aufeinander auf. Er zeigt mir einen goldenen Kettenanhänger, ein Chamäleon, sein Totem. Er könne sich auch verwandeln, innerlich. Unvermittelt parkt er auf dem Bürgersteig. Angekommen. In der Gästewohnung schauen wir aus dem Fenster in den Hinterhof. Lächelnd nimmt er die Sonnenbrille ab und zeigt auf den Schutt, der sich dort türmt, neben einer roten Rutsche. Perfekter Kinderspielplatz. Budapest, hier lernst du alles.

Sie sieht so jung aus, vielleicht 25, hat ein perfektes Puppengesicht und übersetzt hochprofessionell bei türkischem Kaffee und tausend süßen Köstlichkeiten. Über uns das Portrait von Lukaschenko. Die Intendanz ist vermutlich ebenso ewig und alternativlos wie die Amtszeit des Präsidenten. Geld spielt hier keine Rolle, erklärt mir der Theaterleiter. Es gehe um die Kunst und die erfahre sehr viel Unterstützung. Er hebt die schweren Arme, wir sollen einfach eine Summe nennen. Er steckt sich ein Konfekt in den Mund und legt mir nahe, besser noch eine zweite Inszenierung einzuladen. Zwei zum Preis von einer, wenn das kein Deal sei. Er lacht und schaut mir in die Augen. Die Übersetzerin blickt er nie an. Ich kann mich nicht entscheiden, wen ich anschauen soll, rühre das Kaffeepulver wieder auf, das sich endlich abgesetzt hatte. Später sitzen wir im Theater. Es ist voll, nur rechts und links von mir zwei leere Plätze. Ich versuche einen Scherz über den „Sicherheitsabstand“. Die Übersetzerin schaut mich verständnislos an und fragt unvermittelt, ob ich auf Instagram sei. Ich zeige ihr meine aktuelle Story mit einem Foto von der KGB-Zentrale, wo ich von Sicherheitskräften nachdrücklich entfernt werde. Sie schaut irritiert, lacht laut auf und ich bin mir sicher, sie ist höchstens 17.

Ostwärts

Fünf Reiseimpressionen von Birgit Lengers

I BUDAPEST UNGARN 13/12/2018

III PRAG TSCHECHIEN 02/11/2018 Der Theaterleiter spricht wunderbar eloquentes Literaturdeutsch. Er winkt den Barista an unseren Tisch, der mich mitleidig mustert, als ich einen Caffè Americano bestelle. Seit ich in der Stadt bin, benehme ich mich irgendwie unbeholfen, werde von Junggesellenabschiedsgruppen mitgerissen, bleibe auf der Karlsbrücke zwischen PortraitZeichnern und Straßenmusikern stecken und dann in der Blitzlichttraube vor der Astronomischen Rathausuhr, frage mich, was es da eigentlich zu sehen gibt, während ich dieselben Fotos mache. Dank der Kommentare zu meiner Insta-Story im Green House Coffee Prague weiß ich, dass ich im „Amsterdam des Ostens“ bin. Ich entkomme dem Altstädter Ring nicht, gehe im Kreis durch das Freiluftmuseum des ersten Bezirks und laufe endlos an immer gleichen Absinth-Bars, Souvenirläden, Trdelník-Ständen und Pils-Kneipen vorbei. Flyer zu 13 unterschiedlichen Mystery-Wanderungen durch die dunkle Seite der Stadt mit Geistern, Golem und garantiertem Grusel werden mir zugesteckt. Das ist nicht mehr nötig. An der Moldau fliehe ich in das kleine „Theater am Geländer“ und auf der Bühne endlich Menschen, die Tschechisch sprechen.

IV MOSKAU RUSSLAND 27/01/2019 16 Prozent. Nein. Das kann nicht sein. Sie haben das GPS Signal vor 21 Minuten verloren. Wo bin ich? Weiter und weiter nach unten gefahren bin ich. Niemand weiß, dass ich hier im Untergrund bin. Schon gar nicht der apathische Mann in dem Häuschen am Ende der endlosen Rolltreppen. Hinab, hinab, hinab. Wo bin ich? Wo will ich hin? Wie sah der Name der Station aus? Fing er mit Д an, oder mit Л, oder doch mit П? 9 Prozent. Ich muss hier raus. Wen kann ich fragen? Leere, verschlossene, gleichgültige Gesichter. Metro-Zombies. Verstehen sie Englisch? Sind sie bereit, Englisch zu verstehen? Wonach soll ich sie fragen? Wie heißt diese verdammte Station? Denk nach! Da waren Partisanen hinter den Säulen versteckt. Mit Gewehren, Stöcken und Eichenlaub. 5 Prozent. Vielleicht Ploschtschad Rewoljuzii… nein irgendetwas mit aja… Tretjakowskaja? Tschechowskaja? Twerskaja? 4 Prozent. Sämtliche Souveränität schmilzt mit dem Akkustand meines Handys. Ich werde hier nie herausfinden. Panik. Wie heißt mein Hotel? Wo liegt das Theater? Wann geht mein Flug? Wie lautet meine Telefonnummer? Das Handy wird erst rosa, dann schwarz. Es ist aus. Metro 2033. Metro 2034. Metro 2035. Metro – Im Netz des Todes. Die nächste Station wird angesagt: Partsanskaja. Eine Partisanin taucht hinter einem Marmorbogen auf und wirft mir ihre Handgranate entgegen. Gut. Ich bin gerettet. Jetzt brauch ich nur noch eine Steckdose.

V KIEW UKRAINE 14/02/2019 Im Foyer leben Romulus und Remus, die beiden Wasserschildkröten. Man sagt, solange es ihnen gut gehe, wird es auch dem Theater gut gehen. Masken und Blasinstrumente hängen an den Wänden und von der Decke, Requisiten und Bühnenbildteile sind halbherzig verräumt hinter Vorhängen. Trödelmarktcharme. Es gibt Rotwein aus Wassergläsern und Kuchen von Marusias Mama. Wirklich gut, ich müsse ihn probieren. Man zahlt, was man hat. Nach der Vorstellung verteilt Andrii Blumen und zweisprachige Ausgaben von „Alice im Wunderland“ an die Spielerinnen. Es ist Valentinstag. Alle küssen sich. Ich bekomme ein Strohblumengesteck. Nur 12 Stunden bin ich hier, fast die Hälfte der Zeit im Wohnzimmer der Dakh-Theater-Familie. Nun wird Bier getrunken und auf dem Klavier improvisiert. Die Instrumente sind nach der Vorstellung von der Bühne ins Foyer zurückgewandert. Künstler, Freunde. Mitarbeiter, Publikum – alle jammen zusammen. Ich habe den ganzen Tag nur den Kuchen gegessen und werde rasch betrunken. Andrii bringt mich zum Hotel. Die Mutter einer Spielerin schließt sich uns an. Ich weiß nicht, warum. Sie zeigt mir Videos der anderen, noch ganz kleinen Tochter. Ich revanchiere mich mit Handyfotos meiner Kinder. Wir nicken uns anerkennend zu. Andrii übersetzt. Sie möchte wissen, was eigentlich mein Mann davon hält, dass ich ganz allein hierher reise. Gute Frage.

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5 Fragen 5 Antworten

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Gerade jetzt sehe ich aus dem Fenster eines Kaffeehauses die Prager Burg auf dem Hradschin. Über der Burg stehen dicke Wolken. Und hinter ihnen sehe ich den klaren Himmel. Wer sind Ihre Held_innen? Bescheidene Leute, die ihr Heldentum nicht kundtun. Die nicht eingebildeten Gebildeten. Wie sieht Ihre Heimat in 30 Jahren aus? Wahrscheinlich viel offener, toleranter und kosmo­politischer. Wahrscheinlich wird sich auch der Begriff der Nation, der Volkszugehörigkeit verschieben und ändern. Womit möchten Sie sich nicht mehr beschäftigen? Mit Intoleranz und Oberflächlichkeit. Was kann Theater, was nur Theater kann?

Theaterleiter, PRAG / TSCHECHEIN

Petr Štědroň

Fragen stellen, Illusionen wecken und rauben.

PETR ŠTĚDROŇ

wurde 1976 in Brünn geboren. Seit 2013 ist er Leiter des Divadla Na zábradlí („Theater am Geländer“) in Prag. Zudem leitet er als Chefdramaturg das Prager Theaterfestival deutscher Sprache. Štědroň ist ausgewiesener Experte des deutschsprachigen Theaters. Er übersetzte Autoren wie R.W. Fassbinder, Dea Loher, Roland Schimmelpfennnig, Botho Strauß, Marius von Mayenburg, Peter Handke und George Tabori ins Tschechische und wurde 2014 als Übersetzer für den renommierten J. Jungmann Award nominiert. Die Inszenierung „Europeana“ des Divadla Na zábradlí wurde beim Festival Radar Ost gezeigt.

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von Mila Teshaieva

Das Versprechen einer ewigen Zukunft

Mila Teshaieva

MILA TESHAIEVA

geboren 1974 in der Ukraine, arbeitet fotografisch an Langzeitprojekten auf den Gebieten der ehemaligen UdSSR, insbesondere im Kaukasus und in der Region um das Kaspische Meer. Aus dieser Arbeit ist zum einen ihre Monographie „Promising Waters“ hervorgegangen, die 2013 im Kehrer Verlag erschien, zum anderen das Buch „Faces and Stories of Entrepreneurs“. Für ihre fotografische Arbeit hat Mila Teshaieva zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den 1. Preis in der Rubrik „NPPA Best of Photojournalist 2010", den „Critical Mass Book Award“ sowie den „PDN Photo Annual“. Erschienen sind ihre Bilder auf den Seiten des „Courrier international“, „British Journal of Photography“, „Time Magazine“, „Magazine Lightbox“ und vielen anderen. Mila Teshaieva lebt in Berlin.

Ich traf Luba in einem Dorf, das früher ein prosperierendes Zentrum der Kaviar-Produktion am Kaspischen Meer gewesen war. Doch die guten Zeiten waren längst vorüber, die KaviarFabrik hatte sich in eine Ruine verwandelt, und der Ort war eine von vielen Sackgassen geworden, gemieden von Reisenden wie von Einheimischen. Aber Lubas Geschichte war eine andere. Seit zwanzig Jahren kam sie weiterhin täglich in ihr staubiges Zimmer in dem leeren, teilweise zerstörten Bürogebäude, so als hätte sich dort nichts verändert. „Jemand muss die Papiere in Ordnung halten,“ sagte sie, „denn eines Tages wird die Fabrik ihren Betrieb wieder aufnehmen.“ Mit großer Selbstverständlichkeit hielt sie an ihrer alten Aufgabe fest, trotz all der Veränderungen, die sich um sie herum, in ihrem Dorf und in ihrem Land abspielten. Sie tat, was sie immer getan hatte und weigerte sich zu akzeptieren, dass sich alles, woran sie geglaubt hatte, als falsch herausgestellt hatte und dass ihr Stolz nichts weiter war als eine Müllhalde. Ursprünglich war ich an die Ufer des Kaspischen Meeres gereist, um die Veränderungen zu untersuchen, die die Ölvorkommen der Region gebracht hatten. Diese große Wasserfläche, offiziell weder ein Meer noch ein See, ausgestattet mit vielversprechenden Ölvorkommen, erschien mir als Metapher für immerwährende Versprechen, als Quelle für Hoffnung und das Leben selbst. Stattdessen fand ich mich in einem ganz besonderen Déjà-vu wieder: vor gigantischen Porträts neuer Führer, Vätern der Nationen, Bild und Stein gewordenen Ideen, wie ich sie als Kind der Sowjetunion gesehen hatte; vor Fassaden, die kunstvoll entlang der Hauptstraßen aufgestellt wurden, um die Brachen dahinter zu kaschieren. Alte Symbole des Stolzes wurden abgerissen und neue aufgebaut, mit derselben Idee einer nahen, strahlenden Zukunft. Die Neuerfindung einer nationalen Identität wurde durch Propaganda, Feindbilder und die Erschaffung eines neuen Nationalstolzes vorangetrieben. All das kam mir vor wie ein Theaterstück, das ich schon einmal gesehen hatte. Nur die Dekorationen hatten sich geändert. Während der nächsten vier Jahren bereiste ich die Gegend immer wieder, auf der Suche nach einer sich rasch verändernden Landschaft und nach den Geschichten der Menschen, die von den gesellschaftlichen Veränderungen betroffen waren. Die Macht staatlicher Ideologien, das Schicksal von Natur und Umwelt, all dies fand seinen Widerhall in den persönlichen Begegnungen vor Ort. Ich fragte mich nach dem Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Staat und Privatleben, und nach den Bedeutungen dieses ewigen Versprechens einer glänzenden Zukunft.

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7 Fragen an das Berliner Publikum

Impressum RADAR OST Magazin 19/20 Herausgeber: Deutsches Theater Berlin Schumannstraße 13a, 10117 Berlin Intendant: Ulrich Khuon Geschäftsführender Direktor: Klaus Steppat Redaktion: Claus Caesar, Bernd Isele, Birgit Lengers Gestaltung: Julia Kuon, Sabine Meyer Fotografie: Mila Teshaieva / Ostkreuz Druck: ELBE DRUCKEREI WITTENBERG GmbH Auflage: 2.500 deutschestheater.de

1. Glauben Sie, dass die Persönlichkeit eines Menschen grundsätzlich veränderbar ist?

von András Dömötör

7 Fragen an das Berliner Publikum

2. Können Sie sich vorstellen, dass ein zutiefst religiöser Mensch und ein Atheist Freunde fürs Leben sein können? 3. Waren Sie jüngst in einer Situation, die Ihre Persönlichkeit wahrhaft auf den Prüfstand gestellt hat? 4. Wann haben Sie sich zuletzt länger mit jemandem unterhalten, dessen Blick auf die Welt sich von Ihrem zum Beispiel in ­politischer Hinsicht grundsätzlich unterscheidet? 5.

ANDRÁS DÖMÖTÖR

Regisseur am Katona József Theater und Schauspiellehrer an der Theaterakademie in Budapest. Erhielt 2007 sein Regiediplom. Seit 2013 arbeitet er vermehrt an deutschsprachigen Bühnen. Er ist besonders an zeitgenössischen Stücken und Themen und an der Rolle, die das Theater in der Gesellschaft spielt, interessiert. Seine wichtigsten Regiearbeiten: „Sirenengesang“ von Péter Nádas, „Märtyrer“ von Marius von Mayenburg, „Marat/Sade“ von Peter Weiss und „Mephistoland“, das er mit zwei Koautoren für das Maxim Gorki Theater Berlin entwickelte. Er wurde von der ungarischen Theaterkritik als das „vielversprechendste Nachwuchstalent des Theaters“ ausgezeichnet. Am Deutschen Theater inszenierte Dömötör zuletzt „Solaris“ nach dem Roman von Stanisław Lem.

Welche Argumente würden Ihnen einfallen, wenn Sie ­­einen hartgesottenen Nationalisten von der gemeinsamen europäischen Identität überzeugen müssten? 6. Wann haben Sie zuletzt damit begonnen, etwas vollkommen Neues zu lernen? 7. Was würden Sie tun, wenn Sie in einem Hotelzimmer eine DVD mit geheimen pornographischen Aufnahmen von Donald Trump fänden?

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