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Ausgabe 2 — Spielzeit 2013/2014

Aus der Zeit fallen

dt Magazin


Inhalt

Editorial

Worte finden nach der Katastrophe Ein Gespräch mit dem Schriftsteller David Grossman Seite 4

Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit

Der Regisseur Tilmann Köhler über ‚Jugend ohne Gott‘ von Ödön von Horváth Seite 10

Der Spielplan für DEZEMBER Seite 12

Neu im Spielplan: Gift von Lot Vekemans ELEKTRA von Sophokles Seite 14

Schrumpfformen der Ekstase von Rebekka Kricheldorf Seite 18

Beste Absichten

„‚Tragödie‘ heißt, dass zu früh entschieden wird: gleichgültig, ob es möglich gewesen wäre, sich anders zu verhalten.“ Dass zu früh entschieden wird: Was der Literaturwissenschaftler Wolfram Ette über Sophokles ‚Elektra‘ geschrieben hat, gilt in anderer Weise auch für den Konflikt im Nahen Osten, der den Horizont des Werks von David Grossman ausmacht. Dessen zutiefst berührendes Requiem ‚Aus der Zeit fallen‘ inszeniert Andreas Kriegenburg im Dezember im Deutschen Theater. Mit Entscheidungen nicht einverstanden zu sein und gegen das „zu früh“ aufzu­ begehren, von solcher Herausforderung handelt ‚Jugend ohne Gott‘ von Ödön von Horváth. Wie auch die Entgrenzungssehnsüchte der Figuren in Rebekka Kricheldorfs ‚Alltag & Ekstase‘ einem Befehl zur permanenten Selbstoptimierung widersprechen, der sich mit Vorliebe das Gewand

Joël Pommerat erzählt von der existentiellsten und abgründigsten Beziehung überhaupt: der zwischen Eltern und Kindern Seite 20

der Freiwilligkeit überwirft. Und einen gern mitnähme in die ‚Republik des

In der Republik des Glücks

Glücks‘, wo, wie Martin Crimp weiß, der Traum vom glücklichen Leben zugleich

von Martin Crimp Seite 21

ein Albtraum ist.

Gewinnspiel / Service Seite 22

Zu guter Letzt verlosen wir ein paar Geschenke. Mitmachen lohnt sich.

Impressum Herausgeber: Deutsches Theater Berlin, Schumannstraße 13a, 1 ­ 0117 Berlin, Intendant: Ulrich Khuon, Geschäftsführender Direktor: Klaus Steppat, Redaktion: ­Claus Caesar, Gaby Schweer, Gestaltung: Sabine Meyer, Leila Tabassomi, Fotos: Arno Declair, Bild: Despina Stokou (Krobath Wien/Berlin, Derek Eller New York), Gesamtherstellung: Verlag Der Tagesspiegel GmbH, Druck: möller druck und verlag gmbh

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Worte f inden nach der Katastrophe Ein Gespräch mit dem Schriftsteller David Grossman über gute Geschichten, Leben mit dem Tod – und schnelles Laufen von Daniel Erk Daniel Erk — Wie beginnen Sie mit Ihren Büchern? David Grossman — Jedes Buch beginnt auf seine eigene Art. Ich erinnere mich, wie ‚Sei du mir das Messer‘ anfing: Ich saß in einer El-Al-Maschine auf einem Flug nach London. Vor den Toiletten war eine lange Schlange und ich sah dort eine Frau. Sie umarmte sich selbst, ihren Kopf gebeugt, und sie hatte ein Lächeln, das war so berührend, einzigartig und innig – ich sah sie und fragte mich: Was ist wohl ihre Geschichte? Und mit diesem Lächeln begann der gesamte Roman. Erk — Die Geschichten kommen zu Ihnen? Grossman — Meistens schon. Als ich mit ‚Sei du mir das Messer‘ fertig war, wollte ich einen Liebesroman schreiben. Aber ich hatte keine Geschichte. Eines Tages im Winter, ich hatte gerade das Haus verlassen und wollte in mein Auto steigen, sah ich einen Mann auf mich zukommen: Er hatte einen sehr großen Hund an der Leine. Er sagte: Entschuldigen Sie, kennen Sie diesen Hund? Mir hatte noch nie jemand so eine Frage gestellt. Und ich erkannte sofort die Geschichte.

mal ganz genau hin, ich laufe diesem Hund schon seit acht Uhr morgens hinterher. Es wurde immer interessanter. Es war fast zwölf Uhr mittags und ich fragte: Sie laufen seit vier Stunden hinter diesem Hund her? Rufen Sie doch die Polizei oder das Ordnungsamt! Er sagte: Ich arbeite beim Ordnungsamt und auf diese Art suchen wir nach den Besitzern von herrenlosen Hunden. Kurz danach saß ich in meinem Auto und fühlte mich so, als würde Honig aus dem Himmel auf mich fließen. Was für eine Geschichte! Ein Hund als Antrieb einer Liebesgeschichte! Der würde denjenigen, der ihm folgt – ich entschied, dass das ein 16-jähriger Junge sein sollte – zum Besitzer führen, einem ebenfalls 16-jährigen Mädchen. Der Hund würde natürlich nicht auf direktem Wege zu dem Mädchen gehen, so ein Hund hat schließlich seine ganz eigene Agenda. Außerdem hätte ich ja sonst keinen Roman. Und das war der Anfang des Buches ‚Wohin du mich führst‘. Erk — Ehe Sie Schriftsteller wurden, haben Sie beim Radio gearbeitet. Wie kam es dazu? Grossman — Als ich neun Jahre alt war, gab es im is-

David Grossman

raelischen Radio eine wöchentliche Wissenssendung, das war 1963, vielleicht schon 1962. In einer der SenErk — Woran? dungen sollten die Werke des jüdischen Schriftstellers Scholem Alejchem behandelt werden. Scholem Grossman — Es ist eine Geschichte, die man augen- Alejchem ist der Schriftsteller, der mein Leben auf blicklich mit anderen teilen will. Man hat sofort den eine eigenartige Weise am nachhaltigsten beeinImpuls jemanden anzurufen und zu sagen: Du wirst flusst hat. Als ich acht Jahre alt war, gab mein Vater mir eine seiner Geschichten zu lesen. nicht glauben, was mir gerade passiert ist. Erk — Was war mit dem Mann?

Erk — Recht jung.

Grossman — Ich sagte ihm, dass ich den Hund nicht

Grossman — Ja! Mein Vater lebte als Kind in einem

kenne. Und der Mann sagte: Bitte, schauen Sie noch-

jüdischen Schtetl, in Dynów in Galizien, im heutigen

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Polen. Er sprach kaum über seine Kindheit, aber ich glaube – nein: ich weiß, dass er dachte, dass mir diese Geschichte von Scholem Alejchem seine Kindheit erklären würde. Ich begann das Buch zu lesen und wurde davon sofort aufgesogen. Dieses bizarre, seltsame Leben der Juden in Polen, Russland und all diesen Ländern. All diese Institutionen der jüdischen Diaspora: der Ehestifter, die Jeschiwa-Bocher – die Thoraschüler – und all ihre Bräuche und diese ganze, seltsame Sprache. Ich las die erste Geschichte – und dann alle Geschichten von Scholem Alejchem. Für mich bedeuteten sie das, was für die Kinder von heute Harry Potter bedeutet: eine Welt, die gleichzeitig vertraut und fremd ist, mit eigenen Regeln und einer eigenen Sprache. Als dann dieser Wissenswettbewerb, der eigentlich für Erwachsene gedacht war, im Radio angekündigt wurde, sagte ich meinen Eltern: Ich will da mitmachen.

einflusst?

gaben. Nur dass Sie in sich gehen und Ihren Gefühlen und Erfahrungen Namen geben.

Grossman — Ich habe den Wert der Musikalität von Li-

Grossman — Genau darum geht es. Manchmal werde

teratur gelernt. Ich denke, ich komponiere meine Absätze, statt bloß Sätze zu schreiben. Jedes Mal, wenn ich sie lese, lese ich sie laut vor. Das kommt von meiner Arbeit beim Radio.

ich gefragt: Wie können Sie etwas so Privates veröffentlichen? Und ich sage: Es sind zwar intime Gefühle, aber nicht nur meine Gefühle! Wenn ich schon in der Lage bin, ein solches Gefühl zu benennen und ihm einen Namen zu geben, habe ich gar nicht das Recht, das Wort für mich zu behalten. Anderen Menschen in der Welt geht es auch so. Erst wenn man einen Begriff für ein Gefühl hat, wird genau diese Nuance seiner Bedeutung mit Leben gefüllt.

Erk — Hat die Arbeit für das Radio Ihr Schreiben be-

Erk — Ihr Sohn Uri ist in den letzten Tagen des zweiten Libanonkrieges gefallen. Ihr Roman ‚Eine Frau flieht vor einer Nachricht‘ handelte von der Angst vor dem Tod eines Kindes. Mit ihrem neuesten Werk ‚Aus der Zeit fallen‘ kehren Sie zum Thema des Verlustes eines Menschen zurück, um den es in ‚Eine Frau flieht vor einer Nachricht‘ schon ging. Wann haben Sie gemerkt, dass es noch mehr dazu zu sagen gab? Grossman — Es gibt einen so großen Unterschied zwi-

Erk — Durften Sie? Grossman — Meine Eltern haben sich zunächst über

mich lustig gemacht: Du bist doch ein kleiner Junge. Das hier ist etwas für Literaturprofessoren! Also habe ich die erste Postkarte meines Lebens gekauft und sie eingeschickt, um teilzunehmen. Eine Woche später erhielten meine Eltern einen sehr formellen Brief vom israelischen Staatsradio, in dem ich zur Vorauswahl eingeladen wurde.

schen der Angst, jemanden zu verlieren – und jemanden dann tatsächlich zu verlieren. Die Welt um einen herum ist nach solch einem Verlust komplett anders. Alles ist anders. Das Verständnis dieser Verflechtung von Leben und Tod ist plötzlich sehr konkret. Und die Endlichkeit von allem, was ist, wird einem sehr, sehr deutlich vor Augen geführt. Erk — Erlangen Sie dadurch, dass Sie Ihre Situation

mit Ihren eigenen Worten beschreiben, wieder die Kontrolle?

Erk — Und? Grossman — Ich schlug alle Mitbewerber. Ich glaube,

ich wurde den Veranstaltern ein wenig unangenehm. Also gab es eine Besprechung der Direktoren des Radios, in der entschieden wurde, dass es pädagogisch nicht zu vertreten sei – das war ihre Ausrede – dass so ein junges Kind so einen großen Geldpreis gewinnen würde. Wir sprechen von so was wie: 200 Dollar! Dafür erlaubten sie mir, bei der Übertragung anwesend zu sein, und wenn ein Teilnehmer des Wettbewerbs eine Antwort nicht wusste, würden sie die Frage an mich weitergeben. So geschah es. Mit der Zeit merkten die Leute beim Radio, dass da ein etwas ungewöhnliches Kind war und schlugen mir vor für sie zu arbeiten. Erk — Was haben Sie gemacht, als Neunjähriger? Grossman — Ich reiste mit einem Aufnahmegerät, be-

gleitet von meinem Vater oder meiner Mutter, in Bussen durch Israel und interviewte die wichtigsten Menschen des Landes – Fußballspieler. Später wurde ich Sprecher in Hörspielen, fing an Radio zu machen und selbst Hörspiele zu schreiben.

Grossman — Im Gegenteil: Ich hatte ja gerade jegliche Kontrolle verloren. Andererseits hatte ich diese Kontrolle über mein Leben vermutlich nie. Nein, ich glaube, das Schreiben hat mir vielmehr einen Weg gezeigt, wie ich mit dem, was mir zugestoßen ist, weiterleben kann. Im Sinne von: existieren. Wie ich leben kann, ohne die Realität auszublenden. Ich meine damit nicht, mich vollkommen in der Trauer zu verlieren. Ich bin kein Masochist, ich will nicht leiden. Aber ich will ganz und gar in meinem Leben sein. Mit allem, was dazugehört. Mit den guten Seiten, von denen es ziemlich viele gibt, aber auch mit den schlechten Seiten. Ich sagte mir also: Wenn ich schon das Unglück habe, auf diese Insel des Exils verbannt worden zu sein, dann werde ich sie zumindest mit meinen eigenen Worten vermessen. Ich werde den Dingen, die ich fühle, meine eigenen Worte geben, nicht die Worte, die mir andere gaben. Und darum geht es in dem Buch. Darum, Worte zu finden. Es geht darum, in der Lage zu sein über eine Kata­s­tr­ophe zu sprechen. Erk — Klingt nach der Zeit, als Wissenschaftler in die Welt auszogen und Tieren und Insekten Namen

Erk — Wie meinen Sie das? Grossman — Ich erkläre es an einem Beispiel: Bis An-

fang der 60er sind wir Israelis nie frustriert gewesen. Einfach, weil es das Wort „frustriert“ nicht gab. Wir waren wütend, enttäuscht oder bitter. Aber es gab im Hebräischen nicht diese Nuance, die das Wort „Frustration“ in sich trägt. Ich glaube, es war 1962, als die Akademie der hebräischen Sprache sich versammelte und versuchte, das Wort zu übersetzen. Jemand schlug „Tis’kul“ vor. Ein neues Wort, das in die Öffentlichkeit geworfen und sofort allgemein angenommen wurde. Die Israelis waren so froh, endlich frustriert sein zu können! Plötzlich gab es ein Wort, das die emotionale Bandbreite ein wenig erweiterte! Und das ist es, was Schriftsteller tun: Wir finden Worte für Gefühle, die unklar und unaussprechlich sind. Bis man das richtige Wort dafür findet. Erk — Wie sind die Reaktionen? Der Tod eines Kindes ist ja eine Ur-Angst und, wenn man das erlebt, ein tiefer Einschnitt im Leben. Grossman — Ich erlebe viel Dankbarkeit. Nicht nur in Israel. Überall dort, wo das Buch veröffentlicht wurde, erlebe ich das. Es gibt so viel Trauer in der Welt. Ich erinnere mich, wie sich nach der ersten Lesung des Buches im Ausland – in Belgien – eine sehr, sehr lange Schlange von Menschen bildete, die ein Autogramm haben wollten. Eine Frau zeigte mir das Bild ihrer verstorbenen Tochter. Eine andere Frau begann zu weinen. Sie konnte kaum sprechen und sagte dann, dass sie um ihren Sohn trauere, der vor 25 Jahren im Alter von drei Monaten gestorben war. Sie war immer noch mittendrin in diesem Gefühl, am Boden zerstört, als wäre es an diesem Tag geschehen. Andere sagten, dass sie durch dieses Buch die Trauer ihrer Freunde, die ein Kind verloren hatten, besser verstehen konnten. Und das passiert natürlich auch in Israel, wo so viele Eltern Kinder im Krieg haben.

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Worte finden nach der Katastrophe

David Grossman

Erk — Was beiden Büchern gemein ist, ist das Motiv des Laufens. Wann haben Sie gemerkt, dass Laufen für Sie einen therapeutischen Effekt hat? Grossman — Erst vor zehn Jahren. An meinen 50sten Geburtstag entschied ich, mir selbst ein Geschenk zu machen, nämlich: den Israel National Trail entlang zu wandern. Das ist ein Wanderweg durch das ganze Land, der im Norden in Galiläa beginnt und bis zum Roten Meer führt. Ich bin von der libanesischen Grenze bis nach Jerusalem gewandert, die Hälfte des Weges. Den Abschnitt im Norden bin ich seitdem mehrmals gelaufen, meiner Meinung nach ist das der schönste Teil: rund um Ramin, jenseits der Chulaebene, in den Bergen von Naftali. Wenn ich nur davon spreche, würde ich am liebsten sofort hin und loslaufen! Erk — Wie kam es denn dazu, dass ‚Aus der Zeit fallen‘ in Berlin uraufgeführt wird? Grossman — Sie haben zuerst gefragt! Erk — So einfach ist das? Gab es keine Anfragen von israelischen Theatern? Grossman — Das ist tatsächlich interessant: Normalerweise, wenn ich ein Buch veröffentliche, habe ich nach einigen Tagen Anfragen von israelischen Regisseuren und Intendanten. Nicht so bei ‚Aus der Zeit fallen‘, aber das hatte ich schon geahnt. Das Stück wird in Italien, Schweden, Frankreich und Deutschland aufgeführt werden, aber nicht Israel. In Israel ist das ganze Thema eine große, offene Wunde. Für die Menschen in Israel ist es immer noch unerträglich diese Geschichte auf einer Bühne zu sehen. Sie können sie lesen. Allein, zuhause. Aber in einem Theater? Nein.

David Grossman, geboren 1954 in Jerusalem, ist einer der einflussreichsten Schriftsteller und Journalisten Israels. In seinen Romanen und Erzählungen, Essays und Kinderbüchern, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet wurden, setzt er sich vor allem mit der Identität seines Landes und dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinander. Er beteiligt sich an der politischen Debatte um eine friedliche Lösung im Nahen Osten. Während der Arbeit an dem Roman ‚Eine Frau flieht vor einer Nachricht‘ starb sein Sohn im Zweiten Libanonkrieg. 2010 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein neuestes Werk ‚Aus der Zeit fallen‘ wird im Deutschen Theater uraufgeführt.


AUS DER ZEIT FALLEN von David Grossman

Ein Mann und eine Frau sitzen beim Abendessen. Plötzlich steht der Mann auf und sagt, er müsse gehen. Wohin, will die Frau wissen. Zu ihm. Das ist der Tote. Der gemeinsame Sohn, gestorben vor fünf Jahren, im Krieg gefallen. Nicht enden will beider Trauer um ihn. Doch während die Frau ans Jetzt, an das Leben erinnert, bricht der Mann auf an den Ort, den es nicht gibt. Er umkreist den Hof, dann das Haus, dann die Stadt. Er geht immer weiter. Seine Geschichte vermischt sich mit der vieler anderer, die er trifft, die auch ihre Kinder verloren haben. Die Stimmen von Herzog, Hebamme, Schuster, Zentaur, Lehrer vereinen sich zu einem Chor von Gehenden, Trauernden, unterwegs zu den Toten, zu einer unmöglichen Begegnung. Grossmans Text ist Totenklage und Hymne auf das Leben zugleich. „Grossman triumphiert mit dieser Arbeit über den Tod, weil es ihm gelingt, die Trauer bis in ihre verborgensten Winkel sprachlich auszuloten. Es erscheint pietätlos, einen Text, der so aufgeladen ist, für seine Genauigkeit und seine Musikalität zu loben, aber genau in dieser Qualität findet man als Leser Halt.“ Der Spiegel

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Es spielen: Barbara Heynen, Daniel Hoevels, Jürgen Huth, Katrin Klein, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Matthias Neukirch, Jörg Pose, Janina Sachau, Natali Seelig Regie: Andreas Kriegenburg Bühne: Olga Ventosa Quintana Kostüme: Andrea Schraad Dramaturgie: Juliane Koepp

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Jörg Pose

Uraufführung: 13. Dezember 2013 weitere Vorstellungen: 14., 18., 29. Dezember 2013 und 2., 15., 24. Januar 2014 Ort: Deutsches Theater


Christoph Franken

versteht nicht, warum sie so handeln wie sie handeln. Sie scheinen sich problemlos mit dem neuen System, dem beginnenden NS-Regime, arrangiert zu haben. Fassungslos und ohnmächtig zieht sich der Lehrer in seinen privaten Raum zurück und begünstigt so einen Mord an einem seiner Schüler.

Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit Orientierungslosigkeit und Ohnmacht, Handeln oder Schweigen Der Regisseur Tilmann Köhler spricht auf der Konzeptionsprobe über Horváths Roman ‚Jugend ohne Gott‘

„Ursprünglich hatte Horváth als Romantitel vorgesehen: ‚Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit‘. Das gibt eine Richtung vor für das, was Horváth untersuchen wollte.

Menschen, die nicht viel älter waren als ich, es über Jahre hinweg als Mission ansehen, wahllos andere Menschen abzuschießen? Wie kommt man dahin, sich auf diese Art gegen eine Gesellschaft zu stellen? Und dann war da die Hilflosigkeit der Eltern, ihre Fassungslosigkeit darüber, was aus den eigenen Kindern geworden ist, wie man so den Kontakt zu ihnen verlieren konnte.

Mich interessiert in ‚Jugend ohne Gott‘ die Befragung des eigenen Gewissens nach einer wahrhaftigen Aufrichtigkeit, die schwierige Aufgabe, in einer scheinbar regellosen Welt für sich selbst Werte und eine Moral zu finden – eine Notwendigkeit, eine Kon- Genauso bleiben auch die Schüler in ‚Jugend ohne sequenz, eine wirklich sinnstiftende Nutzung der Le- Gott‘ uneinschätzbar und fremd. Horváth lässt uns benszeit. Wie bleibt man wach für das, was man tut? nicht in sie hineinschauen. Diese Fremdheit, die 2010 habe ich Horváths ‚Italienische Nacht‘ in Dres- Angst vor den Unbekannten, vor den Schülern, ist ein den inszeniert und in diesem Zusammenhang ‚Ju- wichtiges Motiv des Romans. ,Jugend ohne Gott‘ ergend ohne Gott‘ zum ersten Mal gelesen. Im letzten zählt vom Nicht-mehr-Verstehen der nächsten GeneJahr wurde der Stoff dann wieder aktuell für mich, als ration, vom Bruch, der nicht mehr überbrückbar ist. die NSU-Morde aufgedeckt wurden. Wie konnten Da blickt ein 34-jähriger Lehrer auf seine Schüler und

Horváth schreibt ‚Jugend ohne Gott‘ 1937, als er sich selbst bereits im Exil befindet. Ich finde es erstaunlich, wie deutlich sich für Horváth zu diesem Zeitpunkt die unausweichlichen Konsequenzen des Systems abzeichneten – auch wenn dem Stück in gewisser Weise mehr Hoffnung eingeschrieben ist, als sich in den nächsten acht Jahren bewahrheiten sollte. Da gibt es einen Club von widerständigen Jugend­ lichen und natürlich die Umkehr des Lehrers, der sich schließlich entscheidet, doch die Wahrheit zu sagen, trotz der Konsequenzen, die für ihn fatal sind. Darin liegt – trotz all der Düsternis – immer noch viel Hoffnung.

auch die Fragen an die eigene Arbeit, sehr gut nachvollziehen. Das klingt absurd, schließlich lebe ich nicht in einem so sichtbar totalitären System. Die Propaganda, zu der sich der Lehrer verhalten muss und schweigt, ist ganz anders als der Zwang zur indi­ viduellen Freiheit, dem ich mich ausgesetzt sehe. Warum spricht es mich trotzdem an? Von heute aus lässt sich sehr gelassen und wissend auf vergangene Zeiten blicken. Es lässt sich gut sagen, was das richtige Verhalten gewesen wäre. Natürlich immer mit der Einschränkung, man wüsste ja nicht, wie man sich selber verhalten hätte. Was trotzdem immer impliziert, ich hätte es schon besser gemacht. Aber wenn wirklich die Entscheidung ansteht, den Job aufzugeben, auszusteigen, das Brot auszuschlagen für die eigene Überzeugung, greifen auch heute sehr schnell die inneren Argumentationsmodelle, die das Schweigen, das Mitlaufen, das Nicht-Handeln rechtfertigen.

Ein Bild, das mir bei Horváth nicht aus dem Kopf geht, Horváth lässt in ‚Jugend ohne Gott‘ drei Generatio- ist sein plötzlicher Tod auf den Champs-Élysées in nen aufeinandertreffen. Sein Bezugspunkt dabei ist Paris. Er war unterwegs, um über die Filmrechte von der Erste Weltkrieg. Die erste Generation sind die El- ‚Jugend ohne Gott’ zu verhandeln, ein Sturm kam auf, tern. Sie sind noch im Kaiserreich aufgewachsen und und Horváth wurde mit 36 Jahren von einem herunhaben den Ersten Weltkrieg aktiv erlebt. Die zweite terfallenden Ast erschlagen. Dieses plötzliche AbGeneration ist die Generation des Lehrers – zu der schneiden von Leben macht die in seinem Stück anauch Horváth selbst zählt. Seine Generation hat den gestoßenen Fragen für mich selbst noch viel Krieg in der Pubertät sehr bewusst erlebt. Die Schü- drängender. Wie wird man notwendig? Wie verbringt ler, die dritte Generation, sind nach dem Ersten Welt- man diese begrenzte Lebenszeit sinnvoll und sinnkrieg geboren. Sie sind Kinder einer unsicheren stiftend?“ Umbruchszeit, der orientierungslosen Weimarer Republik. Als Horváth ‚Jugend ohne Gott’ schreibt, ist die Weimarer Republik bereits durch das deutsche Volk abgewählt. Es hat sich für die nächste starke Hand, für den nächsten Totalitarismus entschieden. Horváth verortet die Erzählung nicht direkt in der NSZeit. Trotzdem ist der Stoff in all seinen Poren, in all seinen Zwängen, sehr eng an seine Entstehungszeit geknüpft. Viele der Konflikte, viele der Themen Horváths greifen aber über diese Entstehungszeit des Romans hinaus, deshalb erreicht mich ‚Jugend ohne Gott’ noch heute, deswegen ist es heute noch notwendig, diese Geschichte zu erzählen. Horváth stellt sehr offen immer wieder die Frage: Wann muss ich handeln? Wie viele Kompromisse darf ich eingehen, um mein bequemes Leben zu schützen? Brot oder Tod? Wie schuldig kann das Nicht-Handeln machen? Welche Konsequenzen muss ich aus den mich umgebenden, sichtbaren Moralverstößen ziehen? Der Roman beginnt mit dem 34. Geburtstag des Lehrers. Ich werde genauso alt während dieser Produktion, und ich kann viele der Selbstzweifel dieser Figur,

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Jugend ohne Gott

Ödön von Horváth

Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth

Es spielen: Christoph Franken, Thorsten Hierse, Anton von Lucke, Helmut Mooshammer, Harry Schäfer, Maike Schmidt, Barbara Schnitzler Regie: Tilmann Köhler Bühne: Karoly Risz Kostüme: Susanne Uhl Musik: Jörg-Martin Wagner Dramaturgie: Meike Schmitz Premiere: 18. Dezember 2013 weitere Vorstellungen: 22., 28. Dezember 2013 und 4., 8., 19. Januar 2014 Ort: Kammerspiele Koproduktion mit der HfS ‚Ernst Busch‘


So 8. 11.00 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Gregor Gysi trifft Corinna Harfouch Elektra von Sophokles Ihre Version des Spiels von Yasmina Reza Leerlauf von Rik van den Bos

Mo 9. 20.00 Uhr 20.00 Uhr

Ulrich Matthes liest Schiller-Balladen Verkommenes Ufer Medea­material Landschaft mit Argonauten / Mommsens Block von Heiner Müller

Di 10. 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Jules und Jim nach dem Roman von Henri-Pierre Roché In der Republik des Glücks von Martin Crimp

Mi 11. 19.30 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr Do 12. 19.00 Uhr 20.00 Uhr 20.00 Uhr

Demokratie von Michael Frayn Jules und Jim nach dem Roman von Henri-Pierre Roché Coriolanus von William Shakespeare

Fr 13. 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Aus der Zeit fallen Uraufführung  von David Grossman Lenz von Georg Büchner

Sa 14. 13.00 Uhr 16.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr 21.30 Uhr

Führung durch das DT   Hilfe, die Herdmanns kommen!  Premiere  von Barbara Robinson Aus der Zeit fallen von David Grossman Biografie: Ein Spiel von Max Frisch er nicht als er von Elfriede Jelinek Fahr doch allein Karussell Lieder vom Leben

2035 oder Mit 40 eröffne ich ein Hotel auf dem Mond Idomeneus von Roland Schimmelpfennig Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith

Diebe

von Dea Loher

Spiel plan   8. Dezem ber 2013

So 15. 11.00 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr 21.00 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge Leerlauf von Rik van den Bos Das Mädchen mit den Schwefelhölzern / A Christmas Carol Ein vorweihnachtlicher Stummfilmabend

Mo 16. 17.00 Uhr 19.30 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Lenz von Georg Büchner

Di 17. 19.30 Uhr 20.00 Uhr 20.00 Uhr

Burn Baby Burn von Carine Lacroix Hedda Gabler von Henrik Ibsen Stallerhof von Franz Xaver Kroetz

Mi 18. 19.00 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr

2035 oder Mit 40 eröffne ich ein Hotel auf dem Mond Aus der Zeit fallen von David Grossman   Jugend ohne Gott  Premiere   von Ödön von Horváth

Do 19. 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller Leerlauf von Rik van den Bos

Fr 20. 11.00 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr 20.00 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Elektra von Sophokles Tschick nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf Geschichten von hier I: Glaube Liebe Hoffnung Ein Projekt von Frank Abt

Sa 21. 16.00 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Agonie Ein zaristisches Lehrstück über die letzten Tage der Romanows In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge Hans Schleif Eine Spurensuche

So 22. 11.00 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 21.30 Uhr

Ulrich Matthes liest Alice Munro Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth Gift von Lot Vekemans Moritz Grove präsentiert Casablanca Ein Liederabend

Mo 23. 19.00 Uhr 19.30 Uhr

Das Himbeerreich von Andres Veiel In der Republik des Glücks von Martin Crimp

Tickets unter 030.284 41-225

bis 3. Januar 2014

Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller

Demokratie von Michael Frayn

Di 24.

Frohe Weihnachten

Mi 25. 19.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller Muttersprache Mameloschn von Marianna Salzmann Jules und Jim nach dem Roman von Henri-Pierre Roché

Do 26. 16.00 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Ödipus Stadt von Sophokles, Euripides, Aischylos In der Republik des Glücks von Martin Crimp Antwort aus der Stille nach der Erzählung von Max Frisch

Fr 27. 19.30 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Diebe von Dea Loher Hans Schleif Eine Spurensuche Der Heiler Monolog von Oliver Bukowski

Sa 28. 16.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Gift von Lot Vekemans Yellow Line von Charlotte Roos / Juli Zeh Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth

So 29. 16.00 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Hilfe, die Herdmanns kommen! von Barbara Robinson Aus der Zeit fallen von David Grossman Biografie: Ein Spiel von Max Frisch Lenz von Georg Büchner

und www.deutschestheater.de

Mo 30. 19.30 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr

Capitalista, Baby! nach ‚The Fountainhead‘ von Ayn Rand Brandung von Maria Milisavljevic Die schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre

Di 31. 18.00 Uhr 19.00 Uhr 22.00 Uhr

Sklaven Einakter von Georges Courteline Elektra von Sophokles Moritz Grove präsentiert Casablanca Ein Liederabend

Frohes Neues Jahr

Mi 1. 19.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Das Himbeerreich von Andres Veiel Tschick nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf Yellow Line von Charlotte Roos / Juli Zeh

DO 2. 19.30 Uhr 20.00 Uhr 20.00 Uhr

Aus der Zeit fallen von David Grossman Wastwater von Simon Stephens Jules und Jim nach dem Roman von Henri-Pierre Roché

FR 3. 19.30 Uhr

Ödipus Stadt von Sophokles, Euripides, Aischylos


Dagmar Manzel, Ulrich Matthes

gift

von Lot Vekemans „Grandioses Schauspielertheater, das sich in schwierigste Gefilde wagt und keinen Augenblick an sich selbst zweifelt. Ein Elternpaar hat sein einziges Kind verloren. Der Sohn wurde vor den Augen der Mutter angefahren und starb im Krankenhaus. Der trauernde Mann verlässt die trauernde Frau und fängt ein neues Leben an. Die Frau bleibt und macht einfach weiter. Nach neun Jahren sehen sie sich wieder. Wir werden Zeuge, wie sie einander ver­ letzen, schonen, analysieren, befragen, zuhören, wieder­ finden. Wie sie sich trösten, obwohl es keinen Trost gibt, und lieben, obwohl ihre Liebe vergangen ist. (…) Man beguckt sich Frau Manzel und Herrn Matthes in ihren Rol­ len. Man bewundert ihre Präsenz und ihre Fähigkeit, Pausen zu setzen, augenblicksgenau Emotionen abzurufen und auszuleben.“ Berliner Zeitung Es spielen: Dagmar Manzel, Ulrich Matthes Regie: Christian Schwochow Bühne: Anne Ehrlich Kostüme: Pauline Hüners Dramaturgie: John von Düffel Vorstellungen: 22., 28. Dezember 2013, 4., 20., 30. Januar und 1. Februar 2014 Ort: Deutsches Theater

Jörg Pose

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Agonie

Agonie


4 Elektra von Sophokles

Es spielen: Tabea Bettin, Andreas Döhler, Felix Goeser, Katharina Marie Schubert, Michael Schweighöfer, Anita Vulesica, Susanne Wolff; Michael Mühlhaus, Masha Qrella (Musiker) Regie: Stefan Pucher Bühne: Barbara Ehnes Kostüme: Annabelle Witt Video: Chris Kondek Musik: Christopher Uhe Dramaturgie: Claus Caesar

16 Vorstellungen: 8., 20., 31. Dezember 2013 und 8., 16. Januar 2014 ­— Ort: Deutsches Theater Interview mit Charlotte Roos und Juli Zeh

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Katharina Marie Schubert, Michael Mühlhaus, Mascha Qrella, Anita Vulesica

„So muss ich denn mit eigner Hand und ganz allein die Tat vollbringen.“


Schrumpfformen der Ekstase Rebekka Kricheldorf über die Unmöglichkeit nicht an sich zu arbeiten, fehlende Rituale und das Herumspielen mit exotischen Praktiken der Selbstvergessenheit

So viel bei sich wie heute war man noch nie. Der tolerante, vernunftbegabte Bürger macht täglich was aus sich, bastelt am optimalen Ich, hinterfragt seine Motive, analysiert seine Defizite und klopft seine Konsumentscheidungen auf eventuell unzu­ reichend reflektierte Rückstände ab. Die Suche nach dem Außersichsein, den Momenten der Selbstver­ gessenheit gestaltet sich in dieser Atmosphäre der freiwilligen Selbstkontrolle und dem übermäßigen Interesse am eigenen Ego nicht ganz so leicht.

Früher konnte man schön gegen die falsche Moral der Gesellschaft wettern, ihre Doppelzüngigkeiten und Verklemmtheiten anprangern und lustvoll untergraben. Heute ist die Moral ein eigenverantwortlich entworfenes, individuelles Konstrukt und kann somit nur mit den Mitteln der Selbstausblendung und um den Preis eines schizophrenen, schlechten Gewissens sich selbst gegenüber ausgehebelt werden. ICH ARBEITE HEUTE MAL NICHT AN MIR ist eine unmögliche Forderung, da man gleichzeitig Arbeit-

Harald Baumgartner, Franziska Machens, Thomas Schumacher, Jannek Petri, Judith Hofmann

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geber, Arbeitnehmer und zu bearbeitendes Material darstellt. Wenn alles erlaubt ist, aber eben auch vom Ich, dem Maß aller Dinge, erlaubt werden muss und dieses Ich der größte Diktator aller Zeiten ist, wohin dann mit der Sehnsucht nach Ekstase? Warum überhaupt Ekstase? Sie ist unvernünftig und sinnlos geworden in einer Gesellschaft, die jeden esoterischen Sinn verloren hat. Und sie birgt gewisse Risiken. Man kann ja an Alkoholvergiftung sterben. Oder an AIDS. Oder jemanden im Suff erschlagen. Oder die Kon­ trolle über seine mühsam konstruierte Identität verlieren. Trotzdem bleibt das Bedürfnis nach Ekstase da. Und vielleicht sind gerade die Fehlversuche, die keinen rituellen Rahmen mehr haben, das eigentlich Gefährliche. Vielleicht ist der völlige Verzicht darauf die bessere Wahl. Da keiner die alten, bösen Zeiten der Repressionsgesellschaft zurück will, muss man eventuell akzeptieren, dass ein Leben ohne Fallhöhe eben der Preis für die Errungenschaften der gemütlichen modernen Zivilisation ist.

Denn: Ein bisschen Ekstase ist nicht zu haben. Es gibt keine politisch korrekte Ekstase. Ohne Opferbereitschaft auch keine Grenzerfahrung. Wenn die religiöse Dimension fehlt, ist Rauscherfahrung nur noch Oktoberfest. Und auch das Herumspielen mit exotischen Praktiken der Selbstvergessenheit ergibt noch lange keine eigene Ekstase-Kultur.

Manch einen, der das noch nicht begreifen will, sieht man mit geweiteten Pupillen durch die nächtlichen Städte schwanken. Die Drogenexperimente der Jugend werden von den Erwachsenen (also jenen, die im Kampf gegen das Realitätsprinzip längst die Waffen gestreckt haben) gerne als Flucht vor einem Problemleben bezeichnet. Der Begriff „Betäubungsmittelgesetz“ impliziert schon den Verdacht, dass es sich hierbei um reine Betäubungsversuche handelt. Aber Drogenkonsum, nicht nur durch die Brille der Suchtkrankheit gesehen, kann auch als Sehnsucht nach einer religiös-kultischen Praktik des Außersichseins gelesen werden. „Ich habe mit Gott gesprochen“ hört man häufig als Quintessenz des Tripberichts. Darüber wird sich lustig gemacht, aber wenn man die dahinter wohnende Sehnsucht ernst nimmt, ist das Sichwegballern der traurige Restbestand eines religiösen Ritus für Menschen, deren rationalistische Weltsicht kein großes Dahinter mehr kennt. Der zur Vernunft gekommene Erwachsene geht nicht mehr gern das Risiko der Selbstauslöschung ein, das diese Kultform auch beinhaltet. Trotzdem redet er gerne von früher, wie er sich damals schön weggeschossen hat, und träumt nach dem vierten Viertel Bio-Wein vom „wieder mal nen Trip schmeißen“, ein Vorhaben, das er am nächsten Tag, wenn er verkatert ins eigene vorwurfsvolle Gesicht im Badezimmerspiegel blickt, schleunigst wieder verwirft.

Alltag & Ekstase. Ein Sittenbild

Na ja, bleibt ja noch der Sex. Aber Sex als Rausch gelingt auch nur, wenn man dabei nicht ständig über die Qualität seiner Performance nachdenkt. Ein zeitgeistkompatibler Ekstase-Versuch ist also naturgemäß zum Scheitern verurteilt und wird zur Komödie.

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Alltag & Ekstase

Rebekka Kricheldorf

von Rebekka Kricheldorf

Janne ist ein moderner junger Mann um die 40. Er macht etwas aus sich – und zwar täglich. Seine Ex Katja, mit der Erziehung der gemeinsamen Tochter River überfordert, sucht Trost bei diversen neuen Traumprinzen und in der Freundschaft zu Jannes Mutter Sigrun, die ihrerseits die Schnauze voll hat von hegemonialer Männlichkeit und sich für ein Leben ganz ohne Männer entschieden hat. Jannes Vater Günther, der weitgereiste Ethnologe, lässt sich unterdessen keine christlich-eurozentristischen Scheuklappen anlegen und feiert, sehr zum Ärger seines spießigen Sohnes, gern das eine oder andere exotische Ritual. Als Günthers japanischer Lover Takeshi in Deutschland auftaucht, gerät so manches Selbstbild ins Wanken. Alle Mitglieder dieser Patchwork-Familie sind auf der Suche nach Momenten der Ekstase und des Außer-sich-Seins, denn: So sehr „bei sich“ wie heute war man noch nie. Es spielen: Harald Baumgartner, Judith Hofmann, Franziska Machens, Jannek Petri, Thomas Schumacher; Zoë Seelig, Nermina Jovanovic Regie: Daniela Löffner Bühne: Claudia Kalinski Kostüme: Sabine Thoss Dramaturgie: Ulrich Beck Premiere: 17. Januar 2014 weitere Vorstellungen: 23., 28. Januar 2014 Ort: Kammerspiele


In der REpublik des Glücks von Martin Crimp

Beste Absichten Joël Pommerats Stück ‚Dieses Kind‘ erzählt von der existenziellsten und abgründigsten Beziehung überhaupt: der zwischen Eltern und Kindern

20 ­— Dieses Kind

Eine Inszenierung des Jungen DT

Dieses Kind von Joël Pommerat

Eine Schwangere verkündet, dass ihr Kind glücklich werden muss. Eine Fünfjährige siezt ihren eigenen Vater. Eine Mutter redet ihrer Tochter ein, dass sie unglücklich wer­ den wird, weil sie anders ist, als die Mutter sie sich gewünscht hat. Eine junge Frau ver­ schenkt ihr Neugeborenes an ein älteres Ehe­ paar, weil sie das Beste für es will. Eine Mut­ ter muss eine Leiche identifizieren, die ihr Kind sein könnte. Ein Sohn gesteht seinem

Es spielen: Natalia Belitski, Margit Bendokat, Michael Goldberg, Christian Grashof, Judith Hofmann, Lisa Hrdina, Franziska Machens, Peter Moltzen Regie: Rafael Sanchez Bühne: Janina Audick Kostüme: Ursula Leuenberger Video: Sacha Benedetti Musik: Cornelius Borgolte Dramaturgie: Anika Steinhoff Deutschsprachige Erstaufführung: 28. November 2013 weitere Vorstellungen: 10., 23., 26. Dezember 2013 und 7., 15., 22. Januar 2014 Ort: Kammerspiele

Vater, dass er ein ganz anderer Vater sein will, damit sein Sohn ihn ohne Angst anse­ hen kann. Eine Mutter bittet ihre Tochter um Verzeihung für ihre Härte. Die Tochter bittet sie zu gehen. Es spielen: Gabriele Heinz, Katrin Klein, Maike Knirsch, Lenz Lengers, Adele Matzat, Bernd Moss, Luzie Priegann, Emil von Schönfels, Bernd Stempel, Ingraban von Stolzmann Regie: Lily Sykes Bühne: Jelena Nagorni Kostüme: Linda Tiebel Dramaturgie: Birgit Lengers

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Premiere: 21. Februar 2014 Ort: Box Mit freundlicher Unterstützung der

21 ­— Despina Stokou

Peter Moltzen, Michael Goldberg

Der Auszug aus Tim Etchells’ Performance-Text ‚That Night Follows Day‘, den er ausschließlich mit Kindern besetzt, aber an ein erwachsenes Publikum adressiert hat, zeigt eindrücklich, dass keine Beziehung so existentiell, prägend, so tiefund auch abgründig ist wie die zwischen Eltern und Kindern. Sie steht am Beginn und begleitet uns lebenslang. In Joël Pommerats ‚Dieses Kind‘ sind beide Perspektiven eingeschrieben. Zehn dichte, präzise komponierte Szenen, in denen sich Macht und Ohnmacht überraschend verschieben, skizzieren die Beziehung Wir versprechen uns zu benehmen. Wir zwischen Eltern und ihren Kindern: die versprechen, euch glücklich zu machen. Maßlosigkeit der Erwartungen und die Wir versprechen, euch zu sagen, wenn Unerbittlichkeit der gegenseitigen Vorwas passiert. Wir versprechen, euch die würfe, die Unverzeihlichkeit der VerletWahrheit zu sagen, die Wahrheit und zungen, aber auch die Unnachgiebigkeit, nichts als die Wahrheit. Wir versprechen, mit der man nicht voneinander lassen niemandem zu sagen, was wir gehört kann. Aufgeladen mit Heilserwartungen und Imperativen werden stets die besten oder gesehen oder getan haben. Absichten behauptet: Du sollst Vater und Ihr sagt, dass früher alles besser war. Mutter ehren. Ein Kind soll dich glücklich Dass wir Unfälle waren, nicht geplant, machen. Eltern wollen nur das Beste für nicht ersehnt, nicht einmal gewollt. Ihr ihre Kinder. Kinder geben dem Leben werft einen kurzen Blick in unser Tage- Sinn. Die Inszenierung zeigt – jenseits buch. Ihr beißt euch auf die Lippen, bevor aller Schuldfragen – die schmerzhafte Dis­ihr antwortet. Ihr warnt uns ein letztes tanz zur Alltagsrealität auf. In der InszeMal, ihr gebt uns eine letzte Chance. Ihr nierung stehen vier Generationen, Schauversucht uns zu lieben. Ihr sagt, dass wir spieler des DT, Kinder und Jugendliche später vielleicht alles verstehen werden. gemeinsam auf der Bühne. Sie richtet Ihr fragt euch, was aus uns wohl werden sich an alle, die einmal Kind waren. wird. Ihr fragt euch, ob uns wohl nichts Schlimmes passieren wird. Ihr fragt euch, was wir wirklich denken.“

„Ihr füttert uns. Ihr zieht uns an. Ihr wascht uns. Ihr schneidet uns die Haare und unsere Fingernägel. Ihr singt für uns. Ihr wacht über unseren Schlaf. Ihr beobachtet uns, wenn ihr glaubt, wir merken es nicht. Ihr seht uns mit einem Ausdruck an, den wir nicht richtig deuten oder einordnen können. Ihr lehrt uns nicht zu prügeln. Nicht zu schreien. Nicht zu brüllen. Ihr versprecht uns eine Lektion zu erteilen. Ihr lehrt uns, dass Regeln Regeln sind. Dass Ordnung sein muss. Dass Disziplin alles ist.

Es ist Weihnachten, drei Generationen haben sich vor dem Christbaum ver­ sammelt. Die beiden Töchter im TeenagerAlter liefern sich ein unentwegtes Zickenduell. Mom und Dad hassen sich inbrünstig, und die Großeltern scheinen überhaupt der Ursprung des Problems zu sein. Doch es kommt noch schlimmer in Gestalt von Onkel Bob, der in dieses kleine Fest des Unfriedens platzt. Drau­ ßen im Auto wartet seine Frau Madeleine und was sie ihm zu sagen aufgetragen hat, besitzt den Charme einer Neutronen­ bombe. Im zweiten Teil wechselt das Genre in einen Diskurs über „die fünf Grundfreiheiten des Individuums“. Im dritten Teil fürchtet Onkel Bob von Madeleine verlassen zu werden und bangt um seinen Platz in der ‚Republik des Glücks‘.


MI TMACHEN U ND GEWINNEN ! 6

3 Leser erhalten je 2 Freikarten für die Vorstellung ‚In der Republik des Glücks‘ am 23. Dezember 2013, 19.30 Uhr in den Kammerspielen, dazu gibt es für jeden ein Glas Sekt an der Bar

Leser werden eingeladen zur Hauptprobe von ‚Alltag & Ekstase‘ am 14. Januar 2014 um 19.00 Uhr in den Kammerspielen

20 %

4 Leser bekommen eine spezielle Führung vor der Vorstellung ‚Elektra‘ am 8. Januar 2014, 18.30 Uhr im Deutschen Theater mit anschließendem Vorstellungs­b esuch

Ermäßigung für die Vorstellungen ‚Aus der Zeit fallen‘ am 18. (19.30 Uhr) und 29. Dezember 2013 (19.00 Uhr) im Deutschen Theater

Schicken Sie einfach eine Mail, an welcher Verlosung Sie teilnehmen möchten: gewinnen@deutschestheater.de

Freunde

Noch näher dran   … am Deutschen Theater. Als DT Freund ­engagieren Sie sich für „Ihr“ Theater. Sie erleben einen lebendigen Dialog  zwischen Theatermachern und Publikum, exklusive Einblicke hinter die Kulissen und begegnen Schauspielern, Regisseuren und der Theaterleitung.  M it Ihrer Mitgliedschaft und Ihren Spenden tragen Sie vor allem dazu bei, künstlerische Spielräume zu sichern, besondere Projekte zu ermöglichen und Verantwortung für die Kultur in Berlin zu übernehmen.     Informationen unter 030. 28 441 229, www.dtfreunde.de

Deutsches Theater Berlin Schumannstraße 13a 10117 Berlin Telefon: 030.28441-225 www.deutschestheater.de

Tageskasse im Foyer des DT Montag bis Samstag: 11.00 – 18.30 Uhr Sonn- und Feiertage: 15.00 – 18.30 Uhr

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Despina Stokou f端r das Deutsche Theater Berlin


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