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Vom inneren lebendigen Impuls ausgehen Ein Gespräch mit dem Autor Iwan Wyrypajew, dessen Auftragsstück Unerträglich lange Umarmung in den Kammerspielen von der Regisseurin Andrea Moses uraufgeführt wird.
Nikolai Berman: Wer ist Iwan Wyrypajew? Iwan Wyrypajew: Ich bin einer, der sich mit vielen Dingen beschäftigt: Ich bin künstlerischer Leiter des Moskauer Theaters Praktika und Regisseur und Schauspieler und Produzent. Na, und ganz grundsätzlich, wenn Sie mich fragen, wer ich bin, in Wirklichkeit, richtig und ganz ernsthaft, mache ich nur eins – Stücke schreiben. Ich fühle mich allerdings als ein Dramatiker, der gezwungen ist, viele andere, unterschiedliche Dinge zu machen, nur um überleben zu können. Hätte ich die finanziellen Möglichkeiten, nur Stücke schreiben zu können und mich mit Studenten zu beschäftigen, dann würde ich weiter nichts anderes machen. Wenn ich Stücke schreibe, bin ich vollkommen bei mir, da bin ich am rechten Ort. Was muss ein einfacher sibirischer Kerl machen, damit seine Stücke am Deutschen Theater Berlin inszeniert werden? Es liegt ein langer Weg hinter mir. Aber Karriere habe ich nie gemacht, ich habe mich auch nie damit beschäftigt – mit dem, was allgemein mit diesem Wort in Verbindung gebracht wird, sprich: Ich habe einfach keine gemacht. Was am meisten zählt ist wahrscheinlich das, was du ehrlich machst. Man kann eh keinem was vormachen. Wenn du anfängst jemandem etwas vorzumachen, riskierst du im Nirgendwo zu landen. Besser oder talentierter wirst du davon auch nicht. Du wirst einfach nur versuchen irgendeiner Richtung oder Strömung entsprechen zu wollen, und dabei
wirst du haufenweise Zeit verschwenden. Ständig wirst du raten müssen, in welche Richtung es weiter geht, und merken wirst du, dass das alles nicht stimmt. Ich leite nur ein kleines Kellertheater, ich bin kein Hollywoodstar. Aber ich habe Arbeit. Heutzutage, besonders in Russland, ist das schon mal ganz ordentlich. Sie schreiben schon zum vierten Mal ein Auftragswerk für ein Theater in Deutschland. Was macht diese Art von Arbeit so besonders? In den letzten Jahren arbeite ich wirklich viel für deutsche Theater. Die Stücke Illusionen und Sommerwespen im November sind für das Schauspielhaus in Chemnitz entstanden, Betrunkene habe ich für das Düsseldorfer Schauspielhaus geschrieben. Vier Stücke in vier Jahren, das ist eine ganze Menge, und eigentlich schreibe ich nicht so oft ein Stück. Bisher sind eine Menge meiner Texte in Deutschland, aber auch in Polen aufgeführt worden. Auftragswerke sind für mich sehr praktisch. Kein Theater hat mir je ein Thema vorgegeben, man hat mir jeweils einfach nur ein Angebot zu schreiben gemacht. Und weil ich eh Stücke schreibe, egal ob ein Angebot kommt oder nicht, ist das natürlich eine großartige Art von Arbeit: Für das, was du eh machen willst, bekommst du noch extra Geld... Das treibt einen natürlich an und diszipliniert. Früher habe ich manchmal ewig geschrieben, oder habe etwas nicht fertig gemacht. Auftragswerke geben einen Zeitplan vor. Ich arbeite gern „auf
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Stücke echtes Autorentheater sind oder gibt es doch eine Art von Interpretation? Ich will, dass ein Stück seinen Klang entfaltet. Es ist aber sehr schwer, einen Regisseur zu finden, der das Wie ist Ihnen die Idee zu Unerträglich lange Umarversteht, und der diesen Klang erfassen kann. Da mung gekommen? geht es nicht ums Talent. Talentierte Regisseure gibt Immer wenn ein Stück fertig ist denkt man: „Und jetzt es viele. Ich inszeniere wie ein Dramatiker, der ein paar Regiekniffe anwendet. Und so lange ich mich würde ich gern...“. Du arbeitest also mit dieser oder jener Stückstruktur und wechselst zu einer nächsten, auch schon mit Theater beschäftige, und wie oft ich willst noch weiter – das machen, wozu es gerade schon ausgezeichnet wurde: für Regie habe ich noch nicht gereicht hat. Jedes meiner Stücke, das ich für keinen Preis bekommen. Keiner würde auf die Idee deutsche Theater geschrieben habe, ist nach einem kommen, mich als Regisseur zu bezeichnen. Regie ist anderen Prinzip aufgebaut, um die szenische Präsenz Arbeit mit und an der Form. Wer zu mir ins Theater der Figuren zu transportieren. In Betrunkene sind alle kommt sieht Leute, die dasitzen und reden. Da gibt einfach betrunken, für Sommerwespen muss man ein es keine Regie. Grelle und interessante Zugriffe gibt wenig wie in einer Fernsehserie es bei mir nicht zu sehen. Kein Licht, spielen, damit das Stück funktiokeine Arrangements. Ich liebe es, Ich will, dass ein wenn die Zuschauer das Stück erleniert, in einem dritten Stück muss Stück seinen Klang man sich direkt an die Zuschauer ben können und die Regie dabei entfaltet. wenden. Umarmung ist eine Synnicht bemerken. these aus diesen drei Methoden. Sie haben in Russland gearbeitet, sehr viel in Polen, Gleich am Anfang geht es um „Impuls“. Was bedeuIhre Stücke laufen in ganz Europa. Gibt es einen Untet das? terschied, ob Sie ein Stück für ein deutsches, ein polDas ist der Ausgangspunkt des Stückes. Ich habe nisches oder ein russisches Theater schreiben? mich entschlossen, diesen direkt in den Text einzuDen Unterschied macht, für welches Theater ich schreiben, das „Warum“ klar zu machen, weshalb schreibe. Wenn ich ein Auftragswerk annehme, fahre sich alles in Bewegung setzt. ich unbedingt hin und besuche das Theater, ehe ich zu schreiben anfange. Ich schaue mir eine Vorstellung Könnten Sie formulieren, wovon für Sie das Stück Unan und versuche zu verstehen, was und wie dort in erträglich lange Umarmung handelt? diesem Theater verhandelt wird. Ich arbeite dann naDas will ich gar nicht. Ich denke, der Autor hat dazu türlich mit meinem Stück ein bisschen „dagegen“. am wenigsten zu sagen. Wenn ein Autor ein Stück Ich biete dem Theater das, was es selbst nicht hat. Ist schreibt, kann es ihm so vorkommen, dass er über es konservativer, mache ich ein radikaleres Angebot. eine spezielle Sache geschrieben hat – im Grunde Als ich einen Auftrag von Grzegorz Jarzyna, dem Digenommen kann er aber auch über etwas ganz anderektor des Warschauer TR Theaters bekommen habe, res geschrieben haben. Der Mensch schreibt intuitiv. wusste ich schon, dass dieses ein radikales Haus ist, Ich schreibe nicht rational – über dieses oder jenes. und habe ihm eine Love-Story im Hollywoodstil geIch schreibe einfach wie ich fühle. schrieben. Mein Schicksal ist etwas eigenwillig. Ja, ich bin ein russischer Dramatiker und schreibe rusIn Deutschland sind Sie vor allem als Dramatiker besisch. Ich lebe aber davon, dass man meine kannt, in Russland und Polen führen Sie Regie. Könnte Stücke in Europa inszeniert. In Russland wird nur ein man sagen, dass die Inszenierungen Ihrer eigenen einziges Stück von mir inszeniert, überall, an allen Bestellung“. Man muss sein Gehirn einschalten, die Energieversorgung hochfahren – und den ganzen Apparat in Arbeit bringen.
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Provinztheatern. Es ist mein zweites: Valentinstag. Auch eine Auftragsarbeit, für einen bekannten russischen Regisseur, der es dann gar nicht inszeniert hat. Geschrieben habe ich es in einer Woche. Paradox ist, dass meine Stücke wohl eher europäischem Bewusstsein folgen. Ich untersuche Probleme, die in den europäischen Gesellschaften eher verständlich sind. Hier sind sie auch verständlich, aber nur einem sehr kleinen Kreis an Menschen.
Bühne. Gerade jetzt, als die Krise in Russland begonnen hat, habe ich die größte Errungenschaft dieses Theaters begriffen: ein in sich gefestigtes Team. Wir sind eines der wenigen Theater, die auf die Krise vorbereitet sind. Ja, wir bekommen Zuschüsse, wir haben es aber auch geschafft, von der „Finanzspritze“ loszukommen. Was uns bedrohen könnte wäre, wenn man unser Theater schließt.
Muss der Staat Theater überhaupt unterstützen? Sie leiten das Theater Praktika schon seit zwei Jahren. In Amerika gibt es so etwas nicht, ungeachtet dessen Was ist das für ein Theater, und was haben Sie dort in gibt es Theater. In Deutschland ist die Unterstützung dieser Zeit erreicht? beispiellos. Selbst jetzt, da einigen Ich erlaube mir zu sagen, dass es Theatern die Mittel gekürzt wurden, Kunst wird sich dabei um ein für Russland bekommen sie unglaublich viel – im wichtiges Theater handelt, auch Vergleich zu Russland, wo der Staat mehrheitlich ernst wenn das unbescheiden klingt. Es die Theater auch unterstützt. Allein in genommen. gibt in Russland wenige solcher Moskau gibt es nicht weniger als 200 Man rechnet mit ihr. Theater – eigentlich Zentren – Häuser, die alle mehr oder weniger wo man versucht, anspruchsvon Staatsgeld leben. So ist die Travolle, zeitgenössische Kunst zu machen, die die Prodition bei uns, wir sind ein Theaterland. Theater hat bleme der Gesellschaft analysiert, sich mit der hier eine riesige Bedeutung – Theater werden auch Entwicklung der Gesellschaft beschäftigt, mit Bilgeschlossen, man streitet mit ihnen. Das heißt: Kunst dung. Dieses Theater gründet sich nicht nur auf die wird mehrheitlich ernst genommen, man rechnet mit Kunst, sondern auf die Heranführung an verschieihr. Selbst mit dem kleinen Theater.doc, das sich in eidene Themen, die Selbstanalyse und die Entwicklung nem winzigen Keller befindet. Die haben dort so eider Gesellschaft. Das, womit sich unser Land im Gannen Aufruhr gemacht, dass Leute „von oben“ sich zen nicht beschäftigt. Das größte Problem in Russnicht zu dumm waren, Krieg gegen sie anzufangen. land ist vielleicht das Fehlen von Analyse und EigeEs gehen allerdings Dinge vor sich, die ich nicht vernentwicklung. Wir wollen unsere Probleme nicht stehe. Unsere Regierenden sagen: „Wenn wir etwas sehen und uns selbst nicht kennenlernen. Wir wollen geben, dann müssen wir das auch kontrollieren“. alles schließen, verbieten, uns abgrenzen. In anderen Eine ganz einfache Sache lernen wir nie: Man kann etStädten versucht man ab und an solche Theater aufwas geben ohne Eingrenzung und ohne irgendwelzubauen, aber nur ganz zaghaft. Vertreter der örtliche Bedingungen. Bei uns glaubt man, dass Russland chen Macht stehen dem nicht so offen gegenüber. Es keinem Geld in die Hand geben darf – wenn er nur gibt nur Einzelfälle, wo das gelingt. Wir gehen mit unden Gedanken streift, dass es in Russland irgendetserem Theater ganz behutsam um, schätzen die Powas Schlechtes geben könnte. Das ist Irrsinn. Weder pularität, die es genießt. Unsere Karten verkaufen in Deutschland noch in Polen gibt es so etwas – mit sich gut. In gewissem Sinne ist unser Theater „bürGeld vom Staat wird genau dieser Staat kritisiert. gerlich“ – nicht in dem, wie man diesen Begriff in Deutschland benutzt. Es ist aber auch kein FreWürden Sie ein Theater in Deutschland leiten? Das könnte ich nicht. Man muss das Umfeld kennen. ak-Theater. Zu uns kommen Reiche und junge Leute. Eine solide Einrichtung, aber mit einer kleinen Und überhaupt, im Prinzip würde ich außer dem
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Praktika kein anderes Theater leiten wollen. Mir bleiWährend die Arbeit am Stück läuft, ist die Weltlage ben hier noch anderthalb Jahre. Ich versuche mit schwierig. Was, glauben Sie, könnte man machen, um ganzer Kraft einen Nachfolger zu finden. Künstleridiese zu verändern, um dem ganzen Wahnsinn Einhalt scher Leiter im Praktika zu sein ist zu gebieten, der um uns herum sehr interessant. Das ist nicht so stattfindet? Theater ist für mich eine riesige Maschinerie. Kein Eine sehr wichtige Frage, vielen großes eigenes Gebäude, kein Dank. Wir sprechen miteinander imkeine kulturelle aufgeblähter Apparat, kein festes mer im Rahmen bekannter KonzeptiEinrichtung, Ensemble. Eher eine häusliche onen und Richtlinien, von Ideen ich gehe da zum Atmosphäre. und Weltanschauungen, versuchen, Spielen hin. fremde Ansichten zu ändern. Wir sprechen nicht wie lebendige MenDie deutschen Zuschauer würden gern etwas über Sie als Mensch erfahren. Erzählen Sie schen. Wir finden keinen echten, wirklichen Kontakt doch ein bisschen über sich, was gibt es für Sie außer zueinander – so wie lebendige Menschen. Und wir Theater? dürfen uns auf keinen Fall dieser gigantischen InforTheater ist für mich nicht Selbstzweck. Das Theater mationsattacke ergeben, die auf die Menschen einist mein Lehrer. Es hat mich in einer schweren Zeit in stürzt. Überall, in Deutschland, Russland, Polen, den meinem Leben gerettet. Vor Drogen, Kriminalität, AlUSA. Die Informationen werden uns heftigst ins Gekohol und anderem Irrsinn. Selbst wenn ich betrunhirn geblasen. Realität können wir so nicht fassen. Wir ken war, konnte ich beschließen wieder nüchtern zu müssen lernen zu uns selbst zu finden, in uns. Sprewerden und ins Theater zu gehen – nur das hat mich chen lernen, vom inneren, lebendigen Impuls ausgegerettet. Vor sieben oder acht Jahren habe ich eine hend. Man darf sich nicht isolieren, auch gegenseitig innere Ordnung gefunden. Ich trinke nicht, rauche nicht. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn die Kulturschaffenden anfangen sich gegenseitig zu nicht, mache Yoga. Na klar habe ich auch ein Leben bekämpfen. Wenn die Kulturschaffenden wegen Puohne Theater. Ich liebe meine Familie sehr, meine Kinder, Freunde. Ich bin ein häuslicher Mensch, tin nicht mehr nach Russland kommen, wird es ihm gut gehen, uns allen aber immer schlechter. Was hänge nicht auf Partys rum. Ich lade gerne Gäste ein. Abends trinke ich Tee. Ich arbeite sehr viel. Das Wichauch immer passiert: Wir müssen uns auf menschlitigste in meinem Leben ist so oder so mit dem Theachem Wege verständigen, unsere Beziehungen so ter verbunden, obwohl es da noch meine Begeistebauen – nicht ökonomisch oder politisch. Sich wirkrung für integrale Philosophie gibt, die Methode von lich der Kultur zuwenden, verstehen, was das ist, die Ken Wilber. Ich begeistere mich für Natur, die Welt Kultur der wechselseitigen Beziehungen, die des geder Pflanzen. Das wichtigste Kriterium ist das Theater genseitigen Verhältnisses: Das ist die einzige Mög– dort trete ich in Erscheinung. Das ist der Raum, in lichkeit, die Situation in der Welt zu ändern. Man kann keine Bedingungen diktieren. Man darf die dem ich mich vervollkommne und in dem ich lebe. Das ist so wie einen Schamanen zu fragen „Und was Menschen nicht in die Enge treiben, damit sie diese machen Sie, wenn Sie nicht Schamane sind“? Ein annehmen. Folgerichtig kann man Bedingungen Schamane ist immer Schamane. Er ist es, wenn er isst nicht wirklich annehmen, man kann nur seinen Frieoder schläft. So ist es mit mir auch. Theater ist für den damit machen. Man muss zu einem wahren, wirkmich keine kulturelle Einrichtung, ich gehe da zum lichen, echten Dialog finden. Spielen hin. Training, Literatur, ein ganzer Raum, in dem ich lebe. Theater ist meine Erscheinungsform in Das Gespräch führte Nikolai Berman. Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke dieser Welt.