3 minute read

KolibriMAG 03 | Herbst/Winter 2019/2020

Vom Wert der Fürsorge. Brauchen wir eine Care-Revolution?

INTERVIEW MIT SVENJA FLAßPÖHLER

Advertisement

VON ANNETTE COUMONT

LIEBE FRAU FLAßPÖHLER, SIE SIND PROMOVIERTE PHILOSOPHIN, BUCHAUTORIN, CHEFREDAKTEURIN DES PHILOSOPHIE MAGAZINS UND MUTTER VON ZWEI KLEINEN KINDERN. WIE LÄSST SICH FÜR SIE IHR BERUF, DAS PHILOSOPHISCHE DENKEN SOWIE DIE AUTOREN- UND ELTERNSCHAFT EIGENTLICH SO VEREINBAREN?

Natürlich ist der Organisationsaufwand groß, zumal wir seit Kurzem auch einen kleinen Hund haben, der noch nicht allein zuhause bleiben kann. Ich nehme ihn mit in die Redaktion, was natürlich mit Kindern nicht so einfach wäre. Glücklicherweise leben wir in einer Zeit, in der es sehr gute, öffentliche Betreuungseinrichtungen gibt. Und Männer, die sich in der FÜRSORGE- ARBEIT engagieren. So wie meiner. Darüber hinaus befruchten die Kinder meine Arbeit auch. Sie sehen die Welt ganz anders, sie machen mich gelassener, geerdeter.

»REPRODUKTIVE TÄTIGKEITEN, DAS SIND [...] KEINE WARENFÖRMIGEN, SONDERN REIN GEBRAUCHSWERTORIENTIERTE HANDLUNGEN WIE KOCHEN, PUTZEN, PFLEGEN, SORGEN. HANDLUNGEN ALSO, DIE KEIN PRODUKT HERVORBRINGEN, SONDERN AUF WIEDERHOLUNG ANGELEGT SIND, WESHALB SIE NOCH HEUTE ZU EINEM GROSSEN TEIL NICHT ENTLOHNT WERDEN – UND DAS, OBWOHL SIE DAS FUNDAMENT UNSERER GESELLSCHAFT UND AUCH UNSERES WIRTSCHAFTSSYSTEMS BILDEN.«

IN IHREM ESSAY „BRAUCHEN WIR EINE CARE-REVOLUTION“ SPRECHEN SIE VON DER UNGERECHTIGKEIT IN DER BEWERTUNG UND ENTLOHNUNG FÜRSORGLICHER TÄTIGKEITEN, DIE ZUMEIST VON FRAUEN AUSGEÜBT WERDEN. WARUM WERDEN DIESE ESSENZIELL WICHTIGEN BERUFE, DIE MIT ERZIEHUNG ODER PFLEGE ZU TUN HABEN, SO SCHLECHT ENTLOHNT?

Weil wir die Produktion schon immer höher bewertet haben als die Reproduktion. Schon Marx hat den Wert der Fürsorge arbeit verkannt. Er übersah, dass der Mensch, um seine eigene Arbeitskraft zu erhalten und seine Familie zu ernähren, nicht nur Waren braucht, sondern auch jemanden, der das Essen kocht, liebt, sich kümmert.

SEHEN SIE CARE-TÄTIGKEITEN WIE FÜRSORGE, ERHALT, PFLEGE, KÜMMERN, BETREUEN BIS HIN ZU KONKRETEN BERUFSBILDERN ALS TYPISCH WEIBLICH AN?

Es fällt natürlich auf, dass diese Tätigkeiten vor allem von Frauen erledigt werden. Die Wirkmächtigkeit von anerzogenen Rollenbildern darf hier allerdings nicht unterschätzt werden. Gerade in Deutschland existiert leider immer noch ein ALTHERGEBRACHTES, SEHR RIGIDES MUTTER-IDEAL, demzufolge Frauen sich für ihre Kinder aufzuopfern haben. Dennoch bleibt es ein Fakt, dass Frauen rein körperlich insofern mehr für die Fürsorge ausgestattet sind, als dass sie schwanger werden und Kinder stillen können, Männer eben nicht. Diese Unterschiede dürfen wir nicht unterschlagen. Andererseits dürfen wir auch nicht in die Falle tappen, Frauen und Männer auf ein natürliches Wesen festzuschreiben nach dem Motto: Männer können leider nicht fürsorglich sein, weil sie keine Brüste haben. Ist ein Mann, der sein Kind in den Arm nimmt, es tröstet und öffnet für die Welt, etwa nicht fürsorglich?

MÄNNER GEHEN BEKANNTLICH WENIGER ZUR VORSORGE UND KÜMMERN SICH AUCH WENIGER UM IHRE EIGENE GESUNDHEIT ALS FRAUEN. SIND SIE ALSO AUCH SICH SELBST GEGENÜBER WENIGER FÜRSORGLICH? KÖNNTE MAN DEN MANGEL AN FÜRSORGE TYPISCH MÄNNLICH NENNEN?

Mit dem Wort „typisch“ habe ich grundsätzlich ein Problem, weil es festschreibend ist. Da ist man dann ganz schnell auch bei toxischer Männlichkeit. Ich selbst bin bei meinem Stiefvater aufgewachsen, er hat drei Mädchen – zwei davon schwer pubertierend – jahrelang ganz alleine betreut und groß gezogen. Mein Stiefvater gehört zu den fürsorglichsten, empathisch sten Menschen, die ich kenne. Auch was die SELBSTSORGE betrifft, würde ich für mehr Differenzierung plädieren. Regelmäßiges gemeinsames Kicken mit Freunden ist auch Ausdruck von Selbstsorge. Darüber hinaus gibt es große kulturelle Unterschiede, in Finnland ist der Saunagang tief verankert und auch bei Männern ein festes Ritual.

»EINE GESELLSCHAFT, DIE DER SPHÄRE DER FÜRSORGE NICHT EINEN EBENSO GROSSEN WERT BEIMISST WIE DER PRODUKTION VERSPIELT IHRE ZUKUNFT.«

SCHAUEN WIR UNS DIE GESUNDHEIT UNSERER ERDE AN. RAUBBAU UND UMWELTZERSTÖRUNG, KLIMAWANDEL, MÜLL – UNSERE WELT HAT SICHER AUCH MEHR FÜRSORGE NÖTIG?

Gerade jetzt, in Zeiten des Klimawandels, merken wir, dass wir einen Beleuchtungswechsel brauchen. Nicht nur das Produzieren, das Schaffen und Schöpfen, sondern auch das KÜMMERN UND SORGEN SIND LEBENSWICHTIG. Natürlich kann man die Erderwärmung auch durch Kreation und Innovation zu begrenzen versuchen, indem man nachhaltige Produkte herstellt. Doch die Fürsorge setzt uns noch einmal in ein ganz anderes Verhältnis zur Natur. Man begegnet ihr anders, aufmerksamer, achtsamer, rücksichtsvoller. Eine Gesellschaft, die der Sphäre der Fürsorge nicht einen ebenso großen Wert beimisst wie der Produktion verspielt ihre Zukunft.

ZURZEIT GEHT ES DOCH EIGENTLICH NUR NOCH UM „CARE” IM SINNE VON ERHALTEN, EINSPAREN, REPRODUZIEREN, RECYCLING ETC., DAMIT DIE KLIMAZIELE ÜBERHAUPTNOCH ERREICHT WERDEN KÖNNEN. BRAUCHEN WIR NICHT AUCH FÜR DIE ERDE EINE CARE-REVOLUTION?

Ja, und die ist ja auch durchaus schon im Gange. Wir befinden uns mitten in einem KLIMANOTSTAND, der uns zum Umdenken zwingt.

This article is from: