Alpine Ice vol.1 Deutsch

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Erste Ausgabe. Januar 2009 Zweite Ausgabe. Januar 2018 ISBN 9788885475 090 Copyright © 2018 VERSANTE SUD S.r.l. via Longhi, 10 Milano (MI) Italien tel. +39 027490163 www.versantesud.it Alle Rechte für alle Länder vorbehalten, inbesondere das der Übersetzung, der elektronischen Speicherung, der Vervielfältigung sowie der teilweisen oder gänzlichen Bearbeitung. Titelbild

Mario Sertori, Kerze, Sertig (© F. Marcelli)

Texte

Mario Sertori

Karten

Chiara Benedetto. © Mapbox, © Open Street Map

Symbole

Tommaso Bacciocchi

Layout

Chiara Benedetto

Druck

Tipolitografia PAGANI (BS)

DANKSAGUNG Ich möchte allen danken, die mich mit Material und Informationen versorgt haben: Hervé Barmasse, Nicolò Berzi, Elio Bonfanti, Giuliano Bordoni, Giuseppe Burlone, Tono Carasol, Marco Conti, Marco Croce, Luisa Fusi, Luca Godenzi, Michele Guffanti, Rossano Libera, Giancarlo Maritano, Kata Matoga, Antonio Muñoz Gomez, Emanuel Panizza, Andrea Notari, Tullio Parravicini, Stefano Plano, Ulrich Prinz, Franz Rota Nodari, Sergio Turbil, François Damilano und Claude Gardien. Ein besonderer Dank geht an Leonardo Pasquali für die

fantastischen Fotos von Giancarlo Grassi, geschossen von seinem Vater Vincenzo, dem unvergessenen Fotografen des „Nuovo Mattino“. Danke auch an Francesca Marcelli, die für den Großteil der, oft in komplizierten Situationen gemachten, Fotos in diesem Führer verantwortlich ist. Vielen Dank auch an Patrick Gabarrou, Ezion Marlier und an den leider verstorbenen Ueli Steck, die sich für meine Fragen Zeit genommen und mir bei diesem Buchprojekt Mut zugesprochen haben.

ACHTUNG Das Klettern von Eisfällen stellt eine potentiell gefährliche Tätigkeit dar. Klimatische Verhältnisse können sich rasch ändern, und Eisfälle sind stets äußeren Einflüssen und damit sich plötzlich ändernden Bedingungen unterworfen. Vereinzelte Touren sind einer erhöhten Lawinengefahr ausgesetzt. Es wurde im Rahmen dieses Führers alles daran gelegt, möglichst korrekte Angaben zu liefern. Dennoch

müssen sie von Mal zu Mal von erfahrenen Personen, die in der Lage sind, die jeweiligen Eisbedingungen abzuschätzen, kontrolliert und überprüft werden. Informiert Euch über den Lawinenlagebericht und holt vor Ort Informationen ein. Der Gebrauch dieses Führers erfolgt auf eigene Gefahr. Autor und Verleger übernehmen keine Verantwortung für etwaige Unfälle in einer der beschriebenen Routen.


Mario Sertori

ALPINE ICE 1 Die schönsten Eisfälle der Alpen

Band 1 700 Routen in Frankreich, Schweiz und Italien - Westalpen

EDIZIONI VERSANTE SUD


ALPINE ICE Band 1 Einleitung - Januar 2018 Fotocredits Vorwort Einleitung - Januar 2008 Technische Einführung Inhaltsverzeichnis und Karte

6 8 11 12 14 18

Frankreich Fer - à - Cheval – Geschichtsträchtiges Eis Eis mit Ausblick Patrick Gabarrou

20 78 92 104

Schweiz Buon compleanno Die Eisige Galerie von Gondo Ueli Steck

106 186 189 320

Italien - Westalpen Legenden Altern Nicht - Erinnerung an Giancarlo Grassi Die Eisfälle des Vallone di Arnas - Piemont Zurück nach Sea.... Ezio Marlier

324 340 364 378 412

Auflistung der anspruchsvollsten Eisfälle

502

ALPINE ICE Band 2

Heimdal, Valtournenche (© Arch. M. Sertori)

4

Italien - Zentralalpen Italien - Ostalpen Österreich Slowenien


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EINLEITUNG

von Mario Sertori, Januar 2018

In dem Buch in euren Händen werdet ihr mystische Orte finden, zu denen sich eine Reise, von egal woher, auf jeden Fall lohnt. Eine kurze Probierrunde gefällig? In Frankreich solltet ihr euch nicht die pyrenäische Gavarnie entgehen lassen, mit einem Eisfall neben dem anderen, in allen möglichen Formen und auf verschiedenen Stockwerken, wie in einem riesigen Palast aus Eis. Ein absolutes Muss ist ein bisschen Zeit in den Routen von Les Orres und ein paar Seillängen in Ceillac.

Eine Rückzugsmöglichkeit vor den Massen der Skitouristen bieten Freissinières oder Fournel, zwei Orte mit kolossalen Säulen auf vertikalen Wänden wie die der Tête de Gramusat. Unbedingt auf der Liste stehen sollte auch die Haute Maurienne mit ihrem fantastischen Ambiente und der speziellen Kletterei, vor allem meine ich da Glacenost und Revernotte. In Sixt-Fer à Cheval bilden sich die beeindruckendsten Linien Europas, von La Massue über La Lyre (die ersten beiden, mit 7 bewerteten Eisfälle) bis hin zu La Sorcière Blanche, sehr schwierig und mit atemberaubender Ausrichtung. Etwas bekannter ist das Vallon de Sales, wo man auch in weniger kalten Wintern auf Nummer sicher gehen kann, im Cirque des Fonts dagegen stößt man auf kanadische Monster im Stile Weeping Wall, wie die Cascade du Milieu. In Montriond, oberhalb des gleichnamigen Sees, weilt die Dame du Lac, eine elegante Eisformation und die vielleicht schönste Kletterei in diesem Buch. In Chamonix bieten die Ränder des Gletschers von Argentière zahlreiche Möglichkeiten für Eiskletterer, darunter die zwei fantastischen Linien Shiva Lingam und Nuit Blanche. In der Schweiz gibt es jede Menge Neues, darunter die südlichen Täler des Wallis, die von den „4000“ in Zermat, Sass Fee, Zinal und Arolla in Richtung Nord bis zur Rhone verlaufen und deren Eisfälle man auf keinen Fall auslassen sollte. Wände, über und über mit Eis bedeckt, die zu den begehrtesten in den Alpen gehören, von der alten Auflage von Alpine Ice jedoch ausgelassen wurden, werden hier mit neuen Augen betrachtet. Ein klassisches Beispiel ist die Wand von Breitwangflue oberhalb von Kandersteg, einer der schönsten Eiskletterspots der Alpen und das Eis bildet sich pünktlich in jedem Winter. Ursprünglich gab es hier zwei Routen, inzwischen sind es 14, besonders schön sind die Linien von Flying Circus, Mach 3 und Metro. Stets im Kanton Bern, nicht weit entfernt vom mondänen KanCrack Baby, Kandersteg (© M. Sertori)

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Auch wenn in den letzten zehn Jahren das Klima immer bizarrer geworden ist und ein schizophren anmutendes Wetter zur Erhöhung der Durchschnittstemperatur auf der ganzen Welt geführt hat, so haben die europäischen Eiskletterer dennoch nicht von ihren eisigen Wegen abgelassen. Im Gegenteil, es werden immer mehr und es wurden neue Eiskletterführer in Italien, der Schweiz und Österreich veröffentlicht, ein Zeichen für das wachsende Interesse an diesem Wintersport. Neun Jahre nach dem Erscheinen von Alpine Ice und zahlreichen Nachdrucken weist der in vier Sprachen übersetzte Eiskletterführer, der unzählige Eiskletterer begeistert hat, erste ernsthafte Zeichen des Alterns auf. Und so machte ich mich daran, eine neue Auflage vorzubereiten, alles Neue in der Zwischenzeit entdeckte und besuchte einzufügen, wobei eine strenge Auswahl nötig war, um ans Ziel zu kommen. Nichtsdestotrotz war die Ausbeute enorm, fast doppelt so viele Routen im Vergleich zu Erstauflage, die selbst schon ziemlich voluminös war. Aus diesem Grund mussten wir das Buch zweiteilen in Alpine Ice Band 1 Frankreich Schweiz - Italien West und Alpine Ice Band 2 Österreich - Slowenien - Italien Ost. Die beiden Bände sind natürlich miteinander verbunden und, obwohl sie verschiedene Gebiete beschreiben, sie decken den kompletten Alpenraum ab, mit den attraktivsten Eisfällen, die diese monumentale Gebirgsbarriere zu bieten hat.


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Einleitung

dersteg, liegt das weniger bekannte, aber genauso lohnenswerte Kiental, voll mit emotionsgeladenen Eisfällen mit äußerst bequemem Zustieg. Beim italienischen Teil der Alpen starten wir im Val Varaita, der Geburtsstätte des italienischen Eisfallkletterns. Danach folgen wir den Bergketten bis in die versteckteren Täler in Richtung Osten, wobei wir traumhafte Landschaften wie die der Okzitanischen Täler durchqueren. Diese Gegenden sind geprägt von der Kultur der Waldenser und ihrem tiefen Respekt für die Natur. Dann sind da noch die Gebiete, die von den Sportanlagen der olympischen Winterspiele in Turin 2006 kolonialisiert worden sind, die jedoch trotz allem Juwelen wie die nahen Täler Valle Argentera und Val Troncea beherbergen. Es geht ins Aostatal, wo wir dessen Köstlichkeiten probieren können, die es nicht nur rund um Cogne gibt. Zurück im Piemont erwartet uns die Region Ossola mit den Tälern Antrona, Anzasca und Formazza, wenig besuchte Gebiete mit charakterstarken Eisfällen. Das alles ist jedoch nur ein Vorgeschmack auf einige der fast 700 Linien in diesem Buch, eine Schatztruhe mit verführerischen Vorschlägen für abenteuerlustige Kletterer. Eine Ode an die wilde Seite der Alpen und eine Einladung zu einer Reise, zum Kennenlernen neuer Orte, Traditionen und Sprachen. Ein Wert von großer Bedeutung in Zeiten, in denen nicht vor langer Zeit eingerissene Mauern auf vorlaute Weise erneut an Macht gewinnen. Um die Orientierung zu erleichtern, wurden die Koordinaten der Parkplätze und fast aller Eisfälle eingefügt. Immer genauere Informationen dürfen nicht das Unbekannte, das Abenteuer auslöschen, das mit der Interpretation eines jeden Eisfalls einhergeht, sie müssen jedoch gesammelt und analysiert werden, um die Risiken, mit denen unser Sport verbunden ist auf ein Minimum zu reduzieren. Risiken,

mit denen vor allem objektive Gefahren wie Lawinen und plötzliche Temperaturschwankungen gemeint sind, die in den letzten Jahren Grund für dramatische Unfälle waren. Diesbezüglich möchte ich zwei fantastische Handbücher empfehlen, die man unbedingt lesen sollte, bevor man sich daran macht, einen Eisfall zu klettern: L’arte del ghiaccio von J. B. Gras und M. Ibarra, und La Cascade de Glace von P. Batoux. Hier werden neben Technik und Geschichte auch analytische Methoden beschrieben, die dabei helfen, die Gefahren zu reduzieren. Wie schon in der ersten Auflage findet ihr hier die kurzen Interviews mit Patrick Gabarrou, Ezio Marlier und Ueli Steck, der uns leider vor kurzem verlassen hat. Claude Gardien, jahrelang Leiter der Zeitschrift Vertical Magazine, hat einen Text zum Fer à Cheval beigesteuert, wo er bereits selbst einige der Routen auf diesen erhabenen und gleichzeitig beunruhigenden Wänden erkundet hat. Die Erinnerung an Giancarlo Grassi stammt aus der Feder von Elio Bonfanti, erfahrener Eiskletterer und Jünger von Giancarlo, der zu den italienischen Wegbereitern des Eisfallkletterns gehört und mehr als jeder andere in der Lage war, seine Leidenschaft für diese Disziplin zu übermitteln. Marco Conti, der mit Grassi den ein oder anderen Tag in der Vertikalen verbrachte, wird uns schließlich in das Vallone di Dea einführen, das heilige Land der Klettergeneration des „Nuovo Mattino“, zu der auch Gianpiero Motti und Grassi selbst gehörten. Letztere erklärte diesen Ort zu einem persönlichen Kristallgarten, den er bis in hintersten Ecken auskundschaftete. Mit Freude möchte ich hier erneut das Vorwort zur alten Auflage von Alpine Ice von Claude Gardien einfügen, genauso wie meine damalige Einleitung, die nach wie vor aktuell und ein Teil der Geschichte dieses Buches ist.

FOTOCREDITS Falls nicht anders angegeben, stammen alle Fotos aus dem Archiv des Autors, außer: Hervè Barmasse 462 - 463, Nicolò Berzi 347, Elio Bonfanti 362 - 368, Marco Conti 353, Marco Croce 363, Claude Gardien 83, Luca Godenzi 308 - 309 - 310 - 314,

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Rossano Libera 60, Giancarlo Maritano 369 - 370 - 372, Ezio Marlier 429 - 430 - 449, Emanuel Panizza 311, Andrea Notari 496 - 498, Stefano Plano 329 - 330 - 351, Ulrich Prinz 216 - 217 - 232, Franz Rota Nodari 273 - 274 - 276, Sergio Turbil 352.


2 0 0 years 1818 The Grivel family of blacksmiths, star ted to transform their production of agricultural tools in what would later become mountain equipment.

1860 With no real inventor the ice axe is offcially born.

1909 The English engineer Oscar Eckenstein was received with scepticism when he asked Henr y Grivel to manufacture the first modern crampon in histor y.

20 E

E

0

AX

1936 Amato Grivel creates a really strong crampon, thinner and lighter than the others: 360 grams a pair.

IC

1929 Henr y’s son Laurent came up with the brilliant invention of the two front points, it’s the bir th of the 12 points crampon.

1986 GRIVEL’s Super Courmayeur system, with its spare and interchangeable picks and shovels, establishes itself as market leader.

2003 GRIVEL resolves the problem of snow build up under crampons with the first pro-active anti-balling plate.

2010 GRIVEL installs a solar paneled roof and star ts to produce its goods with solar energy.

2014 Twingate carabiner, the safest carabiner ever made. Receiving the Compasso d’oro Award.

2017 Stealth helmet a new innovative design for a hyper-light and hyperventilated helmet!

Valter Grivel

2

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VORWORT

von Claude Gardien

Ein Eisfall hat aufgrund seiner Formen und Farben etwas Magisches. Oft ist es gerade sein vergänglicher Charakter, der Eiskletterer in den Bann zieht. Das in der Sommerhitze über eine Wand laufende Wasser zu sehen – unabhängig davon, ob es sich um ein zartes Rinnsal oder einen mächtigen Wasserfall handelt –, es sich als festgefrorene Materie vorzustellen und es zu erklettern: zweifelsohne eine spannende und aufregende Facette des Alpinismus. Eisfälle sind fantastische Werke. Sie erscheinen nie in derselben Form, entwickeln sich andauernd weiter, ändern stets Aussehen und Beschaffenheit – je nach Temperatur, Feuchtigkeit oder Schwerkraft. Manchmal verschwinden sie, sehr zum Bedauern der leidenschaftlichen Anwärter, die sich gezwungen sehen, Tage oder Wochen zuzuwarten oder sich zwischenzeitlich in andere Gefilde zu begeben. Allerdings gewöhnten sich die Kletterer rasch an diesen nomadischen Lebensstil während der Eisfallsaison: es gilt, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein und keine Reise und Mühe zu scheuen, um die günstigste Zeit auszunützen. Eine weltweite Vernetzung von Freunden, die sich gegenseitig Informationen bezüglich der jeweiligen Eissituation zuspielt, wurde von zwei Pionieren dieser Disziplin, von François Damilano und Godefroy Perroux, treffenderweise „Ice Connection“ getauft. Das vorliegende Buch von Mario Sertori wird in diesem Sinne Ausdruck dieser Kultur.

Eis und Reise, Eis und Begegnung gehen Hand in Hand. Die Idee, einen Auswahlführer über Eisfälle in verschiedenen europäischen Ländern zusammenzustellen, spiegelt die Realität dieses Sports wieder. Dieses Werk feiert eine zwischenzeitlich reif gewordene Disziplin: aus einer etwas exzentrischen Facette des Bergsports wurde ein „Muss“ für einen jeden Alpinisten, der dieses Namens würdig ist. Darüberhinaus hat das Eisklettern unser Wissen über alpines Eis beträchtlich gesteigert. Die Entwicklung des Klettersports, das Erfinden von immer kühneren und technischeren Bewegungen sowie die Gewöhnung an Steilheit und Brüchigkeit haben aus den Couloirs der Siebziger Jahre Klassiker eines mittlerweile vergangenen Alpinismus gemacht. Im Hochgebirgsalpinismus der heutigen Zeit ist das Mixed-Klettern tonangebend: die großen Begehungen in den Nordwänden der Alpen oder des Himalaya spielen sich stets unter dem kratzenden Geräusch der Steigeisen am Fels oder dem Quietschen der Eisgeräte auf den Griffen ab. Aber ganz egal, ob Eis oder Fels, es handelt sich immer um eine Frage der Passion. Wie können wir keine Eisfälle klettern, wenn das Klettern doch unsere Leidenschaft ist? Marios Buch hilft uns bei der Entscheidung und lässt uns mit Sicherheit das eine oder andere weit entlegene oder unbekannte Fleckchen entdecken. Es ist eine Würdigung an den Eisfall.

M. Sertori, Dame du Lac, Montriond (© Arch. M. Sertori)

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EINLEITUNG

von Mario Sertori, August 2008

Die Idee, dieses Buch zu schreiben, kam mir im Winter 2006, in einem niederschlags und eisreichen Winter, der uns Eiskletterern so viele Eisfälle wie selten zuvor bescherte. Wie andere auch, war ich gepackt von der Begierde, eine größtmögliche Zahl an Eisformationen zu erobern und sie wenigstens einen kurzen Moment lang zu besitzen. Auf der Suche nach meinem persönlichen Heiligen Gral, begann ich wie wild die Bergwelt abzuklappern. Es gab so viele Eckchen zu besuchen, dass ich auf meinen Reisen ständig eine derart stattliche Buchsammlung mitführte, dass sie irgendwann Seilen, Steigeisen und Eisgeräten allen Raum und Ehre streitig machte. Bald gewannen die stark in Anzahl und Gewicht vertretenen, vielsprachigen Bücher die Oberhand und verdammten die modernen Eiskletter-Ausrüstungsgegenstände im Nu zu nebensächlichen Komparsen. Eine ganze Bibliothek im Auto hin- und her zu kutschieren bringt außerdem nicht wenige Unannehmlichkeiten mit sich! Ich stellte mir vor, wie bequem es doch wäre, in einem einzigen Band die attraktivsten und interessantesten Eisfälle des Alpenraumes vorzufinden: eine Sammlung all jener Eisfälle, die, wie man

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so schön sagt, für sich gesehen schon „eine Reise wert wären“. Ein schwieriges, für eine einzige Person fast unmögliches Unterfangen, dachte ich, und das, obwohl ich mittlerweile schon mehr als zwei Jahrzehnte an Erkundungsfahrten kreuz und quer durch die Alpen auf dem Buckel habe. Zum Glück eilten mir jedoch zahlreiche Eisbegeisterte zu Hilfe und versorgten mich großzügig mit Bildern, wertvollen Beschreibungen und Erfahrungsberichten. Die Eisfallabhandlungen eines jeden in den Führer aufgenommenen europäischen Landes werden von einem kurzen Interview begleitet: ein Eiskletter-Aushängeschild der jeweiligen Nation steht dabei geduldig Rede und Antwort. Eigentlich bedürfen diese Alpinisten keiner erklärenden Worte – mit ihren Leistungen sind nämlich gerade sie es, die die Geschichte unseres Sports schrieben und prägten. Zu guter Letzt noch eine geographische Bemerkung: ich konnte nicht der Versuchung widerstehen, den „Cirque de Gavarnie“, den einzigen nicht im Alpenraum angesiedelten Eiskletter-Spot, in den Führer aufzunehmen - ein Muss für jeden Eiskletterer!



TECHNISCHE EINFÜHRUNG

ABSICHERUNG Die Beschreibungen informieren genau darüber, ob die Abseilstellen oder Standplätze eingerichtet sind: bei Fehlen einer diesbezüglichen Angabe sind die Abseilstände oder Standplätze selbst einzurichten. In jedem Fall muss man sich stets der hohen Wahrscheinlichkeit einer Materialabnutzung und des Verschleißes durch Lawinen, Steinschlag etc. bewusst sein. Es empfiehlt sich daher, immer entsprechendes Material mitzuführen, um gegebenenfalls die schon bestehenden Standplätze zu verstärken oder die eventuell beschä-

digten auszutauschen. Sollte man einen Eisfall ohne schon bestehende Standplätze oder Abseilstellen begehen wollen, so ist es empfehlenswert, die Abalakov Technik (Eissanduhr) zu beherrschen. MATERIAL Abgesehen von dem Material, das zum Vorankommen und Sichern im Eis notwendig ist, können vereinzelte Felshaken sowie eine kleine Auswahl an Nuts und Friends sehr nützlich sein. Aus Sicherheitsgründen sollte auch niemals auf Pieps, Sonde und Schaufel verzichtet werden. Übung für eine entsprechende Anwendung ist unverzichtbar. SCHWIERIGKEITSBEWERTUNG Die römischen Ziffern (von I bis VI) beschreiben den allgemeinen Anspruch einer Route, unabhängig von der reinen technischen Schwierigkeit und beziehen sich auf Parameter wie Kontinuität und Länge der Route, Rückzugsmöglichkeiten, Komplexität des Zustiegs, Potential objektiver Gefahren und Schwierigkeiten beim Abstieg. Ein einziger dieser Parameter ist ausreichend, um die Bewertung der allgemeinen Schwierigkeit zu bestimmen. Die arabischen Ziffern (von 1 bis 7), für gewöhnlich nach den Buchstaben WI (water ice) stehend, ist die aus Kanada stammende Bewertungsskala und beschreibt die technische Schwierigkeit der schwierigsten Seillänge der Route. Der Grad bezieht sich auf die Länge der vertikalen Abschnitte, die Kontinuität, die Qualität der Sicherungen und die Eisqualität in Bezug auf dessen Dichte, Konsistenz und Form (Blumenkohl, Zapfen etc.) Die Bewertung der Schwierigkeiten bleibt trotzdem stets ein Näherungswert, denn die Eisfälle bilden sich jedes Jahr neu und unterschiedlich und der Zustand des Eises kann sich auch sehr schnell aufgrund von äußeren Einflüssen (Sonne, Wind, Schnee, Tempertaturschwankungen) ändern.

QR-Code Parkplatz

QR-Code Basis Eisfall

M. Sertori, Campsut Kerze, Val Ferrera - Avers (© F. Marcelli)

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ALLGEMEINE INFORMATIONEN Der Name der Erstbegeher wurde nicht angeführt, wenn er nicht bekannt war oder diesbezüglich Unsicherheit herrschte. Ich entschuldige mich schon im Voraus für etwaige Auslassungen oder Ungenauigkeiten. Schwierigkeitsskala: siehe entsprechenden Hinweis. Die Beschreibung der einzelnen Eisfälle ist stets im Zusammenhang mit den im Band aufscheinenden Fotografien zu sehen. Die Nummerierung im Text entspricht den Linienführungen auf den Bildern. Die angegebene Länge des Eisfalles bezieht sich auf den Linienverlauf und nicht auf den Höhenunterschied. Insofern, als der Linienverlauf von Saison zu Saison unterschiedlich ausfallen kann, wurde eine genaue Beschreibung oft beiseite gelassen. Zudem soll der persönlichen Phantasie und Kreativität bei der Wahl der Aufstiegslinie nichts im Wege stehen. In den Anmerkungen sind Kommentare zur Ästhetik oder zu den Charakteristiken der Route zu finden, beziehungsweise liefern diese zusätzliche Informationen über den Eisfall. Nachdem die Zustiegszeiten auf Basis des Schritttempos einer trainierten Person (bei bestehender Spur) berechnet wurden, können sie, je nach Schneelage und Spurbeschaffenheit (oder sogar Fehlen der Spur) starken Schwankungen unterliegen. Die Richtungsangaben „rechts“ und „links“ sind, falls nicht anders angegeben, in Bezug auf die Gehrichtung zu verstehen.


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Technische Einführung

EISSKALA I

kurzer, einfach zu erreichender Eisfall; unproblematischer Zustieg

II

einfach zu erreichender Eisfall mit einer oder mehreren Seillängen; geringe objektive Gefahren

III

Eisfall mit mehreren Seillängen, langer Zustieg und objektive Gefahren sind möglich

IV

abgelegener Eisfall mit mehreren schwierigen Seillängen; anspruchsvoller Abstieg; objektive Gefahren

V

langer oder komplexer Zustieg im Hochgebirge mit objektiven Gefahren; zufällig vorhandene Absicherungen; schwierige Routenfindung; anspruchsvoller, selbst einzurichtender Abstieg

VI

lange Route im Hochgebirge, die logistische und orientierungstechnische Anforderungen, insbesondere bei der Routenfindung, mit sich bringt; objektive Gefahren und eventuelle Biwaks

TECHNISCHE SCHWIERIGKEIT 1

Passagen mit einer Steilheit von 50/60°; Erfahrung mit dem Umgang mit Steigeisen und Eisgeräten sowie Absicherungskenntnisse sind erforderlich

2

Passagen mit einer Steilheit von 60/70°, gute Absicherungsmöglichkeiten

3

Passagen mit einer Steilheit von 70/80°, normalerweise in gutem Eis. Senkrechte Abschnitte wechseln sich mit geneigten, in denen gute Standplätze gebaut werden können, ab

4

Passagen mit einer Steilheit von 75/85° und eventuell einem kurzen senkrechten Abschnitt. Normalerweise gute Standplätze und gutes Eis

5

Technisches Können ist aufgrund der Eisqualität und der Schwierigkeit der Route unerlässlich. Langer 85/90° Abschnitt; möglicherweise blumenkohl- oder pilzförmiges Eis

6

eine oder mehrere sehr anspruchsvolle Seillängen; schwierige oder prekäre Ankerpunkte; heikles oder brüchiges Eis. Bestes technisches Können ist unerlässlich

7

die gleichen Charakteristiken im Fall des 6. Grades nur noch heikler

X R M

es besteht das Risiko, dass die gesamte Eisformation zusammenbricht! bezieht sich auf eine Kletterei in sehr dünnem Eis bezeichnet Routen mit Felspassagen (siehe unten)

Bewertung von Mixed-Routen (Dry-Tooling) Hierbei handelt es sich um Routen mit Eis- und Felspassagen, die dennoch mit Eisgeräten und Steigeisen geklettert werden. Die Schwierigkeit wird konventioneller Weise mit dem Buchstaben M und einer darauffolgenden Zahl angegeben: M7 bezeichnet dabei den niedrigsten Schwierigkeitsgrad und somit die unterste Stufe der Bewertungsskala. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Eröffner von Mixed-Routen ursprünglich von der Tatsache ausgingen, dass ihre Begehungen den maximalen Schwierigkeitsgrad im Eis

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darstellen. Sie wählten daher den 7. Grad als Ausgangspunkt für ihre Klettereien. Die höchsten Schwierigkeiten dieser Disziplin liegen derzeit bei M15/M16. Angesichts der Tatsache, dass diese Spielform des Kletterns immer populärer wird, finden sich mittlerweile auch Routen mit der Bewertung M4/M6. Normalerweise sind bei diesen Routen Fixsicherungen in den Felsabschnitten vorhanden. Häufig ist der Felsabschnitt ausschlaggebend für den Schwierigkeitsgrad der Kletterei, nicht zuletzt, da der Eisabschnitt im Verhältnis zur Gesamtlänge generell eher kurz ausfällt.


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FRANKREICH 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

SCHWEIZ

LES ORRES CEILLAC FREISSINIÈRES VALLON DU FOURNEL LA GRAVE HAUTE MAURIENNE LES CONTAMINES VAL MONTJOIE VALLON DE SALES CIRQUE DES FONTS FER-À-CHEVAL MONTRIOND ARGENTIÈRE GAVARNIE

22 28 32 38 46 50 56 60 66 70 80 84 94

1 MAUVOISIN 2 VAL D’HERENS 3 VALLE D’ANNIVIERS 4 MATTERTAL 5 SAAS TAL 6 GONDO 7 COL DU PILLON 8 KANDERSTEG 9 ADELBODEN 10 KIENTAL 11 BRUNNITAL 12 DAVOS 13 VAL FERRERA/AVERS 14 ALBIGNA 15 ENGADIN 16 VAL POSCHIAVO

108 118 136 154 164 174 190 196 214 218 230 238 252 268 280 306

Nantes

Lyon

Bordeaux

18

13

Toulouse


ITALIEN - WESTALPEN 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

VAL VARAITA VAL PELLICE VAL TRONCEA VAL DI SUSA VALLE ARGENTERA VAL DI VIÙ VAL D’ALA VAL GRANDE VALLE DELL’ORCO VALLE DI CHAMPORCHER AOSTA

326 334 344 348 354 358 366 374 380 386 390

Basel

12 COGNE 13 VALSAVARENCHE 14 VAL DI RHÊMES 15 VALDIGNE 16 VALPELLINE 17 VALTOURNENCHE 18 VAL D’AYAS 19 VALLE DI GRESSONEY 20 MACUGNAGA 21 VALLE ANTRONA 22 VAL FORMAZZA

Zürich

ÖSTERREICH

SCHWEIZ Bern

9 7

8

396 414 428 434 444 452 464 468 482 488 494

11 10

13 22

3

Davos 12 14

15

16

6Domodossola 2 Genève Martigny 5 21 4 7-12 20 Chamonix 1 1718 Lugano 16 15 19 Aosta 11 FRANKREICH 14 13 12 10 Milano 9 8 6 7 6 ITALIEN Grenoble Torino 5 4 Briançon 5 3 4 2 3 2 1 1 Cuneo Genova

19


FRANKREICH 1 LES ORRES 2 CEILLAC 3 FREISSINIÈRES 4 VALLON DU FOURNEL 5 LA GRAVE 6 HAUTE MAURIENNE 7 LES CONTAMINES VAL MONTJOIE 8 VALLON DE SALES 9 CIRQUE DES FONTS 10 FER-À-CHEVAL 11 MONTRIOND 12 ARGENTIÈRE 13 GAVARNIE

M. Sertor,i Cascade des Viollins, Freissinières (© F. Marcelli)

22 28 32 38 46 50 56 60 66 70 80 84 94

11 8 9 10 7 12 Chamonix

Lyon

6 Grenoble

5 Briançon 4 3 2 1

Toulouse Nice Marseille Lourdes 13 Perpignan

20


21


01

Frankreich

LES ORRES Les Orres ist ein berühmter Skiort oberhalb von Embrun, einem wichtigen Zentrum südlich von Briancons, in Richtung Gap. Der Ort ist auch bekannt für seine Eisfälle, die zwar nicht besonders zahlreich sind, aber dennoch schöne Anstiege bieten, vormittags in der Sonne liegen und bequem zu erreichen sind. Ab dem Parkplatz führen erst eine ebene Straße und dann ein Pfad bergab in 30 Min. zu Eisfällen. Die attraktivste Linie ist Dancing Fall. Das Gebiet ist aufgrund seiner guten Eigenschaft sehr gut besucht. ZUFAHRT Ab Briancons auf der RN94 nach Süden, vorbei an Argentière La Bessée und bis nach Embrun. Kurz nach dem Ort links abbiegen und auf der D40 (für ca. 10 km) den Hinweisen nach Les Orres folgen. Am Kreisverkehr mit Blick auf die Gebäude des Skigebiets geradeaus (rechts) bis zur nächsten Kehre, wo man auf einem großen Parkplatz parken kann. ZUSTIEG ZUM SEKTOR Auf Höhe der Kehre beginnt eine schmale, ebene Straße mit den Hinweisen „Via Ferrata“. Die Eisfälle kann man bereits teilweise vom Parkplatz aus, auf der anderen Talseite, sehen. Der Straße und den Hinweisen folgen, über eine Brücke/Steg und weiter bis auf die andere Talseite und dem etwas weiter obenliegenden Eisfall namens Dancing Fall. Für die Eisfälle weiter unten am Wandfuß entlang bis zu den verschiedenen Einstiegsstellen, oder über den Fluss (Brücke) und auf der schmalen Straße gerade bergab bis zu dem Punkt, an dem man die Eisfälle gut erkennen kann.

1 Dancing fall 2 Le Beau cigare 3 Regina 4 Clara 5 Nadia

Les Orres 5 4

Chalet des Fontaines

3 2

M. Sertori, Dancing Fall (© F. Marcelli)

22

1


23


01 Frankreich  Les Orres

1

2

3

5 4

1 DANCING FALL

OSTEN

Ausrichtung

II 4+ 5

Schwierigkeitsgrad

30 Min. Zustieg

1700 m

Höhenlage

100 m

Länge

Abseilen

Abstieg

Abstieg: an Bäumen mit Reepschnur und Maillon abseilen (60m Seile). Zustieg: si. Zustieg zum Sektor. Anmerkungen: Mit einer langen SL erreicht man einen Baum rechts (an dem man später abseilt), am Ausstieg des ersten Aufschwungs. Oder man baut den Stand an BH auf 35 m Höhe auf der rechten Seite. Mit einer weiteren langen SL, oder besser mit Stand an der Basis des letzten Aufschwungs, klettert man eine schöne Zigarre. Ausstieg links (auch rechts möglich) an Bäumen, die zum Abseilen eigerichtet sind.

24


2 LE BEAU CIGARE

OSTEN

Ausrichtung

II 5+

Schwierigkeitsgrad

35 Min. Zustieg

1700 m

Höhenlage

150 m

Länge

Abseilen

Abstieg

Abstieg: Abseilen. Am Ausstieg nach rechts, zwei SL an Bäumen und man ist auf dem Schneehang oberhalb der SL1, den Hang überqueren und eine SL an einem Baum bis zum Boden abseilen. Zustieg: si. Zustieg zum Sektor. Anmerkungen: eine einfache SL führt zum Schneehang, der bis unter einen schönen Aufschwung führt. Ab hier zwei schwierige, vertikale SL, die erste ist härter und das Eis nicht immer gut ausgebildet.

3 REGINA

OSTEN

Ausrichtung

II 4+ 5

Schwierigkeitsgrad

35 Min. Zustieg

1700 m

Höhenlage

180 m

Länge

Abseilen

Abstieg

Abstieg: an Bäumen abseilen. Zustieg: si. Zustieg zum Sektor. Anmerkungen: sehr schön und abwechslungsreich.

25


01

4 CLARA

Frankreich  Les Orres

OSTEN

Ausrichtung

II 4

Schwierigkeitsgrad

40 Min. Zustieg

1700 m

Höhenlage

180 m

Länge

Abseilen

Abstieg

Abstieg: Abseilen (BH). Zustieg: si. Zustieg zum Sektor. Anmerkungen: die erste SL nicht immer gut ausgebildet, Mixed-Passagen möglich (Haken vor Ort). Kein Ausstieg am Wald, sondern abseilen an dem Stand mit BH am Ausstieg des letzten Aufschwungs. Neben der nahen Nadia, ein Klassiker des Sektors.

5 NADIA

OSTEN

Ausrichtung

180 m

Länge

1700 m Höhenlage

40 Min.

Zustieg

II 4

Schwierigkeitsgrad

Abseilen

Abstieg

M. Sertori, Dancing Fall (© F. Marcelli)

26

Abstieg: Abseilen an Bäumen und BH. Zustieg: si. Zustieg zum Sektor. Anmerkungen: wird meist mit 3 langen SL geklettert, S1 und S2 an BH, S3 an Baum rechts.


27


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