MERAN O MERAN. EINE LIEBES GE SCHICHTE
SELMA MAHLKNECHT
Stille Post | Ad alta voce 700xM Eine Literaturaktion Sechs renommierte Südtiroler AutorInnen, drei deutschund drei italienischsprachige, begleiten mit ihren eigens für diesen Anlass geschriebenen Erzählungen die Leser durch die Stadt Meran, vorbei an bekannten und unbekannten Plätzen, durch die neue, alte und uralte Geschichte des Ortes, hinein in das Leben von Menschen, deren Lebensmittelpunkt – wenigstens eine Zeit lang – die Passerstadt ist, deren Geschichten sich aber weit über diese Stadt hinausbewegen. Elisabeth Hölzl bereichert diese Erzählungen mit sehr individuellen Bildern aus der Stadt.
Selma Mahlknecht ist in Meran geboren und lebt in der Schweiz. Autorin, Dramatikerin, Regisseurin, Deutschlehrerin. Bücher (eine Auswahl): Im Kokon, Erzählung, Edition Raetia 2007; Es ist nichts geschehen, Roman, Edition Raetia 2009; Helena, Roman, Edition Raetia 2010; Vom großen Ganzen, Edition Laurin 2011; Auf der Lebkuchenstraße, Weihnachtsbuch, Edition Raetia 2013; Luba und andere Kleinigkeiten, Roman, Edition Raetia 2016. www.selma-mahlknecht.info
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Eine Literaturaktion von Un’azione letteraria di
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Deutsche Kultur
Cultura italiana
Mahlknecht, Selma: Meran o Meran. Eine Liebesgeschichte © 2017 Selma Mahlknecht Edizioni alpha beta Verlag, Meran/Merano www.alphabetaverlag.it | www.edizionialphabeta.it books@alphabeta.it All rights reserved Cover: Elisabeth Hölzl Umbruch/Impaginazione: A&D Druck/Stampa: Cierre Grafica, Caselle di Sommacampagna (VR) ISBN 978-88-7223-284-2
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MERAN O MERAN EINE LIEBESGESCHICHTE SELMA MAHLKNECHT
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August 1991 Reise in die Stadt Immer, wenn Mama nervös ist, fährt sie mit dem Kamm besonders grob durch die Haare. „Halt still“, sagt sie, während sie an der Kopfhaut reißt. Michi beißt sich auf die Lippen. Heute muss der Zopf schöner als sonst werden, überhaupt muss heute alles schöner als sonst sein, der Rock, die Bluse, die Lackschuhe, die eigentlich schon zu klein sind. Opa ist im Krankenhaus. Und das Krankenhaus ist in der Stadt. Eine Welt und eine Reise von hier entfernt. Im Auto wird Michi schlecht. Die Hitze, der ungewohnte Parfumgeruch der Mutter, der Schweiß von vier Landeiern, die sich vor der Stadt fürchten. Die Kurven auf der Töll sind zu viel. „Ich pack’s nicht mehr“, jammert Michi. „Kurble das Fenster runter. Wenn’s dir kommt, musst du rausspeien“, rät Markus, der ältere Bruder. „Untersteh dich!“, schreit der Vater am Lenkrad. Dann denkt er nach und fügt hinzu: „Aber er hat recht. Bevor du auf den Sitz brichst, lieber doch aus dem Fenster.“ Altes Krankenhaus Das große Tor wirkt ehrfurchtgebietend. Dahinter liegt eine andere Welt. Bizarre Blumen, schillernd und fremd wie Paradiesvögel. „Meran ist die Blumenstadt“, hat 5
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Mama gesagt, aber es sind nicht einfache Bauernblumen mit ihren kleinen Blüten wie in Kinderzeichnungen, es sind stachlige, stolz aufgefächerte Pfauen, deren grelle Farben schrille Schreie ausstoßen. Michi fürchtet sich vor den Blumen der Stadt wie vor ihren Menschen, wie vor den flachen Steinstufen im Krankenhaus und dem kühlen, glatten Holzgeländer, das sich dunkel glänzend hinaufschwingt zu den Stockwerken der Kranken. Opa im Nachthemd, eingehüllt in den stickigen Geruch des Sterbens. Auf dem Tischchen liegt gedünsteter Fenchel in der Metallschale, kalt geworden, faulig. Michi verzieht das Gesicht. Die Mutter drückt ihr den Blumenstrauß in die Hand, „such doch eine Vase“, und sie läuft erleichtert hinaus in den kühlen Flur. Am liebsten möchte sie die Blumen wegwerfen, diese lächerlichen Dorfblumen mit ihren ahnungslosen Gesichtern. Am Fenster steht eine schlanke Frau mit dunklen Locken, die Augen verweint. Sie drückt ein Mädchen an sich, ein Mädchen mit denselben dunklen Locken, etwa in Michis Alter. Michi verlangsamt den Schritt. Das Mädchen sieht zu ihr hin. Große schwarze Augen. Erst, als Markus ungeduldig aus dem Zimmer herausruft „Wo bleibst du denn?“, merkt Michi, dass sie stehengeblieben ist. Das Mädchen mit den dunklen Locken dreht sich weg, zum Fenster. Juni 1992 Stadttheater Die weichen Plüschsessel, der bröckelnde Stuck, die Sphinxen mit ihren nackten Brüsten. Michi verrenkt 6
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sich fast das Genick. Andrea, die Cousine, hat heute Ballettaufführung. Seit einem Jahr besucht sie den Kurs. Bei jeder Gelegenheit prahlt sie. Zeigt Schritte und den Spagat und bringt Michi bei, die Hände wie Blumen zu halten. Meran ist die Blumenstadt. Heute wird Andrea in ihrem rosaroten Tutu über die Bühne schweben. Michi ist heiß. Als es dunkel wird und sich der Vorhang öffnet, stockt ihr der Atem. Die Musik, die farbigen Lichter, die Mädchen mit ihren bauschigen Kleidern. Andreas Auftritt ist der dritte, sie trägt einen Kranz aus Stoffblüten im Haar. Die wirbelnden Bänder, die starren Röcke, die trägen Sprünge, ungelenk und asynchron, Michi kann sich nicht sattsehen. Nach der Pause trippelt eine neue Gruppe herein. Hellblauer Taft, bleiche Arme wie Porzellan. Eine von ihnen ist dunkler als die anderen, das streng zurückgekämmte Haar bricht an den Schläfen aus, kräuselt sich. Große schwarze Augen. Michis Herz hüpft. Das Mädchen mit den dunklen Locken dreht sich, dreht sich. September 1992 Otto-Huber-Straße. Ballettschule Arabesque Die Mutter hat nachgegeben. Einmal in der Woche darf Michi jetzt zum Ballettkurs. Nicht mit Andrea, die schon zu den Fortgeschrittenen zählt. Mit fremden Mädchen steht sie auf dem lackierten Boden, der unter ihren Füßen knarrt. Sie übt, die Hände wie Blumen zu halten und die Arme in runden Bögen zu führen und weich in die Knie zu gehen. Den Spagat schafft sie nicht. Ihr Körper ist im Weg. Sie fühlt die Musik bis ins Mark und 7
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kann nicht Schritt halten. Nach dem Mädchen mit den dunklen Locken hält sie vergebens Ausschau. Mai 1993 Apollo-Kino An den Film wird sie sich schon in zwei Wochen nicht mehr erinnern. Aber unvergessen wird bleiben: Das schäbige Kino mit seinem trotzigen Stolz. Die hochschnappenden Sessel beim Aufstehen. Die vielen aufgeregt durcheinanderschnatternden Ballettmädchen, von denen noch keine ihre Freundin geworden ist. Andrea, die sich wegdreht, als sie sich sehen. Als ob ihre jüngere Cousine ihr peinlich wäre. Und die großen schwarzen Augen, die plötzlich auf Michi ruhen. Für zwei, drei Sekunden nur. Der aussetzende Herzschlag. Und dieser vernichtende Ausdruck von Verachtung, mit dem sich das Mädchen mit den dunklen Locken abwendet, sich hineinsenkt in das Geschwätz ihrer Freundinnen, bevor der Saal dunkel wird und der Film beginnt. Eine Woche später verknackst sich Michi bei einem Sprung das Bein. Keine Ballettaufführung für sie. Überhaupt kein Ballett mehr, nie wieder. Das Tutu hängt wie ein Makel im Schrank. September 1994 Humanistisches Gymnasium Beda Weber Keiner will mehr Latein und Griechisch lernen. Michi will. Vielleicht, weil sie glaubt, so leichter altmodisch sein zu können zwischen den Städtern. Das Gymna8
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sium mit dem Turm ist alt, ehrwürdig, sagen manche. Die Fenster gehen auf den Rennweg hinaus, auf der gegenüberliegenden Seite kann man in die Zimmer des Hotels Europa sehen. Alte Menschen, die in Unterwäsche am Fenster stehen. Überall Zeugnisse einer verfallenen Welt, die sich vergeblich nach der Gegenwart streckt. Ihre Zeit ist abgelaufen. Wenn Michi Vokabeln lernt, geschieht es aus Mitleid. Zur Belohnung darf sie den Dünkel der Elite in der Brust tragen, und sie trägt ihn mit zunehmender Selbstsicherheit. Zu Hause spötteln sie schon, dass sie jetzt auch eine von denen geworden ist, eine Städterin, und fast glaubt sie es selbst. Der Lateinlehrer nennt sie eine rosa rugosa, sie schlägt im Lexikon nach: Kartoffelrose. Meran ist die Blumenstadt. Aber Kartoffelrosen wuchern zwischen Wind und Weide. März 1995 Stadtbibliothek Leise, leise. Bei den Hausaufgaben wird nur geflüstert. Alle Tische sind mit Schülerinnen und Schülern besetzt. Lexika und Sekundärliteratur aufgeschlagen, Taschenrechner auf dem Matheheft. Die Tüte mit den Chips kursiert verstohlen unter dem Tisch. Michi zieht zwei Werke über die Etrusker aus dem Regal. Lust hat sie keine, aber das Referat ist in drei Tagen. Ein paar Bilder sollte sie noch kopieren. Zierliche Figurinen, mandeläugige, lächelnde Statuen, Wandbilder nackter Männer mit fliegenden Flechten. Auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch sieht sie im Augenwinkel ein Profil. Dunkle Lo9
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cken, die sich über ein Buch beugen. Michi muss sie nicht sehen, sie weiß, unter diesem Schopf, hinter diesen dichten Wimpern verstecken sich die großen schwarzen Augen, deren Blick so wehtun kann. Sie spornt ihren Schritt an. Aber den Titel des Buches merkt sie sich. Buzzati. La boutique del mistero. Pfarrplatz, Buchhandlung Pötzelberger Sie war noch nie in der italienischen Abteilung. Die Verkäuferin lässt sie minutenlang stehen, Kartoffelrose zwischen Herren und Damen in feinem Zwirn. Es nützt nichts, sämtliche lateinischen Deklinationen zu beherrschen, wenn man sich vor jedem Buchrücken fürchtet, der nicht Deutsch ist. Michi lässt das Buch als Geschenk verpacken, obwohl sie weiß, dass sie das bunte Papier schon im Autobus zitternd aufreißen wird. La boutique del mistero. Vier Worte, und alles ist gesagt, über sie, über die Stadt, über das Mädchen mit den dunklen Locken und über dieses Älterwerden, das jede Faser entzündet. April 1997 Ost-West-Club Zuerst war sie nur eingesprungen, als ihre Klassenkameradin Sonja einen Ersatz für den Gitarristen ihrer Band suchte. Jetzt gehört sie dazu, und plötzlich ist sie eine von den Coolen. Es hat sich gelohnt, sich gegen die Klarinette zu entscheiden, obwohl Vater und Großvater es so gerne gesehen hätten. Die Klarinette liegt in der 10
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Familie. Aber die Gitarre bringt dich auf die Bühne. Michi hat sich extra ein schwarzes T-Shirt gekauft. Sie beginnen mit House of the rising sun. Sonja singt mit heiserer, kratziger Stimme. Sie hält das für ein Stilmittel. Im Club wird höflich applaudiert. Die Stimmung ist gelöst. Ein Joint macht die Runde. Michi zieht, bevor sie die Akkorde zum nächsten Lied anschlägt. Durch den Rauch, der in der Luft hängt, verschwimmt alles zu einer süßlich riechenden Farbwolke. Ein paar Leute klatschen den Takt. Hinten in der Ecke große schwarze Augen. Michi wendet den Blick ab. Das könnte irgendwer sein. Erst nachher, als sie sich an der Bar ein Bier holt, sieht sie es besser: Das Mädchen mit den Locken. Es lacht und angelt mit dem Mund nach dem Strohhalm, der aus dem Glas in seiner Hand ragt. Was für ein Mund. Michi merkt, wie sie schon wieder erstarrt. Sie macht kehrt, geht hinaus zu Sonja und Tom, die ihre erhitzen Körper im Schatten der Nacht kühlen. „Das war cool“, hört sie da eine Stimme hinter sich. Sie weiß, wem diese Stimme gehört, noch ehe sie sich umdreht. Große schwarze Augen, die sie anschauen. „Wie heißt du?“ „Tiziana.“ Mai 1997 Café Darling Heiße Schokolade mit Vanilleeis. Der Abend ist lau, die Passer rauscht. Tiziana gähnt und streckt ihre Arme. Michi lächelt vor sich hin. Seit einer Weile ist ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen. Was einfach war, haben sie 11
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gesagt: Wo sie wohnen, wie viele Geschwister sie haben, wo sie zur Schule gehen, was sie nervt, was sie mögen. Michi weiß jetzt, warum Tiziana den deutschen Dialekt mit dieser Färbung spricht: ihr Vater ist Italiener und heißt „Papi“, was, wie Michi findet, viel weicher und freundlicher klingt als „Tata“. Wegen Papi kann Tiziana so gut Italienisch, wegen Papi besucht sie das Liceo Classico draußen im Schulzentrum, wegen Papi stellen sich manche Wörter quer im Mund, Wörter mit „ch“ und „h“ und „tsch“ und „gs“, wegen Papi sind alle Vokale lang und singend und wunderbar. Michi war für Sekunden neidisch, wünschte sich auch einen Papi herbei. Aber dann war auch das zu Ende gedacht, und ihr fielen keine belanglosen Fragen mehr ein. Und auch Tiziana wusste nicht mehr weiter, verfing sich mit ihren Blicken in der Tischdecke und verstummte. So sitzen sie nun, sprachlos, der ganze Körper ein dröhnendes Herzklopfen. Was zwischen ihnen in der Luft liegt, dafür finden sie keine Worte. Also schweigen sie, schauen den Vorbeigehenden zu. „Darf ich probieren?“, fragt Tiziana nach einer Weile. Michi schiebt ihr den Becher hin. Tiziana löffelt. Schokolade tropft ihr von der Lippe. Schwarze Augen, dunkle Locken, heiße Schokolade. Michi wird ein ganz kleines bisschen schwindlig, mit einer Hand greift sie unauffällig nach der Tischkante. „Ist es okay, wenn ich Miki zu dir sage?“ Miki. Das lässt sich tragen wie eine Lampe, die die dunkelsten Wege erhellt.
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Theater in der Altstadt Bis daß ein Tod. Sabine Grubers Monolog gräbt sich in die Finsternis der Gefühle. Im Publikum, eng zusammengerückt, drückt Hüfte an Hüfte, Arm an Arm. Langsam, sehr langsam strecken sich die Finger einander zu, streifen sich, bleiben in der Berührung liegen. Bis dass ein Leben, bis dass eine Liebe. Sommer 1997 Beim Passer-Fritz (Lazag) Im Sonnenschein, im Flackern der Wellen, im Tuscheln der Bäume, im grünen Schatten des Sommerlaubs ist alles ein milder Rausch. Keine Bedrohung geht von den Fremden aus, ein Gruß von Bank zu Bank, süßlicher Haschischgeruch, die speckige Kleidung, die rotfleckige Haut der Säufer passen idyllisch ins Bild. Bikinitage, Sonnencreme in der Nase. Miki. Tizia. Winzige Küsse im Nacken, in der Armbeuge, von den Lippen gepflückt. Braunwerden, aufblühen, Pfauenschrei, Kartoffelrose, taumeln, seufzen, stürzen bodenlos. Wunderland ich und du. Oktober 1997 Weltladen Der Duft von Räucherstäbchen. „Muss das sein, Miki?“ Tizia ist der Hippieladen peinlich. Sie fühlt sich fremd hier, sie mit ihrer teuren gewachsten Jacke, die jetzt, in den goldenen Oktobertagen, noch zu warm ist. 13
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„Die sind doch schön.“ Miki hebt ein paar Ohrringe hoch, blaue Glaskugeln, von Silberfäden umflochten. „Und die hier?“ Tizia zeigt auf ziselierte Metallscheiben. „Wähle du.“ Tizia hält einmal den einen, dann den anderen Ohrring an Mikis Ohr. „Wir nehmen beide.“ Sie bezahlen und stecken sich die Ohrringe an, rechts Glas, links Metall. „Damit wir nie vergessen, dass wir nur zusammen vollständig sind.“ Dezember 1997 Meraner Advent Die Musik aus den Lautsprechern lässt sich nur mit Glühwein ertragen. Sie wärmen ihre Hände an den Tassen. „Warst du schon einmal betrunken?“ „Nein. Du?“ „Nein.“ Sie lachen und lachen, als wäre das der beste Witz, den sie je gehört haben. Januar 1998 Obermais „Dantestraße ist eine gute Adresse“, hat Markus gesagt, als er Miki (für ihn immer noch: Michi – ach, der ahnungslose Tropf!) mit seinem Motorrad hingefahren 14
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hat. „Da wohnen die Besseren.“ Die Beste, dachte Miki. Die Beste. In Tizias Zimmer hängen keine Poster, hastig ausgerissen aus der Bravo. Ein Kinderbild im Goldrahmen. Ein Kunstdruck. Die Bettwäsche im Paisleymuster. Wie das Zimmer einer Prinzessin. Miki wagt es nicht, sich hinzusetzen. Vor dem Fenster reißt der Wind an den kahlen Zweigen der alten Bäume. Tizia schlägt die Decke zurück. „Leg dich her. Mir ist kalt.“ Miki zögert. Tizia drückt sie sanft auf das Bett. Dann fällt ihr noch etwas ein. „Lass mich noch die Vorhänge schließen.“ Im Halbdunkel sieht man jetzt ihre Umrisse und wie sie sich den Pullover auszieht. „Willst du das wirklich?“ Statt einer Antwort legt sich Tizia hin, verschränkt die Arme hinter dem Kopf. „Und wenn einer kommt?“ „Es kommt keiner. Mami ist mit meinen Schwestern im Theater. Und Papi ist vor drei Tagen ausgezogen.“ Achselzuckend sagt sie das, wie nur Stadtkinder es können. „Bist du nicht traurig?“ „Doch. Aber ich bin auch froh.“ „Wie passt das zusammen?“ „So ist das immer bei mir. Ich bin schwarz und weiß. Deutsch und italienisch. Nie nur eins von beiden. Immer beides zugleich. Deswegen kann mir nichts passieren.“ „Aber dann bist du auch nie ganz. Nie ganz glücklich. Nie ganz frei.“ 15
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„Doch, natürlich bin ich ganz. Ganz dein. Mit dir bin ich vollkommen.“ Juni 1998 Pferderennplatz Man müsste jetzt einen Hut haben wie Audrey Hepburn in My fair lady. Aber eine Sonnenbrille tut’s auch, besonders, wenn es eine große ist, eine, in der sich das Treiben auf den Rängen spiegelt. Tizia glüht. Ihre gesträubten Locken, ihr selbstsicheres Lächeln, das knappe Shirt mit den Streifen. Sie zieht die Blicke auf sich. Papi ist stolz, so wie Miki stolz ist, und beide spähen zugleich besorgt nach Nebenbuhlern. Tizia sonnt sich in der Aufmerksamkeit, ist besonders laut, besonders eifrig, steigert sich in die Rennen hinein, vergewissert sich, dass Miki und Papi sie nicht aus den Augen lassen. „Lass uns zusammen aufs Klo gehen“, ruft sie Miki zu. Im Klo zieht sie Miki an sich, küsst sie wild. Von draußen die Schreie des Publikums, das Hallen der Lautsprecherdurchsagen. Miki windet sich aus Tizias Umarmung. „Lass uns wieder hinaufgehen, bevor jemand kommt.“ Tizia umschlingt sie nur noch heftiger. „Lass sie ruhig kommen. Ist doch egal!“ Sie hofft: dass jemand käme. Dass jemand mit dem Unterkiefer klappte. Sie fühlt sich unbesiegbar. Aber Miki macht nicht mit. Sie wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. „Was ist dein Problem?“ 16
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„Das weißt du genau!“ „Schämst du dich? Für uns?“ „Nein. Natürlich nicht.“ „Warum also? Dein Bruder steckt doch auch jeder Dahergelaufenen die Zunge in den Hals. In aller Öffentlichkeit!“ „Red nicht so.“ „Warum bist du nur so brav, und warum bist du nur so verdammt feige?!“ „Bitte schrei hier nicht rum. Die Leute ...“ „Die Leute sind mir egal.“ „Und dein Vater? Wenn er es wüsste? Wäre dir das auch egal?“ „Natürlich.“ „Dann sag’s ihm. Jetzt. Geh zu ihm hin und sag’s ihm. Ich komme mit.“ „Kein Problem.“ Tizia stemmt die Arme in die Seiten. Stapft entschlossen voraus. „Warte!“ Miki holt sie ein. Nimmt ihre Hand. Flicht ihre Finger in die der Freundin. „So. Lass uns so zu ihm hingehen.“ „Wieso nicht.“ Die Treppen hinauf. Keiner schaut hin, alle sind dem Rennen zugewandt. Das Prasseln der Hufe, als die Pferde vorbeigaloppieren, auf die Ziellinie zu, geht im Geschrei unter. Dort steht Papi, seine Wettscheine in der Hand. Er ist ernst, seine Stirn gerunzelt. „Papi!“ 17
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Er hebt den Kopf, dreht ihn zu seiner Tochter. Die lässt Mikis Hand los, läuft zu ihrem Vater hin. „Hast du gewonnen?“ Papi legt zerstreut seine Hand auf die Schulter der Tochter. Miki schaut Tizia herausfordernd an. „Ich muss dir was sagen.“ „Ach ja? Was?“ Tizia schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar, befeuchtet die Lippen. Sendet hastige Blicke zu Miki, die sich schwer an das Geländer lehnt. „Später, ja? Jetzt ist es zu laut.“ Miki beugt sich wie eine Seekranke über das Geländer und ahmt theatralisch Erbrechen nach. Dann richtet sie sich auf, wischt sich mit dem Arm den Mund ab und schaut Tizia süffisant an. Die verzieht angeekelt das Gesicht. Miki hebt schnippisch die Schultern. Ja, ich bin ein Bauerntrampel. Wusstest du doch. So eine passt nicht zu Papis Prinzessin. Juli 1998 Eisdiele Costantin „Costantin. Nicht CoNstantin. Constantin sagen nur die baccani. – Jetzt schau nicht so. Du weißt, wen ich meine.“ „Anderswo ist das Eis auch gut.“ „Ja. Sicher. Andere Mütter haben auch schöne Töchter. Aber darum geht es nicht.“ „Worum geht es dann?“ „Um den spirito. Um das Herz.“ „Erdbeereis hat kein Herz.“ 18
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„Aber ein silbernes Schälchen.“ „Verstehe. Auf das Schälchen kommt es an?“ „Etwa nicht?“ Große schwarze Augen. Dunkle Locken. Ein silbernes Schälchen. Und das Herz schmilzt wie Erdbeereis. November 1998 Kaiserhofball im Kurhaus Tizias Geburtstagsgeschenk: Karten für den Ball. Miki ist tagelang die Lauben hinauf- und hinuntergelaufen, um ein Kleid zu finden, das zum Anlass ebenso passt wie zu ihrem Budget. Am Ende ein kleines Schwarzes, der Stoff ist dünn und fühlt sich billig an, darüber knisternde Spitze. Die kritischen Blicke der Mutter, das hämische Grinsen von Markus, die gehobene Augenbraue des Vaters: „Willst du das wirklich so tragen? Mit den zwei verschiedenen Ohrringen? Wie sieht denn das aus?“ „Ihr versteht nichts. Das trägt man so. Ich trag das so. Sonst bin ich nicht komplett.“ Und dann der große Tag. Tizia im gelben langen Kleid mit der kleinen Schleppe. Die Haare hochgesteckt, ein paar Locken um die Schläfen geringelt. Ein goldener Pfau. „Ihr werdet die Jungs in den Wahnsinn treiben“, sagt Papi, als er Miki und Tizia fährt. Die beiden lachen und winken ab. Obwohl es schon schön wäre. Obwohl es schon gut täte. Nur, weil man etwas nicht haben will, heißt das nicht, dass man es nicht haben können will. Zu den schwungvollen Melodien tanzen sie miteinander, wackeln mit den Hüften, wirbeln umeinander 19
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herum, halten sich an den Händen. Bei den langsamen Liedern gehen sie an die Theke, holen sich Sekt und Wein. Ein Kerl fordert Tizia zum Tanz auf. Sie geht mit ihm mit. Auf der Tanzfläche legt er seine Hände auf ihren Po. Sie unternimmt nichts dagegen. Miki nippt an ihrem Glas, hält flehend nach jemandem Ausschau, der auch auf ihren Po seine Hand legt. Als niemand kommt, holt sie sich noch ein Glas und noch eines. Irgendwann verliert sie Tizia aus den Augen. Ihre Schuhe tun weh, sie zieht sie aus. Ihr beschissenen hohen Absätze. In der Ecke knutscht ein Pärchen. Als Miki daran vorbeigeht, sieht sie: Es sind Tizia und der Kerl. Sie ist betrunken genug, um Tizia an der Schulter zu packen und fortzuzerren. „Spinnst du jetzt? Was soll denn das?“, zischt sie. Tizia bleibt ruhig. „Was denn? Ist mal was anderes.“ „Ach ja? Dann bin ich dir nicht mehr genug?“ „Doch. Aber ...“ „Was?“ „Ich wollte auch mal normal sein. Ich wollte zumindest Normalität spielen.“ „Und? War’s gut?“ „Nicht wie mit dir.“ „Und das soll mich jetzt beruhigen?!“ „Komm, lass uns wieder tanzen gehen.“ „Wie jetzt, als ob nichts gewesen wäre?“ „Es war doch auch nichts. Ich vertrage diesen Sekt nicht.“ „Ich rufe jetzt Markus an, dass er mich abholen kommt.“ 20
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„Nein, Miki, bitte tu das nicht. Es tut mir ja leid.“ Miki zögert. Tizia küsst ihre Schulter. Haucht ihr warm in den Nacken. Flüstert zärtliche Worte ganz nah an ihrem Ohr. „Das nächste Lied ist unseres.“ Aerosmith. I don’t want to miss a thing. Als sie eng umschlungen tanzen, beißt Tizia in Mikis Ohrläppchen. Haucht: „Halt mich fest. Lass mich nie wieder los. Nie wieder.“ Dezember 1998 Bürgersaal Die letzte Weihnachtsfeier am Gymnasium. Mikis Klasse hat sich etwas Besonderes ausgedacht. „Wir spielen Weihnachten bei Hoppenstedts.“ „Was ist das?“ „Loriot. Kennst du den nicht?“ „Nein.“ „Das ist gigantisch. Kult. Ich spiele auch mit.“ „Ach ja? Was spielst du?“ „Das Kind. Nicki. Hat nicht so viel Text.“ „Miki als Nicki. Das lass ich mir nicht entgehen.“ „Habt ihr nicht selbst eine Feier?“ „Die schwänze ich. Du bist mir wichtiger.“ Am Tag der Aufführung ist Miki nervös. Unleidlich. Vergisst einen Auftritt. Verzettelt sich. Tizia will sie trösten. Aber Miki schnauzt sie nur an. „Lass deine blöden Phrasen. Das war Scheiße. Sonst nichts.“ „Red doch nicht so.“ 21
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„Ich rede, wie’s mir passt. Und wenn’s dir zu viel ist, kannst du ja gehen, Prinzessin.“ „Ich habe extra für dich unsere Weihnachtsfeier geschwänzt!“ „Ja, Pech gehabt.“ „Es war auch für mich die letzte. Wir sollten das nicht so hässlich enden lassen.“ „Tu doch, was du willst.“ „Ich dachte, wir gehen noch was trinken.“ „Ohne mich. Ich fahr heim.“ „Sehen wir uns dann nach Weihnachten?“ „Wer weiß.“ „Sei doch nicht so zornig. Es war wirklich nicht so schlimm.“ „Ja, klar. Weil man von einer wie mir ja sowieso nicht viel erwarten kann, oder?“ „Du bist unfair.“ „Und was sonst noch?“ „Hör mal, so will ich das nicht mehr.“ „Okay. Dann war’s das eben.“ Miki stampft davon. Tizia bleibt zurück, verloren in die Menge der fremden Schülerinnen starrend, die lachend und schwätzend aus dem Saal ins Freie drängen. Café Canapee Wenige Tage nach Weihnachten. Draußen bläst die Musikkapelle dem Jahr den Marsch. Drinnen rühren zwei junge Frauen in ihren Tassen und finden keinen Anfang für ihr Ende. Endlich streckt Miki die Hand nach Tizia aus. 22
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„Ich kann das nicht. Ohne dich. Es geht nicht.“ Tizias Hand schließt sich um Mikis. „Nein, es geht nicht. Ohne dich kann ich nicht ganz sein.“ Dann verstummen sie und sehen dem Rauch aus ihren Tassen nach, wie er sich kräuselt und verweht, wie das Jahr, wie das Leben, wie die Wut und die Trauer und der Schmerz. Die Liebe besteht, denken sie, forever and ever. Und fühlen sich dumm dabei. Februar 1999 Steinerner Steg An den Zweigen platzen schon die ersten Knospen zu kleinen weißen und gelben Blüten auf. Aufbruch in allen Lüften, in allen Wassern, die über die Felsen schäumen. Miki fröstelt und schlägt den Mantelkragen hoch. In der Brust dieses Gefühl der Enge, des Eingesperrtseins, die alte Haut passt nicht mehr. Neue Formen ausprobieren, neue Wege, neue Flüge wagen, und dann – abstürzen, abstürzen, was sonst? Sie tastet nach ihren Ohrringen. Rechts Glas, links Metall. Vorsichtig zieht sie die Haken aus den Löchern. Miki und Tizia, nur gemeinsam vollständig. Sie schließt die Faust um die Ohrringe und wirft sie in weitem Schwung über die Brücke, sieht ihnen nach, wie sie in die Tiefe fallen und unhörbar versinken. Ist ja überhaupt nichts dabei, denkt sie, und für Sekunden will sie hinterherspringen, damit Glas, Metall, Haut, Knochen, Haare und das rastlos kochende Blut eine gemeinsame Ruhestatt finden, dort, wo alle Wege zu Ende sind. Eine 23
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winzige Öffnung in der weißen Wolkendecke lässt spärliche Sonnenstrahlen durch. Ein Mann geht mit einem kleinen Hund vorbei. Miki sieht sich auf der Brücke stehen, plump, zusammengesunken, mit leeren Augen. Keine Figur für große Gesten. Nur ein Häufchen Selbstmitleid, das sich zu wichtig nimmt. Sie gibt sich einen Ruck. Geht. Die Ohrringe liegen auf dem Grund der Passer. Wenigstens sie haben es hinter sich. April 1999 Lunapark Noch einmal mit dem Puffauto fahren. Kreischend zusammenstoßen. Zuckerwatte kaufen und nach den Bechern werfen und ein hässliches Plüschtier gewinnen. Noch einmal auf das Karussell, diesem Pferdesprunge fast schon entwachsen. Noch einmal nach deiner Hand greifen, die heiß ist und verschwitzt, noch einmal in deinen Augen meine Augen sehen. Noch einmal die Sätze wiederholen, die leer geworden sind und schwerelos. Liebe dich. Brauche dich. Halt mich fest. Noch einmal Küsse tauschen mit dünnen, harten Lippen. Dabei die Langeweile spüren, die Belanglosigkeit. Und alles verschweigen, was das Ende verzögern könnte. Kein Wort von den Ängsten. Kein Wort von der Unsicherheit. Nur kein tieferes Gespräch mehr aufkommen lassen, kein schmerzhaftes Sich-Spiegeln im Schmerz der anderen. Strahlende Fassaden, Masken der Selbstsicherheit, damit der Tag nicht doch noch ein bedeutender wird, noch einmal überdreht sein, noch einmal mit den Fingern tief in die Gummiwürmer fassen, den Mund ganz voll nehmen, 24
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damit kein verräterischer Satz mehr entschlüpft. Auf dem Heimweg nur noch die Sorge um den Goldfisch im Plastikbeutel, nimmst du ihn, soll ich ihn nehmen? In zwei Wochen schwimmt er leblos in der Bowleschüssel, tot wie die Liebe, tot wie das Herz. Ins Klo hinunter damit.
September 1999 Bahnhof Alle sind sie mitgekommen, Markus, die Mutter, der Vater. Alle wollten den Koffer tragen, aber sie trug ihn allein. Sie heißt jetzt wieder Michi, Michaela, muss sich daran gewöhnen, mit dem Nachnamen angesprochen zu werden. Die Sonne brennt herab, der Waggon ist überhitzt, die Sitze riechen muffig. Michi öffnet das Fenster, schaut in die Gesichter ihrer Familie. Mama hat nassglänzende Augen. Tata flüchtet sich in den Stolz. „Eine Studentin, mein Lieber.“ Seit Stunden wiederholt er den Satz, zu Hause, im Auto, er kommt darüber nicht hinaus. Markus gibt scherzhafte Ratschläge, tuasch nit zu wild, Michi nickt ergeben. Der Zug ruckt an. Verlässt den Bahnhof, fährt an den Häusern und Bäumen vorbei, aus Meran heraus, trägt Michi fort von der größten Welt, die sie kannte. Immer winziger wird die Stadt, bis Michi sie zusammenkratzen und in die Hosentasche stecken kann. Dort wird sie bleiben zwischen abgelaufenen Telefonkarten, einer 500-Lire-Münze, ein paar zerzausten Löwenzahnsamen und einem mit unleserlicher Schrift bekritzelten Spickzettel, den sie nie gebraucht hat. Michi 25
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wird zufällig darauf stoßen, in ein paar Jahren, wenn ihr neues Leben ihr nicht mehr zu groß ist. Sie wird Meran aus ihrem Gedächtnis herausholen und behutsam auseinanderfalten wie ein zerknülltes Taschentuch. Sie wird die Plätze und Gassen staunend betrachten und nicht mehr verstehen, wie sie je glauben konnte, darin gefangen zu sein wie in einem Labyrinth. Und es wird ihr einen Stich geben, wenn sie begreift: diese Stadt existiert nicht mehr. Sie ist nur noch ein Phantom der Vergangenheit, wie Miki, wie Tizia, ein Phantom aus Träumen und Enttäuschungen, das durch schlaflose Nächte spukt. Juli 2005 Tappeinerweg Von allen Freunden am Gymnasium ist ihr Sonja geblieben. Die singt nicht mehr. Seit sie zu rauchen aufgehört hat, joggt sie zweimal in der Woche an Kakteen, Palmen und Zypressen vorbei und genießt die Blicke deutscher Rentner auf ihre kurzen Leggins. Sie erledige, erzählt sie, überhaupt alles nur noch im Laufschritt. Heute, mit Michaela, macht sie eine Ausnahme. Sie bleibt zwar zwischendurch stehen, dehnt sich, streckt Arme und Beine, atmet tief und geräuschvoll ein und aus („Du weißt ja nicht, was das für ein Gefühl ist, wenn man plötzlich wieder so viel Luft bekommt!“), aber ansonsten bemüht sie sich sehr, Michaela nicht spüren zu lassen, wie sehr sie durch sie gebremst wird. Auch als Michaela fragt, ob sie sich setzen können, hebt sie nur sachte eine Augenbraue. Man muss Rücksicht nehmen auf die, die einfach nicht mitkommen. 26
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Michaela schließt die Augen, lässt die Sonnenstrahlen Blitze und Kreise auf ihre Lider zeichnen. Als sie sie wieder öffnet, schaut sie geblendet auf die Stadt unter ihr, die gleißt und flimmert. Im Gegenlicht nähern sich zwei Gestalten, Hand in Hand, ein athletischer Mann mit schmalem Oberlippenbart und ein Lockenkopf mit großen schwarzen Augen. Michaela erkennt sie sofort. Tiziana aber geht vorbei, ohne hinzusehen. Sie ist gut darin geworden, Normalität zu spielen, denkt Michaela, und weiß zugleich, dass es ihr selbst nie gelingen wird. Februar 2008 Neues Krankenhaus Wann ist Mutter so grau geworden? Michaela begleitet sie durch die Gänge. Alles so weit und kahl hier, so unverbindlich und geschäftig. Schalter und Wartesäle, nummerierte Zimmer für nummerierte Menschen. Die Blumen, wo sind die Blumen? Hinter Glas, kühl und blütenstaubfrei. Die Mutter geht mit kleinen Schritten. Sie hat den guten Rock angezogen, die schöne Bluse, eigens die Haare gewaschen. Sie hängt sich bei Michaela ein, bei der erwachsenen Tochter, auf die sie so stolz ist und die ihr so fremd ist und fern wie diese verwinkelten Gänge mit ihren abweisenden Türen. In der Gynäkologie sitzen fast nur ältere Frauen. Elegante Städterinnen mit glänzenden Haaren. Eine Kopftuchfrau mit olivbrauner Haut. Eine Frau vom Land wie sie. Und eine junge Frau in Michaelas Alter, der sich der Bauch wölbt. Dunkle Locken, große schwarze Augen. 27
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Die Mutter bemerkt, dass Michaela diese junge Frau anstarrt, auf den gewölbten Bauch starrt und glasige Augen bekommt. „Aha“, denkt sie, „es fällt ihr also doch nicht so leicht, wie sie uns glauben lassen will.“ Sie greift nach der Hand ihrer Tochter. „Sei nicht traurig“, flüstert sie ihr zu. „Irgendwann findest du auch noch einen Mann. Und dann wirst auch du ein Poppele bekommen. Du hast noch Zeit.“ Aber Michaela reagiert nicht. Die Mutter versucht sie auf andere Gedanken zu bringen. „Hast du gesehen? Sie trägt zwei verschiedene Ohrringe. Fast so wie du früher.“ Michaela nickt abwesend. Erdbeereis in Silberschälchen. Deine Augen in meinen. Und ein toter Goldfisch, der noch ein letztes Mal mit dem Schwanz schlägt.
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ERSCHEINUNGSTERMINE / PIANO DELL’OPERA
IL CONFINE È IL LUOGO DOVE (SE PASSI) ACCADE QUALCOSA
DAS HAUS MEINER MUTTER APRIL / APRILE ANNE MARIE PIRCHER
PAOLO BILL VALENTE
MERAN O MERAN. EINE LIEBESGESCHICHTE
LA SIGNORA DEI CAVALLI JUNI / GIUGNO
SELMA MAHLKNECHT
HOTEL MERÎDIAN PASSAGEN. PARTONO I BASTIMENTI KURT LANTHALER
SANDRO OTTONI
SEPTEMBER SETTEMBRE
L’APPARTENENZA LAURA MAUTONE
Stille Post | Ad alta voce 700xM Eine Literaturaktion Sechs renommierte Südtiroler AutorInnen, drei deutschund drei italienischsprachige, begleiten mit ihren eigens für diesen Anlass geschriebenen Erzählungen die Leser durch die Stadt Meran, vorbei an bekannten und unbekannten Plätzen, durch die neue, alte und uralte Geschichte des Ortes, hinein in das Leben von Menschen, deren Lebensmittelpunkt – wenigstens eine Zeit lang – die Passerstadt ist, deren Geschichten sich aber weit über diese Stadt hinausbewegen. Elisabeth Hölzl bereichert diese Erzählungen mit sehr individuellen Bildern aus der Stadt.
Selma Mahlknecht ist in Meran geboren und lebt in der Schweiz. Autorin, Dramatikerin, Regisseurin, Deutschlehrerin. Bücher (eine Auswahl): Im Kokon, Erzählung, Edition Raetia 2007; Es ist nichts geschehen, Roman, Edition Raetia 2009; Helena, Roman, Edition Raetia 2010; Vom großen Ganzen, Edition Laurin 2011; Auf der Lebkuchenstraße, Weihnachtsbuch, Edition Raetia 2013; Luba und andere Kleinigkeiten, Roman, Edition Raetia 2016. www.selma-mahlknecht.info
MERAN O MERAN. EINE LIEBES GE SCHICHTE
SELMA MAHLKNECHT