12 ::: Die Urkatastrophe: 100 Jahre Erster Weltkrieg
Was wir aus dem Ersten Weltkrieg lernen können Der Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren markiert eine historische Zäsur, die das 20. Jahrhundert tief prägte. Aber wie erinnern wir uns eigentlich an diesen Krieg und seine Folgen? Und was können wir heute für den Umgang mit Konflikten lernen? Volker Kiemle hat darüber mit dem Historiker Gerhard Hirschfeld gesprochen. Hirschfeld lehrt an der Universität Stuttgart und gehört zu den international ausgewiesenen Experten für die Zeit des Ersten Weltkriegs. Was verbinden Sie spontan mit dem Ersten Weltkrieg? GERHARD HIRSCHFELD: Das ist vor allem die ungeheure Massenhaftigkeit des Geschehens! Zumeist junge Männer zogen massenhaft in einen Krieg, von dem sie nicht wussten, wie er aussieht und was ihnen dort angetan wird. Doch die meisten sind keineswegs freiwillig in diesen Krieg gezogen – es gab damals bereits eine Wehrpflicht in Österreich-Ungarn, in Frankreich, in Deutschland und in Russland; nur Großbritannien führte die Wehrpflicht erst 1916 ein. Woher kommt die bis heute weitverbreitete Vorstellung, die Nationen seien mit großem »Hurrah« in den Krieg gezogen? GERHARD HIRSCHFELD: Verantwortlich dafür ist das so genannte Augusterlebnis – also eine unterstellte oder tatsächliche Begeisterung bei Kriegsausbruch. Nach dem heutigen Stand der Forschung muss man diese jedoch differenzierter betrachten. Sicherlich gab es Zeiten und vor allem Orte, wo bei Kriegsbeginn ein ausgeprägter Jubel herrschte. Dieser lässt sich sogar herunterbrechen auf einzelne Tage – etwa den Tag der
»UNTERWEGS«-SERIE ZUM ERSTEN WELTKRIEG 1. Das große Schlachten: Interview mit Professor Gerhard Hirschfeld 2. Die weltpolitische Lage am Vorabend des Ersten Weltkriegs 3. Gegen die Kriegs-Sehnsucht: Deutsch-britische Friedensfahrten 1909 und 1910 4. Die Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert und der Nationalismus 5. Im Westen nichts Neues: Die ungeheure Wirkungsgeschichte eines Weltkriegsromans 6. Erfolglos: Treffen von Friedensinitiativen am 1. August 1914 in Konstanz 7. Von »Sekten« zu Kirchen: Mitten im Krieg wird 1916 die VEF gegründet 8. Der internationale Methodismus und der Erste Weltkrieg 9. Der Weltkrieg als »Sieg über Luther«? Die deutsche Niederlage und die internationale Ökumene
Kriegserklärung an Russland am 1. August oder die deutsche Kriegserklärung an Frankreich am 3. August, später dann als Reaktion auf siegreiche Schlachten wie etwa »Tannenberg«. All dies führte zu Jubel, meist an Bahnhöfen oder in Kneipen und Straßencafés, wo die Menschen patriotische Lieder anstimmten, vorneweg den Gassenhauer »Die Wacht am Rhein«. Allerdings mischten sich in diese Euphorie rasch andere Stimmen und Stimmungen: Frauen trauerten wegen der Trennung von ihren Männern, Väter sorgten sich um die Existenz ihrer Familie, Bauern fragten sich, wer die Ernte einbringt. Wie ist der Mythos des Augusterlebnisses entstanden und wie wurde er weitergetragen? GERHARD HIRSCHFELD: Die Augustbegeisterung wurde vor allem medial gesteigert – das kennen wir heute auch, dass bestimmte Ereignisse von den Medien zugespitzt werden und sich dann verselbstständigen. Wenn etwa Freiwillige, die es natürlich auch gab, die Rekrutierungsbüros stürmten, dann berichteten die Zeitungen damals ausführlich – und das wurde dann entsprechend wahrgenommen. Betrachten wir jedoch die Familien, vor allem auf dem Lande, so findet man in den Briefen und Tagebüchern der Menschen ganz andere Urteile. Wie war die Erinnerung an den Krieg direkt nach 1918? GERHARD HIRSCHFELD: Auch da ist es wichtig zu schauen, wer sich erinnert. Intellektuelle und Künstler kamen vielfach zu ganz anderen Urteilen als andere Teile der Bevölkerung. Vor allem Künstler waren bei Kriegsausbruch begeistert und dieses Gefühl hielt bei einigen wenigen bis zum Ende des Krieges an. Wie ist das zu erklären? GERHARD HIRSCHFELD: Für viele Künstler bedeutete der Krieg eine neue Inspiration. Max Beckmann etwa sprach von einer »wundervollen Katastrophe«, weil er